Die Zukunft der ESVP nach der Verfassungskrise
In: Europa ohne Sicherheit?: Chancen und Risiken einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, S. 47-56
Der Verfasser zeigt, dass es zunehmend deutlich wird, dass die Ablehnung der EU-Verfassung zwar nicht das Ende der Integration bedeutet, aber auch nicht als kurzes Stolpern auf dem Weg zu einem vereinten Europa abgetan werden darf. Sie ist (auch) von der Europapolitik selbst zu verantworten und geht gerade im Bereich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auf hinlänglich bekannte, aber meist ignorierte Grundprobleme zurück. Darin liegt eine weit größere Hürde für die Entwicklung der ESVP als in der abgelehnten Verfassung. Vor diesem Hintergrund werden die Grundprobleme der ESVP erläutert. Dabei handelt es darum, dass innerhalb der Europäischen Union es stets unterschiedliche Interpretationen mit Blick auf die Zielrichtung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegeben hat. Die ESVP war gerade für Frankreich vor allem ein Instrument zur Emanzipation Europas von den USA und wurde deshalb auch immer als Alternative zur NATO konzipiert. Andere EU-Partner verstehen ein gemeinsames Handeln mehr als Synergie zur transatlantischen Sicherheitsvorsorge. Ebenfalls eine Konstante in der Geschichte der ESVP ist der Umstand, dass Konzepte und Ideen für ein gemeinsames Handeln zwar ambitioniert entwickelt und verkündet wurden, die erforderliche materielle Unterfütterung dieser Entwürfe aber meist unterblieb. Eng mit diesem Widerspruch ist eine weitere Konstante der GASP und der ESVP verbunden, nämlich deren rhetorische Überhöhung und Mystifikation im tagespolitischen Geschäft. Sie gipfelt in dem regelmäßig von (eigentlich mit der Materie vertrauten) Entscheidungsträgern vorgetragenen Postulat, Europa müsse endlich ein "Global Actor" werden. Damit werden nicht nur unrealistische Erwartungen hinsichtlich der eigenen Leistungsfähigkeit geweckt. Diese Widersprüche und Mystifizierungen finden ihre Fortsetzung in der öffentlichen Wahrnehmung europäischer Außen- und Sicherheitspolitik. Repräsentative Umfragen zeigen regelmäßig hohe Zustimmungswerte zu der Forderung nach einer europäischen Großmachtrolle. Schließlich hat die Mehrheit der EU-Mitglieder (mit Ausnahme Frankreichs und Großbritanniens) nach wie vor noch keine globalstrategische Sichtweise auf die künftigen Herausforderungen und Bedrohungen entwickelt. Ungeachtet einzelner Ausnahmen ist der Fokus nach wie vor auf das Territorium der EU und auf angrenzende Regionen gerichtet. Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass angesichts der mangelnden Fortschritte in der ESVP es offenbar weiterer Krisen und Konflikte bedarf, um in den Mitgliedsstaaten der EU Verständnis für die Notwendigkeit militärischer Sicherheitsvorsorge zu wecken. Es wäre katastrophal, wenn diese Krisen mit großen Opferzahlen verbunden wären. (ICG2)