Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen wird inzwischen auch aus feministischer Perspektive ein wachsender Bedarf artikuliert, das Verhältnis zwischen Religion, Staat und Politik neu zu überdenken. Dabei wird eine Reihe von Kritiken am Säkularismus formuliert, unter anderem, dass er nie in 'reiner Form' existiert habe, ein konstitutiver Zusammenhang zwischen Säkularismus, Kolonialismus und Rassismus bestehe und er zur Zementierung der traditionellen bürgerlichen Geschlechterordnung beigetragen habe. Diese Kritiken am Säkularismus sind zweifellos berechtigt. Problematisch erscheint mir jedoch, wenn daraus die Konsequenz einer Verabschiedung des Säkularismus gezogen und von einer postsäkularen Zeit gesprochen wird. Demgegenüber votiere ich vor dem Hintergrund der zu beobachtenden Revitalisierung von Religionen für ein Festhalten am Säkularismus. Allerdings ist dafür eine hegemonie(selbst)kritische Reformulierung des Säkularismus im Rahmen eines pluralen Universalismus nötig.
Dieser Aufsatz erschien zuerst 2005 in der Zeitschrift "KAS-Auslandsinformationen" und beschäftigt sich mit dem Säkularismus in Indien sowie gegenwärtigen Bedrohungen für den säkularen Staat. Basierend auf seiner Verpflichtung gegenüber mehrwertigen Doktrinen sowie einer grundsatzorientierten Distanz zu den Religionen des Landes, stellt der Säkularismus indischer Prägung eine eigenständige, kulturabhängige Idee dar, die ihn zwar von dem westlichen Säkularismus unterscheidet, ihn jedoch keineswegs weniger angreifbar macht.
"Wie der westliche, so ist auch der Säkularismus indischer Prägung zunehmend bedroht; ein Umstand, der auf der Verkennung seines eigenständigen Charakters ebenso beruht wie auf der irrigen Vorstellung, er sei eine Lehre mit klar definierten Inhalten bzw. die ihm eigene Trennung von Religion und Staat beruhe auf der Selbstbestimmung des Individuums. Sicher, die indische Verfassung garantiert die Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung sowie die Gleichberechtigung aller Bürger. Jedoch ist der Staat in religiösen Fragen keineswegs ohne Kompetenzen, sondern durchaus eingriffsberechtigt. Basierend auf einer grundsatzorientierten Distanz werden Religionen in Indien nicht gleich, aber gleichwertig behandelt. Seine Verpflichtung gegenüber mehrwertigen Doktrinen und sein Bemühen, scheinbar unvereinbare Werte miteinander in Einklang zu bringen, verleihen dem indischen Säkularismus seinen besonderen Wert und machen ihn zu einer eigenständigen, kulturabhängigen Idee. Die Überlebensfähigkeit dieser Idee sollte nicht an der geistigen Trägheit ihrer Verfechter scheitern." (Autorenreferat)
Was hat der Kampf für eine säkulare politische Öffentlichkeit mit Gleichberechtigung zu tun? Nichts, sagt Joan Wallach Scott, der Säkularismus kann die Fortschritte der Gleichberechtigung nicht für sich reklamieren.Joan Wallach Scott, seit Jahrzehnten eine Schlüsselfigur der Gender Studies, entwickelt in diesem Buch ihre Kritik des aktuellen Säkularismusdiskurses, insbesondere mit Blick auf jene Kultur, die sich als Wiege des Säkularismus begreift: Frankreich. Wer heute Säkularismus und Geschlechtergleichheit in einem Atemzug nennt, geht dem aktuellen Säkularismusdiskurs auf den Leim. Wenig hatte der historische Säkularismus mit Geschlechtergleichheit zu tun, ganz im Gegenteil, er diente als Waffe gegen die vorgeblich dem Religiösen näherstehenden, letztlich die Kirche unterstützenden Frauen. Die Erfolge des Kampfes um Geschlechtergleichheit kann der historische Säkularismus kaum für sich reklamieren.Erst mit der Wendung des Säkularismus von einer anti-kirchlichen zu einer anti-islamischen Waffe tritt Säkularismus als Kampf für die Befreiung der islamischen Frau auf. Der Schleier im öffentlichen Raum wird zum Manifest der Unterdrückung. Dahinter steht die in Frankreich seit dem Imperialismus gepflegte Ideologie, dass Integration nur als Assimilation denkbar ist.
