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Vom Schüler einer christlichen Kolonialschule zum Wotansverehrer: deutsche Kolonialgeschichte im schriftlichen Nachlass von Wilhelm L.G. Elmenhorst
Über die Langlebigkeit von nationalistischem, kolonialistischem und judenfeindlichem Denken.In dieser historisch-skandinavistischen Untersuchung wird erstmalig der schriftliche Nachlass des Hamburger Großkaufmannssohns W. L.G. Elmenhorst (1890-1964) analysiert: Gedichte, Berichte, Briefe, ein Kolonialroman und Erzählungen. Drei Interviews ergänzen diese Quellen.Elmenhorst lebte von 1911 bis 1924 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Sein Denken ist geprägt von Naturromantik, Antiurbanismus, Germanophilie, Nationalismus, Kaisertreue, Kolonialismus, Rassismus und Judenfeindlichkeit. Den Völkermord an Herero und Nama erwähnt er in seinem Nachlass nicht.Sein Gedicht Eddische Lieder von 1920 ist Zeugnis für Legitimation deutscher Herrschaftsansprüche, für Instrumentalisierung und Ideologisierung nordgermanischer Mythen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Elmenhorst sieht sich als Germanen und Nachfahren von Wikingern.Seine Sammlung von Artefakten indigener Völker sendet er dem damaligen Völkerkundemuseum in Hamburg. Nach 1918 prägen Hass auf England, Kolonialrevisionismus und ab 1923 die NS-Ideologie sein Denken. Der Nachlass zeigt beispielhaft die Langlebigkeit von nationalistischem, kolonialistischem und judenfeindlichem Denken vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik
Jörg von Brincken/Andreas Englhart, Einführung in die moderne Theaterwissenschaft.: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008. (Einführungen Germanistik). ISBN 978-3-534-19099-7. 158 S. Preis: € 14,90
Das Angebot an Einführungen in das Fach Theaterwissenschaft ist im Vergleich zu manch anderen Geistes- und Kulturwissenschaften recht überschaubar. Der Einführung in die Theaterwissenschaft von Christopher Balme in der inzwischen 4. durchgesehenen Auflage (2008) ist in den letzten Jahren lediglich Andreas Kottes Theaterwissenschaft. Eine Einführung (2005) zur Seite gestellt worden. Insofern bemühen sich Brincken und Englhart mit ihrer Einführung in die moderne Theaterwissenschaft eine Lücke zu schließen, wenngleich sie recht beeindruckend aufzeigen, an welchen Schwierigkeiten ein solches Projekt zu scheitern vermag. Die beiden Autoren, ihrerseits wissenschaftliche Mitarbeiter am Münchner Institut für Theaterwissenschaft, haben ihr Buch in sechs Kapitel aufgeteilt und spannen den Bogen ihrer Darstellung von den "Grundlagen" und einem "Forschungsbericht" über Ausführungen zu "Theaterästhetik und -theorie" sowie "Historischen Formationen" bis zur "Analyse der Aufführung", um mit vier praktischen Beispielen abzuschließen. Neben einem Personen- und einem Sachregister findet sich eine kommentierte Bibliografie, deren Aufbau aber nicht überzeugen kann. Denn die Literatur wurde in drei nicht zweifelsfrei nachvollziehbare Kategorien ("Einführungen und Übersichtswerke", "Literatur zur Inszenierungs- und Aufführungsanalyse" und "Weitere Literatur") aufgeteilt, wodurch sich die entsprechende Zuordnung der im Text angegebenen Kurzbelege mühsam gestaltet. Irreführend erweist sich zudem der Titel des Buches, der vielleicht auch der Verlagspolitik geschuldet ist. Denn die Autoren gehen von einer an keiner Stelle aufgeklärten Vorstellung einer 'modernen Theaterwissenschaft' aus. Wer nun meint, daraus folgt unter Einbeziehung neuester theaterwissenschaftlicher Literatur ein Aufzeigen des Entwicklungspotentials des Faches in den letzten Jahren, wird eine Enttäuschung erleben. Zwar wird ein Forschungsüberblick angeboten, der in Ansätzen eine solche Erwartungshaltung befriedigen kann, aber es fehlt ein über die bloße Aufzählung neuerer methodischer und theoretischer Zugänge hinausweisender, ernst zu nehmender Diskurs mit der im Rückschluss aus dem Titel zu extrahierenden 'nicht mehr modernen' Theaterwissenschaft. So wird von den beiden Autoren Balmes Einführung in die Theaterwissenschaft immer wieder affirmativ zu Belegzwecken herangezogen, während Kottes Theaterwissenschaft. Eine Einführung nicht einmal in das Literaturverzeichnis Aufnahme gefunden hat. Das Kapitel zu "Theaterästhetik und -theorie" wiederum bietet lediglich einen schlaglichtartigen Teilüberblick, ohne auf darin verwendete Begriffe wie etwa 'Mimesis' einer Einführung gemäß ausführlicher einzugehen. Die Autoren behandeln hierbei zunächst "Einfühlung und Distanz: Schauspieltheorien von Diderot bis heute", setzen sich danach mit "Theaterraum und Szenografie" auseinander, um schließlich der "Theatralen Wirkungsästhetik" viel Aufmerksamkeit zu widmen, wobei auch aktuelle Debatten zu Liminalität, Liveness, Intensität, Präsenz, Atmosphäre und Performativität dargestellt werden. Da zur Erläuterung dieser Debatten aber zumeist in affirmativer Weise Kurzzusammenfassungen von Primärliteratur präsentiert werden, finden differierende Positionen oder kontrastierende Zugänge keinen ausreichenden Platz für eine kritische Auseinandersetzung. Ob der im Titel geführte Terminus 'moderne Theaterwissenschaft' diesem Zugang gerecht wird, ist anzuzweifeln. Als Zielpublikum ihrer Einführung stellen sich die Autoren einen "vorwiegend literaturwissenschaftlich orientierten" (S. 7) Leserkreis vor, was wohl auch damit zusammenhängt, dass das Buch in der Verlagsreihe "Einführungen Germanistik" veröffentlicht wurde. So mag es in diesem Zusammenhang zwar verwundern, dass in keinster Weise auf Dramentheorie eingegangen wird, der stattdessen gewählte Ansatz "die von der Literaturwissenschaft nur peripher berücksichtigten Wechselwirkungen zwischen dem dramatischen Text, den Eigengesetzlichkeiten der Theaterästhetik und den institutionellen Bedingungen der Theaterkultur" (S. 7) zu thematisieren, hat allerdings durchaus seine Berechtigung. Insofern kann als eine durchgängige Linie in den verschiedenen Darstellungen das Bemühen der Autoren hervorgehoben werden, immer wieder das Verhältnis zwischen literarischem Text und theatraler Umsetzung aufzugreifen und zur Diskussion zu stellen. Als Konsequenz ihres Zugangs setzten die Autoren Inszenierungs- und Aufführungsanalyse ins Zentrum ihrer Einführung, wobei - wie es sich bereits in den Themen des Kapitels zu "Theaterästhetik und -theorie" andeutet - vielerorts auf phänomenologisch geprägte Methoden zurückgegriffen wird. Damit verbunden ist eine an mehreren Stellen geäußerte, aber nicht nachzuvollziehende Abwehrhaltung gegenüber postmodernen Zugängen und Analysemethoden. So wird beispielsweise zu aktueller deutschsprachiger Dramatik apodiktisch festgehalten, dass diese "im Sinne einer Post-Postmoderne und in Abgrenzung zu den 68ern, ein[en] neue[n] Realismus" (S. 106) fordere. Als offensichtlich ernst gemeinte Begründung für diese Hinwendung zum Realismus wird von den Autoren angegeben, dass die "Kinder der 68er-Generation" eine "Sehnsucht [.] nach Stabilität in der Bewegung, nach Identität in der Dezentrierung, nach Verantwortung, Verlässlichkeit, Treue und Ethik" hätten, wobei "[i]nstinktiv erkannt [wird], dass das, was die etablierten Älteren als Reaktion diffamieren, auch die Subversion einer permanenten Bewegung sein kann, welche zuweilen ein Merkmal für Totalitarismus ist" (S. 105). Da ansonsten auf gesellschaftspolitische Aspekte hinsichtlich Publikum, Rezeption und Darstellung großteils verzichtet wird, irritiert diese in ihrer Verallgemeinerung absurde Analyse einigermaßen, soll hier aber auch den Tonfall wiedergeben, mit dem an einigen Stellen dieser Einführung operiert wird. Überraschend ist diese Formulierung auch deswegen, weil die Autoren zwar zu Beginn ihrer Einführung im Kapitel "Grundlagen" auf unnötige Weise den Werktreue-Begriff behandeln, es ihnen aber im darauf folgenden Kapitel "Forschungsbericht" gelingt, einiges gut zu machen und mit einer Darstellung über "Neuere Forschungsfelder im Überblick" eine erwartungsvolle Haltung zu generieren. Dabei werden über zehn Seiten unterschiedlichste Forschungszugänge referiert, womit einige wertvolle Lektüreempfehlungen, besonders auch aus dem Feld der später verschmähten 