"Armin Nassehi beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Funktion des Politischen, die er nicht nur in der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen sieht, sondern auch in der Herstellung und Bereitstellung politischer Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen hierbei der Begriff des Kollektivs und die Konstruktion adressierbarer Kollektive als Zurechnungsbasis für das politische Entscheiden." (Autorenreferat)
Kaum ein Bereich in den transatlantischen Beziehungen ist von so tiefgreifenden Missverständnissen geprägt wie die Religion. Der größte Teil der Missverständnisse ergibt sich für den Autor daraus, dass Europäer die Säkularisierung ihrer eigenen Gesellschaften mit Modernisierung, Aufklärung und Fortschritt gleichsetzen. Sie verstehen daher die anhaltende Religiosität in der amerikanischen Gesellschaft nicht nur als eine amerikanische Eigentümlichkeit, sondern als ein Zeichen der Rückständigkeit - als einen Hinweis darauf, dass die Vereinigten Staaten noch keine wirklich moderne Gesellschaft sind und dass die Tradition der Aufklärung in ihnen nie Fuß gefasst hat. Mit seinem Vergleich zwischen den USA und Europa stellt der Autor eine zentrale Behauptung des europäischen Selbstverständnisses von Moderne infrage, nämlich dass das Voranschreiten von Wissen und Freiheit gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Religion ist beziehungsweise dass die Religion tendenziell für moderne Demokratien eine Bedrohung ist. Diese Kritik kann das Selbstverständnis der EU grundlegend ändern. Akzeptiert man die Religion als Teil des Moderneprojekts, dann erscheint auch der moderne türkische Staat nicht mehr als "der fremde Andere", den es aus prinzipiellen Gründen aus der westlichen "Wertegemeinschaft" auszuschließen gilt. (ICA2)
Bislang wurde die Frage, wie und welche Differenzierungsformen in der Konstruktion einer Gesellschaft zusammenwirken und welche Semantik dies herausstellt, (nicht nur) in der Systemtheorie vernachlässigt. Die gegenwärtige Dominanz des Theorems funktionaler Differenzierung in der Beschreibung der modernen Gesellschaft führt dazu, die Gemengelage an Differenzierungsformen im einzelnen zugunsten einer primär funktionalen Beschreibungsfigur zu unterschätzen. Das gilt zum Beispiel für die Beschreibung der modernen Ordnung von Inklusionen und Exklusionen. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass die systemtheoretische Differenzierungstheorie in der Lage ist, sich diesem "entweder-oder" zu entziehen, wenn sie sich des Zusammenspiels funktionaler und segmentärer Differenzierung vergewissert. Denn die funktionale Ausdifferenzierung des Weltpolitiksystems stabilisiert sich durch die Differenzierung in Segmente, das heißt in Staaten und Staatenbünde. Globalisierung und Segmentierung schließen sich nicht aus. Es gibt ein globales politisches Funktionssystem - als Staatensystem. Diese Vielzahl an Grenzen durchkreuzt den vermeintlich klaren funktionalen Grundriss der modernen Gesellschaft. (ICA2)
Niklas Luhmann und Jürgen Habermas haben nachhaltig zwei Aspekte ins Zentrum der Theoriebildung gerückt. Das ist zum einen das Problem der Komplexität, also die Vielfalt nicht aufeinander reduzierbarer eigensinniger Erlebens- und Handlungsbereiche der Gesellschaft. Komplexität meint, dass Gesellschaft aus mehr Elementen besteht, als sie jeweils relationieren kann; mithin kann sie sich verändern und gleichzeitig mit sich identisch bleiben. Zum anderen ist es die Herausforderung, die die Komplexität für eine demokratische Selbstbestimmung der Gesellschaft darstellt. Denn Komplexität ist eine Voraussetzung und Folge demokratischen Handelns, das verschiedene Interessenlagen und Lebensweisen koordiniert, indem es erwarten lässt, dass Konflikte friedlich ausgetragen werden, Interessen nicht unmittelbar, sondern erst nach ihrer Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit realisiert und allein auf längere