Blog EntryMay 16, 2023

Was die Leseschwäche der Viertklässler mit Deutschlands Modernisierungsproblem zu tun hat

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Abstract

Die neue IGLU-Studie zeigt, dass Grundschüler in der Bundesrepublik erneut schlechter lesen können. Was bedeutet das?






Foto: Sabrina Eickhoff / Pixabay.






NEIN, DRAMATISCH sind sie nicht, die Ergebnisse der fünften IGLU-Studie, an der Deutschlands Schulen teilgenommen haben. Dramatisch nicht, dafür aber beschämend. Und ein weiterer Beleg für
Deutschlands gesellschaftliche Modernisierungskrise. 



 



IGLU steht für "Internationale Grundschul-Leseuntersuchung", sie findet alle fünf Jahre statt, rund 400.000 Kinder aus 65 Staaten und Regionen waren dabei, darunter 4.611 Viertklässler
aus ganz Deutschland. Auch ihre Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen wurden befragt. Das wichtigste Ergebnis der am Dienstagmorgen veröffentlichten Studie: Wie schon 2016 liegen die deutschen Schüler mit ihrer durchschnittlichen Lesekompetenz im
Mittelfeld des weltweiten Vergleichs. Allerdings mit einem statistisch signifikanten Negativtrend: Der deutsche Mittelwert von 524 liegt dieses Mal 13 Punkte unter dem
Niveau von vor fünf Jahren. Und 15 unter der Ausgangserhebung von 2001. 30 Punkte entsprechen in etwa dem Lernzuwachs eines Schuljahres.



 



Auch anderswo ging es nach unten



 



Das ist nicht wenig, das ist wie gesagt auch nicht dramatisch, zumal im Vergleich zu 2016 der internationale Mittelwert ebenfalls um zwölf Punkte abgerutscht ist. Grundschulkinder konnten also im
Jahr zwei der Coronakrise weltweit schlechter lesen als vor der Pandemie. Auch gibt es neben Deutschland weitere westeuropäische Staaten, die sich im 20-Jahrestrend verschlechtert haben,
teilweise sogar noch deutlich stärker. So ist die mittlere Lesekompetenz in Schweden gegenüber 2001 um 17, in den Niederlanden sogar um 27 Punkte gesunken.



 



Umgekehrt sind da Staaten wie Singapur, Hongkong oder die Russische Föderation, die in den vergangenen 20 Jahren Sprünge um rund 50 Punkte gemacht haben, so dass sie allesamt von
deutlich niedrigeren Levels an Deutschland vorbeigezogen sind. Und mittlerweile lassen die Viertklässler fast aller westeuropäischen Staaten und Regionen ihre deutschen Konterparts weit
hinter sich. England: 558 Punkte, Finnland: 559, Schweden: 544, Italien: 537, um nur ein paar Beispiele zu nennen. 



 



Wie erklärt sich das? Jedenfalls nicht allein mit der Pandemie, sagt Nele McElvany, die wissenschaftliche Leitung von IGLU 2021 – und auch nicht durch die sich verändernde Schülerschaft. In den
vergangenen Jahren sei "die problematische Entwicklung in unserem Bildungssystem durch diese Aspekte nur verstärkt" worden. Tatsächlich hat der Abwärtstrend nach einem zwischenzeitlichen Sprung
nach oben bereits 2011 eingesetzt.



 



Es liegt am Unterricht, nicht an den Schülern



 



Einige der zentralen Gründe dürften im Unterricht selbst liegen. Auch wenn die Schüler dessen Qualität als insgesamt gut wahrnehmen und sich stärker aktiviert und unterstützt fühlen als noch
2016, wird in deutschen Klassenzimmern mit 141 Minuten pro Woche deutlich weniger Zeit mit Lesen verbracht als im Schnitt der anderen EU-Länder (194 Minuten) oder der OECD (205 Minuten). Die von
den Lehrkräften verwendete Klassenlektüre ist durchschnittlich über 20 Jahre alt und deckt sich kaum mit den Vorlieben der Schüler. Die meisten Lehrkräfte nutzen zur Diagnostik keine formalen
Verfahren, und weniger als ein Drittel von ihnen hat in den vergangenen zwei Jahren an Fortbildungen zur Leseförderung teilgenommen. 



 



Womit das Beschämende an den Ergebnissen zur Sprache kommt. Die ergriffenen Maßnahmen der Schulpolitik hätten in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum Wirkung gezeigt, "den Bildungserfolg sowie
Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu verbessern", sagt McElvany, im Hauptamt geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. 

Was noch euphemistisch formuliert ist. Tatsächlich ist die Leistungsschere zwischen guten und schwachen Lesern in Deutschland sogar noch etwas aufgegangen, und die Bedeutung der sozialen Herkunft
bleibt enorm. IGLU vergleicht dazu Kinder aus Haushalten mit mehr als 100 Büchern mit anderen Viertklässlern, deren Familien maximal 100 Bücher haben. Auf der
Bildungsungerechtigkeitsskala liegt Deutschland mit einem mittleren Punkteunterschied zwischen beiden Gruppen von 42 auf Platz 7.