'Postmoderne', verbunden sind. Aber bereits hier regt sich an einigen Stellen Zweifel hinsichtlich der Verständnisbereitschaft der Autoren gegenüber den dargelegten neueren Forschungsfeldern, so wenn zu den Queer Studies vermerkt wird, dass deren Untersuchungsgebiet "die Praktiken innerhalb des nicht-heterosexuellen Bereichs" seien, weswegen sich die Queer Studies "folglich nicht unmittelbar mit der Sexualität auseinandersetzen" (S. 30) müssten. Diese unüberlegte Behauptung ist einfach nur falsch und die weiteren Kapitel zeigen leider, dass es wenig Interesse gibt, sich auf die vorgestellten neueren Forschungsfelder einzulassen. Dies betrifft auch die ebenfalls im Kapitel "Forschungsbericht" enthaltene Abhandlung über die "Theaterwissenschaft von ihren Anfängen bis heute". Zwar wird hier im Vergleich zu fachgeschichtlichen Darstellungen in anderen Einführungsbüchern der enge Zusammenhang der Institutionalisierung des Faches mit dem Nationalsozialismus reflektierter ausgebreitet, so wenn darauf verwiesen wird, dass sich die Theaterwissenschaft "als methodisch anschlussfähig an die Ideologie des Nationalsozialismus" (S. 20) erwiesen hat, was auch kurz anhand von Arbeiten Heinz Kindermanns und Carl Niessens angedeutet wird. Von dieser Reflexion ist aber im später folgenden Kapitel über "Historische Formationen" in der Darstellung des "Politischen Theaters im 20. Jahrhundert" nur noch bedingt etwas zu spüren, da dort nur in einem kurzen Absatz das nationalsozialistische Theater thematisiert wird, noch dazu mit der einzigen Feststellung, dass das "faschistische Regime [.] wie das stalinistische den publikumsnäheren und erfolgreicheren Realismus auf der Bühne" (S. 96) bevorzugte. Anstatt zumindest in der Folge auf Kontinuitäten einzugehen, wird zunächst über das "deutsche Theater in der Nachkriegszeit" lamentiert, das "in seiner Innovationskraft eher gelähmt" erschien, um danach befriedigt festzustellen, dass dieses Theater "Anfang der 60er Jahre [.] wieder Weltgeltung zu erlangen" (S. 96) begann. Das Kapitel über "Historische Formationen" ist im Gesamten als gescheiterte Zusammenfassung zu betrachten. Nahegelegt wird eine lineare Deutung der Entwicklung von Theater, wobei die verschiedenen Entwicklungsetappen als abgeschlossen und widerspruchsfrei dargestellt werden. Der im Teilkapitel zu den "neueren Forschungsfeldern" vorgetragenen Forderung nach einer Hinterfragung des "bis dato herrschende[n] eurozentrische[n], männlichkeits- und mehrheitsdominierte[n] Blick[s] auf kulturelle Phänomene und Artefakte" (S. 26) wird de facto eine Absage erteilt, wenn in der Folge nur eine Geschichte des europäischen Theaters und hierbei hauptsächlich des deutschen Theaters erzählt wird. Theatrale Formen abseits der mehrheitsdominierten Theatergeschichtsdarstellungen werden, wenn überhaupt, nur in Nebensätzen erwähnt. Verwendbarer gestalten sich die beiden letzten Kapitel zur Inszenierungs- und Aufführungsanalyse, wenngleich auf Fragen nach gesellschaftlichen Wechselwirkungen theatraler Formen grosso modo verzichtet wird. Stattdessen stehen phänomenologische Aspekte im Mittelpunkt, die in den angeschlossenen praktischen Beispielen großteils nachvollziehbar umgesetzt werden. Analysiert werden dabei Inszenierungen von Thalheimer, Wilson und Castorf und eine Aktion von Schlingensief. Die Einführung in die moderne Theaterwissenschaft kann in der derzeitigen Form als Lehrbuch nicht empfohlen werden, da durchgehend eine Tendenz zur vermeintlichen Abgeschlossenheit und zur apodiktisch vorgetragenen Eindeutigkeit festzustellen ist. Einer (selbst-)kritischen Auseinandersetzung wird nur bedingt Platz gelassen. Unklar bleibt zudem, welches Publikum die Autoren tatsächlich ansprechen möchten. So differieren die einzelnen Teilkapitel sprachlich ungemein. Die Palette reicht dabei von ungenau reflektierten Beobachtungen bis zu dichten, mit einem Übermaß an Bedeutung aufgeladenen Passagen. Nicht nur hier zeigen sich Inkohärenzen, auch beim Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Kapiteln und Teilkapiteln fehlt die Abstimmung, was der Lesbarkeit des Buches enorm schadet. Dazu kommt, dass die Autoren ihre Verwendung des Begriffs 'Theater' nicht erläutern, wodurch vielleicht einige der Einschränkungen bzw. eingeschlagenen Wege besser nachvollziehbar geworden wären. Es ist zu hoffen, dass bei einer zweiten Auflage eine umfangreiche Überarbeitung das Projekt noch zu retten vermag.
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Robert Gugutzer/Barbara Englert (Hg.): Sport im Film. Zur wissenschaftlichen Entdeckung eines verkannten Genres.: Konstanz/München: UVK 2014. ISBN 978-3-86764-483-9. 296 S. Preis: € 41,–
Der moderne professionelle Spitzensport ist eine Erfindung der Medien. Sportliche Events werden geschaffen, um Auflagen von Zeitungen zu steigern, Einschaltquoten zu erhöhen und Kinokassen zu füllen. Das sportliche Ereignis verlangt seinerseits nach medialer Aufbereitung; narrative Elemente müssen eingefügt, dem Publikum müssen Identifikationsflächen und emotionale Momente geboten werden – letztlich um Sponsoren anzusprechen. Sponsoren setzen ihrerseits auf die Erzielung eines Imagetransfers, um ihre Produkte zu bewerben. Dies macht den Medien/Sport-Komplex im Prinzip zum idealen Objekt für interdisziplinär angelegte Forschung. Film- und MedienwissenschaftlerInnen, SoziologInnen und SportwissenschaftlerInnen haben bisher aber nur wenig Interesse an der medialen Aufbereitung des Sports gezeigt. Der Sportfilm ist deswegen ein Stiefkind der Kulturwissenschaften – oder im Speziellen der Filmwissenschaften – und das, obwohl der Sport per se außerordentlich starke filmische Elemente aufweist. Dass es sich um ein verkanntes Genre handelt, konstatiert der vorliegende Band Sport im Film von Robert Gugutzer und Barbara Englert schon im Untertitel. Der Tagungsband (die Tagung fand im Januar 2013 am Institut für Sportwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt statt) versammelt Beiträge von Sport-, Medien- und FilmwissenschaftlerInnen sowie SozialwissenschaftlerInnen, die das Ziel verfolgen, den Sportfilm als Objekt der Wissenschaft zu etablieren. Als Grund für die Marginalisierung des Sportfilms vermuten die HerausgeberInnen seine außerordentliche Popularität beim Publikum. Kulturwissenschaften hätten demnach aus einem elitären Bewusstsein heraus Berührungsängste mit dem Phänomen Sport im Film. Als einem Bestandteil der Populärkultur werde dem Sportfilm nicht der gleiche akademische Ernst zuteil wie den Artefakten sogenannter Hochkultur. Dies sei besonders eklatant für den deutschen Sprachraum, in dem eine solche Unterscheidung vehementer postuliert werde. Dazu komme, so eine fortführende Vermutung, dass man in den Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum Sport an sich argwöhnisch betrachte aufgrund der Verstrickung von Volksgesundheit und Körperkultur mit der Propaganda des Dritten Reichs. Das Ignorieren des Phänomens ändert aber nichts daran, dass Sport ein fester Bestandteil der Gesellschaft ist und deren Kultur beeinflusst. In der Einleitung betonen die HerausgeberInnen, dass Sportfilme eine Vielzahl an Funktionen erfüllen, indem sie Normen, Werte, Identitätsflächen und Rollenbilder an das Publikum zu vermitteln versuchen. Natürlich diene der Sportfilm wie überhaupt der Sport an sich auch hervorragend als Symbol für die Leistungsgesellschaft. Wie sehr dies der Fall sei, könne man etwa anhand der aktuellen Dopingproblematik studieren. Da der Sportfilm also die gesellschaftliche Umgebung, aus der er stammt, reflektiere, sei es notwendig, dieses Phänomen gebührend zu analysieren. Dies postuliert der Band an mehreren Stellen: Sportfilme transportieren Wertvorstellungen einer Gesellschaft und nehmen so Einfluss auf die Konstruktion von Race, Class und Gender. Insofern ist es das Verdienst des Bandes, auf diese Lücke hinzuweisen und den Weg für weitere Forschung zu bahnen. Die AutorInnen versuchen etwa, den Sportfilm als Genre zu beschreiben und Kategorien zu etablieren. Sie beschäftigen sich mit Pathos und Körperbildern. Andere Beiträge gehen der engen Beziehung von Medien und Sport bzw. der Verbindung