Esther Kilchmann erläutert und diskutiert Motive und Motivationen Heinrich Heines, Bilder von Hellas in Gedichten zu reformulieren. Wendet sich die Literatur des Vormärz explizit von der Autonomieästhetik und ihrem prägenden Hellenismus-Bezug ab, so stellt sich die Frage, inwiefern sich der neue, politische Griechenlandbezug produktiv mit der Suche nach neuen Formen von Literatur nach dem "Ende der Kunst" verbinden kann. "Griechenland" ist hier als literarischer Schauplatz zu betrachten, an dem im Vormärz neue kunstphilosophische Paradigmen in Bezug zu überkommenen ästhetischen Normen verhandelt werden. Aktuelle politische Bestrebungen in Deutschland wie in Griechenland werden dabei mit dem Hellenismus der deutschen Klassik und antiken Topoi überblendet. Bezüge auf Hellas gewinnen in Abwendung von klassischer Ästhetik eine neue Funktion für den aktuellen politischen Kontext. Sie sind wesentlicher Teil der Diskussionen um Wirkkraft von Kunst und Literatur. Ebendieser Widerspruch zwischen Ablegung und Anknüpfung an die literarische Tradition als eines der Grundprobleme des Vormärz soll in der Folge mit Heinrich Heines Reflexionen zum Hellas-Bezug vor der Folie der Zeitkritik lesbar gemacht werden. Der Hellenismus-Bezug ist hier insofern zentral, als er zum Pegelstandmesser für die erfolgreiche - oder eben nicht erfolgreiche - Abgrenzung von der "Kunstperiode" und den überkommenen ästhetischen Paradigmen wird, was wiederum Voraussetzung für die Etablierung einer neuen, sich als politisch im umfassenden Sinne verstehenden Literatur des Vormärz ist. Im Zentrum steht dabei Heines Geste der Abwendung vom klassischen Hellenismus ebenso wie seine Thematisierungvon dessen Formen des Nachlebens jenseits der "Kunstperiode".
Einen Gipfelpunkt findet die Begeisterung für das Griechentum bekanntlich in der Weimarer Klassik, doch ist der Philhellenismus auch in späteren Jahrzehnten, so im Vormärz, aktuell. Die Gründe dafür liegen erstens in gesellschaftlichen Strukturen und Traditionen, durch die Wissen um die Antike weiter vermittelt wird. Dazu tragen das obligate Studium griechischer und lateinischer Sprache an den höheren Schulen und die Verbreitung antiker literarischer Texte und Mythen durch Übersetzungen ins Deutsche bei. [.] Zweitens ist vor allem der europaweit beobachtete griechische Unabhängigkeitskrieg ein Bezugspunkt politischen Denkens. Griechenland-Bilder werden im Vormärz nicht mehr nur wegen ihrer spezifisch ästhetischen, als überzeitlich geltenden Merkmale in bildender Kunst, Literatur, im Kunsthandwerk und in der Architektur (re-)konstruiert, sondern gewinnen zeitgeschichtlich an Aktualität. Dies umso mehr, als im Vormärz Forderungen nach dem Gegenwartsbezug von Kunst und Literatur unüberhörbar werden. [.] Die Auseinandersetzung mit dem antiken griechischen Erbe und den politischen Entwicklungen im zeitgenössischen Griechenland wird zu einem Kennzeichen des Vormärzes - in Wissenschaft, Literatur und Publizistik ebenso wie in politischen Vereinigungen, kulturellen Zirkeln und unter Studenten.
Continuation of the author's Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. ; An der Wendes des Jahrhunderts.--Ein zweitausendfünfhundertjähriges Jubiläum.--Das Prinzip der Entwickelung in der Geistesgeschichte.--Das erste Auftreten der griechischen Philosophie unter den Arabern.--Die Kontinuität der griechischen Philosophie in der Gedankenweit der Araber.--Ein typisches Bespiel von logischer Kontinuität in der Geistesgeschichte.--Zur Methodenlehre der Biographik.--Das letzte Werk Friedrich Nietzsches.--Friedrich Nietzsche als philosophischer Klassiker.--Wesen und Aufgabe der Soziologie.--Die menschliche Gesellschaft als philosophisches Problem.--Lebenszweck und Lebensauffassung.--Darwinistische und sozialistsche Ethik.--Naturgesetz und Sittengesetz.--Experimentelle Pädagogik.--Gedankenanarchie.--Gefühlsanarchie.--Der religiöse Optimismus.--Die Philosophie des Friedens.--Die politischen und sozialen Aufgaben des 20. Jahrhunderts. ; Mode of access: Internet.
Inhalt: I. Das Erziehungs- und Bildungswesen des Altertums 1. Das griechische Erziehungs- und Bildungswesen 2. Römisches und altchristliches Bildungswesen II. Das mittelalterliche Erziehungs- und Bildungswesen 3. Das Frühmittelalter 4. Das Hoch- und Spätmittelalter in. III. Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation(bis Ende des 16. Jh.) 5. Die humanistische Bewegung in Italien 6. Der Humanismus in Deutschland 7. Stellung der Reformatoren zur humanistischen Bewegung 8. Das protestantisch-humanistische Bildungswesen des 16. Jh. 9. Das katholisch-humanistische Bildungswesen des 16. Jh. 10. Die Bildung des Volkes 11. Frauenbildung in der frühen Neuzeit 68 IV. Der Rationalismus und seine ersten pädagogischen Auswirkungen 12. Der Rationalismus des 17. Jh. Die muttersprachliche Bewegung 13. Ratke 14. Comenius 15. Das Bildungswesen im 17. Jh. 16. August Hermann Francke und die pietistische Pädagogik V. Das Zeitalter der Aufklärung 17. Die Aufklärung, Locke und Rousseau 18. Die philanthropische Bewegung 19. Die Entwicklung des staadichen Schulwesens im Zeitalter der Aufklärung 20. Die Mädchenerziehung im 18. und frühen 19. Jahrhundert VI. Der Neuhumanismus, die deutsche Klassik und Pestalozzi 21. Der Neuhumanismus 22. Die Bildungsideale der deutschen Klassik 23. Pestalozzi VII. Das 19. Jahrhundert 24. Die Schulreform am Anfang des 19. Jh. 25. Konservative gegen liberale Schulpolitik 26. Die Fürsorge- und Heilerziehung. Die Kleinkindererziehung 27. Das Bildungswesen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. VIII. Das 20. Jahrhundert 28. Das Schulwesen und die pädagogischen Reformbestrebungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. 29. Das Bildungswesen zwischen 1918 und 1945 30. Die großen pädagogischen Richtungen nach 1918 31. Das Bildungswesen nach 1945 32. Die Pädagogik nach 1945
BÜCHER-VERZEICHNIS 1932 Bücher-Verzeichnis der Holzinger-Volksbücherei (-) Bücher-Verzeichnis 1932 (1932) ( - ) Einband ( - ) Zehn wichtige Punkte! ( - ) A. Ältere und Klassiker-Ausgaben. (1) B. Prosa-Dichtung. (9) D. Vers-Dichtung (100) E. Dramen (105) F. Anthologien, Chrestomatien und Auswahlausgaben. (109) G. Naturwissenschaften, Mathematik, Heilkunde. (110) H. Philosopie, Religion Pädagogik. (120) I. Schrift, Sprache, Kunst. Musik. (125) K. Geschichte, Geographie. (128) L. Technik, Volkswirtschaft, Politik. (143) M. Zeitschriften. (148) N. Französische Literatur. (153) O. Englische Literatur. (156) P. Italienische Literatur. Q. Latein und Griechisch. (160) R. Kunstfertigkeiten, Sport. (161) S. Nachschlagewerke. (161) Jugendbücherei. (163) Inhalts-Verzeichnis: (163) A. Erzählungen, Gedichte, Dramen. (164) B. Erd- und Völkerkunde, Heimat und Vaterland. (177) C. Geschichte und Kultur. (178) D. Naturwissenschaften, Hygiene. (181) E. Zeitschriften. (183) F. Spiel, Sport, Sammeln und Experimentieren. (183) G. Kunst, Musik. H. Sozialwissenschaften, Philosophie, Politik. (184) Inhalts-Übersicht. ( - ) Werbung ( - ) Einband ( - ) Einband ( - )
Das von Peter W. Marx jüngst herausgegebene Handbuch Drama wählt einen Ansatz, der auf ein ahistorisch-transkulturelles, evolutionäres und traditionelles Verständnis der dramatischen Gattung verzichtet. Vielmehr trägt der Band der Besonderheit Rechnung, "dass das Drama keine in sich ruhende Form darstellt, sondern per definitionem eine Schnittstelle zur szenischen Darstellung bereit hält" (S. VII). In den Blickpunkt rücken somit der liminale Charakter des Dramas, dessen inhärente Offenheit für das Theater sowie seine Verortetheit innerhalb des Spannungsfeldes von Textualität und Performativität, deren historisierende Exemplifizierung das erklärte Ziel dieser Publikation darstellt. Das in diesem Methodenansatz implizit angelegte Eröffnen verschiedener dramentheoretischer "Zugangsweisen in einem nicht-homologisierbaren Diskurs" (S. 1) bedingt auch die interdisziplinäre ReferentInnenauswahl. Neben Marx beteiligen sich 27 weitere AutorInnen aus unterschiedlichen Fachgebieten: Theater-, Musik- und Literaturwissenschaft, Klassische Philologie, Japanologie und Anglistik. Das Handbuch Drama gliedert sich in drei umfassende Abschnitte. Im ersten Teil ("Begriffe und Konzepte") werden in zehn Beiträgen dramentheoretische Grundlagen beschrieben und zentrale Termini sowie Diskurspositionen erörtert. Einführend stellt Marx mit seiner Darlegung heuristisch gezogener "Linien der Dramentheorie" (S. 1) drei grundlegende Ansatzrichtungen der traditionellen Wissenschaftsdiskussion vor. Anschließend widmet sich Julia Stenzel eingehend der aristotelischen Poetik. Unter steter Reflexion älterer und neuerer Forschungspositionen diskutiert sie wesentliche Kernbegriffe und gattungs- wie medientheoretische und rezeptionsästhetische Überlegungen. Die folgenden drei Beiträge thematisieren Wirkungskategorien des Dramas und des Theaters: Das Tragische als Wirkungsart nimmt Alexandra Portmann in den Blick, während Marx das Komische anhand neuerer anthropologischer Forschungsansätze beleuchtet, die bei der Bewertung der Funktion des Lachens ansetzen. Der ebenfalls von Marx verfasste Beitrag zum Wunderbaren, das als ästhetische Kategorie im dramentheoretischen Kontext gegenwärtig nur wenig beachtet wird, beleuchtet vor dem Hintergrund ästhetischer Diskussionen des 18. Jahrhunderts die Korrelationen zwischen Drama, Theater und Wunderbarem, die im Spannungsfeld von Kunst bzw. Kunsttheorie, Natur und Technik evident werden. Peter M. Boenisch reflektiert das Verhältnis von Drama und Dramaturgie. Nach der Vorstellung zentraler Wegbereiter (Lessing, Brecht), unter deren Einfluss sich dramaturgische Arbeit zunehmend als polyrelationale Vermittlungsinstanz etabliert habe, wird Dramaturgie als analytischer Prozess ausgewiesen und auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse definiert. Der gattungstheoretisch-systematischen Verortung des Dramas gilt der Beitrag von Michael Bachmann. Er leistet eine historisch weitreichende Analyse der innerhalb des