'Public reason' bei John Rawls
In: Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft: zur Rolle des Christentums in der pluralistischen Gesellschaft, S. 237-266
Da sich gesellschaftliche Eintracht und Harmonie nicht von selbst verstehen, bedarf es, so der Verfasser, einer substanziellen Gerechtigkeitsvorstellung, die den sozialen Zusammenhalt eines komplexen Gemeinwesens sichert. Rawls ist darin zuzustimmen, dass die Ausarbeitung eines solchen integrativen Gerechtigkeitsmodells auf der Basis eines Verständnisses praktischer Vernunft zu erfolgen hat, das insofern 'öffentlich' ist, als es mit allgemein zugänglichen d. h. für jedermann im Prinzip verständlichen, sachgemäßen Annahmen arbeitet. Der Grundirrtum seines gesamten Gedankengebäudes, so die These, besteht darin zu glauben, das von ihm erdachte sehr spezielle Modell der 'Gerechtigkeit als Fairness' mit seinen hochgradig umstrittenen Prinzipien stellt den plausibelsten Ansatz zur Lösung der Gerechtigkeitsproblematik dar. Die ungewöhnlich lebhafte Diskussion seiner zentralen Ideen während der letzten Jahrzehnte zeigt, dass man diese Einschätzung aus guten Gründen zurückzuweisen hat. Man mag den rawlsschen Ausführungen zur öffentlichen Vernunft zugute halten, dass sie einen Beitrag dazu geleistet haben, eine alte Frage neu zu stellen und damit zu einer mittlerweile weit verbreiteten Vernunftdebatte innerhalb der politischen Ethik anzuregen. Eine überzeugende Antwort auf die damit aufgeworfenen Fragen hat er aber nicht zu geben vermocht. Wer diese sucht, der tut gut daran, entweder zu den großen vernunfttheoretischen Entwürfen der abendländischen Moralphilosophie etwa aristotelisch-thomanischer beziehungsweise kantischer Provenienz zurückzutreten, oder aber jenen Spielarten eines zeitgenössischen 'justifikatorischen Liberalismus' nachzugehen, die sich auf weniger voraussetzungsreiche und differenzierte Weise als Rawls mit den Fragen eines öffentlichen Vernunftgebrauchs beschäftigen. (ICF2)