Blogbeitrag20. November 2023

Das stille Leiden der Betroffenen

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Abstract

Wie es sein kann, dass jeden Tag einflussreiche Wissenschaftler:innen ihre Macht missbrauchen, viele es wissen und trotzdem nichts geschieht? Ein Essay über fehlende Kontrollmechanismen und die Ohnmacht als Berichterstatter.






Foto: Pxhere,
CCO.






ES GIBT AUGENBLICKE, da gerate ich als Journalist an meine Grenzen. Da recherchiere ich über Monate, werde im Laufe der Zeit immer überzeugter, dass dramatisch etwas im Argen liegt – und kann am
Ende doch nicht öffentlich darüber berichten. Warum? Weil die Erfahrung für die Betroffenen so niederschmetternd war, weil sie solche Sorgen und solche Ängste haben, dass sie zwar im Vertrauen
darüber berichten. Aber sich sofort zurückziehen, wenn ich sie frage, ob ich mich in einem Artikel auf ihre Vorwürfe berufen dürfte.



 



Ich rede, Sie ahnen es, von mutmaßlichem Machtmissbrauch. Von systematischem Fehlverhalten einer Führungspersönlichkeit, das sich, stimmt das gute Dutzend mir vorliegender Zeugenberichte, über
viele Jahre zieht und an verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen stattgefunden hat. Ich werde nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt, auch nicht, ob die Person
eine Universität oder eine Hochschule für angewandte Wissenschaften leitet. Ich kann und werde Ihnen keine Information geben, aus der sich eine Identität ableiten lässt. Sie können sich kaum
vorstellen, wie mich das frustriert angesichts all dessen, was ich an Berichten gehört habe. Zumal alle Aussagen zusammengenommen ein so stimmiges Gesamtbild ergeben, dass ich wenig Zweifel habe,
dass sie den Tatsachen entsprechen.



 



Doch in erster Linie trage ich eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die zu Opfern dieser Person geworden zu sein scheinen und sich mir gegenüber offenbart haben. Ich müsste sie in meinem
Artikel zwar nicht namentlich nennen. Aber spätestens wenn ich mich, was wahrscheinlich wäre, nach Veröffentlichung mit presserechtlichen Gegenmaßnahmen der beschuldigten Person konfrontiert
sähe, müsste ich meine Aussagen belegen, das heißt: Dokumente vorlegen oder meine Quellen um eine juristisch wasserdichte eidesstattliche Erklärung bitten. Da aber besagte Führungspersönlichkeit
offenbar ungemein geschickt agiert, existieren keine schriftlichen Zeugnisse persönlicher Verfehlungen, die für sich stehend aussagekräftig genug wären. Also käme es auf die eidesstattlichen
Erklärungen an. 



 



Womit der Führungspersönlichkeit klar wäre, wer sich hier gegen sie auflehnt. Und genau das fürchten meine Gesprächspartner:innen mehr als alles Andere. Die einen, weil sie immer noch
traumatisiert sind. Die anderen, weil sie noch irgendwo in der Wissenschaft tätig sind und den so langen wie mächtigen Arm der Person fürchten, unter der sie, wie sie sagen, so gelitten haben. Es
gibt auch noch eine dritte Gruppe: diejenigen, die zwar mit mir geredet haben, aber nur widerwillig – und am liebsten das ganze Thema einfach hinter sich lassen wollen.



 



Was zum Wesen des
Machtmissbrauchs gehört



 



Jetzt runzeln Sie vielleicht die Stirn und fragen: Kann das wirklich sein? So viele Leute, die alle dasselbe sagen, die angeblich so gelitten haben, und keine traut sich an die Öffentlichkeit?
Meine Antwort: Ja, das kann sein. Und schon die Skepsis der so Fragenden hilft, so verständlich sie ist, den mutmaßlichen Tätern. Denn ich glaube nicht, dass meine Erfahrung ein Einzelfall ist.
Ich glaube, genau das gehört zum Wesen des Machtmissbrauchs, dass die erlebte Ohnmacht mitunter noch lange weitergeht, selbst wenn man der konkreten Situation entkommen zu sein scheint. 



 



Und womöglich eignet sich genau die Wissenschaft besonders gut für das Entstehen dieser Art von Ohnmacht: durch die Art, wie in Hochschulen und Forschungsinstituten persönliche Abhängigkeiten
entstehen, materiell und emotional, ohne ausreichende Transparenz, ohne Möglichkeit der institutionellen Abhilfe. Denn je weiter oben das Problem besteht, desto kleiner ist das Vertrauen in
die Wirksamkeit der vorhandenen Kontrollmechanismen. Und so kommt es, dass an vielen Institutionen der Wissenschaft viele ziemlich gut Bescheid wissen über Personen, die ihre Untergebenen
schlecht behandeln, mobben, krank machen, aber aus diesem Wissen nichts folgt. 