Gattungsdiskurses propagierten (hierarchischen) Differenzkriterien sowie solcher Konzepte, die von starr eingrenzenden Gattungssystematiken Abstand nehmen. Miriam Drewes' Artikel befasst sich mit Ansätzen, welche postdramatisches Theater zu kategorisieren versuchen und skizziert die performative Neupositionierung wichtiger Konstituenten des traditionell-textzentrierten Dramas innerhalb dieser Theaterformen. Die letzten beiden Aufsätze des Theorieteils befassen sich gezielt mit Interdependenzen interkultureller und intermedialer Wechselbeziehungen. Während Christopher Balme in seinem Beitrag zur interkulturellen Dramaturgie den "Austausch zwischen Dramenformen unterschiedlicher kultureller Provenienz" (S. 85) in den Blick nimmt, konturiert Wolf-Dieter Ernst an konkreten Fallbeispielen das Konzept der 'intermedialen Dramaturgie' aus phänomenologischer, historischer sowie forschungs- bzw. medientheoretischer Sicht. Der insgesamt acht Beiträge umfassende Mittelpart des Handbuches ("Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive") ist der Systematik der Dramenanalyse verschrieben. Nicolette Kretz präzisiert die Termini 'Figur', 'Handlung' und 'Dialog' in ihren Erscheinungsformen sowie in ihrer gegenseitigen Relation, während Boenisch einen Einblick in die Prinzipien der dramaturgischen Komposition des Dramas gibt und hierbei dessen theatrale Medialität aufzeigt. Anschließend fokussiert Marx in einem knappen Beitrag die Regieanweisung als dramatisches Textelement und leistet einen kompakten entwicklungsgeschichtlichen Abriss von der Antike bis in die jüngste Gegenwart. Kurt Taroff widmet sich der Frage nach dem mutmaßlichen Standpunkt des Rezipienten, welcher ein zentrales Thema der Theater- und Dramenforschung darstelle. Im Durchgang durch verschiedene Theaterformen und zeitliche Kontexte verdeutlicht er Positionierungen des Publikums vor dem Hintergrund wechselnder Identifikationspotenziale, Figurenkonzeptionen und narrativer Strategien. Bettina Brandl-Risi veranschaulicht, dass den dramentheoretischen Konzepten, die seit dem 18. Jahrhundert mit einem auf Kontinuität, Kohärenz und Progression setzenden, aristotelisch geprägten Handlungsbegriff operierten, in der Aufführungspraxis des 18. und 19. Jahrhunderts retardierende Dramaturgien der Diversität und der Unterbrechung (Tableaux, Intermezzi sowie Nach- und Vorspiele) entgegenstanden. Mit Peter Szondis dramentheoretischem Ansatz (vgl. Theorie des modernen Dramas) und dessen historisch-strukturanalytischer Relevanz beschäftigt sich Boenisch. Er erläutert konstitutive Aspekte des Konzepts der 'Absolutheit des Dramas' sowie die dramenspezifischen Veränderungen, die laut Szondi seit Ende des 19. Jahrhunderts die 'Krise des Dramas' herbeigeführt haben. Die letzten beiden Aufsätze des analytischen Teils behandeln explizit die Liminalität des Dramas. Während Marx das Verhältnis von Drama und Performativität untersucht und Positionen aus der Literatur- und Theaterwissenschaft sowie der Performance-Forschung diskutiert, spürt Drewes den neuen Herausforderungen nach, die sich nach der Auflösung traditioneller Gattungsnormen und durch den dramatischen und theatralen Formwandel seit Beginn des 20. Jahrhunderts für die Analysepraxis ergeben haben. Der dritte Abschnitt der Publikation ("Gattungen des Dramas im historischen Kontext") skizziert in achtzehn Beiträgen mit einem größtenteils europäischen, aber auch außereuropäischen Fokus, der zwischen dramatischer Textgattung und jeweiliger theatraler Praxis oszilliert, eine Auswahl diverser Dramen- und Theaterformen. Im Anschluss an eine knappe problematisierende Einstimmung (Marx) setzt die historische Überblicksdarstellung bei der Antike ein. Martin Hose reflektiert die Genese der griechischen Tragödie und Komödie sowie deren institutionelle Einbindung ins Kultische samt den Orten ihrer Aufführung und erläutert neben formalen Aspekten die anthropologisch-theologische Disposition der tragischen Gattung sowie die zwischen Überzeichnung und Realitätsnähe changierende Verfasstheit der Komödie. Auch die römische Dramatik findet Berücksichtigung. Traditionelle Gattungen des asiatischen Theaters behandeln die folgenden Beiträge. Stanca Scholz-Cionca und Andreas Regelsberger veranschaulichen essentielle Parameter des Nô-Dramas sowie des Puppen- und Kabuki-Theaters in Japan. Balme und Michael Gissenwehrer explizieren die Entwicklungsgeschichte und konstitutive Charakteristika des indischen Sanskrit-Dramas sowie der frühzeitlichen chinesischen Theaterkultur. Julia Stenzel und Jan Mohr befassen sich in einem gemeinsamen Artikel mit den geistlichen Spielen des Mittelalters und beschreiben die Formen, Themen, liturgischen Strukturen, Textträger sowie die diversen Spielvarianten innerhalb ihrer spezifischen sozialen Situierungen. Die Anglistin Virginia Richter führt in das englische Drama und Theater der Frühen Neuzeit ein. Mit Fokus auf Shakespeares Werk diskutiert sie das zeitgenössische Gattungsbewusstsein, arbeitet das