"Individualisierung umschreibt Louis Dumont zufolge einen langfristigen Prozess (longue duree), der im Westen beim Christentum seinen Ausgang nahm und sich durch Kolonialismus und Globalisierung weltweit verbreitete. Durch Prozesse der Individualisierung werden Kulturen radikal transformiert und zu einer - mehr oder weniger freiwilligen - Umstrukturierung rund um das Individuum als wesentlichen ethischen Wert gedrängt: Das Individuum, das als von Natur aus frei, moralisch, gleich und vernünftig bestimmt wird, gilt als Inbegriff der Humanität. Prozesse der Individualisierung verlaufen in den meisten Gesellschaften nicht ohne Spannungen und Widerstände." (Autorenreferat)
Teil einer Verlagsreihe mit Texten zu Schlüsselbegriffen und -personen der Sozialwissenschaften. Zwar wird die Individualisierung als ein in der öffentlichen Diskussion eingeführter Begriff auch in neueren Einführungen zur Soziologie und nicht zuletzt bei den einschlägig bekannten Theoretikern Durkheim, Weber, Beck, Giddens u.a. behandelt, dennoch ist es aber nicht schlecht, eine systematische, verständlich geschriebene Abhandlung der Theoriegeschichte dieses Begriffes an die Hand zu bekommen. Natürlich wird auch seine zentrale Rolle in der neueren Theoriediskussion der Soziologie (Stichwort: Becks "Risikogesellschaft") behandelt. - Vor allem für Studierende der Sozialwissenschaften. (3) (Jürgen Plieninger)
"Individualisierung" ist ein zentrales Schlagwort zur Beschreibung des Zusammenhangs der Individualität sozialer Akteure und sozialer Strukturen. Dieser Band erläutert, wie dieser Zusammenhang angemessen für die Gegenwartsgesellschaft beschrieben werden kann, in der sich die kulturellen und sozialstrukturellen Bedingungen rapide wandeln. Dabei wird der Individualisierungsdiskurs theoretisch aufgearbeitet, empirisch veranschaulicht und auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht.
Anlässlich der Ehrung des Soziologen Richard Sennett mit dem Hegel-Preis wirft der Beitrag die Frage auf: Ist Richard Sennett der gemeinschaftssehnsüchtige Nostalgiker, vielleicht sogar der linke Nostalgiker, für den ihn viele in der deutschen Öffentlichkeit halten, wofür sie ihn verehren bzw. anfeinden? Oder beruht dieser Ruf kulturkritischer Nostalgie, der Richard Sennetts Ansehen in Deutschland wenigstens zum Teil begründet, vielleicht gerade auf einem Missverständnis seines Werkes? Am Beispiel der Individualisierung wird gefragt, was die individualisierende Lage und Dynamik des Menschen jenseits der großen philosophischen und religiösen Erzählungen des "autonomen Individuums" kennzeichnet und was den normativen Kern von Richard Sennetts kulturkritischen Blick an dieser Stelle ausmacht. Während viele die zunehmend anonym werdenden Beziehungen, die Kälte und Entfremdung beklagen, die durch Individualisierung zur Norm geworden sind, ergreift Sennett Partei für die Werte der Unpersönlichkeit, der Anonymität und der "zivilen Gleichgültigkeit", die überhaupt erst so etwas wie Öffentlichkeit des sozialen und politischen Lebens ermöglichen. Er kritisiert die kleinkarierte Gemütlichkeit, sei es der Familie, des Klassenmilieus, der Nachbarschaften und Ortsgemeinden. Nicht nur die Einsicht, dass es eine "Intimgesellschaft" nicht geben kann, sondern die Freude darüber, dass es sie nicht gibt, und dass das unendliche Gespräch zwischen Fremden nie aufhören wird, solange es Menschen überhaupt gibt, kennzeichnet die Größe des soziologischen Schriftstellers und Menschen Richard Sennett. (ICH2)