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"Die Forderung nach säkularen, vermeintlich neutralen Werten ist nicht per se antisemitisch und in ihrem Anspruch auf gesellschaftliche Gleichbehandlung auch nicht zu verdenken. Doch birgt die vehemente Aufrechterhaltung binärer Strukturen von religiös und säkular ein großes Potenzial zur Ausgrenzung" (Autorenreferat)
"Im Beitrag skizziert die Autorin, wie durch die Regulierung des Religiösen in modernen säkularen Gesellschaften der dynamische Charakter und die Wandelbarkeit von Religionen aus dem Blick gerät." (Autorenreferat)
Säkularismus ist in Indien spätestens seit den Assembly Debates Ende der 1940er Jahre ein Schlüsselbegriff in öffentlichen Debatten und ein zentraler Wert der Verfassung und der nationalen Identität. Als Gegenkonzept zu Kommunalismus, insbesondere Hindunationalismus, und Gewalt wird Säkularismus in Indien vorrangig als Toleranz und equal respect for all religions konzipiert. Die akademische Debatte über Säkularismus erscheint in Indien ausgesprochen normativ, emotional und politisiert. In der von mir untersuchten Kontroverse, die um die Frage kreist, inwieweit es sich bei der Kategorie Säkularismus um ein hegemoniales, westliches Konzept oder eine indigene Tradition handele, stehen sich zwei Lager oder "Clans" gegenüber. Während die postkolonialistischen Säkularismus-Kritiker T.N. Madan und Ashis Nandy diese in ihren Augen fremde, imperiale Kategorie ablehnen und Säkularismus in Indien als gescheitert betrachten, unternehmen die Säkularismus-Befürworter Rajeev Bhargava und Romila Thapar den Versuch, säkulare Wurzeln in der indischen Tradition zu rekonstruieren und Säkularismus damit in Indien anschlussfähig zu machen. Interessanterweise beziehen sich alle vier Wissenschaftler in ihren Texten auf die tolerante Religionspolitik des Maurya-Königs Ashoka (3. Jh. v. Chr.) und des Mogulherrschers Akbar (16. Jh. n. Christus). Während Bhargava und Thapar darin eine Art Proto-Säkularismus sehen, geht es Nandy und Madan darum, die indische Toleranztradition von der Vorherrschaft der Säkularismuskategorie zu befreien. Ihnen schwebt eine tolerante "ghandianische" Staatspolitik vor, die nicht unter dem Label Säkularismus läuft, sondern auf alten, indischen Traditionen und der gelebten, auf Religion basierenden Toleranz des Volkes gründet. Alle vier Wissenschaftler bekennen sich in ihren Texten über den Säkularismus explizit zu ihren politischen Positionen und verstehen sich gleichzeitig als Wissenschaftler und Aktivisten. Beide Lager, sowohl Madan und Nandy, als auch Thapar und Bhargava, engagieren und echauffieren sich in der Kontroverse über Säkularismus und die Anwendbarkeit dieses Konzepts im indischen Kontext in einem bemerkenswerten Ausmaß. Ziel meiner Arbeit ist es, Antworten auf die Frage zu finden, weshalb die untersuchte Debatte so hochgradig emotional ausfällt und was die Wissenschaftler antreibt, so leidenschaftlich am Säkularismus festzuhalten oder diese Kategorie genauso vehement abzulehnen.