Sozialpolitik und politische Bewußtseinsbildung
In: Leviathan: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Band 7, Heft 3, S. 283-307
ISSN: 0340-0425
Anhand der Entwicklung des Erziehungswesens, insbesondere des öffentlichen Schulwesens in den USA (seit d. 19. Jh.) wird untersucht, inwieweit sozialpolitische Maßnahmen des Staates die politische Bewußtseinsbildung beeinflussen. Einerseits gehen die Verfasser mit den Theorien konform, die staatliche Sozialpolitik als herrschaftsstabilisierende Maßnahmen sozialer Kontrolle zur Vermeidung sozialer Unruhe auffassen. Andererseits behaupten sie entgegen diesen Theorien, daß sozialer Widerstand durch derartige staatliche Maßnahmen nicht gebrochen wird, sondern lediglich in andere Bahnen gelenkt wird. Am Beispiel des öffentlichen Schulwesens verdeutlichen die Autoren, wie präexistente Vorstellungen über Recht und Unrecht in der Gesellschaft verdrängt werden, und zwar aufgrund folgender schulischer Erziehungsmechanismen: Erstens impliziert ein auf individuelle Leistung orientierter Schulunterricht eine Tendenz zu Problemlösungsversuchen mit Hilfe individueller Selbstverbesserung im Rahmen von Erziehung und Bildung statt durch kollektiven Kampf. Zweitens schreibt ein Schulsystem, das vorgibt, keine sozialen Unterschiede bei der Leistungsbeurteilung zu kennen, diese durch seine spezifische Erziehungsstruktur aber gerade produziert, den Erfolg oder Mißerfolg in der Schule und damit später in der Gesellschaft dem Individuum zu. Der Versager, der scheinbar doch gleiche Chancen hatte wie alle, hat sich also die Schuld für sein Scheitern selbst zuzuschreiben. Das amerikanische Erziehungswesen, das sich mit der Industrialisierung und der Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft entwickelte, hat soziale Deutungsmuster geschaffen, die Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse gegen das Individuum selbst lenken. Innerhalb dieser Deutungsmuster bildet Geisteskrankheit (neben Drogenkonsum und Selbstmord) einen möglichen Ausweg. Dadurch wird erklärlich, warum in Zeiten sozio-ökonomischer Krisen und sozialer Desintegration verstärkt Geisteskrankheiten auftreten. (UW)