Biographieforschung
In: Methoden der Politikwissenschaft: neuere qualitative und quantitative Analyseverfahren, S. 59-68
"Biographieforschung ist keine fest umrissene Methode, sondern ein komplexer Forschungsansatz, der in unterschiedlichen Disziplinen verankert ist und auf eine lange Tradition zurückblicken kann. In der Politikforschung ist er relativ neu. Eine fachliche Institutionalisierung hat Biographieforschung im deutschsprachigen Kontext vor allem in der Soziologie und der Erziehungswissenschaft erfahren, sie wird auch in der Geschichts- und Kulturwissenschaft, der Geschlechterforschung und in bestimmten Richtungen der Psychologie genutzt. Biographieforschung ist ein qualitativer Forschungsansatz, schließt aber die ergänzende Verwendung von quantitativen Daten nicht aus. Das bevorzugt verwendete empirische Material sind Texte, vor allem in Interviews erhobene lebensgeschichtliche Erzählungen. Auch schriftlich verfasste Dokumente (Tagebücher, Briefe, Autobiographien, fremdbiographische Texte wie Gerichtsakten, Arztberichte u.a.) werden im Rahmen der Biographieforschung analysiert. Für die Auswertung stehen unterschiedliche hermeneutische Verfahren zur Verfügung, die teilweise bestimmten Schulen zugeordnet werden. Gemeinsam sind ihnen ein fallrekonstruktives Vorgehen, das Prinzip der Abduktion (siehe 'Abduktion') und eine grundlegend theoriebildende Einstellung. Dabei werden Elemente der Grounded Theory (siehe 'Grounded Theory': theoretisches Sampling, Verschränkung von Datenerhebung und -analyse), aber auch Ansätze der Diskursanalyse (siehe 'Diskursanalyse') aufgegriffen. Biographieforschung thematisiert das Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum in der zeitlichen und sinnhaften Struktur der Lebensgeschichte. Ansätze der Biographieforschung eignen sich für alle Fragestellungen, die mit diesem Zusammenspiel zu tun haben, die also komplexe, prozesshafte soziale Phänomene untersuchen und dabei die Perspektiven der beteiligten Subjekte in den Blick nehmen. Biographieforschung ist besonders indiziert, wenn es darum geht, (a) soziale Prozesse, z.B. politische Entscheidungen oder gesellschaftliche Umbrüche aus der Sicht der involvierten Subjekte zu rekonstruieren, (b) die Wirkungen sozialen Wandels auf Individuen oder Gruppen und ihre Lebenspraxis zu untersuchen oder (c) den 'Eigensinn' individueller und kollektiver Lernprozesse aufzudecken, die sich in jenem Wechselspiel herausbilden. Schließlich ist es gerade in politikwissenschaftlichen Kontexten interessant zu fragen, wie (d) Gesellschaften unter bestimmten historischen Bedingungen die Lebensläufe und biographischen Deutungsspielräume ihrer Mitglieder normativ vorstrukturieren. Ziel der Forschung ist die Generierung von theoretischen Konzepten bzw. Theorien mittlerer Reichweite. Ergebnisse können die Form einer empirisch basierten theoretischen Explikation eines komplexen Phänomens und/ oder einer empirisch fundierten Typologie haben." (Autorenreferat)