epochencharakteristische Wechselspiel von Textualität und Performativität heraus und analysiert divergente Repräsentationsmodi von Tragödie und Komödie. Die italienische Improvisationscomœdie im 16., 17. und 18. Jahrhundert ist, wie Stefan Hulfeld zeigt, eine hochgradig ambivalente Theaterform. Entstanden unter dem Einfluss zweier einander konträr gegenüberstehenden theatralen Spielrichtungen der frühen Neuzeit tritt ihre spezifische Dramatik zutage als reziprokes Resultat einer aus szenischer Sukzessivität konstruierten Fabel und dem Spiel der Masken, die als mikrodramaturgische Einheiten fungieren. Dirk Niefanger befasst sich mit der dramatischen und theatralen Vielfalt im barocken Deutschland und resümiert wesentliche Dramen- und Theaterformen. Er unterstreicht die interkulturelle Prägung des Barockdramas und verweist durch die Kontrastierung von theatrum mundi-Konzept und Theatersemiotik auf soziale, theologische und anthropologische Konnotationen, die das Barocktheater als transinstitutionelle, "kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Alltagspraxis" (S. 233) manifestieren. Julia Pfahl betrachtet die im Kontext von aristotelisch-antiker Rückbesinnung und kulturellem Absolutismus entwickelte Regelpoetik der Französischen Klassik näher. Sie unterzieht die Etablierung der Académie française sowie den des Öfteren eklatanten Widerstreit von normativer Dramentheorie und Aufführungspraxis einer tiefgehenden Analyse. Mit der von vielschichtigen Veränderungen innerhalb des Theaters geprägten Epoche der Aufklärung beschäftigt sich Beate Hochholdinger-Reiterer. Ihr kritisch-reflektierter Durchgang reicht von Gottscheds Reformprogramm und Lessings theoretischem wie praktischem Wirken über die im ausgehenden 18. Jahrhundert stetig populärer werdende Unterhaltungsdramatik bis hin zum Sturm und Drang sowie den klassizistisch-idealistischen Theorien Schillers und Goethes. "Bühne und Musik / Bühnenmusik" lautet der Titel des Aufsatzes von Arne Stollberg. Anhand historischer Rückgriffe exemplifiziert er, dass die Bühnenmusik bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein konstitutiver Bestandteil gattungshybrider, "multimedialer(r) Bühnenereignisse" (S. 266) war und im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend in den Blick reformistischer Überlegungen geriet. Weiterhin thematisiert er die Genese des Melodrams sowie die antinaturalistische Ausrichtung der Weimarer Klassik. Klaus Müller-Wille betrachtet den (poetischen) Realismus und den Naturalismus: Anhand von konkreten, europazentrierten Beispielen beleuchtet er die ästhetisch-konzeptionellen Differenzen, die experimentell-reformistische Bühnenpraxis sowie die dramatische Gattungs- bzw. Methodengeschichte beider Strömungen. Nic Leonhardts Beitrag thematisiert das vom Gros der deutschen Theatergeschichten wenig gewürdigte oder gar ridikülisierte Wachstum theatraler Gattungen und Aufführungsformen seit Mitte des 19. Jahrhunderts – das Spektrum reicht von Opernparodien, Possen, Ausstattungstücken über Singspiele und Ballette bis hin zu Tableaux vivants und magischen, ethnischen sowie bildmedialen Vorführungen – und plädiert für eine wissenschaftliche Neubewertung dieser polykausal bedingten Gattungs-Proliferation hinsichtlich ihrer produktionsästhetischen Leistungen. Auf die moderne "Theaterkultur der kleinen Formen" (S. 286) des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts richtet Hans-Peter Bayerdörfer seine Aufmerksamkeit. Er konturiert das Modell des Einakters anhand seiner variantenreichen Ausdifferenzierungen und spezifischen Relevanz in der symbolistischen, expressionistischen, englischsprachigen und absurden Kurzdramatik und erklärt diese zu einer wesentlichen Prämisse der avantgardistischen Theaterreformen seit 1900. Im folgenden Beitrag beschreibt Marx in Anlehnung an Martin Puchner zwei unterschiedliche Traditionsstränge des gattungstheoretisch schwerlich fixierbaren Lesedramas: das "zurückhaltende" (S. 293), über den Dialog organisierte und das aus diversen Gründen als unspielbar geltende, "überschäumende" (S. 295) Lesedrama. Konstituenten des epischen Theaters erörtert Ulrich Kittstein. Zunächst bestimmt er episches Theater im weiteren Sinne als Gesamtheit aller nicht-aristotelischen Theaterformen, um es anschließend im engeren, Brecht'schen Sinne vorzustellen. Diese Fokussierung beinhaltet eine entwicklungsgeschichtliche Skizzierung, eine Reflexion über Brechts Lehrstücke, eine Darlegung der Grundzüge des epischen Theaters sowie eine nähere Beleuchtung von der Verfremdungstechnik und dem Gestus des Zeigens. Bachmann behandelt in seinem Aufsatz drei Phasen des Dokumentartheaters bzw. -dramas und umreißt die diskursiv viel diskutierte Form-Inhalt-Problematik. Dabei verweist er auf die Dramenzentriertheit des dokumentarischen Theaters und die Differenzierbarkeit von Geschichts- und Dokumentardrama anhand der Aspekte Politisierung und Belegbarkeit. Abschließend werden aktuelle theatrale Formen des Dokumentarischen besprochen. Dem