Moral im System: Darstellungsprobleme der politischen Eliten im Skandal um die Parteispenden
In: Elitenmacht, S. 205-222
"Elmar J. Koenen analysiert das Phänomen politischer Korruption im Skandalfall (der Aufdeckung) sowie im Normalfall (des unsichtbar Bleibens). Krisen der politischen Elite wie z.B. die Parteispendenaffäre der CDU wertet er als Symptom der Morbidität eines längst überholten, aber künstlich am Leben gehaltenen politischen Systems, die Korruption der politischen Elite als (unvermeidliche) Folge von Systemzwängen. Empirische Basis von Koenens Analyse sind Teilergebnisse einer Untersuchung, die - vor dem Hintergrund breiter öffentlicher Empörung - abweichende Positionen zur Parteispendenaffäre untersuchen wollte. Allein: Es gab keine. Systemzwänge als Grund für Korruption, die Frage nach der Legitimität des Einsatzes 'schlechter', aber zweckrationaler Mittel für 'gute' Zwecke sowie der Beitrag von Medien und politischem Publikum wurden - selbst von den parteieigenen Medien - komplett ausgeblendet. Koenen nimmt in seinem 'politisch unkorrekten' Beitrag Abstand von einseitigen 'Schuld'-Zuweisungen, die die korrupten Politikercliquen einem unschuldigen, zunehmend ungeduldigen und zu Recht politikverdrossenen Publikum gegenüberstellen, indem er diese Dichotomisierung aufhebt und Publikum und Politiker vielmehr als Verbündete mit "Stellvertretungsabkommen" (Soeffner) entlarvt. Kurz: Koenen durchbricht die üblichen (populären, medialen, aber auch politischen und wissenschaftlichen) Deutungsschemata. Jenes "Stellvertretungsabkommen" mit der Bevölkerung verpflichte die Politiker, an deren Stelle die für eine effektive Politik in modernen Gesellschaften notwendig gewordenen korrupten Praktiken auszuführen, von denen sich das Publikum im Falle ihres Auffliegens durch medial transportierte und hochgekochte moralische Empörung öffentlich distanzieren könne. Die Sachzwänge einer komplexen Gesellschaft stünden Koenen zufolge im Spannungsverhältnis zu den moralischen Anforderungen der 'guten' Gesellschaft, die unsere moderne Gesellschaft ihrer Ideologie zufolge eben auch sei. Diese Diskrepanz trete im Falle eines öffentlichen politischen Skandals unvermittelt an die Oberfläche und setze die politischen Eliten unter Rechtfertigungsdruck - und das unter der Bedingung eines nunmehr verschärften Widerspruchs zwischen politischer Realität und kontrafaktischen Erwartungen von Seiten der Medien und des politischen Publikums." (Autorenreferat)