Aufsatz(gedruckt)1984

Dimensionen des Wertewandels

In: Aus Politik und Zeitgeschichte: APuZ, Heft B. 25, S. 3-13

Verfügbarkeit an Ihrem Standort wird überprüft

Abstract

"Der 'Wertewandel' in den westlichen Industriestaaten ist Ausdruck einer tiefgreifenden Akzeptanzkrise der technisch-industriellen Hochzivilisation, die sich in vielfältigen Formen der Ablehnung und des Protestes, in den Entwürfen einer 'postmaterialistischen' Gegenkultur und in den 'neuen sozialen Bewegungen' manifestiert. Im Gegensatz zu optimistischen Prognosen, die eine relativ reibungslose Ablösung des tradierten Wertesystems durch ein neues, postmaterialistisches unterstellen, vollzieht sich der Wertewandel keineswegs als 'stille Revolution' oder 'sanfte Verschwörung'. Er ist vielmehr zunehmend gekennzeichnet durch eine konfliktträchtige Wertepolarisierung und Risse im sozial-kulturellen Gefüge, hervorgerufen durch Schwächung und Entstrukturierung gesellschaftlicher Institutionen, mit deren Hilfe Werte und Normen als Orientierungsmaßstäbe des Verhaltens verbindlich gemacht werden. Wesentlich hieran beteiligt sind konfliktfördernde systemimmanente Widersprüche der zur Überflußgesellschaft avancierten Industriegesellschaft, die sich einerseits als Produktions- und Leistungsgesellschaft organisiert, andererseits hedonistischer Konsumkultur und sozial-kultureller Permissivität weiten Raum gibt. Da der Postmaterialismus 'Beliebigkeit' zum Leitprinzip erhoben hat, läuft er Gefahr, sich selbst den Weg zu konsistenten, verbindlichen neuen Wertestrukturen zu verbauen. Wertewandel erschöpft sich dann im Abbau tradierter Wertesysteme und Institutionen und - da eine enge Affinität zwischen Postmaterialismus und dem Prinzip der 'Collage' besteht - in der collageartigen Zusammenfügung entstrukturierter Elemente zu beliebigen neuen Gebilden von meist kurzer Lebensdauer. Das Bildungs- und Erziehungswesen scheint wie kaum eine andere Institution geeignet zu sein, den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Destabilisierungsprozessen entgegenzuwirken. Es unterliegt jedoch in weit stärkerem Maße gesellschaftlichen Einflüssen, als es selbst in der Lage ist, gesellschaftsprägend zu wirken. In weiten Bereichen bietet es ein Spiegelbild epochaltypischer gesellschaftlicher Kräfte und Strömungen und ihrer Widersprüche: Die gesamtpolitischen Entstrukturierungstendenzen finden im Bildungswesen ebenso ihre Entsprechung wie die konfliktreiche Polarisierung von Leistungsorientierung und Permissivität. Der Wertewandel ist eine Herausforderung an die Selbsterneuerungsfähigkeit der Gesellschaft. Daß Gesellschaften zur Selbsterneuerung immer wieder fähig sind, zeigt die historische Erfahrung. Sie zeigt zugleich, daß den Reformern der Vergangenheit bewußt war, daß eine völlige Abkehr von den Traditionen, Sinngehalten und Techniken der zu verändernden Gesellschaft keine günstige Voraussetzung für den Wandel ist. Das unterscheidet sie grundsätzlich von den Anhängern des modernen Postmaterialismus." (Autorenreferat)

Problem melden

Wenn Sie Probleme mit dem Zugriff auf einen gefundenen Titel haben, können Sie sich über dieses Formular gern an uns wenden. Schreiben Sie uns hierüber auch gern, wenn Ihnen Fehler in der Titelanzeige aufgefallen sind.