Verlust der Gattungsmerkmale des Dramas in Deutschland nach 1945 gilt die Übersichtsdarstellung Norbert Otto Ekes. Sie erstreckt sich vom Drama und Theater der frühen Nachkriegsjahre und den unterschiedlich motivierten Entwicklungsprozessen in Ost- und Westdeutschland über die Diskussion neuer Dramenformen im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen seit den 1960er-Jahren bis hin zur Beschreibung der Diversifikation der Formen und Stile im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Der letzte Beitrag des historischen Kapitels und zugleich des Buches ist ein Ausblick von Stefan Tigges. Anhand konkreter Beispiele wird die Frage diskutiert, ob und inwiefern sich eine Renaissance des dramatischen Erzählens im Gegenwartstheater abzeichnet. Das Handbuch Drama erreicht sein Ziel, eine multiperspektivische, systematische und historisch-komparatistische Betrachtung der vitalen Reziprozität von Drama und Theater zu ermöglichen. Dazu trägt insbesondere auch die wohlüberlegte Auswahl renommierter AutorInnen bei. Dass ein historisierender und auf die Wechselbeziehungen von Textgattung und Theaterpraxis gerichteter Fokus wie der gewählte dabei notgedrungen an seine Grenzen stößt und die Publikation keinen Anspruch auf dramen- und theatergeschichtliche Vollständigkeit erheben kann, liegt in der Komplexität und Methodik des Vorhabens begründet, ist jedoch zu verschmerzen. Viel zu interessant und aufschlussreich erscheinen die sichtbar werdenden, multiplen Bezüge und Zusammenhänge, deren Ermittlung die besondere Leistung der Publikation darstellt und diese zu einer sehr empfehlenswerten und fruchtbaren Neuerscheinung macht.
Ob sich die Welt nach dem 11. September 2001 so verändert hat, daß man von einer grundsätzlich neuen Weltpolitik sprechen muß, ist eine Frage, die in den Feuilletons anhaltend diskutiert wird. 1. An das Theater wird in diesem Kontext vermehrt der Anspruch gestellt, sich weniger "selbstbezüglichen" Experimenten, als vielmehr den aktuellen Fragen der Zeit zuzuwenden. Die Leiter des experimentellen Münchner Theaterfestivals "Spielart", Tilman Broszat und Gottfried Hattinger, resümieren die Situation: "Die Forderung nach einer (Re-)Politisierung steht im Raum", von seiten der Theatermacher und -theoretiker werde momentan vermehrt eine "veränderte, realistische Sicht auf unsere Gesellschaft"[1] verlangt. Auf dieses Ansinnen als Folge eines weithin diagnostizierten Einbruchs des politisch und gesellschaftlich Realen in eine Unterhaltungs- und Spaßgesellschaft antworten die Festivalmacher provozierend mit dem Thema von "Spielart 2003": "Is it real?". Sie entziehen also einem manifeste Inhalte vermittelnden Theater listig von vornherein die Bühne und verteidigen ihr Unternehmen, das als Spektakel der Postdramatik gelten kann, gegen jede von ihnen als konservativ verstandene ästhetische Reaktion: "Eine nur den Inhalten nach politische oder sozialkritische Dramaturgie, die nicht neue, dem Theater angemessene Formen sucht, geht am Kunstanspruch vorbei."[2] Aufgrund der in der gegenwärtigen Theaterlandschaft und Kulturkritik beobachtbaren Dissonanz zwischen dem Ruf nach dem Real-Politischen im Theater und den Performance- und Inszenierungswelten einer postmodernen Eventkultur und dem sich daraus ergebenden Klärungs- und Diskussionsbedarf ist Hans-Thies Lehmanns Essaysammlung DAS POLITISCHE SCHREIBEN das richtige Buch zur richtigen Zeit, will es doch einen theaterwissenschaftlichen Beitrag leisten zur Orientierungslosigkeit in einer global vernetzten Medienwelt, die sowohl den "Kollaps eines Weltreiches" als auch den "Kollaps der Symboltürme" (9) weltweit erfahrbar machte. 2. Für die meisten Leser wird gelten, daß sie mit Lehmanns theatertheoretischem Essay Postdramatisches Theater mehr oder weniger vertraut sind. Er ist nicht nur aus theaterwissenschaftlichen Seminaren kaum mehr wegzudenken, sondern hat als Begriff und Stilvorgabe in Theaterkritik und -praxis seinen Einzug gehalten. Wenn man Postdramatisches Theater als Lektüre-Ereignis definiert, als - in Lehmanns Terminologie - Nullpunkt des Theatertheorielesens, dann wäre DAS POLITISCHE SCHREIBEN die durchaus nicht undramatische intellektuelle Produktions-Geschichte des Autors, die 26 Arbeiten aus den Jahren 1980 bis 2002 versammelt. Der Blick des Autors zurück, auch als Konstruktion einer intellektuellen "Biographie" anhand von Vorträgen, Programmheftbeiträgen, wissenschaftlichen und journalistischen Schriften, richtet seine Aufmerksamkeit zwar in erster Linie auf Theatertexte, aber es "steht dabei zugleich die Frage nach dem Theater, seiner Möglichkeit, im Hintergrund."