von Sport, Filmindustrie und Politik nach oder untersuchen, wie der Sportfilm die jeweilige Gesellschaft reflektiert. Ein Fokus liegt dabei auf dem amerikanischen Sportfilm. Das mag daran liegen, dass Sport in den USA möglicherweise stärker noch als anderswo die Gesellschaft auf all ihren Ebenen durchwirkt. Der Sportfilm dient als Schablone für den Pursuit of happiness. Er konstruiert Mythen und Helden. Er zeigt Aufstiegsszenarien, in denen es dem Einzelnen gelingt, die Determinanten von Rasse und Klasse zu überwinden und den amerikanischen Traum zu leben. Für diese Art von Heldengeschichten, die zweifelsohne Werte der amerikanischen Gesellschaft transportieren, eignet sich vor allem der Boxfilm. Auf diesem Genre liegt auch der Schwerpunkt des Bandes. Anhand der Hexalogie der Rocky-Filme, die nicht nur in den USA einen fixen Bestandteil des kollektiven Bewusstseins darstelle, wird die Konstruktion einer gleichsam mythologischen Figur und ihr sozialer Aufstiegsdrang gezeigt. Gugutzer vertritt sogar die Auffassung, dass Rocky der bekannteste Sportheld der Sportfilmgeschichte ist. Dementsprechend detailliert ist die Untersuchung der Filme, in der auch eindringlich auf den Wandel des Heldenkörpers eingegangen wird. Fast jeder hat die pathosgeladenen Bilder des geschundenen Boxerkörpers im Kopf und wer in den 1980er-Jahren damit aufgewachsen ist, kann sich gut daran erinnern, wie der Boxkampf des 'Italian Stallion' Rocky mit der sowjetischen Kampfmaschine Ivan Drago den Kalten Krieg symbolisiert hat. In diesem Band wird konstatiert, dass der Kampfsport sich generell besonders gut für den Film eigne; aufgrund der hervorragenden Darstellbarkeit der kampfsportlichen Bewegungen, seiner aggressiven Körperlichkeit und weil der Boxsport traditionell ein proletarischer Sport sei, der dem Athleten die Möglichkeit des sozialen Aufstieges biete. Dies bilde die Grundlage für Narrative, die den Weg nach oben aufgrund von Trainingsfleiß, Disziplin und Durchsetzungsvermögen zeigen und natürlich auch für pathetisches Scheitern. Doch nicht nur Rocky wird hier einer Analyse unterzogen, sondern auch andere berühmte Boxfilme wie Raging Bull oder Muhammad Ali, the Greatest, die in ähnlicher Weise Heldenmythen der amerikanischen Gesellschaft transportieren. Die Verankerung dieser Filme in der Populärkultur hat jedoch vermutlich dafür gesorgt, dass kulturwissenschaftliche Forschung es bisher nicht für nötig befunden hat, diese unter ästhetischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Etwas besser scheint die Forschungssituation bei den Sportfilmen von Leni Riefenstahl zu sein. Zwei Beiträge des Bandes untersuchen die Ästhetik der Olympia-Filme, insbesondere die Zeitlupe und die Bedeutung der Olympischen Spiele 1936 für die nationalsozialistische Propaganda. Fazit: Ein lesenswerter Band, in dem SportwissenschaftlerInnen, die sich für die Soziologie des Sports interessieren, genauso fündig werden wie Film- und MedienwissenschaftlerInnen, die sich über ein verkanntes Genre informieren wollen. Vielleicht kann Sport im Film ja dazu beitragen, eine akademische Beschäftigung mit dem Phänomen des Sports in Medien und Gesellschaft zu forcieren. Übrigens: Das Zitat "früher standen sich die Menschen näher; die Waffen trugen nicht so weit" stammt nicht, wie in dem Beitrag "In der Arena des Blutes und der Ehre" vermutet wird, von Karl Kraus, sondern gehört zu den vielen ihm fälschlicherweise zugeschriebenen Zitaten.
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Inge Baxmann/Sebastian Göschel/Melanie Gruß/Vera Lauf (Hg.), Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel.: München: Fink 2009. ISBN 978-3-7705-4766-1. 259 Seiten, zahlreiche Abb., Kart., Preis € 32,90/CHF 52,90
Im Fokus von Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel steht die "Frage nach den Auswirkungen und Potentialen der Umstrukturierung von Arbeit für soziale Lebensformen und –rhythmen" (S. 7). Das sind Schlaglichter auf eine Umbruchssituation, in der wir uns eben jetzt befinden; auf die Neuverhandlung des Verhältnisses von Arbeit und Leben und auf die damit einhergehende Verunsicherung, in der schlagwörtlichen Figur des sich selbst vermarktenden 'flexiblen Menschen' repräsentiert. Ich schreibe diese Zeilen auf dem Balkon eines Hotelzimmers während eines Schiurlaubs auf einer österreichischen Alm, zwischen Frühstücksbuffet, Langlaufen und abendlichem Schwimmbadbesuch – eine Situation, die inhaltlich wie formal dem Thema des Buchs, das ich hier rezensiere, sehr gut entspricht. In Zeiten tragbarer Computer und mobiler Internetverbindungen haben sich die traditionellen Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschoben, ja sind in Auflösung begriffen: "Arbeit explodiert und diffundiert in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und ins Private" (S. 9). Ausgehend von einer von den HerausgeberInnen im Herbst 2007 für das Tanzarchiv Leipzig kuratierten Ausstellung mit dem Titel mitArbeit. Lebensrhythmen im Wandel versammelt diese Publikation disziplinenübergreifend sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische Beiträge. Sie handeln vom Menschen als "rhythmisches Tier" (Marcel Mauss, zit. nach Baxmann, S. 30) und der Automatisierung der Arbeitswelt, von der Körperlichkeit oder auch Immaterialisierung von Arbeit (vgl. z.B. Stuhr, S. 59-73), von 'soft skills' und "Körperwissen" (z.B. bei Baxmann, S. 26 ff), den "Wissenstechniken des Körpers" (ebd., S. 29) – mithin von Aspekten, die den Rahmen des schriftlich Vermittelbaren sprengen und daher auch nur unter Einbeziehung künstlerischer Zugänge für die Kulturgeschichtsschreibung produktiv gemacht werden können (vgl. S. 7). Die kulturhistorische Aufarbeitung der Verschränkung von Rhythmus, Bewegungskulturen, Arbeit und Kunst, die hier begonnen wird, folgt der Verschiebung des Arbeitsbegriffes vom Industrialisierungsschub des späten 19. Jahrhunderts und dem Aufkommen der Arbeitswissenschaften, über das Zeitalter fordistischer Fließbandproduktion (vgl. dazu vor allem Baxmann, S. 15-35) bis zum heutigen "Drill in einem Männerbüro" und dem Rhythmus des "Homo sedens" an seinem Computerarbeitsplatz (vgl. den Beitrag von Göschel, S. 79-99)? Arbeit und Rhythmus – Schon der Titel verweist auf die (für die Arbeitswissenschaften wie den Rhythmusdiskurs der nachfolgenden Jahrzehnte gleichermaßen einflussreiche) gleichnamige Schrift (1896) des Leipziger Nationalökonomen Karl Bücher: wie ein roter Faden zieht sich die Auseinandersetzung mit Büchers utopischer Vision "einer alles umfassenden Tätigkeit [.], die keine Trennung zwischen Kunst und Arbeit, Arbeit und Freizeit, Beruf und Leben, Individuum und Gemeinschaft, privat und öffentlich kennt" (S. 8) durch die verschiedenartigen Beiträge. Im Gegensatz zur entfremdeten, mit Mühe und Anstrengung verbundenen Arbeitsrealität – und der daraus hervorgehenden Abscheu, dem "horror laboris" – erklärt Bücher jene ursprüngliche, das Notwendige mit Genuss und Befriedigung verknüpfende, rhythmisch-lustvolle Tätigkeit zum eigentlichen Naturzustand der Arbeit und Quell aller Künste (vgl. Baxmann, S. 30 und Göschel, S. 87ff). Die "Einheit von Arbeit und Leben" – diese für die Moderne zentrale Utopie scheint nun, oberflächlich betrachtet, "im Postfordismus realisiert; doch die heutige Version des flexiblen Menschen, der sich seine Work-Life-Balance selbst organisiert, wird selten als Verwirklichung des Traums von der 'glücklichen Arbeit' erfahren" (S. 9). In diesem Sinne befassen sich die Beiträge dieses Bandes recht kritisch mit den historisch wechselnden ideologischen Instrumentalisierungen solcher Arbeitsutopien: So etwa in einer kulturhistorischen Skizze über den "Traum von der glücklichen Arbeit" in der Moderne und ihre Kulturtechniken der Synchronisation (im Beitrag von Baxmann, S. 15-35). Oder auch in Form einer soziologischen Fallstudie, die nach den "Grenzen der Entgrenzung" (Beitrag Voß/Weiß, S. 37) fragt: etwa anhand jener aktuellen "Ideologie der Subjektivierung" (Stichwort 'Ich-AG', S. 43), welche das Fallen der räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit im Namen der Freiheit und Selbstverwirklichung anpreist, jedoch die