 



Sprechen Schüler zu Hause immer oder fast immer Deutsch, haben sie einen großen Kompetenzvorsprung gegenüber ihren Klassenkameraden, die das nicht tun. Auch hier ist der Abstand im
internationalen Vergleich stärker ausgeprägt als im Schnitt der EU oder OECD, wo das heimische Sprechen der jeweiligen Haupt-Unterrichtssprache oftmals weniger auf die Leseleistungen
durchschlägt. Berücksichtigt man den sozialen Status der Familie und die Sprache, die zu Hause gesprochen wird, spielt der Migrationshintergrund in Deutschland dagegen keine Rolle. 



 



Vorhersehbare politische Reaktionen



 



Die Bundesrepublik scheitert also an dem jedes Jahr aufs Neue erklärten Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Demgegenüber ist die Nachricht, dass die deutschen Schüler insgesamt nur
durchschnittlich lesen, immer noch ernüchternd, aber fast schon vernachlässigbar. Zumal sie sich zu einem guten Stück aus dem selben Problem erklärt: dass es nicht gelingt, die Leistungsschwachen
stärker zu unterstützen (allerdings ist auch der Anteil der Spitzenleser zurückgegangen).



 



Die politischen Reaktionen des Tages auf die IGLU-Ergebnisse sind insofern vorhersehbar: Der Lehrermangel ist schuld, werden viele sagen, was zu einem – allerdings kleineren Teil – sicher auch
stimmt. Die Ampel-Koalition wird in verschiedenen Variationen auf das geplante "Startchancen"-Programm für die Förderung benachteiligter Schüler und Schulen verweisen, das genau bei der
Bildungsungerechtigkeit ansetzen werde. Botschaft: Früher mag das anders gewesen sein, aber jetzt haben wir die richtigen Instrumente. 



 



Ist das so? Oder sind die Ergebnisse von IGLU, PISA & Co genau wie der Umgang der Bildungspolitik mit ihnen nicht vielmehr weitere Belege der tiefgreifenden gesellschaftlichen
Modernisierungskrise, in der Deutschland sich befindet? Die Bundesrepublik verliert seit Jahren den Anschluss in immer mehr Zukunftsbranchen und -technologien, doch der Ruck bleibt aus. Ein
Ruck, der zuerst und vor allem über die Bildungs- und Forschungspolitik organisiert werden müsste. Während in der Forschungspolitik (Stichwort SPRIND, DATI, Zukunftsvertrag & Co) wenigstens
gewisse Regungen zu verzeichnen sind, herrscht in der Bildungspolitik null Dynamik.



 



Devise: Lasst die Schulen in Ruhe



 



Konzeptionell wurde vor zehn, zwölf Jahren die Devise ausgegeben, den Schulen jetzt vor allem einmal Ruhe zu geben. Als Reaktion auf den kurzen, aber heftigen Reformeifer nach dem
Pisaschock von 2001. Obwohl bis heute nicht klar ist, ob nicht genau jener Reformeifer das (auch bei IGLU nachweisbare) Leistungs-Zwischenhoch an Deutschlands Schulen mitverursacht hat. Diese
Ruhe, könnte man sagen, spiegelt sich in der Unterrichtsqualität wider. In der Hinsicht wäre es sogar hilfreich, wenn man die Ergebnisse der Lese-Studie mit Recht dramatisch nennen könnte. Denn
so, wie sie sind, werden sich viele Kultusminister gegen jedes Bildungskrise-Gerede verwahren und sagen, man solle bei aller berechtigten Besorgnis die Kirche mal im Dorf lassen.



 



Immerhin wollen sie in der KMK jetzt ran eine grundlegende Reform der Lehrerbildung. Aber was ist eigentlich mit den Kitas, deren Personal quantitativ und qualitativ kaum in der Lage ist,
ihren immer wieder beschworenen Bildungsauftrag in der Frühförderung zu erfüllen? Daran wird auch das Kita-Qualitätsgesetz des Bundes wenig ändern können. 



 



Finanziell ging es in den vergangenen 20 Jahren übrigens tatsächlich etwas nach oben, so wird mittlerweile pro Schülerin und Schüler in Deutschland ein größerer Anteil der
Wirtschaftsleistung für Bildung ausgegeben. Doch bleibt auch hier der Abstand bei den Bildungsausgaben insgesamt zum Schnitt der Industriestaaten groß: 4,3 Prozent versus 4,9 Prozent, so gab
es die OECD in ihrem letzten Bericht "Bildung auf einen
Blick"  an.  



 



In diese – ernüchternde – Logik passen denn auch die Planungen zum "Startchancen"-Programm hinein, das heute in vieler Munde sein wird. Eine Milliarde Euro pro Jahr will die Bundesregierung
hierfür locker machen, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen – während die Länder noch um die Kofinanzierung feilschen. Eine Milliarde entspricht knapp 0,03 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Womöglich zeigt keine kleine Zahl besser die Größe unseres Modernisierungsproblems. 



 



Dieser Artikel ging am Dienstag um 10 Uhr morgens online.




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