Der Funktionswandel der deutschen Wertpapierbörsen in der Zwischenkiegszeit (1885-1939)
Einleitende Bemerkungen
Ziel der Arbeit ist es, die Entwicklung der deutschen Wertpapierbörsen in der Zwischenkriegszeit genauer nachzuzeichnen, als dies bislang gelungen ist. Sodann werden die Ursachen für das, was man als den Funktionswandel der Börsen bezeichnet hat, diskutiert. Damit wird zugleich ein Beitrag zu speziellen Aspekten der Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik und des NS-Regimes geleistet. Die Arbeit argumentiert vor allem historisch-institutionell und betrachtet auch die Handlungen von Beteiligten.
Gegenstand der Studie
Man muß etwa 100 Jahre zurückgehen (also bis 1890), um einen Zeitraum zu finden, in dem die Verfassung der Wertpapier- und Warenbörsen im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen gestanden hat und ähnliche Fragen die Öffentlichkeit und Politik beschäftigten, wie sie heute wieder erörtert werden. Eine derzeit (um 1995) aktuelle Frage ist, wie sich die Funktionsfähigkeit der Börse steigern läßt, nicht zuletzt in Hinblick auf die Verbesserung der Stellung der deutschen Wirtschaft in der Welt. 1896 ist aus massiven politischen Konflikten ein Börsengesetzt hervorgegangen, das seinerzeit wegen der Einschränkung der Autonomie der Börsenorgane und des Verbots bestimmter Handelsformen insbesondere die Vertreter liberaler Handelsinteressen nicht befriedigte. 1908 wurde vom Reichstag eine Novelle dieses Börsengesetzes verabschiedet, und in dieser neuen Form hat das Gesetz bis in die jüngste Vergangenheit Gültigkeit gehabt. Das Börsengeschehen wurde als aussagekräftiges Barometer der wirtschaftlichen Befindlichkeit, insbesondere der konjunkturellen Lage, zu dieser Zeit gesehen. Merklich anders hat es sich jedoch in der Zwischenkriegszeit verhalten. Einige Jahre nach dem Ende der Hyperinflation bemerkte man tiefgreifende Änderungen im Börsengeschehen, die als Funktionswandel der Wertpapierbörse beschrieben wurden.
Die vorliegende wirtschaftshistorische Arbeit hat zum Ziel, die Entwicklung der deutschen Wertpapierbörse in der Zwischenkriegszeit genauer nachzuzeichnen. Ursachen für den Funktionswandel der Wertpapierbörsen, womit vor allem ihr Bedeutungsverlust gemeint ist, werden in dieser Arbeit analysiert. Damit wird zugleich ein Beitrag zu speziellen Aspekten der Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik und des NS-Reiches geleistet. Mangels eines sicheren theoretischen Fundaments für die Institution Wertpapierbörse und mangels hinreichend vielfältiger und die Periode ganz überdeckender Statistiken kann die Arbeit gewiss keine Ansprüche befriedigen, wie sie an cliometrische Forschung zu stellen sind. Da im folgenden vor allem historisch- institutionell argumentiert wird und die Handlungen von Beteiligten betrachtet werden, ist diese Untersuchung primär deskriptiv angelegt.
Anhand von quantitativem Material erfolgt die Identifikation und Periodisierung des Funktionswandels der Wertpapierbörsen. Es wird versucht, die Faktoren herauszuarbeiten, die zum Funktionswandel insbesondere zwischen 1924 und 1939 beigetragen haben.
Nach der Vorstellung und Systematisierung verschiedener Börsenfunktionen wird im zweiten Abschnitt der Wandel in der Einschätzung der Wertpapierbörse untersucht, und zwar zum einen aus den Geschäftsberichten der Großbanken, den Berichten von Industrie- und Handelskammern, und zum anderen aus Beiträgen der Fach- und Tagespresse sowie aus Dokumenten der mit dem Börsenwesen befaßten Behörden. Es wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die Konzentration im Bankenwesen auf die Börsen hatte. Schließlich folgt eine quantitative Abschätzung des Funktionswandels. Insbesondere überprüft der Primärforscher anhand der zusammengetragenen Datenreihen vom ausgehenden 19 Jahrhundert bis 1939 die Geschäftstätigkeit am deutschen Wertpapiermarkt. Zunächst richtet sich der Blick auf die Entwicklung des Wertpapierbestandes sowie die Wertpapieremission. Anschließend werden anhand eines selbst entwickelten Schätzverfahrens Angaben zum Wertpapierumsatz am deutschen Kapitalmarkt vor 1940 gemacht. Außerdem, wird auf den Teilmarkt für Aktien eingegangen. Schließlich werden auch anhand nicht monetärer Größen, wie z.B. der Besucherzahl an der Berliner Börse, Aussagen zum Funktionswandel abgeleitet. Auf die besonderen Zustände während der Inflation von 1914-1923 wird gesondert eingegangen und aufgezeigt, welche langfristig wirksamen Auswirkungen diese Zeit auf die Börse hatte. Spezifische, zum Teil auf die Inflationszeit zurückzuführende Faktoren werden herausgearbeitet, die in den Jahren 1924-1926 eine Normalisierung der Verhältnisse an der Wertpapierbörse verhinderten, so daß an die Zeit vor 1914 in der Entwicklung nicht wieder angeknüpft werden konnte. Dabei wird auf die Rolle der Besteuerung des Börsenbesuches im Jahre 1924 sowie die überaus hohen Transaktionskosten eingegangen.