damit verbundenen Belastungen unterschlägt (wie etwa die Zunahme der "Gefühlsarbeit", S. 40). Arbeitsutopie, Rhythmus, Tanz: Eine weitere Schlüsselfigur des Buches (neben Karl Bücher) ist der Tanztheoretiker und Ausdruckstänzer Rudolf von Laban (1879-1958), dessen kurzer Text "Was ist Arbeit?" (um 1920), programmatisch platziert, das letzte Drittel des Buchs einleitet (S. 171-173): "Arbeit nur für den Lohn ist keine Arbeit, nur Sklaverei. / An s[einer] Arbeit muss der Mensch Freude haben!" heißt es da (S. 171), und: "Arbeit ist der Nerf des Lebens!" (S. 173). Der folgende Beitrag wiederum wirft auch auf Laban kritisches Licht und problematisiert das Verhältnis jener Utopie der Einheit von Arbeit und Fest, die Laban in seinen "Bewegungschören" umzusetzen suchte, zur nationalsozialistischen Ideologie des "Volkskörpers" – der "tanzende Arbeiter" als zwiespältige Figur zwischen Befreiung und gruppendynamischer Indoktrination (vgl. den Beitrag von Gruß, S. 175-202). Rhythmus, das ist nicht nur der Schlüssel zu jenem körperlichen Aspekt von Arbeit/Kunst, der das rational Erfassbare überschreitet und an tiefere Schichten der Wahrnehmung rührt, sondern auch zur Synchronisierung von Individuum und Gesellschaft und damit Teil der ökonomischen und politischen Verfasstheit der Welt. So kann der Taktrhythmus wie wir ihn kennen, jener Wechsel von betont und unbetont, keineswegs als naturgegebenes Phänomen genommen werden, sondern vielmehr als das Produkt einer Wahrnehmungsgewohnheit, die, so eine These, direkt aus der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, also vom Geld, hergeleitet werden kann (vgl. den Beitrag von Bockelmann, S. 103-111). Ob als strenger Takt der Maschine, der dem Arbeiter die Bewegungen diktiert, ob als 'natürlicher' Ausdruck in Tanz und Gymnastik, welcher den zivilisatorisch geknechteten Körper zu befreien vermag, ob als erlernbares Bewegungsschema, das Effizienz produziert: Rhythmus ist von Beginn an ein zentrales Thema in den Arbeitswissenschaften und doch mangelt es auch hier durchwegs an befriedigenden Definitionen dieses strittigen Begriffs. 'Rhythmus' erscheint vielmehr als etwas der Arbeit Implizites und dieses Implizite der Arbeit ist ja generell "ein altes Problem der Arbeitswissenschaft" (Göschel, S. 94): "Viele Arbeitsprozesse sind rein verbal nicht erklärbar, so lassen sich zwar beispielsweise alle Arbeitsschritte zum Backen eines Brotes angeben, die Mengenverhältnisse anwenden usw. Wie genau aber der Brotteig gewalkt werden muss, welche Teigkonsistenz die Beste ist, sind zum einen Erfahrungswerte, die zum anderen auf impliziten und personalen Voraussetzungen beruhen." (Ebd.). – Der Köper als Instrument der Welterfahrung ist Träger und Agent jenes Rhythmus, dessen Teil die Arbeit ist. In einer ungewöhnlich engen interdisziplinären Verschränkung von Kunst, Soziologie, Kultur-, Tanz- und Arbeitswissenschaften dringt dieses Buch tief in die politischen und ökonomischen Implikationen von Körperrhythmen im postfordistischen Krisenkapitalismus ein. Das Buch verweist den/die LeserIn auf sich selbst und regt dazu an, die eigene Situation zu reflektieren und, auch ganz körperlich, der Frage nachzuspüren, wie Arbeit und Leben ineinander übergreifen – mal verwirrend, mal zermürbend, mal befruchtend –, nicht nur in der Herausforderung einer bewussten Einteilung der Zeit sondern vor allem auch als gelebter Rhythmus.
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World Affairs Online
Der amerikanische Faschismus: vom Ku-Klux-Klan zu Trump
In: Blätter für deutsche und internationale Politik: Monatszeitschrift, Band 65, Heft 9, S. 57-68
ISSN: 0006-4416
World Affairs Online
Didier Plassard: Mises en Scène d'Allemagne(s).: Paris: CNRS editions 2014. ISBN: 978-2-271-07345-7. 383 S. Preis: € 59,–
Am Anfang vonMises en Scène d'Allemagne(s)steht ein Motto von Bernard Dort, der das deutsche Theater als bewundernswert bezeichnet, ein Eldorado, von dem man nur träumen könne – entsprechend beginnt der französische Sammelband zu deutschemRegietheatermit der Vorstellung, dass um 20:00 Uhr abends in der Bundesrepublik Deutschland nicht etwa die Tagesschau der Publikumsmagnet sei, sondern die Bühnen einer vielfältigen und einzigartigen Theaterlandschaft. So nimmt sich der Band vor, unterstützt von diversen Abbildungen, einen repräsentativen Überblick über Theaterproduktionen und -modelle aus der BRD und der DDR der letzten Jahrzehnte zu liefern. Dabei fokussiert er kein 'geteiltes Deutschland', sondern zwei Staaten mit verschiedenen Produktionsvoraussetzungen, deren Beziehungen sowohl formal als auch inhaltlich deutschsprachiges Theaterschaffen geprägt haben. Es entstand ein Buch, das einen langen Vorlauf hatte; seine Beiträge wurden teilweise schon vor Jahren verfasst, mitunter kursierten bereits Zitate aus verschiedenen Aufsätzen daraus unter der Angabe "erscheint in …". Dies kann bereits als Anzeichen für die Notwendigkeit eines Bandes gedeutet werden, dessen Qualität nicht in schnelllebigen Kommentaren mit Verfallsdatum liegt, sondern in der Systematisierung und Analyse von Ansätzen und Ästhetiken. Der Band begreift sich mithin also als Beitrag zur Theater-Geschichtsschreibung. Damit liegt nun also dankenswerterweise endlich eine eingehende Auseinandersetzung mit deutschsprachigen Regietheaterpraktiken seit den 1960er-Jahren, ihren Tendenzen, Strukturen und Auswirkungen vor, die auf Deutsch bis dato fehlt. Die Reihe, in der der Band erschienen ist,Les Voies de la Création Théâtrale, ist ein Organ des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), die sich der Grundlagenforschung verschiedener Bereiche widmet. Im Verlag der Organisation erschienen in der traditionsreichen Reihe seit 1970 bislang 25 Bände zu bedeutenden Themen und Personen des Theaters; der Herausgeber des Regietheaterbandes ist Didier Plassard, Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Montpellier 3. In zahlreichen Publikationen widmet er sich schwerpunktmäßig den Fragen von Regie und Dramaturgie im zeitgenössischen Theater, dem Verhältnis von Theater zu anderen Künsten und ihren Interferenzen sowie dem Puppen- und Marionettentheater in historischer Perspektive und im Hinblick auf dessen technologisch-avantgardistische Weiterentwicklung ins Heute. Seine Untersuchungsergebnisse zu deutschem Regietheater basieren auf einer jahrelangen Kooperationsarbeit mit theaterwissenschaftlichen Instituten, Kolleginnen und Kollegen in Deutschland. So verwundert es auch nicht, dass er für den Band prominente Namen der deutschsprachigen Theaterwissenschaft zu versammeln vermag. Von deutscher und französischer Warte aus werden Grunddimensionen expliziert, d.h. die Beiträge bemühen sich um eine umfassende, systematisierende Herangehensweise, die einzelne bedeutende Personen und Phänomene beschreibt, aber darüber hinaus immer auch die Idee des Regietheaters geschichtlich und politisch verortet: "singularité" und "exemplarité" der Gegenstände werden gleichermaßen berücksichtigt. Dabei helfen der nachbarschaftliche Blick, der als ein Blick von außen fungieren kann, und der internationale wissenschaftliche Austausch bei dieser Systematisierung des Regietheaterbegriffes auf – kritisches, antiideologisches –Bildungstheater. Der Band spricht damit eine Leserschaft an, die gleichermaßen im Überblick informiert werden als auch strukturell reflektieren möchte, was Regietheater als Begriff heute bedeuten und leisten kann. Er zeigt, auf welchen Formen die aktuellen, lebhaften Diskussionen im und um Theater durchaus noch immer basieren, auch wenn einzelne Personen möglicherweise in Vergessenheit zu geraten drohen und in der öffentlichen Wahrnehmung den Namen neuerer Generationen Platz machen müssen. Didier Plassard stellt den profunden Beiträgen einige klar formulierte Prämissen voran, die die verschiedenen Aspekte zunächst bündeln und einen gemeinsamen Raum für die einzelnen, vertiefenden Untersuchungen eröffnen. So geht Plassard von der Beobachtung aus, dass es sich bei 'Deutschem Theater' in Verbindung mit dem 'Deutschen Staat' um eine späte Angelegenheit handelt, die im 18.Jahrhundert in engem Zusammenhang mit dem Erstarken der Bourgeoisie im Zuge der Aufklärung entstand und bis heute in diesem Verbund gesehen werden muss. 