Soziologisierung des Todes?: der halbherzige Diskurs über das Lebensende
In: Ambivalenzen des Todes: Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorie heute, S. 15-30
Vor dem Hintergrund eines ideengeschichtlichen Überblicks über das Thema 'Tod' analysiert der Verfasser soziokulturelle Deutungsmuster, die es ermöglichen, die Lebensdeutung akzeptabel zu machen, ohne dass permanent ihre innere Problematik spürbar wird und das eventuell die Lebensführung irritiert. Eine der Lösungen lautet: Das Kollektiv, die Gesellschaft, ist unsterblich und nimmt die Leistungen der Individuen dankbar erinnernd in sich auf. Dieser Gedanke ist in den soziologischen Konzepten von Entwicklung, Fortschritt, Modernisierung, Zivilisation usw. enthalten, insofern darin alle neueren Entwicklungen auf die Vorleistungen der Toten zurückgreifen. Das Kollektiv gilt als unsterblich, es bedient sich der Leistungen der Toten und erinnert sich ihrer dankbar. Das entsprechende soziale Gedächtnis an die Toten ist in unserer Kultur vielfach institutionalisiert. Eine zweite Lösung in den soziokulturellen Deutungen der Problematik, wie das Leben Sinn gewinnen soll im sicheren Wissen, dass es zu Ende gehen wird, ist das seit der Aufklärung mehr oder weniger deutliche Versprechen, der Tod werde eines Tages abgeschafft werden können. Drittens kann die Kultur darauf setzen, dass die Menschen, wiewohl sie wissen, dass ihr Leben und ihr Lebenssinn eines Tages zu Ende gehen werden, zwischendurch ganz frohgemut sein können. Viertens kann die Kultur darauf setzen, dass die Individuen schon von sich aus mit der Problematik zurechtkommen werden und mittels ihrer eigenen Phantasien und Sinnressourcen je individuelle Lösungen dafür finden werden, dass ihr Lebenssinn auf Endlichkeit gebaut ist. Der klassische Vorschlag der Neuzeit hierzu ist der, eine Autobiographie zu schreiben und einen biographischen Sinnzusammenhang für die bisherige Lebensführung auszuarbeiten, weil die Stoffe, aus denen der autobiographische Sinn konstituiert werden soll, strikt aufs individuelle Leben zwischen Geburt und Tod beschränkt sind. Die fünfte Lösung dafür, wie damit umgegangen werden könnte, dass die Menschen endlich sind, aber bis zu diesem Ende ihren eigenen Lebenssinn entwickeln sollen, ist das, was mit Institutionalisierung des Lebenslaufs angesprochen wird. Das Kollektiv überlebt die Individuen und nimmt deren biologischen Lebensgang sozial in die Hand, das Kollektiv organisiert geradezu den biologischen Lebensbogen. Es wird argumentiert, dass in der Folge und mittels der Institutionalisierung des Lebenslaufs die Gesellschaft unseren Lebensgang in ihre Obhut genommen hat und in gewisser Weise unsere Sterblichkeit organisiert. Dadurch ist ein einigermaßen voraussehbarer Lebensgang entstanden, an dessen Ende allerdings immer noch der Tod steht. (ICG2)