Blogbeitrag15. Januar 2024

Harvard und die Folgen

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Abstract

Wie steht es um die Freiheit des Wortes in der Wissenschaft?
Wo liegen die Grenzen? Ihr Umgang mit dieser Frage hat zwei Uni-Präsidentinnen in den USA den Job gekostet. Doch die Folgen und Implikationen reichen tiefer und bis nach Deutschland.






Campus der Harvard University in Cambridge, USA. Foto: giggel, CC BY 3.0 / Wikimedia Commons.






EINEN TAG nachdem Claudine Gay Anfang Januar von ihrem Amt als Harvard-Präsidentin zurückgetreten war, veröffentlichte sie in der "New York Times" einen Meinungsbeitrag. Ja, sie habe Fehler gemacht, schrieb sie. Doch in der Kampagne gegen sie sei es in Wirklichkeit um mehr gegangen als eine Universität
oder eine Unipräsidentin. "Nur ein Scharmützel in einem größeren Krieg" sei das gewesen, "der zum Ziel hat, das öffentliche Vertrauen in tragende Säulen der amerikanischen Gesellschaft zu
zerstören."



 



Sie hoffe, mit ihrem Rücktritt hindere sie Demagogen daran, ihre Präsidentschaft weiter als Waffe einzusetzen in ihrer Kampagne, die Ideale zu unterminieren, die Harvard seit seiner Gründung
ausmache: "Exzellenz, Offenheit, Unabhängigkeit, Wahrheit."



 



Waren das mehr als Schutzbehauptungen? Sind die Universitäten in den USA tatsächlich Geisel eines Kulturkampfes von rechts? Und zeichnen sich in Deutschland vielleicht längst ähnliche
Entwicklungen ab?



 



Die fast unbedingte Freiheit des Wortes



 



Alles hatte damit begonnen, dass Gay und zwei weitere Präsidentinnen von US-Eliteuniversitäten im Dezember auf Initiative der Republikaner vor dem Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses
Stellung nehmen sollten zu sich häufenden antisemitischen Vorfällen auf dem Campus.



 



Befragt von der Ex-Präsident Trump nahestehenden republikanischen Abgeordneten Elise Stefanik, ob der Aufruf zum Völkermord an den Juden gegen universitäre Richtlinien zu Mobbing und Belästigung
verstoße, antwortete Gay zweimal, das sei möglich, hänge aber vom Kontext ab. Die Präsidentin des Massachusetts Institute of Technology (MIT), Sally Kornbluth, stimmte Gay zu, ebenso ihre
Kollegin von der University of Pennsylvania, Liz Magill: "Wenn das Reden in ein Verhalten übergeht, kann es sich um Belästigung handeln."



 



Die öffentliche Empörung war gewaltig. Magill trat schon wenige Tage später zurück, nachdem mit Verweis auf ihre Äußerungen unter anderem ein Geldgeber eine 100-Millionen-Spende an die University
of Pennsylvania zurückgezogen hatte. Gay hielt sich zunächst im Amt, doch gingen kurz nach ihrem Auftritt im US-Kongress mehrere Plagiatsvorwürfe online. Eine unabhängige Prüfung bescheinigte Gay
unzureichend kenntlich gemachte Zitate, aber kein wissenschaftliches Fehlverhalten. Den Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses hinderte dies nicht daran, mit republikanischer Mehrheit eine
eigene Untersuchung einzuleiten.



 



Als Gay schließlich ihren Rücktritt bekannt gab, postete Elise Stefanik auf "X": "Two Down. One to Go." Und die Wall-Street-Größe Bill Ackmann, Harvard-Absolvent und
Großspender, kündigte an, die wissenschaftlichen Arbeiten aller
MIT-Angehörigen, inklusive Präsidentin Kornbluth, per KI auf Plagiate zu untersuchen.



 



"Natürlich ist das ein Angriff von rechts", sagt der deutsche Ökonom Rüdiger Bachmann von der University of Notre Dame im US-Bundestaat Indiana. "Schon Elise Stefanik hatte es darauf angelegt in
ihrer Befragung."



 



Gay, erst seit vergangenem Sommer im Amt, war die erste afroamerikanische Harvard-Präsidentin. Sie stand als Sinnbild für die Bestrebungen führender US-Universitäten, sich auch in ihren
Führungsstrukturen diverser aufzustellen. Das gehe auf Kosten der akademischen Exzellenz, kam umgehend als Vorwurf von rechts.



