Die Versuchung der Utopie: zum Verhältnis von Glaube und Politik in der Befreiungsethnologie
In: Aus Politik und Zeitgeschichte: APuZ, Band 1987, Heft B 49, S. 29-38
ISSN: 0479-611X
"Der Christ, der bei der Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Politik die Sackgassen einer Identifizierung bzw. einer radikalen Entgegensetzung vermeiden möchte, hat sich an fünf Kriterien zu orientieren. Er muß an der sittlichen Bedeutung allen politischen Handelns festhalten, darf aber in keinem politischen System des eschatologischen Vorbehalt, das heißt die Vorläufigkeit jeder politischen Ordnung sub specie aeternitatis aus dem Auge verlieren. Er hat die legitime Autonomie der Politik, der Wirtschaft und der Kultur zu respektieren, auf die Sachgerechtigkeit der politischen Entscheidungen zu achten und den legitimen Pluralismus politischer Optionen auch unter Christen zu ermöglichen. Die verschiedenen Varianten der vornehmlich in Lateinamerika beheimateten Theologie der Befreiung halten übereinstimmend die Unterscheidung von Glaube und Politik für überholt. Für die Gebrüder Boff verschmelzen im Begriff der Befreiung 'die Horizonte des Spirituellen und des Politischen, des Geschichtlichen und Metageschichtlichen'. Die Folgen dieser Verschmelzung sind: Der eschatologische Vorbehalt verliert seine Funktion; Geschichte wird zu einer dynamischen Fortschrittsbewegung hin zur Freiheit; Politik wird allgegenwärtig, ja sinngebende Instanz des Lebens; Die Heilige Schrift und der Glaube werden von der Politik her neu gelesen und soziologisch interpretiert; Die legitime Autonomie irdischer Sachbereiche, die Postulate einerseits der Sachgerechtigkeit politischer Entscheidungen und andererseits des Pluralismus politischer Optionen werden unterlaufen; Politik ist nicht mehr Güterabwägung, sondern Entscheidung zwischen Gnade und Sünde, zwischen Befreiung und Ausbeutung. Die neue Bestimmung des Verhältnisses von christlichem Glauben und politischem Handeln macht die Anhänger dieser Theologie zwar sensibler für die politischen Probleme Lateinamerikas, sie macht sie aber durch ihren politischen Messianismus gleichzeitig unfähig zur Politik." (Autorenreferat)