Kaum ein anderes sozialpolitisches Umfeld eignet sich besser für einen Vergleich mit "Asien" als das deutsche - aber keineswegs deshalb, weil es Gemeinsamkeiten aufwiese, sondern weil es, ganz im Gegenteil, scharfe Kontrastbilder liefert. Drei Eigenschaften sind für Deutschland besonders kennzeichnend, nämlich der Stellenwert, die Machart und nicht zuletzt die Größenordnungen der Sozialpolitik.
Von den fünf Aktionsebenen außenpolitischen Verhaltens sind in der bisherigen Untersuchung die globalen (Abschnitt 6.1) und die multilateralen/"multipolaren" (Abschnitt 6.2) Aspekte beschrieben worden. Im vorliegenden Kapitel geht es nun - auf der Stufenleiter der beteiligten Akteure - ein Stockwerk weiter nach unten, nämlich zur diqu, d.h. zur "regionalen" Ebene.
Als Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik ausrief, mochten sich die KPCh-Führer, allem Siegestaumel zum Trotz, wie in einem Labyrinth gefühlt haben: 21 Jahre lang hatten sie im bäuerlichen Hinterland gekämpft und sollten nun auf einen Schlag ein neu entstandenes Gesamtreich von damals immerhin rund 500 Millionen Menschen lenken. Kein Wunder, daß die Politik, vor allem aber die Außenpolitik, einen Verlauf nahm, der sich eher am Mäander als an einem Lineal zu orientieren schien, und daß es fast drei Jahrzehnte dauerte, ehe mit den Reformbeschlüssen vom 1978 Berechenbarkeit und Ordnung einkehrten.
Politische Führung (KP und Staat), Unternehmen, Verbände - diese Trias von Entscheidungsträgern sowie ihr wechselseitiges Verhältnis - sind im vorausgegangenen Teil 2 beschrieben worden, wobei sich bereits im Zusammenhang mit den "Verbänden" eine der Besonderheiten des politischen Systems der VR China herauskristallisiert hat, nämlich die elementare Bedeutung informeller Elemente. Diesem Gesichtspunkt soll im vorliegenden Abschnitt weiter nachgespürt werden, wobei zunächst noch einmal ein Resümee zu den formellen Organen gezogen sei.
Da im Zentrum der chinesischen Vorstellungen von Gesellschaft noch allemal die Beziehung zwischen Personen, und keineswegs vorrangig die Einzelperson selbst, steht, soll hier nicht von "Machthabern", von "Wortführern" oder von "Grauen Eminenzen" die Rede sein - dies alles sind zu allem Überfluß auch noch assoziationsbesetzte, westliche Begriffe -, sondern von "Brennpunkten der Macht"; denn auch bei politischen Entscheidungen steht in aller Regel nicht das Individuum, sondern ein Machtzirkel, eine moderne Artusrunde oder eine sonstige Personalkonstellation im Vordergrund, die auf Chinesisch mit dem Begriff zhongxin [39], also mit "Herz in der Mitte" oder "Herzstück" signalisiert wird.
Wie in den Vorüberlegungen zu Teil 6 ausgeführt, verfährt die Außenpolitik der VRCh längst nicht mehr nach Pauschalmustern (etwa nach dem Schema "Weltdörfer gegen Weltstädte"), sondern ertastet sich ihren Weg auf überaus differenzierte Weise, indem sie sich an globale Institutionen wie z.B. die UNO wendet, Spielregeln für multi-(penta-)polare Neubildungen einfordert, sich für RegzonaZ-Bildungen ins Zeug legt und indem sie nicht zuletzt auch der kleinen Politik zunehmend Aufmerksamkeit schenkt, ohne dabei allerdings ihren klassischen Bezugspunkt, nämlich die bilateralen Beziehungen von Staat zu Staat aus den Augen zu verlieren - und zwar unabhängig von konzeptionellen Modeströmungen westlicher Theoriebildung: Schwankungen, wie sie sich Institutionen vom Rang der Weltbank jahrelang geleistet haben, indem sie den Nationalstaat bald auf den Schild hoben, bald ihn wieder fallen ließen, um ihn dann nach einiger Zeitdoch wieder auf Augenhöhe zu bringen, sind nie Sache der Beijinger Außenpolitik gewesen. Vielmehr hat man dort die "europäischen Lektionen" aus dem 19. und dem frühen 20. Jh. gründlich verinnerlicht, vor allem, was die Souveränität von Nationen und die Einmischungsfreiheit anbelangt, und beginnt von diesen etatistischen Positionen erst abzuweichen, seit sich im Zuge der Globalisierung Interdependenz-Perspektiven eröffnen, wie sie bei der chinesischen Gesellschaftsphilosophie von jeher in besonderer Gunst gestanden haben, und wie sie dem chinesischen Grundverständnis auch heutzutage mehr behagen, als es bei dem aus dem Westen rezipierten Glauben an den Nationalstaat und seine Interessen der Fall ist.
Als ordnungs- und stabilitätsversessene Nation fühlt sich China mit Ländern wie Jugoslawien zwar einerseits in Sympathie verbunden, gleichzeitig aber auch hoffnungslos überfordert und überdies existenziell betroffen, weil die KPCh-Führung bei näherem Hinsehen viele Parallelen zur Minderheitensituation der VRCh erblicken kann - und deshalb am liebsten die Augen verschlösse, sobald irgendwo Jugoslawien-Signale aufblinken.