(6) Dieser Hintergrund ist als Ort des Körperlichen und damit Triebhaften, des Ereignisses, der Präsenz und der Materie etwas, das dem "rationalen" Text, insbesondere der Fabel und der ein intaktes Subjekt spiegelnden Figur widersteht. Damit agiert in den Theatertexten das Theatrale als das Eigentliche verdeckt und wird erst sichtbar durch die Grenzen, Fehler, Widersprüche und Unvollständigkeiten, die dem Leser nach der Lektüre - das wäre die didaktische Intention Lehmanns - besser auffallen sollten. Diese Mängel sollten nicht als das zu Übergehende oder Korrigierende gedeutet werden, erzeugen sie doch im kulturellen und gesellschaftspolitischen Feld das "Begehren und den Motor seiner Praxis." (7) Wie man unschwer erkennt, dient in der Lehmannschen Analyse der Theatertexte, ähnlich wie in seinem Postdramatischen Theater, die strukturale Psychoanalyse nach Jacques Lacan als philosophische Vorstellungswelt. Politik und ihr Theater oder Theater und seine Politik sind also, das ist die Grundbedingung, immer mit der neostrukturalistischen Brille zu lesen (9). Wer dies nicht akzeptieren mag, wird mit Lehmanns Werken wenig Freude und Erkenntnisgewinn haben. Ihm entgeht, wie einer, der sich in den weitläufigen Gefilden und Untiefen der hermetischen französischen Theorien elegant zu bewegen weiß und das Theater in seiner ganzen geschichtlichen und systematischen Breite sehr gut kennt, stilistisch vorzügliche, gut lesbare und nachvollziehbare Erörterungen und Exegesen verfaßt. Diese gleichen erfreulicherweise wenig den alchimistischen Zauberkunststückchen einiger Lacan-Adepten wie etwa die des im Feuilleton notorisch präsenten Slavoj Zizek. 3. Das Programm, das den nicht allzu kohärenten Beiträgen einen Gesamtrahmen geben soll, wird gleich zu Anfang vorgestellt. Unter dem Titel "Wie politisch ist das postdramatische Theater?" wird das gegenwärtige Verhältnis des Theaters zu Politik und Gesellschaft erörtert und die anhaltende Relevanz der experimentellen Theaterformen bekräftigt. Für Lehmann lautet der "gewöhnliche" Vorwurf an das postdramatische Theater, "fehlerhaft fehle das Politische", und: "von Aufklärung, von Moral, von Verantwortung (auch hinsichtlich der Klassiker) - keine Spur." (16) Hinter diesem Ansinnen vermutet Lehmann einen "redlichen Gestus", der schon deshalb verdächtig ist, weil er sich niemals legitimieren kann und lediglich eine Maske des Willens zur Macht und der Gewalt ist. Weitere Masken in diesem Sinne wären "Realität", "Ratio", "Pragmatismus", "gesunder Menschenverstand" und "natürliches moralisches Empfinden", dem als richtige politische Handlung allein die Entgegensetzung einer "ästhetischen Praxis der Ausnahme", die auf die "Grundlosigkeit des Gesetzes" (19) weist, beikommt. Gefordert wird eine "Wahrnehmungspolitik des Theaters" zur Schärfung der Sinne für die "Ausnahme" (19). Folglich wird politisches Theater in keinem Fall ein "realistisches" im üblichen Sinne sein können, kein "Theater der Schaustellung", der Fabel und der Personen. Das "Politische des Theaters" ist nicht als "Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen zu denken" (17). Der momentan zu beobachtende Rückzug einer "Reihe jüngerer Theaterleute auf ein formal kommensurables Theater", der "neue Hang zu einem sogenannten 'Realismus'", welcher der Nachfrage eines Publikums geschuldet ist, "das, wie man hört, der ewigen Destruktionen leid ist", kann jedoch "nur aus Furcht vor wirklich riskanten Setzungen unter seinen politischen und künstlerischen Möglichkeiten bleiben." (15) "Realismus" wäre ein Verschweigen der notwendigen "Unterbrechung". Als Oberbegriff des ersten von fünf Kapiteln der Sammlung schlägt diese den Bogen von der Postdramatik zur Prädramatik und wieder zurück. Damit wiederholt das erste Kapitel die Struktur der Theatergeschichte, die Lehmann bereits in seiner Habilitationsschrift, teilveröffentlicht unter dem Titel Die Konstitution des Subjekts in der antiken Tragödie, vorgeschlagen hat. Der analoge Blick auf die Postmoderne und die theatrale Vorzeit der griechischen Antike erlaubt in der Abhandlung "Erschütterte Ordnung - das Modell Antigone" die Dekonstruktion des Sophoklesschen Theatertextes, wobei sich der dramatische Konflikt, der sich bei Hegel, vermittelt durch Lehmanns Lehrer Peter Szondi, noch im Dazwischen, im Dialog zeigen sollte, als dialektisch nicht auflösbar erweist. Im Mittelpunkt steht nicht wie sonst die auf der inhaltlichen Ebene zu konstatierende Agonalität zweier ausgesprochener, sinnvoller Standpunkte, sondern der in der argumentativen Struktur des Theatertextes selbst zutage tretende innere Konflikt und Widerspruch. Ein tragischer Diskurs ist also nicht als Konfrontation miteinander unvereinbarer Positionen zu Politik und Gesellschaft, Recht und Moral zu denken, vielmehr wird er sichtbar in der letztlich unhaltbaren Bemühung, überhaupt eine Position zu definieren. Erschreckend ist in der Antigone die Erkenntnis, daß es eine fundamentale Lücke in der Wahrnehmung gibt, auf inhaltlicher Ebene ist daher keine Einigung zu erzielen. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Poesie des Textes, die eine eigene Sphäre des Mehrdeutigen als Gegensphäre sichtbar werden läßt (29). Die antike Tragödie lehrt somit, daß es für die Polis keine Hoffnung auf einen Konsens, welcher eine allgemein akzeptierte Rechts- und Politikordnung gründen könnte, gibt. Schon von seiner Frühzeit her ist das Theater nicht einmal als Gegenmodell zu den bestehenden Verhältnissen zu denken, seine politische Aufgabe findet es eher darin, auf die Grundlosigkeit jeder menschlichen Ordnung zu verweisen und damit eine Unsicherheitswahrnehmung zu evozieren, eine Heideggersche "Angst", die durch keine Gewißheit aufzuheben ist. Die Auflösung geht hierbei nicht nur vom Theatertext, sondern zudem von der Sinnlichkeit der Aufführung, der sprachlichen und gestischen Performanz des Moments, die den Sinn auf der inhaltlichen Ebene unterminiert, aus. 4. In den weiteren vier Kapiteln folgen einerseits Erkundungen im theatersystematischen Raum unter den Titeln "Darstellbarkeit" und "Drama", andererseits Erörterungen zu den für Lehmann wichtigsten Dramatikern und Theatertheoretikern Bert Brecht und Heiner Müller, denen jeweils eines der beiden die Essaysammlung abschließenden Kapitel gewidmet ist. Wie es sich für das "erwachsen" gewordene Fach Theaterwissenschaft, das sich endgültig von der Germanistik emanzipiert hat, gehört, geht es erst um das Theatrale, d. h. in den fünf meist älteren Beiträgen des zweiten Kapitels um das Problem der Darstellung im weitesten Sinne, und erst danach, im dritten Kapitel, in weiteren fünf Aufsätzen um den dramatischen Text in seinen verschiedenen Erscheinungs- und Inszenierungsformen von Müllers Auftrag bis zu Schleefs Rhythmen. Darstellbarkeit bedeutet für Lehmann "Entzug der Darstellung" (39), in dem Beitrag "Das Welttheater der Scham" geht er der Dialektik des Ver- und Ent-bergens in der Maske des Theaters und der Scham als Schutzaffekt des Selbst in der Kulturgeschichte und beider Verhältnis zum ungeklärten Status "theatral" oder "natürlich" nach. Da die Grenze eigentlich nicht zu ziehen ist, weiß man nicht, was wirklich ist. Die entstehende Unsicherheit zeigt sich ebenfalls in der Untersuchung "Das Erhabene ist das Unheimliche" als das "Bedrohliche an der Auflösung der Grenze von Symbol und Symbolisierung", das sich sowohl im 18. Jahrhundert als auch in der historischen Avantgarde in der im "Erhabenen" begrifflich gebannten Angst vor dem "Abgrund des Nichts-Sinns" (73) spiegelt. Eine Bataillesche "Ökonomie der Verausgabung" und eine performative "Ästhetik des Risikos" machen in der Grenzüberschreitung die falschen Grenzen und damit die Zwänge der symbolischen Ordnung deutlich. "Revolution und Masochismus" als Verhältnis, wie es in den Revolutionsdramen Georg Büchners und Heiner Müllers zu lesen ist, bedeuten, daß masochistische Lust den Begriff und die Dialektik stören, genauso wie die Körperlichkeit in einem poetischen Text "jeden Diskurs des Politischen und Historischen, jede Sinngebung" (122) unterbricht. 5. Wenn dem Theater als performativem Ereignis eine unaufhebbare Differenz, die der Körperlichkeit und Ereignishaftigkeit zuzuschreiben ist, eignet, dann wird nicht nur das Inhaltliche als Sinn des auf der Bühne Dargestellten, sondern auch als Sinn des Theatertextes selbst prekär. Die im Kapitel "Drama" behandelten Theatertexte - es sind dies im besonderen die Stücke von Büchner, Müller, Kleist und Jahnn - lassen für Lehmann inhaltlich und formal Brüche und Widersprüche konkret werden, die indirekt auf den grundlosen Grund der Ordnung und das den Text sprengende, nicht in den Be-Griff zu zwingende Trieb-Leben verweisen. Die Dialektik der dramatischen Form und der Geschichte erweist sich als pure Fassade, die dem performativen Eigenleben in Wirklichkeit wenig kulturelle Stabilität entgegensetzen kann und die deutliche Spuren der Anwesenheit der Körper trägt, welche Lehmann sichtbar machen will. Exemplarisch steht hier Einar Schleef für ein Theater, das diesen Erkenntnissen in den Inszenierungen Rechnung trägt, indem mit der Besinnung auf die "einfachen Urelemente des Theaters" (186) das Gewaltsame und Konflikthafte der Kultur und des Politischen nicht in einem harmlosen Dialog verdeckt wird. Im "Theater des Konflikts" wird vielmehr durch den Rückgriff auf rhythmisierte Körper und Stimmen das Verdrängte auf die Bühne gezogen, mit dem Ziel, dieses zu bannen, indem es rausgelassen und damit den Akteuren und Zuschauern bewußt gemacht wird. 6. Heiner Müller, der sein Theater auch in der konfrontativen Auseinandersetzung mit den Stücken und der Theatertheorie Brechts kreiert hat, ist ein immer wieder zitierter Spiritus Rector Lehmanns. Die entsprechende Traditionslinie orientiert die Anordnung zweier umfangreicher Kapitel, "Der andere Brecht" und "Studien zu Heiner Müller", wobei der ältere Dialektiker durch die postmoderne Lesart des Jüngeren neu zu entdecken ist. Folglich geht es in sechs Beiträgen nicht um den bekannten, sondern um den "anderen" Brecht, d.h. nicht um den Brecht, der den "Idealen des Kollektivs, der kommunistisch-leninistischen Politik" (208) zu nahe kam, sondern den von Lehmann vorgeschlagenen und in der Lektüre aufgedeckten zweideutigen und aufgrund der jeweiligen politischen Situation in Amerika und in der DDR maskierten Brecht. Gefunden wird