 



Der Freiheitsindex



 



Umgekehrt, sagt Bachmann, führten solche Attacken angesichts der Machtverhältnisse an den linksliberalen US-Universitäten nur dann zu Rücktritten, wenn die tatsächlichen Verfehlungen tatsächlich
schwerwiegend genug seien. "Diese Mischung aus Hilflosigkeit, Unprofessionalität, fehlendem Vorbereitetsein und Arroganz, die alle drei Präsidentinnen bei der Anhörung zeigten, war schon
dramatisch." Die an sich nicht so gravierenden Plagiatsvorwürfe seien bei Gay noch dazugekommen.



 



Die Politologin Katrin Kinzelbach von der Universität Erlangen-Nürnberg war im Oktober, kurz nach dem Hamas-Angriff, in Harvard. Mit Wissenschaftlerkollegen erstellt die Politologin jährlich
einen aktualisierten "Academic Freedom Index" (AFI). Dieser soll den Grad der Wissenschaftsfreiheit weltweit beziffern. Zur Wissenschaftsfreiheit diskutierte Kinzelbach auch in Harvard. Sie sei
erschrocken gewesen, "mit welcher Nonchalance bestimmte Gruppen israelfeindliche Inhalte vertraten, ohne jede Verurteilung der Hamas-Verbrechen", und wie umgekehrt öffentliche Namenslisten
kursierten, die Studierende als Antisemiten brandmarkten. Man müsse aber bedenken, dass "das Verständnis von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in den USA ein unbedingteres" sei als "bei uns".
Es gebe hier "fast keine Grenzen". Die Überzeugung auch der meisten Wissenschaftler laute: "Absolute Redefreiheit ist die Voraussetzung von Demokratie."



 



So habe der Supreme Court schon 1969 mit Berufung auf den ersten Verfassungszusatzartikel festgehalten: "Jede Meinungsäußerung ist erlaubt, nur die Anstachelung zur unmittelbaren Gewalt nicht."
Genau vor diesem Hintergrund müsse man dann auch die "Kontext"-Aussagen der Uni-Präsidentinnen vor dem Bildungsausschuss sehen. "Sie sind ein Skandal, aber die Präsidentinnen wollten sich
offenbar nicht Vorwürfen aussetzen, sie würden die freie Rede beschränken."



 



An der Stelle, sagt Bachmann, seien die Präsidentinnen allerdings einem Irrtum aufgesessen: "Ausschlaggebend ist an privaten Hochschulen nicht der Erste Zusatzartikel der Verfassung, sondern der
sogenannte Civil Rights Act." Der besage: Wenn eine Hochschule von der Regierung Fördergelder beziehe, "hat sie die Verpflichtung, gegen belästigende Hassreden auf dem Campus vorzugehen".



 



Trumpistische Aneignung



 



So oder so ist es vielleicht das größte Paradoxon der Causa Gay: Normalerweise sind es in den USA Republikaner und Trumpisten, die zwar selbst etwa die Evolutionstheorie aus Schulbüchern tilgen,
"alternative Fakten" propagieren oder Gendertheorien in Uni-Pflichtkursen verbieten, gleichzeitig aber mit großem medialen Erfolg linksliberalen Akademikern eine Verengung des Meinungsspektrums
vorwerfen. Schlagworte: "Politische Korrektheit" oder "Wokeness", Motto: Ideologie statt Exzellenz.



 



Doch diesmal erregten sie sich über das genaue Gegenteil: über die fehlende Positionierung führender Hochschulrepräsentantinnen. Sie taten es in diesem Falle sogar mit Recht, aber eben doch auch
mit klarer politischer Agenda.

Was bedeutet all das für die Wissenschaftsfreiheit in den USA? Der "Academic Freedom Index" sei für die USA in den vergangenen zehn Jahren "signifikant abgerutscht", sagt Kinzelbach, "bewegt sich aber immer noch auf hohem
Niveau". Der Konsens, dass sich der Staat nicht einmischen dürfe in akademische Belange, sei dort weiter sehr stark. Private Geldgeber aber hätten einen großen, teilweise problematischen
Einfluss. Bachmann sagt: Gerade weil die meisten US-Spitzenunis privat seien, hätten Politiker keine direkte Durchgriffsmöglichkeit, "selbst dann nicht, wenn Trump ein protofaschistisches Regime
etablieren würde, zumal die staatlichen Universitäten alle in der Hand der Bundesstaaten sind".



 



Tribalismus? Polarisierung?



 



Die wirkliche Gefahr, sagt Bachmann, sei der zunehmende Tribalismus, "wenn sich jetzt auch Leute aus dem linksliberalen Spektrum plötzlich eines Orwell’schen Neusprechs (der Begriff stammt aus
George Orwells Roman '1984', in dem politisch umgestaltete Sprache zum Ausdruck gleichgeschalteten Denkens wird) bedienen, um Gay im Amt zu halten, obwohl sie nicht im Amt zu halten war".