'Regietheater' wird also zunächst als ein deutscher Begriff und 'Leitfaden' verstanden, der in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts aufkommt und eine bedeutende Renaissance ab den 1960ern erlebt (in Durchsetzung und Erneuerung ebenso wie in Dekonstruktion), als Reaktion auf den Nationalsozialismus und den 'Muff' der 1950er-Jahre und Neu-Verhandlung des 'Bildungsauftrags' von Theater. Die zur Debatte stehenden Regisseure, kaum Frauen, die ab den 1960er-Jahren ins Theater 'einbrechen', werden daher in ihrer Wendung gegen die Traditionen und besonders auch gegen nationalsozialistische Reste und Überbleibsel in der Gesellschaft dargestellt. Sie hinterfragen das Nachkriegstheater-System und entdecken Max Reinhardt, Leopold Jessner und Erwin Piscator wieder. Sie betreiben Aktualisierung und Relektüren des Repertoires, eröffnen Räume des Widerspruchs und der 'Frechheit', des Experiments, der Freiheit – und setzen so einen Standard, der nach wie vor auf deutschen Bühnen spürbar ist. Diese Impulse werden für BRD und DDR gleichermaßen angenommen, wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen und Bedingungen. Der Band verortet die Neuerungen und Ansätze des Regietheaters dabei konsequent in einem Universum künstlerischer und geschichtlicher Produktionsrealitäten und deren Interdependenzen, das am ehesten als 'deutsches' Charakteristikum in den Studien gelten kann: die Hauptreflexionsebenen Bourgeoisie und Pädagogik. Bedeutend sind dabei jedoch immer auch internationale Wechselwirkungen. Die Untersuchungen fokussieren also Gesten der gleichzeitigen Autorität und des Revoltierens sowie avantgardistisch zu nennende künstlerische Techniken (wie z.B. die nach wie vor brisante Frage der Konfrontation von Bühne und Publikum, die Radikalisierung und Systematisierung von Strategien der Enttäuschung, Störung, Provokation, Ästhetik des Hässlichen), die in ihren Angriffen jedoch gerade ein präfiguriertes bourgeoises Milieu aufzeigen. Solch deutschesIn yer face theatre(Aleks Sierz) steht so weiterhin im Dienste der Idee von Aufklärung und entsprechender Erziehung zur Mündigkeit. Für solcherart Reflexionen schlägt die Lektüre in diesem Band drei Untersuchungsrichtungen ästhetischer Funktionen vor, die mithilfe des Begriffs des Dispositivs operieren, der in jüngster Zeit auch für die deutsche Theaterwissenschaft zentral zu werden verspricht. Zum Ersten ist vom "Dispositiv der Interpretation" die Rede, in dem eine Bewegung vom hermeneutischen Gestus der Inszenierung zum kritisch-subjektiven konstatiert wird. Zum Zweiten verweist das "Dispositiv der Kreation" auf die vielbeschworene Emanzipation der Bühnen vom dramatischen Text, während zum Dritten ein "Dispositiv der Erscheinung" das Spiel anvisiert, das theatrale (Re-)Präsentation in diversesten Formen und Verkörperungen anbietet und dabei, laut Plassard, immer wieder aufs Neue etwas aufruft zu erscheinen:l'humain. Im Einzelnen enthält das Buch dazu folgende Beiträge: In einem ersten Teil zu Produktionsbedingungen in Deutschland skizziert Henning Röper deutsche und europäische Theatergeschichte, Theater und Föderalismus, Finanzierungsmodelle, Stadt-/Staatstheater sowie Mitbestimmung im Theater und politische Relevanz des Theaters. Einzelne Positionen werden vertieft durch Laure de Verdalle (Theater und Wiedervereinigung), Henning Rischbieter (zum Schauspiel Bochum), Hans-Thies Lehmann/Patrick Primavesi (zur Geschichte des TAT Frankfurt), Ulrike Haß (Roberto Ciulli in Mülheim) und Nikolaus Müller-Schöll (über die Situation des Freien Theaters seit dem Jahr 2000). Unter dem Schlagwort Regietheater schreiben Didier Plassard und Christine Hamon-Siréjols über Peter Stein, Helga Finter und Philippe Ivernel über das Schaffen von Klaus Michael Grüber, Michael Raab zu Peter Zadek und Hans-Peter Bayerdörfer über Claus Peymann. Darauf aufbauend folgen unter dem Aspekt "neue Blicke und Macharten" Florence Baillet (noch einmal zur Wende), Sylvie Chalaye (über Thomas Ostermeier und die Baracke), Miriam Dreysse (zu Einar Schleef), Barbara Engelhardt (zu Frank Castorf) und David Roesner (zu Christoph Marthaler). Emmanuel Béhague schreibt zudem eigens über Beziehungs- und Inszenierungsformen von Texten (Andreas Kriegenburg/Dea Loher, Angela Richter, René Pollesch). Vor diesem Hintergrund wird dann auch die Frage behandelt, ob nun Regietheater Teil postdramatischer Theaterformen sei oder doch eher umgekehrt – womit noch ein Ausblick auf die eher 'internen' theaterwissenschaftlichen Befindlichkeiten geboten wäre. Während es zum Verhältnis von Regietheater und Oper einige Schriften gibt, fehlt, wie gesagt, ein ähnlich systematisch-theaterwissenschaftliches Standardwerk zum Regietheater im deutschen Sprachraum. Es ist daher zu wünschen, dass der Band es (zum Teil wieder zurück) in eine deutsche Übersetzung schafft. Dabei könnte er um einen Beitrag zu Nicolas Stemann/Elfriede Jelinek und neuere Formen des Dokumentarischen ergänzt werden.
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Milena Cairo/Moritz Hannemann/Ulrike Haß/Judith Schäfer (Hg.), unter Mitarbeit von Sarah Wessels: Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit.: Bielefeld: transcript 2016. ISBN: 978-3-8376-3603-1. 664 S. Preis: € 39,99
Die vorliegende Sammlung von Texten, die aus Vorträgen des 12. Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum im September 2014 hervorgegangen sind, beeindruckt zu allererst durch die enorme Vielfalt an thematischen Zugängen. Dies lässt zugleich erkennen, dass einheitliche Definitionen des Gegenstands und der Methoden nicht länger angebracht scheinen und die Verzweigungen und Ausdifferenzierungen der kulturwissenschaftlichen Forschung in der Theaterwissenschaft entsprechende Resonanz finden. Das historisch gewachsene Profil des Faches ist längst in vielfältige, auch an den Rändern der Disziplin angesiedelte Diskurse und Forschungsfelder aufgefächert. Ob dies zur Stringenz der Begriffsbestimmung und notwendigen Selbstdefinition der Theaterwissenschaft (und Film- und Medienwissenschaft) beiträgt, wird sich weisen. Jedenfalls kann der Tagungsband als Orientierungshilfe dienen, um die in mehr als siebzig ausgewählten Beiträgen zur Diskussion gestellten Fachdiskurse in den größeren Zusammenhang der einzelnen Forschungsgebiete zu stellen. Die Herausgeber_innen betonen die grundsätzliche Frage nach dem Theater, die weit über Wissensvermittlung hinausgeht und eine "Verhältnisnahme" (S.16) intendiert. Das bedeutet, Position zu beziehen, ganz im Sinne Brechts und Benjamins die eigene Geschichtlichkeit zu reflektieren, kurz "situiertes Wissen" herzustellen und die Praxis des "forschenden Findens" (ebd.) zu forcieren. An der grundlegenden thematischen Setzung und der Frage nach den Epistemen des Theaters wird die offensichtliche Notwendigkeit deutlich, sich mit der Geschichte der Theaterwissenschaft und der mittlerweile methodisch verankerten kritischen Reflexion ihres Geworden-Seins in den veränderten gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Kontexten auseinanderzusetzen. Daraus ergeben sich für die gegenwärtige Theorie, Ästhetik und insgesamt für das Denkens des Theaters Erkenntnisse, die die Forschung nicht nur generieren und strukturieren, sondern auch deren Strategien bestimmen. Es geht also um "aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit", wie es im Untertitel heißt. Neben einem einleitenden Block von drei unterschiedlich gewichteten Beiträgen ist das Buch in vier größere Abschnitte gegliedert: Theatertheorie, Modelle, Konstellationen – Historiographie, Gedächtnis, Zeit des Theaters – Kritik, Kunst, Forschung – Theaterarbeit, Kontexte, Recherchen. Nach einer die Intention, thematischen Felder und methodischen Fragestellungen des Buches vorstellenden Einleitung der Herausgeber_innen eröffnet der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger die Debatte mit dem Vortrag Episteme zwischen Wissenschaft und Kunst, indem er auf die Praktiken von Wissenschaft und Kunst, die techné, das Wie des Tuns, das jeweilige Handwerk verweist, auf das sich unser Augenmerk richten sollte. