Diskursanalyse
In: Methoden der Politikwissenschaft: neuere qualitative und quantitative Analyseverfahren, S. 103-111
"Die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse stellt sprachlich-symbolische Äußerungen ins Zentrum der Analyse, wobei Diskurse strukturierte Aussagen- Zeichen- und Symbolzusammenhänge oberhalb der Ebene singulärer Äußerungen und isolierter individueller Sprechakte sind. Sie konstituieren, reproduzieren oder transformieren symbolische Ordnungen und (soziale) Wirklichkeit als bedeutungsvolle Wissensordnungen. Von den konkreten materialen Manifestationen der symbolischen Ordnungen durch Diskurse als textübergreifende Sinn- und Aussagenzusammenhänge ist die Praxis der Erzeugung von Diskursen zu unterscheiden. Diskurse manifestieren sich im Rahmen von Praktiken sowie Interaktions- und Kommunikationszusammenhängen zwischen Akteuren und Akteursnetzwerken in je spezifischen sozio-historischen/ materiellen Kontexten - in diesem Sinne handelt es sich nicht um 'freischwebende' Sprachspiele. Vielmehr stehen die diskursiven Praktiken einerseits in einem rekursiven Verhältnis zur (verfügbaren) Kultur, sie sind aber andererseits virtuell ereignisoffen (Keller 2005: 283-309). Gegenstand der Diskursanalyse sind die durch Aussagenzusammenhänge konstituierten symbolischen (Wissens-)Ordnungen, die Prozesse und Praktiken ihrer Erzeugung, Reproduktion und Transformation, die in die Diskurse involvierten Diskurskoalitionen sowie die Dispositive und deren Machteffekte. Dispositive bezeichnen in diesem Zusammenhang die Objektivierungen von Diskursen in Formen von Texten (Gesetzestexte, Kommentare, Ausführungsbestimmungen etc.), Praktiken (der Entscheidungsfindung, des Strafvollzugs etc.) und materiellen Objekten (Techniken, Gebäude, Infrastrukturen etc.). Diskursanalysen untersuchen a) Diskurse im Hinblick auf deren Regelstrukturen, ihre symbolische, semantische, pragmatische und kognitive Strukturierung (Diskurse als strukturierte Sinnsysteme) und b) die Praktiken und (rhetorischen) Strategien ihrer Artikulation durch Akteure und Akteursgruppen (Diskurskoalitionen) in Inter-Aktion (Diskurse als System von Praktiken). Schließlich geht es um die Frage der sozialen, politischen und institutionellen Wirkung von Diskursen. Diskurse können sowohl in synchron-vergleichender als auch in diachroner, historisch vergleichender Perspektive untersucht werden. Diskursanalysen können sich dabei auf Prozesse des (politischen und medialen) agenda-building und der Institutionenbildung (Internationale Regime) ebenso beziehen, wie auf die Genese, Implementation und Evaluation konkreter Policies (z.B. Hartz IV, Embryonenschutzgesetz). Sie können themen- und politikfeldspezifische (Renten-, Umwelt-, und Außenpolitik), akteurs-, organisations-, institutionenspezifische (Interessengruppen, Parteien und Internationale Regime) sowie bereichsspezifische Diskurse zum Gegenstand haben (wissenschaftliche, rechtliche, öffentliche, wirtschaftliche, politische Diskurse). Die Diskursanalyse ist keine Methode, sondern ein (sehr heterogenes) disziplinspezifisch auszubuchstabierendes Forschungsprogramm, das sich auf textübergreifende Aussagenzusammenhänge und mithin große 'Textmengen' bezieht und dessen Umsetzung offen für eine Reihe methodischer Verfahren ist, welche von der grounded theory (siehe 'grounded theory') bis zur Sequenzanalyse und von der narrativen Semiotik bis zur qualitativen Inhaltsanalyse reichen. Gleichwohl gibt es auch im Feld der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse in jüngster Zeit Bemühungen um eine Explizierung der methodischen Verfahren, die es erlauben, zu intersubjektiv nachvollziehbaren Analyseergebnissen zu gelangen. Methodisch rekurrieren Diskursanalysen zumeist auf qualitative Verfahren; sie sind aber, je nach Untersuchungsgegenstand, für quantitative Methoden und computergestützte Verfahren der Textanalyse anschlussfähig." (Autorenreferat)