dabei inhaltlich das Böse als Kehrseite des behaupteten Moralischen, das dem Grundsätzlichen unterlegte Zweifelnde und Fragende, welches sich auch formal im "performativen Status der Sätze" (216) und in den "Spaltungen im Bau der Texte" (213) nachweisen läßt. Lehmanns Dekonstruktionen Brechts opponieren gegen die Geschlossenheit der Fabelstruktur als "Fabel-Haft", indem sie in den Theatertexten und -theorien "produktive Widersprüche" und "innere Spannungen" (225) aufzeigen. Insbesondere das Fragment Fatzer soll darlegen, wie sich Brecht radikal derart in theatrale und politische Selbstwidersprüche schrieb, daß er "an diesem Abgrund, zumal am Versuch, den 'Konflikt' von 'Ego' und Kollektiv überzeugend auszutragen, 'scheiterte'." (250) Dieser Konflikt zeitigte eine solche Sprengkraft, daß, übertragen vom dramatischen Text Fatzer auf den theatralen Text des Lehrstücks, dieses als Performance und damit als Möglichkeitsraum interpretierbar wird. Hier geht das Drama in den Ereignis-Raum über, indem es den Zuschauer gleichzeitig zum Schauspieler macht und umgekehrt. Die gegenseitige Wahrnehmung der Akteure läßt die eigenen als fremde Gesten bewußt und gleichzeitig die Grenze zwischen Theater und Leben undeutlich werden. In diesem Moment, in dem Brechts Theaterthesen im Theater performativ unterlaufen werden, transformiert sich der Brechtsche zum postdramatischen Gestus, zum performativen Akt. 7. Die Realerfahrung in der DDR sowie die Auseinandersetzung mit der Theaterästhetik Brechts und die intensive Lektüre der Neostrukturalisten, insbesondere Foucaults, beeinflussen Müllers dramatisches Werk. So erscheint die überlieferte symbolische Ordnung, in die das "Individuum" eingefügt ist, als die Wiederkehr der Toten, die Lehmann in einem Beitrag als "Müllers Gespenster" auftreten läßt. Fundamentale Differenzen zwischen Anwesenheit und Begriff sowie zwischen Körper und Text erzeugen sowohl eine Verfehlung als auch ein Begehren, das in der Akzeptanz dieses unaufhebbaren Mangels eine Dramaturgie erzwingt, welche mittels der Demontage der Einheit der Fiktion und der Montage heterogener Textelemente "jeden szenischen Moment wie am Anfang erscheinen" (340) läßt und so, die eigene Intertextualität ausstellend, in einem performativen Akt die symbolische Ordnung tradiert. Als der für Lehmann "bedeutendste Autor postdramatischer Texte" (340) gibt Müller die "Figurendramaturgie [.] zugunsten eines Theaters von Stimmen, in dem die Figuren Träger des Diskurses werden" (339) just zu der Zeit auf, als in der Neoavantgarde weltweit neue Theater- und Regieformen generiert werden, die unter dem weiten Begriff Performance subsumiert werden. Müllers Dramaturgie und der Ereignis-Raum der Aktionskunst konvergieren zu theatralen Phänomenen, die Lehmann unter dem Begriff Postdramatik bekannt gemacht hat. 8. Der Autor, dies beweist einmal mehr die vorliegende Essaysammlung, ist nicht nur ein profunder Wissenschaftler, sondern schreibt auch als Intellektueller in der Tradition Émile Zolas, welcher in der öffentlichen Meinung einen durchaus klaren Standpunkt, der wenig Kompromisse oder eigene Widersprüche erkennen läßt, einnimmt. DAS POLITISCHE SCHREIBEN präsentiert eine erstaunlich kohärente Entwicklung Lehmanns von der Spätphase der Frankfurter Schule bis zu den Neostrukturalisten und vom Brechtschen Gestus bis zur Postdramatik - der Sprung von Adornos "Negativer Dialektik" zu Lyotards "Affirmativer Ästhetik" ist ja geringer als gemeinhin angenommen. Insofern ist die Essaysammlung gerade jüngeren TheaterwissenschaftlerInnen als Ergänzung zur obligatorischen Pflichtlektüre Postdramatisches Theater sehr zu empfehlen, bietet sie doch eine Archäologie einiger der wichtigsten intellektuellen Paradigmen seit den 70er Jahren, inklusive deren Verhältnis zur Theatertheorie und -praxis. Man mag die Konsequenz in der Haltung Lehmanns als Widerspruch zwischen fluider Theorie und beharrender Praxis empfinden, doch Vorwürfe dieser Art begleiten generell Theorieentwürfe, die zum unendlichen Regreß tendieren, und das sind momentan die avanciertesten. Der eingangs angesprochene virulente Meinungsaustausch über das Politische in der Gesellschaft und im Theater wird weiter zu führen sein. Auch wenn man, wie der Rezensent, keineswegs der Meinung ist, daß, so der Autor, "die Ethik des Theaters [.] sich mithin nicht an der inhaltlichen Repräsentation von Ethischem, sondern an der Art und Weise des Zeichengebrauchs" (100) orientieren soll und einen performativen Raum als Ausnahmezustand, wie ihn Lehmann ausgerechnet mit Carl Schmitt formuliert, als sehr bedenklich ansieht, muß man das außerordentliche stilistische und intellektuelle Niveau der Schriften Lehmanns anerkennen. Als prägnante und relevante Positionen werden sie die anstehenden Diskussionen zum Politischen im Theater entscheidend mitbestimmen. [1] Tilman Broszat und Gottfried Hattinger: Is it real? Gedanken zum Thema. Pressemappe zum Theaterfestival Spielart 2003 München vom 24. Okt. bis 8. Nov. 2003. [2]