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann kommt im zweiten Eröffnungsvortrag auf das Theater als Bühne des Denkens zu sprechen und setzt damit die Theoriebildung und -genese prominent ins Zentrum des Fachdiskurses. Und zwar sowohl in ihrer geschichtlichen, politischen als auch ästhetischen Dimension. Dieser Forschungszugang, den Lehmann in beeindruckender Weise seit Jahrzehnten beharrlich und in immer neuen Wendungen praktiziert, stellt die selbstreflexive Praxis der Theorie und die Theorie der Praxis des Theaters dar. Aus der Erforschung der Denkmodelle und Konstruktionsstrategien des Theaters in seinen kulturgeschichtlichen Kontexten sind für die vielgestaltigen gegenwärtigen Formen des Theaters Analyseinstrumente und Begriffswerkzeuge zu gewinnen, die Erkenntnisse über die Strukturen der szenischen Ausdrucksformen zu generieren vermögen. Im Rahmen des Nachwuchsförderungsformats der Gesellschaft für Theaterwissenschaft werden in der Keynote Sieben Positionen zu Epistemen von Doktorand_innen vorgestellt, die um historische und politische "Setzungen" angeordnet sind und die Herstellung und Distribution von Wissen umkreisen. Prinzipiell stellt die vorliegende Sammlung von Texten die Frage: Was heißt Episteme? Und wie konfigurieren sich die "Episteme des Theaters" im Kontext der theaterwissenschaftlichen Forschung? Von Michel Foucault ausgehend, der Begriff und Dispositiv der Episteme vor Jahrzehnten neu in die Wissenschaftscommunity einführte, bedeutet Episteme das historische a priori, welches das Wissen und dessen Diskurse begründet. Es geht mithin um die Bedingung der Möglichkeit von Wissen in geschichtlichen Formationen. Wie diese erkenntnistheoretische Voraussetzung in der Theaterwissenschaft neue Forschungsfragen zu generieren vermochte und weiterhin vermag und damit grundsätzliche kritische Positionen zur Geschichte des Faches evozierte, ist in diesem Band in vielfachen Ansätzen und Darstellungen nachzulesen. Den avancierten Forschungsansätzen auf dem Feld der ästhetischen Diskurse des Theaters in historischen wie gegenwärtigen Kontexten gilt das Interesse, um zu erkennen, wie sich epistemische Konstellation zum Material der Künste des Theater in Konnex setzen und in ihren vielfachen differenzierten Ausformungen zu analysieren sind. Dass innerhalb dessen den Leerstellen, den geschichtlichen Formationen mitsamt den Auslassungen hohes Augenmerk zukommt, lässt die mögliche gesellschaftspolitische Relevanz theaterwissenschaftlicher Forschung erkennen. Ein Terrain, sich dieser Frage anzunähern, stellt die Theorie des Theaters dar, in diesem Buch in einem Kapitel zusammengestellt, in welchem grundlegende Themen zur Kennzeichnung der Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft verhandelt werden: das Theater als Dispositiv (Lorenz Aggermann, Gerald Siegmund, Eva Holling, Georg Döcker), gleichsam ein Buchstabieren der Elemente des Theaters; ein kollektiver Beitrag zu den Bühnen des Nicht-Menschlichen, in denen Naturszenen, Tiere, Roboter betrachtet werden; sodann wird die Theorie als Archiv des Wissens und Erkennens analysiert; steht das Theater im dramatischen Text zur Diskussion und damit kommt zugleich Kritik am Prä- und Postdramatischen in den Blick; der Begriff der Mimesis wird als eine Form der Wiederholung postuliert und Liveness auf die epistemologischen Bedingungen und im Kontext der Avantgarde befragt. Nikolaus Müller-Schöll setzt das Singuläre, aus dem sich der Individualismus generierte (Samuel Weber), als wiedergefundene theoretische Kategorie ein, der sich bestimmte gegenwärtige Theaterpraktiken stellen. Wissenschaftstheorie und Theaterpraxis arbeiten gleichsam am durchgestrichenen Ursprung im Bewusstsein der prinzipiellen Brüchigkeit. André Eiermann rückt die Aufführung als Dispositiv ins Zentrum seines Textes, eng am Vokabular Foucaults argumentierend, und findet – und dies durchaus nachvollziehbar –, dass die Kategorie der Illusion im gegenwärtigen Diskurs neu zu denken ist. Marita Tatari fragt nach dem "Theater im dramatischen Text" und unterzieht die Kategorie des Postdramatischen einer Relektüre, indem sie die Differenz von dramatischen und postdramatischen Theaterformen in den unterschiedlichen sinnlichen Bezugsetzungen sieht. Im Textkonvolut der Gießener angewandten Theaterwissenschaft "Theater als Dispositiv" werden theatrale Kategorien in Hinblick auf ihren Status als Dispositiv analysiert und in den Kontext konkreter Theateraufführungen gesetzt. Der Abschnitt Historiographie, Gedächtnis, Zeit des Theaters setzt sich mit der Wissensgeschichte des Theaters und deren Transformationen in der Theaterwissenschaft beziehungsweise den Lücken und Leerstellen historiographischer Dispositive auseinander. Die Leipziger Theaterhistoriographie-Forschung bildet ein kollektives Unterkapitel, in welchem nach konkreten Positionen von Theater und Wissen gefragt wird und die Methoden der Historisierung diskutiert werden. Geschichte als Genealogie im Sinne Foucaults steht auch im Mittelpunkt der Texte "Praktiken der Wiederholung. Episteme der Historiographie". Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Tanz, der Bewegung, dem Körperwissen und untersucht Theaterarbeiten, die sich als Forschungslabors darstellen. Im letzten Teil sind Texte zur Theateranthropologie versammelt: Gabriele Pfeiffers Recherchen zu Grotowski, Mnouchkine und Bene als Quelle anthropologischen Wissens und Friedemann Kreuders Vorschlag, den ethnographischen Blick auf den Körper als Ort der Wissensproduktion für die Theaterwissenschaft fruchtbar zu machen; es folgen Texte zu Epistemen der Dramaturgie, zu theatralen Formen, in denen das Dispositiv des Dilettantischen verhandelt wird, sowie die Kategorien des Regietheaters, des "Gender Trouble" (Jenny Schrödl). Auch werden im vorliegenden Band Verweise auf die Lücken in der Wissenschaftsgeschichte des Faches angeführt; so beispielsweise stellen die Schweizer Kolleg_innen ihre Überlegungen unter dem Titel "Disziplinierung der Disziplin. Konstitutionsprozesse der Theater- und Tanzwissenschaft" zur Diskussion. "Gründungsgesten" (Beate Hochholdinger-Reiterer), die Forschungsgeschichte und Theatergeschichtsforschung sowie daraus resultierende "Episteme der Theatergeschichtsschreibung" (Constanze Schellow, Maria-Elisabeth Heinzer und Andreas Kotte) stehen im Fokus der Beiträge. Einige Texte thematisieren die erkenntnishistorischen und -theoretischen Voraussetzungen mit Blick auf ideologische Zusammenhänge und schließlich fragt im letzten Text des Bandes – mit dem doch einigermaßen befremdlichen Titel Wollt ihr die totale Theaterwissenschaft? – Evelyn Annuß nach den Gründungsmythen und -narrativen. Diese werden näher untersucht und der Forschungsstand gekennzeichnet, Annuß weist aber auch darauf hin, dass die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit nicht genügt. Selbstredend entsprechen diese Auseinandersetzungen der in den letzten Jahrzehnten in den Wissenschaften insgesamt stattfindenden kritischen Erörterung und Rekonstruktion der nationalsozialistischen Verstrickungen, die die Theaterwissenschaft nachhaltig bestimmten. Interessant und aufschlussreich – und nicht zuletzt durch diese Publikation angeregt – wäre eine intensive Auseinandersetzung mit dem Dispositiv des Archivs und der Archive, anhand deren der Begriff von Geschichte zu denken ist. Und zwar derart, dass die jeweils gegenwärtige Position vermittels einer In-Bezug-Setzung zur Geschichte in den Blick kommt und das Theater in seiner "Vergänglichkeit" als Dispositiv des Archivs die Theorie der Archive zu bestimmen vermag. Dieses Ins-Verhältnis-Setzen von Gegenwart und Geschichte ist der virulente Punkt, der erkenntnistheoretische Potentiale eröffnet. Die vielfältigen Forschungsfragen und methodischen Zugriffe, die in diesem Band präsentiert werden, ermöglichen einen differenzierten Blick auf die Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft. Zugleich ist zu beobachten, dass sich die Tendenz zu mikroanalytischen Betrachtungen des Gegenstandes verstärkt und die Frage nach dem Grundsätzlichen des Theaters weiterhin brisant bleibt.