Frist angelegte, alle einbeziehende und verpflichtende Lösungen verfolgt werden. Der vorliegende Theorievergleich zeigt ein "asymmetrisch Verhältnis": Habermas entnimmt Luhmanns Theorie für seine eigene einige Bausteine und integriert sie im Sinne seiner rekonstruktiven Verfahrensweise; Luhmann sieht Habermas' Theorie als Herausforderung, allerdings will er sie weder widerlegen noch etwas von ihr übernehmen, sondern sie erübrigen. Beide treffen sich darin, dass sie dem jeweils anderen als letztes Argument vorhalten, in der Tradition der Subjektphilosophie befangen zu sein. Bei Luhmann ersetze Systemrationalität, so Habermas, die Rationalität des Subjekts; er übernehme damit auch die Erblast der Tradition und könne nicht in den nachmetaphysischen Begriffen von Intersubjektivität und kommunikativ erzeugter Rationalität denken. Luhmann hingegen hält Habermas' Versuch, Intersubjektivität und Kommunikation zu integrieren, für subjektphilosophisch. (ICA2)
Ausgehend von N. Luhmanns systemtheoretischen Annahmen zum Verhältnis von "Gesellschaftsstruktur und Semantik" wird der Zusammenhang von politischem und publizistischem System untersucht. Bezogen auf die politische Kommunikation wird der "Staat" als die Semantik des Politischen verstanden, der in unterschiedlichen Formen auftritt: (1) als Selbstbild der Politik (der "Staat der Politik"), (2) als Fremdbild in den Medien (der "Staat der Medien" bzw. des Fernsehens).(DY)
"Mit Blick auf die Genese des Staates und der Politik aus der Verantwortung gilt es zu beachten, dass die politisch wahrgenommene Verantwortung nicht allen Ansprüchen, die aus individuellen und sozialen Kontexten an sie gerichtet werden, gerecht werden kann. Der Autor macht deutlich, dass die Gerechtigkeit der Politik gerade darin besteht, ein Bewusstsein für die Unmöglichkeit einer derart umfassenden Verantwortung zu entwickeln. Politische Amtsträger und Bürger sind dabei gleichermaßen in ein Verantwortungsverhältnis eingebunden, in dem die Bedürfnisse der anderen Menschen und das Wohl der Allgemeinheit prinzipiell Vorrang vor der Sorge um sich selbst haben. Dies gilt in besonderem Maße für die politischen Amtsträger, die dazu verpflichtet sind, Verantwortung für andere zu tragen, weil sie von diesen in die politische Verantwortung eingesetzt wurden. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass der Staat sich seines Fundamentes beraubt, wenn er vorrangig an die Eigenverantwortung des einzelnen appelliert und dabei übersieht, dass diese im politischen Gemeinwesen ohne die Verantwortung für andere schlechterdings undenkbar ist. Denn erst aus der Antwort auf Ansprüche von anderen gehen politische Institutionen und Institutionen der Gerechtigkeit hervor." (Autorenreferat)
Der Autor untersucht die Zusammenhänge zwischen nationalstaatlichen Grundstrukturen und der Politik gegenüber ethnischen Minderheiten. Er versteht seine Ausführungen weniger im Sinne von 'Realanalysen', sondern als eine idealtypische Rekonstruktion von bestimmten staatlichen Merkmalen. Er faßt zunächst die Prinzipien gesellschaftlicher und kultureller Förderung von ethnischen Minderheiten zusammen, wobei er zwischen einem 'demotisch-unitarischen' und einem 'ethnisch-pluralen' Konzept unterscheidet. Im zweiten Teil zeigt er typische Beziehungsmuster zwischen der Außenpolitik eines Landes und seiner Minderheitenpolitik auf und diskutiert die Organisationsprinzipien für einen ethnischen Pluralismus. Im dritten Teil seines Beitrages geht er auf den völkerrechtlichen Minderheitenschutz und die individuellen Menschenrechte am Beispiel der früheren Anti- Diskriminierungsgesetze in den USA ein. Die 'affirmative action' begreift er in diesem Zusammenhang als eine konzeptionell neue Förderungspolitik von ethnischen Minderheiten. Seine idealtpypischen Betrachtungen überträgt er abschließend auf die gegenwärtige Diskussion zur Ausländer- und Minderheitenpolitik in der Bundesrepublik. (ICI)