Open Access BASE2020

"Kärnten"=Austria, "Koroška"=Yugoslavia? Some Revisionist Perspectives on the 1920 Carinthian Plebiscite

Abstract

In den vergangenen einhundert Jahren haben sich Geschichtswissenschaft und -publizistik ausführlich mit der Kärntner Volksabstimmung befasst. Kaum einer dieser Beiträge diskutiert aber das eigentliche Kernthema, die systematische Aufklärung von handlungsleitenden Interessen und Präferenzen der Wähler und Wählergruppen. Einschlägige Spekulationen greifen stets und meist ausschließlich eine ethno-nationale Dimension des Grenzkonflikts behauptet und aufgegriffen. Wenn das Abstimmungsgebiet zu etwa 70% von der slowenischen Volksgruppe bewohnt ist, aber etwa 60% der Wahlberechtigten für Österreich stimmen, wird regelmäßig unterstellt, dass dieses Votum durch alle "Deutschen" und durch gerade soviele "Slowenen" wie nötig getragen wird. Deutsch-nationale Beiträge danken deshalb 10.000 einsichtigen "Slowenen", jugoslawische Beiträge fragen sich, wie man 10.000 der eigenen Stimmen an die Gegenseite verlieren konnte. Dieser Beitrag zur historischen Wahlforschung versucht besser zu bestimmen, welche Anteile der beiden linguistischen Gruppen jeweils für den Anschluss an Österreich gestimmt haben. Immer wenn individuelle Umfragedaten nicht (mehr) vorliegen oder systematisch verzerrt sind, kann die Wissenschaft auf moderne Methoden der Aggregatdatenanalyse zurückgreifen. Verfahren zur "ökologischen Inferenz" verbinden deterministische Ober- und Untergrenzen mit stochastischen Schätzverfahren. Mit den demografischen Daten und Referendumsresultaten aus 51 Abstimmungsgemeinden zeigt die Analyse, dass nur knapp mehr als 75 Prozent der "Deutschen" und tatsächlich eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der "Slowenen" für Österreich votierten. Bisherige Befunde haben deshalb die Anzahl der Österreich-Befürworter bei deutschen Muttersprachlern über- und bei slowenischen Muttersprachlern unterschätzt. Beiträge der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung sollten deshalb nicht nur 10,000, sondern knapp 13.000 "Slowenen" für die Unterstützung der österreichischen Option danken. Zudem relativieren diese Befunde deutlich den ethno-linguistischen Charakter des Kärntner Referendums: Die jeweilige Umgangssprache wirkte sicher auf das Wahlverhalten beim Referendum. Ihr Einfluss wird jedoch maßlos überschätzt. Vielmehr waren es wohl die ökonomischen Interessen slowenisch-sprachiger Bauern und der Einfluss der organisierten Sozialdemokratie, die das Kärntner Abstimmungsgebiet als Teil Österreichs erhalten haben.

Sprachen

Englisch

Verlag

GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften

DOI

10.12759/hsr.45.2020.4.309-346

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