Sammelwerksbeitrag(elektronisch)1997

Armut und Armutsforschung in Rußland

In: Differenz und Integration: die Zukunft moderner Gesellschaften ; Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1996 in Dresden ; Band 2: Sektionen, Arbeitsgruppen, Foren, Fedor-Stepun-Tagung, S. 379-383

Abstract

"Im Vortrag wird das theoretische Vakuum erläutert, in dem sich die Armutsforscher in den postsozialistischen Ländern befinden. Dies liegt zum einen an der geringen Vertrautheit mit den theoretischen Diskussionen im Westen, zum anderen daran, daß bei einer Ähnlichkeit äußerer Erscheinungsformen Armut in Rußland und in den Ländern mit entwickelter Marktwirtschaft sehr unterschiedlich ist und keiner einheitlicher Messung unterzogen werden kann. Unterschiedliche methodische Ansätze in Rußland selbst bedingen eine große Bandbreite des vermuteten Armutsausmaßes: zwischen acht bis 80 Prozent der Bevölkerung werden als 'arm' bezeichnet. Die verwendeten Methoden, die auf die Traditionen der sowjetischen Soziologie zurückzuführen sind, verabsolutieren quantitative Messungen. Ausführungen aus Ergebnisanalysen von Massenumfragen spiegeln dagegen die 'Parteilichkeit' der Forscher wider. Ein großer Teil der Einkommen der verschiedenen sozialen Gruppen werden weder von der Statistik erfaßt noch von den Wissenschaftern, die sich mit der Schattenwirtschaft beschäftigen. Schon aus diesem Grunde wird das Armutsausmaß sehr stark übertrieben, ganz unabhängig von den angewandten Methoden. Die meisten gegenwärtig beobachtbaren Überlebensstrategien sind mit Beschäftigungen im informellen Sektor verbunden. Dennoch wird dieser Umstand von den Soziologen ignoriert, insbesondere deshalb, weil qualitative Methoden der Sozialforschung entweder unbekannt sind oder abgelehnt werden. Die offizielle Statistik und bisherige Forschungsergebnisse ergeben völlig unangemessene Vorstellungen über Armut und folglich über soziale Ungleichheit und die sich erneuernde Sozialstruktur in der Transformationsgesellschaft. Dazu kommt, daß die Forschung durch einige etablierte Forschungsgruppen monopolisiert wird, auf deren ausgesprochen politisierter Tätigkeit das geläufige Bild über Armut in Rußland beruht. Auch die Übertragung von Modellen, die anhand der Beobachtung westlicher Gesellschaften erarbeitet wurden, wirkt sich negativ auf die Theoriebildung - und letztlich auf die politische Entscheidungsfindung - aus." (Autorenreferat)

Problem melden

Wenn Sie Probleme mit dem Zugriff auf einen gefundenen Titel haben, können Sie sich über dieses Formular gern an uns wenden. Schreiben Sie uns hierüber auch gern, wenn Ihnen Fehler in der Titelanzeige aufgefallen sind.