In seinen Lehrjahren, d.h. in den Jahrzehnten zwischen 1840 und 1980, als das Reich der Mitte keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als beim Westen in die Schule zu gehen und sich mit europäischen Auffassungen zur Außenpolitik, Diplomatie und zum Völkerrecht vertraut zu machen, hatte China vor allem zwei Grundlehren verinnerlichen können, die der Reichstradition fremd gewesen waren und die sich auf die Trägerschaft von Außenpolitik sowie auf die spezifischen Beziehungen zwischen diesen Trägern bezogen
Am 25. April 1999 kam es in der Beijinger Innenstadt zu einer Sitzblockade, an der rund 10.000 Demonstranten teilnahmen und von deren Plötzlichkeit selbst die sonst so überaus aufmerksamen Sicherheitsorgane überrascht, wenn nicht überfahren wurden, zumal sich der stumme - und völlig gewaltfreie - Protest direkt vor den Toren von Zhongnanhai abspielte, also vor dem Allerheiligsten der Reichspolitik, in dem die wichtigsten Repräsentanten der chinesischen Partei- und Staatsbürokratie arbeiten und z.T. auch leben.
Um Mitternacht vom 7. auf den 8. Mai 1999 wurde die chinesische Botschaft in Belgrad von drei Raketen getroffen, die, wie Xinhua 1 betont, von drei verschiedenen Richtungen her abgeschossen, also sorgfältig auf das Ziel einjustiert worden - und keinesfalls nur durch Zufall dorthin gelangt seien.
Das traditionelle China verstand sich als universalistisches Reich, dem Vorstellungen von Gleichberechtigung und staatlicher Außenpolitik unbekannt waren, und das daher in seinen Grundfesten erschüttert wurde, als es - nach dem verlorenen Opiumkrieg - unfreiwillig mit dem westlichen Völkerrechtssystem Bekanntschaft schließen mußte, in dem mehrere juristisch gleichgestellte Völkerrechtssubjekte nebeneinander agierten und dabei unterschiedliche "nationale Interessen" verfolgten, wobei das "Recht des Stärkeren" (und nicht etwa das moralisch bessere Anliegen) über Sieg oder Niederlage zu entscheiden pflegte.
Seit Jahrzehnten gilt das chinesisch - pakistanische Verhältnis als Ausdruck von "Allwetterfreundschaft" und von ungebrochenem bilateralen Einvernehmen. China hatte den Pakistanis seit den frühen 60er Jahren in fast allen indisch - pakistanischen Konflikten zur Seite gestanden, ihre Waffenlager nach dem verlorenen Konflikt um Ostpakistan/Bangladesh wieder gefüllt und jahrelang auch Raketen- und Nuklearhilfe geleistet. Auch in der Kaschmir-Frage hatte Beijing stets Farbe bekannt, wenn es galt, den pakistanischen Standpunkt zu vertreten, dabei allerdings auch immer wieder betont, daß dieses Problem letztlich mit politischen Mitteln, also friedlich, gelöst werden müsse.
Die Frage nach der Quintessenz Chinas - nach dem "Chine eternelle" also - ist nicht nur von der Sinologie, sondern auch von der modernen Chinaforschung immer wieder aufgeworfen und überaus anregend beantwortet, dann aber häufig genug wieder auf Eis gelegt und erneut auf die lange Bank geschoben worden, weil viele Beobachter des modernen China sich nicht mit der Einsicht abfinden wollen, daß das Neue immer noch weitgehend das Alte ist.
Am 9. Juli gab RCh-Staatspräsident Li Denghui einem Korrespondenten der Deutschen Welle in Taibei ein Interview, in dem er darauf hinwies, daß es sich beim Verhältnis zwischen Taiwan und dem Festland um "Beziehungen zwischen Staaten oder zumindest um Beziehungen besonderer Art zwischen Staaten" handele (guojia yu guojia, zhishao shi teshude guo yu guo de guanxi). Der Grund, warum Li seine Erklärungen ausgerechnet gegenüber einem Deutschen Rundfunksender abgab, dürfte vermutlich darin gelegen haben, daß der Präsident im Deutschen Wiedervereinigunsmodell gewisse Parallelen zu China erkannt hatte, vor allem in der Existenz zweier selbständiger Staaten, die ungeachtet dieser Zweiteilung am Ende dann doch noch zur Einheit gefunden hatten, und zwar auf demokratischem Weg.
Zentralasien wird gegenwärtig von einer Welle von politischen Unruhen heimgesucht, die ihren Ausgang mit konstanter Regelmäßigkeit von Afghanistan nehmen. Träger dieser Unruhen sind die Islamisten-Brigaden, die vor allem von der afghanischen Taliban-Bewegung ausgerüstet werden. Gegenwärtig verbreiten diese Freischärler, die inzwischen so etwas wie eine internationale Brigade bilden, bis zum nordkaukasischen Dagestan hinüber Furcht und Schrecken. Noch während des Zentralasien-Gipfels der "Shanghaier-Fünf" in Bischkek Ende August 1997 waren die Teilnehmer beispielsweise durch Meldungen beunruhigt worden, daß es im Süden des Gastgeberlandes Kirgisien zu Zusammenstößen zwischen Regierungstruppen und islamischen Fundamentalisten gekommen sei. Rund 100 Mudschaheddin waren nach Angaben der kirgisischen Regierung aus dem benachbarten Tadschikistan eingedrungen, hatten drei kirgisische Dörfer besetzt undrund 120 Menschen als Geiseln genommen, darunter auch einen kirgisischen General. Offensichtlich waren sie darauf aus, die ihrer Meinung nach allzu unislamischen Kirgisen wieder auf den Pfad der Tugend zurückzubringen: Ähnlich wie dies gleichzeitig auch bei den Dagestanis zu der Südflanke Rußlands geschah!