 



Um es klar zu sagen: Die weit überwiegende Zahl an Führungskräften verhält sich in der Wissenschaft verantwortungsbewusst und will für die Menschen um sie herum nur das Beste. Und als Journalist
trage ich auch im konkreten Fall der beschuldigten Person gegenüber ebenfalls eine Verantwortung. Sie hat ein Anrecht darauf, dass die gegen sie gerichteten Vorwürfe nicht halboffen durch
die Medienöffentlichkeit geraunt werden. Und obwohl ich überzeugt bin, dass all die Vorwürfe im Kern zutreffen – sie bestreitet es. Zu Recht gibt es ethische, professionelle und juristische
Maßstäbe, die hohe Hürden für eine identifizierende Berichterstattung bedeuten. Nur trägt natürlich auch das wieder zum Frust der mutmaßlichen Opfer bei. Wieso kann das sein?, fragen sie. Wieso
kommt diese Person damit durch?



 



Zumal, das darf man ebenfalls nicht vergessen, Machtmissbrauch und Fehlverhalten normalerweise nicht einfach enden. Das heißt, dass mutmaßlich noch mehr Menschen leiden werden. Auch wenn die
beschuldigte Führungskraft nach Aussagen ihres nahen Umfelds zuletzt deutlich anders aufgetreten sein soll – seit ich sie von meiner Recherche informiert habe? Das wäre ja immerhin etwas. Aber
wie lange hält das? Und was folgt daraus?



 



Was jeden Tag verborgen
vor der Öffentlichkeit geschieht



 



Ich werde jedenfalls meine Arbeit fortsetzen und Missstände, wo ich ihnen begegne, wo immer möglich, so offen wie möglich benennen und recherchieren. So habe ich es immer gehalten. Nur, das habe
ich in den vergangenen Monaten nochmal lernen müssen, es geht eben nicht immer. Zumindest nicht sofort.



 



Ich weiß, dass ich Sie jetzt unbefriedigt zurücklasse. Sie würden so gern mehr wissen über die Art der Vorwürfe, über konkrete Zwischenfälle, Ereignisse und Äußerungen, wo sich was zugetragen
hat, ob die betroffene Person jemals Sanktionen oder Gegenwind erlebt hat, wer zu welchem Zeitpunkt was wusste oder ahnte und von welchem Zeitraum wir sprechen. Aber so Leid es mir tut: All das
werde ich nicht liefern können.  



 



Aber ich wollte Sie teilhaben lassen an meinem Frust und meinem Dilemma. Und falls Sie es noch nicht sind, wollte ich Sie noch ein Stückweit aufmerksamer machen gegenüber dem, was auch in
Institutionen der Wissenschaft verborgen vom Blick der Öffentlichkeit jeden Tag geschieht.



 



Dabei sind es meist nicht die krassen Vergehen, die den Gegenstand einer Straftat erfüllen. Im Gegenteil: Ich bin davon überzeugt, dass viele derjenigen, die systematischen Machtmissbrauch
betreiben, ihr Verhalten selbst so nie nennen würden. Es womöglich sogar für normal halten und Menschen, die damit nicht klarkommen, für zu zimperlich. Die nicht merken oder nicht merken wollen,
wie sie Karrieren beeinträchtigen, was für Wunden sie reißen, und wie lange diese bei einigen bleiben.



 



Woran man den Durchbruch
wird erkennen können



 



Genau deshalb ist es so wichtig und überfällig, dass die Debatte über Machtmissbrauch die deutsche Wissenschaft erreicht hat und erst wieder aufhört, wenn die Karriere- und Kontrollsysteme andere
sind. Führende Wissenschaftsmanager erklären inzwischen regelmäßig, sie hätten das Problem erkannt, Hochschulen geben Erklärungen und Selbstverpflichtungen ab. Zuletzt hatte die
Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) die besondere Verantwortung der Rektorate und Präsidien bekräftigt, entschieden gegen Machtmissbrauch an Hochschulen vorzugehen. Weshalb
jetzt Vorschläge zur Weiterentwicklung und Verbesserung bestehender Verfahrensweisen in der HRK erarbeitet werden sollen.



 



Das ist respektabel und erfreulich, doch wird es reichen? Das Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft kritisiert in einem offenen Brief an die
HRK, dass in der Pressemitteilung "die Ignoranz gegenüber den ermöglichenden Faktoren, der Vielfalt und der hohen Dunkelziffer von Machtmissbrauch deutlich" würde. Machtmissbrauch sei "ein
systemimmanentes und strukturelles Phänomen des deutschen Hochschulsystems". Das Netzwerk fordert daher: "die Etablierung einer unabhängigen Kontroll- und Sanktionsinstanz mit entsprechenden
Befugnissen und Ressourcen".



 



Woran man den Durchbruch erkennen wird? Daran, dass Opfer dann nicht mehr als Ausweg die Kündigung wählen, auch wenn sie dem eigenen beruflichen Erfolg schadet. Und daran, dass der Ruf
nach Hilfe dann endlich nicht mehr Kraft und Mut erfordert als das stille Weiterleiden. 




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