 



Wenn etwa, wie das Magazin The Atlantic kritisierte, Unterstützer Gays fehlende Zitatkennzeichnungen als
"technical attribution issues" redefinierten oder als "repeating banal phrases". Wobei die Klimaaktivistin Genevieve Guenther, von der letztere Aussage stammte, "The Atlantic" prompt vorwarf, sie
absichtlich verfälscht wiedergegeben zu haben.



 



So oder so, fügt Bachmann hinzu, habe der Polarisierer Trump angesichts einer solchen Debatte schon gewonnen, "selbst wenn er am Ende nicht erneut Präsident würde, sondern ins Gefängnis müsste".



 



Lektionen für Deutschland



 



Der Amerikanist Martin Klepper von der Berliner Humboldt-Universität sagt, er würde eher von Polarisierung als von Tribalismus sprechen, aber auch er meint: "Wenn selbst in der Wissenschaft
inzwischen manche finden, sie müssten eine Seite wählen und deren Angehörige um jeden Preis in Schutz nehmen, ist ganz viel verloren."



 



Und in Deutschland? Auch wenn der Fall Gay zuerst von den persönlichen Umständen zu beurteilen sei: "Es ist gut, wenn wir in Deutschland genau hinschauen, was da in den USA gerade passiert, und,
wo möglich, daraus lernen", sagt Lambert Koch, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV). Es gebe Entwicklungen, die "hier wie dort" in eine gefährliche Richtung wiesen.



 



Die größte Gefahr sei, dass die Hochschulen einer immer stärkeren Politisierung ausgesetzt würden. "Wissenschaft lebt von dem Mut und der Unverstelltheit eines lebendigen Diskurses um des Findens
neuer Erkenntnisse und Wahrheiten willen." Dazu brauche es wissenschaftlich unangreifbares Führungspersonal und einen Vorschuss an Vertrauen. Und man müsse "einander auf der Grundlage
wissenschaftlicher Methoden korrigieren können, ohne dass dies zu Aggressionen oder politischen Zerwürfnissen führt".



 



Stimmenfang mit Anti-Gendern



 



Martin Klepper sagt, in Deutschland sei die Wissenschaft im guten wie im schlechten Sinne noch abgeschotteter als in den USA. "Sie ist stärker auf sich selbst bezogen, sie bestimmt nicht in
vergleichbarem Maße öffentliche Diskurse mit." Das bringe sie "natürlich auch seltener ins politische Fadenkreuz". Allerdings ändere sich dies allmählich. Ein Beispiel seien die Gender Studies,
deren Gegner ebenfalls mit persönlichen Diffamierungen arbeiteten. "Und die Politik geht mit politisch fragwürdigen Verboten von Gendersternchen auf Stimmenfang." Mehr als rechte Kampagnen sorge
ihn allerdings derzeit, dass die Politik in die Universitäten hineinregulieren könnte, etwa in Form einer Bekenntnisklausel gegen Antisemitismus, wie sie bereits in der Berliner Kulturszene
etabliert worden sei.



 



Insgesamt aber, sagt Katrin Kinzelbach, belegten alle seriösen Daten, dass in Deutschland ein sehr hohes Maß an Wissenschaftsfreiheit herrsche. "Diesen Befund kann man natürlich angreifen, etwa
mit dem Narrativ, man könne sich an den Hochschulen zu bestimmten Themen nicht mehr frei äußern." Das sei zwar "selbst in den USA absurd". Doch wenn man solch ein Narrativ oft genug wiederhole,
werde es irgendwann zu einer "erlebten Wahrheit".



 



In der Corona-Zeit mussten Wissenschaftler in Deutschland bereits teilweise massive persönliche Anfeindungen und Angriffe aushalten, besonders aus rechtspopulistischen Kreisen, sagt Bachmann.
Manche Fachleute hätten sich nach solchen Erfahrungen weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Der deutschen Wissenschaft stehe die echte Bewährungsprobe vielleicht erst noch bevor, "wenn
die AfD die prognostizierten großen Wahlerfolge feiert".



 



Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jedenfalls hat die "Freiheit" zum Thema des Wissenschaftsjahres 2024 gemacht. Das Grundgesetz gewährt den Menschen seit fast
75 Jahren umfassende Freiheitsrechte. Doch diese Freiheit stehe unter Druck. "Das Wissenschaftsjahr 2024 richtet daher ein ganzes Jahr lang seinen Fokus in unterschiedlichen Formaten der
Wissenschaftskommunikation auf die Freiheit", heißt es beim BMBF. Man wolle den Dialog über Freiheit fördern, hieß es schon in der Projektausschreibung, "sowohl innerhalb als auch zwischen
Gesellschaft und Wissenschaft".



 



Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel.




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