Zeit und Ort der Untersuchung:
Deutsches Reich, 1924-1939
Wertpapierbörse des Deutschen Reiches in Berlin
Quellenproblematik:
Basis bilden die umfangreichen Aktenbestände des Reichsfinanzministeriums, der Reichskanzlei, des Reichwirtschaftsministeriums, die Handakten der Deutschen Reichsbank und der über weite Strecken bislang nicht genutzte Bestand des Reichskommissars bei der Berliner Börse im Bundesarchiv. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel rundeten die Informationsgrundlage ab. Bei der Auswahl von Quellen, die statistisches Zahlenmaterial bereithalte, wurde bevorzugt auf die Angaben der zeitgenössischen amtlichen Statistik zurückgegriffen. Enthielten die Unterlagen der amtlichen Statistik keine Angaben, so wurde versucht, diese Lücken durch Material der Behörden, Wirtschaftsverbänden, Kammern, Unternehmen, der Presse und aus dem wissenschaftlichen Schrifttum zu schließen.
Da für die Zeit der Markwährung nur recht lückenhaftes amtliches Quellenmaterial zur Börsenstatistik zur Verfügung stand, basieren die in der Arbeit präsentierten Tabellen für diesen Zeitraum im wesentlichen auf privaten Ermittlungen. Aus der Zwischenkriegszeit ist zwar deutlich mehr ahn statistischen Publikationen der Reichsbank, des Statistischen Reichsamtes, der Verbände des Kreditgewerbes und sonstigen Stellen überliefert, dennoch blieb bei der Materialsuche manche Frage offen. Geschlossene lange Datenreihen liegen für den Untersuchungszeitraum in der notwendigen Qualität nicht vor. Dennoch ist es auf der Grundlage der hier präsentierten Datenbasis möglich, zur Börsenstatistik von 1885 bis 1939 differenziertere Aussagen zu treffen.
Der Datenteil der Studie gliedert sich in die folgenden Bereiche auf:
A. Quantitative Indikatoren des Funktionswandels
A.1 Struktur der Wertpapieremission ausgewählter Zeitspannen (1901-1939).
A.2 Börsenumsatzsteueraufkommen (1885-1939).
A.3 Vergleich des unkorrigierten mit einem fiktiv möglichen Börsenumsatzsteueraufkommen (1906-1913).
A.4 Geschätzte Durchschnittssteuersätze (1884-1913).
A.5 Zahl der Aktiengesellschaften im Deutschen Reich zu bestimmten Jahren (1886-1939).
A.6 Die zum Jahresende an der Berliner Börse notierten Aktien (1926-1939).
A.7 Reports und Lobards der Berliner Großbanken in Mio. Goldmark (1912-1926).
A.8 Effektenkreditvolumen der Berliner Großbanken in v.H. der Aktiva (1900-1939).
A.9 Umlauf von Wertpapieren inländischer Emittenten zum Jahresende in Mio. Mark (1895-1913).
A.10 Umlauf von Wertpapieren inländischer Emittenten zum Jahresende in Mio. Reichsmark (1924-1939).
A.11 Wertpapierausgabe in- und ausländischer Emittenten im Deutschen Reich in Mio. Mark bzw. Reichsmark (1897-1939).
A.12 Nettosozialprodukt (NSP) zu Marktpreisen in Mio. Mark bzw. Reichsmark (1891-1938).
A.13 Börsenumsatzsteueraufkommen ausgewählter Jahre (1910-1925).
A.14 Geschätzter Wertpapierumsatz in Mrd. Mark bzw. Mrd. Reichsmark in laufenden Preisen (1885-1939).
A.15 Geschätzter Wertpapierumsatz in Mrd. Mark bzw. Mrd. Reichsmark in Preisen von 1913 je Kopf der jeweiligen Bevölkerung (1885-1939).
A.16 Monatswerte des Aktienkursindex, Basis 1913=100 (1870-1943).
A.17 Reports und Lombards der Berliner Großbanken in Mio. Mark bzw. Mio. Reichsmark (1900-1939).
A.18 Zum Börsenhandel zugelassene selbständige Besucher sowie die Gesamtzahl der Besucher an der Berliner Börse für ausgewählte Jahre (1901-1939).
B. Börse in der Zwischenkriegszeit
B.1 Anzahl der Geschäfte und Umsätze im Effekten-Giroverkehr des Berliner Kassenvereins (1913-1923).
B.2 Stille Selbstfinanzierung deutscher Aktiengesellschaften in v.H. vom Gewinn im Zeitraum 1925-1939.
B.3 Anzahl der Neugründungen und Kapitalerhöhungen von Aktiengesellschaften im Deutschen Reich, Monatswerte (1921-1923).
B.4 Monatlicher Aktienindex zur Basis 1924-1926=100 (1926-1930).
B.5 Gold- und Devisenbestand der Reichsbank in Mio. Reichsmark sowie Deckung des Bargeldumlaufes durch Gold und Devisen in v.H. zum Monatsende (1930-1932).
(Schlagworte: 20. Jahrhundert, Zwischenkriegszeit, Deutsches Reich, Börsenhandel, Börsenfunktionen, Wertpapierbörsen, deutsche Wertpapierbörsen, Wertpapieremission, Börsenumsatzsteuer, Aktien, Aktienindizes, Devisenbestand der Reichsbank, Bankwesen, Bankenkrise)