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Kriegserinnerung mit Polen? Zur deutschen Erinnerungslandschaft an den Zweiten Weltkrieg
Blog: DPI-Blog
Ähnlich wie in Polen ist auch in Deutschland der Zweite Weltkrieg fast allgegenwärtig. Keine Stadt ohne Gedenkorte, kaum ein Friedhof ohne Erinnerungen an die entsetzliche Zeit zwischen 1939 und 1945. Dennoch unterscheiden sich die Erinnerungslandschaften beider Länder stark. In Polen, das vom Deutschen Reich überfallen wurde, und Schauplatz bestialischer deutscher Verbrechen an der polnischen Zivilbevölkerung und des industriellen Völkermords an den europäischen Juden wurde, entstanden schon seit den ersten Jahren nach dem Krieg Denkmäler, Gedenkstätten, Gedenktafeln. Dagegen taten sich die beiden deutschen Staaten schwerer mit ihrem Erbe, der Erinnerung und der Auseinandersetzung mit ihrer Täterschaft. Dabei galt es unter anderem auch an die eigenen Opfer zu erinnern, schließlich hatte Deutschland im Krieg etwa 6 Millionen tote Staatsbürger zu beklagen, ähnlich viele wie Polen, und auch das privat empfundene Leid deutscher Familien bis hin zum Heimatverlust von mehr als 10 Millionen Menschen musste zunächst verarbeitet werden. Trauer und Scham, Erinnerung und Vergessen gingen in der deutschen Erinnerungskultur der Nachkriegsjahrzehnte miteinander einher. Aber wie steht es mit Polens Platz in diesem Erinnern? Hat Deutschland, haben die Deutschen in ausreichendem Maße an das Leid Polens im Krieg erinnert?Um die Antwort auf diese Frage besser zu verstehen, ist eine Vorbemerkung notwendig, die banal klingt, aber gerade aus polnischer Sicht manchmal nicht ausreichend berücksichtigt wird: Wer in Polen an den Zweiten Weltkrieg denkt, der denkt automatisch und an erster Stelle an Deutschland. Wer aber in Deutschland an den Zweiten Weltkrieg denkt, der hat die Auswahl – schließlich wurden in deutschem Namen mehr als 30 heutige Staaten besetzt, zahllose Kriegsverbrechen an den Zivilbevölkerungen wie auch an den Kriegsgefangenen, etwa aus der Sowjetunion, verübt. Die Deutschen begingen Völkermord an den europäischen Juden und an Sinti und Roma. Sie verfolgten und ermordeten Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, psychisch Kranke, "Asoziale", Zeugen Jehovas und viele andere. Wenn somit Polen vielfach den Eindruck haben, in Deutschland sei das Leiden Polens zu unbekannt, so haben sie recht und unrecht zugleich: Recht, weil man nie genug über die schrecklichen Ereignisse auf polnischem Boden wissen kann. Und unrecht, weil man als Deutscher, brutal gesagt, die Wahl hat, welchen Opfern man sein Mitgefühl in besonderem Maße zuwendet: Polen oder Griechen, Juden oder Zeugen Jehovas, den verhungerten Einwohnern von Leningrad, den versklaven Zwangsarbeitern, Ukrainern, ermordeten französischen Widerstandskämpfern und so weiter. Ganz abgesehen davon sind Zuschreibungen zu einer dieser Opfergruppe nicht trennscharf, Personen können zu zwei oder mehreren von ihnen gehören. Wissen oder Nichtwissen?Es ist natürlich ein Skandal, dass bei einer Anfang 2020 veröffentlichten Umfrage nur 50,8 Prozent der befragten Deutschen bestätigten, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begonnen habe (in Polen waren 87,2 Prozent der Befragten dieser Meinung). Allerdings war die Frage suggestiv gestellt und lautete: "Im September 1939 begann der Zweite Weltkrieg – damals griffen Deutschland und die Sowjetunion Polen an. Stimmen Sie dieser Aussage zu?"[1] In der deutschen Erinnerungskultur ist die Tatsache, dass Deutschland maßgeblich für den Kriegsausbruch verantwortlich ist, fest verwurzelt, weshalb es von vielen Deutschen als unzulässige Relativierung angesehen werden dürfte, die Sowjetunion gleichermaßen dafür verantwortlich zu machen, selbst wenn der "Ribbentrop-Molotow-Pakt" weithin bekannt ist. Aus polnischer Sicht nimmt sich dies freilich ganz anders aus, weil Polen während des Kriegs – anders als Deutschland – die sowjetische Besatzung eines Teils des Landes zwischen 1939 und 1941 selbst erlebte. Dieses Beispiel zeigt, wie schwer es ist, die Wahrnehmung des Kriegs aus deutscher und aus polnischer Perspektive zu vergleichen – und wie schwer es auch ist, gemeinsam an den Krieg zu erinnern.In Deutschland war es generell so, dass dort, wo es um Opfergruppen ging, die in einem engen Lebenszusammenhang mit der deutschen Gesellschaft standen, die Aufarbeitung und symbolische Zeichensetzung relativ rasch einsetzte. Dies betraf Gruppen, die von den Nazis aus dem perfide "deutscher Volkskörper" genannten Personenkreis verdrängt wurden, wie etwa die deutschen Juden, aber auch solche, die – wie die Opfer alliierter Luftangriffe oder die Heimatvertriebenen – bis zum Schluss dazugehörten.Vielfach dauerte es aber Jahrzehnte, bis eine umfassendere Aufarbeitung der Geschichte einsetzte. Das zeigt sich etwa am Beispiel der im heutigen Deutschland gelegenen ehemaligen Konzentrationslager. Zwar errichteten mancherorts einstige KZ-Insassen schon kurz nach dem Krieg erste Erinnerungszeichen. So stellten zum Beispiel polnische Häftlinge in Bergen-Belsen ein großes Holzkreuz auf, in Flossenbürg bauten Polen gemeinsam mit Deutschen eine Kapelle. Doch es sollten Jahre und Jahrzehnte vergehen, ehe in Dachau oder Bergen-Belsen, in Buchenwald oder Sachsenhausen umfangreichere Gedenk-Ensembles und später Gedenkstätten entstanden. Manche Kommune war da schneller, wie – ein Beispiel für viele – Frankfurt am Main: Hier wurde 1964, direkt an der Paulskirche, einem Symbol der deutschen Demokratiegeschichte, ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus errichtet, auf dem die Namen vieler deutscher Konzentrations- und Vernichtungslager genannt werden. Zahlreiche davon tragen polnische Namen. Allerdings dachten die Stadtverordneten bei ihrem Beschluss im Jahre 1959 ausdrücklich an "die Mitbürger, die nur ihrem Gewissen folgend und unter Einsatz des eigenen Lebens Widerstand gegen den Nazi-Terror geleistet hatten".[1] Also auch hier richtete sich der Blick vor allem noch in die eigene Gesellschaft, weniger in die Gesellschaften der überfallenen Staaten. Polnische Opfer als Bestandteil deutscher ErinnerungslandschaftDennoch waren polnische Opfer schon seit der unmittelbaren Nachkriegszeit hundertfach Teil der Erinnerungskultur in Deutschland, denn vielerorts wurden verstorbene polnische Zwangsarbeiter nachträglich auf Friedhöfen beigesetzt. Es waren zunächst häufig Polen selbst, die als Displaced Persons in Deutschland lebten und hierfür die Initiative ergriffen. Oft beschränkte sich das auf kleine Grabplatten oder Inschriften mit Namen, Herkunft und Lebensdaten, manchmal aber gibt es hier auch größere Denkmäler. So errichteten polnische Überlebende im Juni 1945 im baden-württembergischen Ellwangen ein "Polendenkmal" für 23 Opfer eines "Todesmarsches" aus einem nahegelegenen Konzentrationslager, mit der Aufschrift: "Den Opfern des Hitlerbarbarismus – Die Polen Jahr 1945". In hessischen Michelstadt bauten Angehörige einer polnischen Wachkompanie 1946 ein Grabmal für eine polnische Bomberbesatzung, die 1944 in der Nähe abgeschossen wurde, und legten einen bis heute erhaltenen Propeller des Flugzeugs davor. In späteren Jahrzehnten waren es vielfach deutsche Initiativen, um an die meist als Zwangsarbeiter gestorbenen Polen – und Vertreter anderer Nationen – zu erinnern, und zwar in Deutschland Ost wie West. So erklärt eine Gedenkmauer auf dem Friedhof des brandenburgischen Eberswalde-Finow seit 1951, ganz im Duktus der stalinistischen Zeit: "Hier ruhen 109 Bürger der Sowjetunion, 39 Töchter und Söhne Volkspolens (…). Die faschistische Willkür entriß sie ihrer Heimat und verurteilte sie zu Zwangsarbeit für die blutigen Ziele des Imperialismus."[2]Die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung hat auf einer Homepage mehr als 1.100 Orte in Deutschland zusammengestellt, wo sich polnische Gräber aus dem Zweiten Weltkrieg befinden (http://www.polskiegroby.pl), manchmal nur einige wenige, manchmal aber auch viele hunderte. Es ist aber von Ort zu Ort unterschiedlich, wie sehr die Existenz dieser Gräber im Bewusstsein der lokalen Öffentlichkeit präsent ist. DDR-Erinnerungen Wenn man aber von den Friedhöfen absieht, so sind markante Erinnerungszeichen an das Schicksal Polens im Zweiten Weltkrieg in Deutschland rar gesät. Einige davon hat die DDR errichtet, und zwar zum Gedenken an die während der letzten Kriegswochen auf deutschem Boden gefallenen Soldaten der polnischen (Berling-) Armee. Diese Denkmäler in Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind zeittypisch pathetische Anlagen. In Sandau an der Elbe entstand 1965 ein erstes Denkmal, das aber 1975 durch das bis heute stehende ersetzt wurde. Es zeigt einen polnischen Soldaten, der seinen Karabiner triumphierend in die Höhe hebt, die Aufschrift verkündet auf Deutsch und Polnisch: "Den Soldaten der I. Polnischen Armee die am 3.V.1945 die Elbe bei Sandau erreichten und an der Seite der Sowjetarmee einen Beitrag für die Befreiung des deutschen Volkes vom Joch des Faschismus geleistet haben." Andere große Denkmäler stehen in Orten wie Hohen Neuendorf – drei große polnische Adler auf Sockeln – oder Crostwitz.