"In der Perspektive von Individualisierung bezeichnet 'Modernisierung' den langfristigen Prozeß der Herauslösung individueller Schicksale aus familiären, ständischen, klassengebundenen und obrigkeitsstaatlichen Schicksalsvorgaben. Wesentliche Komponenten dieses sozialen Freisetzungprozesses faßten auch im Staatssozialismus Fuß, und zwar in manchem dramatischer und nachhaltiger als im Westeuropa des 20. Jahrhunderts. Um das zu erkennen, muß man zwischen intendierten und nichtintendierten Effekten der Modernisierung ostmitteleuropäischer Gesellschaften unterscheiden. Für die ambitionierten Industrialisierungs- und Kollektivierungsprojekte bedurfte man beliebig verfügbarer Menschen, die sich auf den Verschiebebahnhöfen des gesellschaftlichen Neubaus hin und her rangieren ließen. Im Ergebnis gingen soziale wie kulturelle Entwurzelung und Freisetzung von hergebrachten Zwängen eine diffuse Symbiose ein, wobei die systematisch betriebenen Entsolidarisierung, verbunden mit Kontroll- und Überwachungspraktiken, die Kritik- und Selbststeuerungspotentiale der ungewollten Moderne autokratisch einhegen sollten. Der gegenwärtige Umbau Ost-Mitteleuropas am Leitfaden westlicher 'Errungenschaften' läuft Gefahr, den modernen Vorschein staatssozialistischer Produktions- und Lebensformen mit dem System, das ihn hervorbrachte, abstrakt zu identifizieren und so zu eliminieren. Er opferte, ineins damit, die kritische Sicht auf die westlich-kapitalistische Gesellschaftsform, die, auf Selbstbeschreibungsebene, als eine halbierte, in den Privat-, Geschlechter- und Generationsbeziehungen noch nicht zu sich selbst gekommene Moderne erscheint. Eine vergleichende Untersuchung west-östlicher Individualisierungswege, die Licht auf das je gesellschaftsabhängige Verhältnis freigegebener und normierter Verhaltensweisen und -bezirke wirft, könnte demgegenüber sowohl theoretisch als praktisch neue Horizonte eröffnen." (Autorenreferat)
Der Beitrag geht konzeptionell und empirisch der Frage nach, inwieweit der Wohlfahrtsstaat einen Beitrag zum Prozeß der Individualisierung leistet, und auf welche Weise sich dieser Beitrag von den individualisierenden Effekten anderer Institutionen unterscheidet oder gar in einem Spannungsverhältnis zu ihnen steht. Mit diesem Ansatz soll die These von Ulrich Beck eines besonders sozialstaatlich gesteuerten Individualisierungsschubs in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland einer Explikation und Prüfung unterzogen werden. Dem Individualisierungsprozess wird dabei sowohl auf der Ebene des sozialen Wandels als der Veränderung von gesellschaftlichen Institutionen nachgegangen als auch auf der Ebene individuellen Handelns als Veränderung der Parameter und Kalküle der Wertorientierungen. Insgesamt wird die These bestätigt, dass die Expansion des Wohlfahrtsstaats zu einer Pluralisierung der Lebensformen beigetragen hat. ICA)
Einleitung: "Im Flugsand der Individualisierung"? -- Theoretische Grundlagen -- Individualisierungskonzepte aus individualistischer Perspektive. Ein erster Versuch, in das Dickicht der Individualisierungskonzepte einzudringen -- Die Individualisierungs-These. Eine Explikation im Rahmen der Rational-Choice Theorie -- Subjektivierung der Vergesellschaftung und die Moralisierung der Soziologie -- Sozialstaat und Individualisierung -- Theoretisch-empirische Analysen -- Europäische Familienentwicklung, Individualisierung und Ich-Identität -- Individualisierung und die Pluralisierung von Lebensformen -- Individualisierung und Elternschaft. Eine empirische Überprüfung der Individualisierungsthese am Beispiel USA und ein Systematisierungsvorschlag -- Individualisierung ohne Gleichheit? Zur aktuellen Lage des Geschlechterverhältnisses -- Berufseinstieg — gestern und heute. Ein Kohortenvergleich -- Auf der Suche nach "neuen sozialen Formationen und Identitäten" — Soziale Integration durch Klassen oder Lebensstile? -- Eine empirische Untersuchung einer Individualisierungshypothese am Beispiel der Parteipräferenz von 1953–1992 -- Sozialstruktur und Wahlverhalten. Eine Widerrede gegen die Individualisierungsthese -- "Individualisierung" als Ursache rechtsradikaler Jugendgewalt? -- Über die Autoren.
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"Je besser Einzelne wirtschaftlich dastehen, desto wichtiger wird die Bedeutung des sozialethischen Gebots der Solidarität. In einer säkularen Gesellschaft muss das Bewusstsein solcher Verpflichtung auch ohne religiöse Absicherung ausreichen." (Autorenreferat)