Am bekanntesten ist aber sicher das ebenfalls ab 1965 geplante "Denkmal des polnischen Soldaten und deutschen Antifaschisten" im Ost-Berliner Volkspark Friedrichshain. Ursprünglich sollte es am Brandenburger Tor stehen und auf einer Relieftafel nur einen polnischen Soldaten zeigen, dann kam auf politisches Geheiß der deutsche Antifaschist dazu, und schließlich, wiederum durch politische Einflussnahme, noch ein Rotarmist, bevor es 1972 eingeweiht werden konnte. Die polnischen Elemente sind aber die deutlichsten – ein polnischer Adler an einer hohen Betonstele und die riesige zweisprachige Aufschrift: "Za naszą i waszą wolność" / "Für eure und unsere Freiheit". Um dieses Denkmal ist nach der politischen Wende von 1989 immer wieder gestritten worden, denn es verkörpert die einstige sozialistische Geschichtskultur beinahe in Reinkultur. Im Jahr 1995 wurden Tafeln mit ergänzenden Informationen angebracht, die auf Deutsch und Polnisch erklären, dass mit dem Denkmal nun auch an Soldaten des polnischen Untergrundstaates, in den alliierten Armeen, an polnische Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge erinnert werden solle.
Der Holocaust als Ansporn zum Erinnern
Als der Holocaust in den 1980er Jahren verstärkt ins Zentrum der deutschen Erinnerungsdebatten rückte, geriet auch Polen erneut in den Fokus. Der von Deutschen auf polnischem Boden verübte Mord an den europäischen Juden führte dazu, dass polnische Namen auf einer Fülle deutscher Gedenkstätten, Gedenkorten, Denk- und Mahnmälern, Gedenktafeln, Museen und weiteren Erinnerungszeichen auftauchten. Auch hierzu wieder ein Beispiel aus Frankfurt am Main: 1996 wurde im Rahmen der Gedenkstätte Neuer Börneplatz eine Mauer um den alten jüdischen Friedhof gebaut. An ihr sind auf kleinen Metallblöcken mehr als 11.000 Namen von Holocaust-Opfern aus Frankfurt zu lesen, jeweils mit Lebensdaten und Sterbeort. Sehr oft lauten diese Orte "Auschwitz", "Bełżec" oder "Treblinka".
Ähnlich verhält es sich mit den "Stolpersteinen": Diese Initiative des Künstlers Gunter Demnig verlegt in deutschen, aber auch anderen europäischen Städten quadratische Messingtafeln auf den Gehwegen vor den letzten Wohnadressen von NS-Opfern. Auf ihnen sind Name, Lebensdaten das bekannte weitere Schicksal, oft der Sterbeort verzeichnet. Bis Anfang 2020 waren bereits mehr als 75.000 Stolpersteine installiert, und wie auf der Frankfurter Mauer sind auch hier sehr häufig polnische Namen zu lesen. Insofern breitet sich das Gedenken an Leid in Polen und polnisches Leid während des Zweiten Weltkriegs doch immer weiter in Deutschland aus. Selbst wenn die Erinnerung in diesen Fällen meistens Personen betrifft, die Teil der deutschen Vorkriegsgesellschaft gewesen waren, so enthält sie doch polnische Aspekte.
Steinernes Mahnen oder lebendiges Erinnern? Für Polen oder für alle?
Doch so zahlreich die vorhandenen Gedenkorte sind, eins können nicht leisten – sie sind kein zentrales Mahnmal, kein Ergebnis einer übergreifenden, gesamtgesellschaftlichen Debatte. Seit Jahren wird deshalb darüber diskutiert, ob nicht das besondere Leid des Nachbarlands im Zweiten Weltkrieg zusätzlich auf eine andere Weise gewürdigt werden sollte, mit einem Denkmal in Berlin. Hierzu gab es verschiedene Vorschläge: Der letzte – demokratische – Außenminister der DDR, Markus Meckel, regte an, das kommunistische Denkmal in Friedrichshain zu aktualisieren. Im Jahr 2017 schlugen Florian Mausbach – ehemaliger Leiter der Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung – und Dieter Bingen – zu dieser Zeit Direktor des Deutschen Polen-Instituts – zusammen mit weiteren ein "Polendenkmal" vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs vor, als empathische Geste der Versöhnung gegenüber Polen. Dagegen formierte sich aber auch Widerstand: Nicht, weil man von den Opfern Polens nicht wissen wollte, sondern vielmehr wegen Bedenken, andere Opfer durch ein Denkmal "nur für Polen" zurückzusetzen. Die Debatte um ein Polendenkmal führte lange zu keinem Ergebnis, allenfalls zu einem provisorischen Gedenken: Am 1. September 2019 gedachten zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen an der Ruine des Anhalter Bahnhofs Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Sejm-Marschallin Elżbieta Witek in einer feierlichen Versammlung des Überfalls auf Polen und der Kriegsopfer des Landes.
Die Debatte rief auch Gegenvorschläge hervor. So wurden in Reaktion darauf wenige Jahre alte Überlegungen neu aufgegriffen, ein Dokumentationszentrum für deutschen Besatzungsterror und Vernichtungskrieg im östlichen Europa oder in ganz Europa zu errichten. Hiergegen erhob sich wiederum Kritik, unter anderem aus Polen: Ein solches Zentrum würde die polnischen Gewalterfahrungen relativieren und die Sowjetunion bzw. Russland aus ihrer historischen Mitverantwortung an der Zerstörung Polens entlassen. Um diese Polarisierung aufzulösen, legten im Juni 2020 die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und das Deutsche Polen-Institut einen gemeinsamen Vorschlag vor, der ein "Polendenkmal" als Mahnmal für den deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 vorsieht, kombiniert mit einem Dokumentationszentrum über deutsche Besatzungsherrschaft in Europa sowie zivilgesellschaftliche Bildungseinrichtungen zu einzelnen Opfergruppen – etwa eine "Fliegende Universität" zu polnischen Kriegserfahrungen. Die Debatte über dieses Konzept dauerte beim Abschluss dieses Beitrags an, es zeichnete sich jedoch ab, dass sie neue Bewegung in eine auch politisch recht festgefahrene Lage brachte, denn im deutschen Bundestag war zwischen den Befürwortern und den Gegnern der einen wie der anderen Lösung lange kein Kompromiss absehbar. Dieser seit Jahren geführten Auseinandersetzung ist aber auch einiges abzugewinnen, denn eine lebendige Diskussion, gegenläufige Ideen und das Aushalten und Einbeziehen von Kritik sind für eine zivilgesellschaftlich verankerte Erinnerung unabdingbar. Die Debatte trägt bereits dazu bei, dass das Schicksal Polens im Zweiten Weltkrieg von der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird. Alleine das ist schon ein Erfolg. Denn wir Deutschen müssen uns immer und immer wieder vor Augen führen, was Polen durch Deutschland im Krieg widerfahren ist, was Deutsche auf seinem Boden angerichtet haben, mit welcher Last das Land und seine Menschen deshalb nach dem Krieg zu leben hatten und mit welcher Last sie bis heute zu leben haben.
Dieser Text ist für die polnische Zeitschrift "Mówia Wieki" entstanden, wo er in der September-Nummer 2020 erschienen ist. http://mowiawieki.pl/index.php?page=biezacy
[1] Zit. nach https://www.frankfurt1933-1945.de/nc/beitraege/show/1/thematik/einzelne-orte-des-gedenkens/artikel/wir-sind-mit-dieser-vergangenheit-noch-nicht-fertig-mahnmal-fuer-die-opfer-des-nationalsozialistischen-terrors-in-frankfurt-am-main/suche/Mahnmal/ [Unterstreichung vom Autor]
[2] Zit. nach Gedenkstätten, Bd. 2, S. 256.
[1] Arkadiusz Grochot: Sondaż: Co czwarty Niemiec uważa, że II wojna światowa nie rozpoczęła się od inwazji III Rzeszy i ZSRR na Polskę. https://www.rmf24.pl/fakty/polska/news-sondaz-co-czwarty-niemiec-uwaza-ze-ii-wojna-swiatowa-nie-roz,nId,4281566
Postfaschisten an der Macht – Giorgia Meloni und die Fratelli d'Italia
Blog: Rechtspopulismus
Es waren Antifaschist:innen, die die italienische Verfassung ausgearbeitet haben. Sie trat 1948 in Kraft und sollte sicherstellen, dass niemand jemals wieder die Kontrolle über die Republik übernehmen konnte, ähnlich wie dies der Diktator Benito Mussolini die Jahre zuvor vollbracht hatte. Seitdem hat Italien bereits 67 Regierungen erlebt, doch die aktuelle Regierung, Nummer 68, ist auch für Italien besonders (Siefert, 2023). Sie wurde mehrfach als "gefährlichste Frau Europas" betitelt (Brandl & Ritter, 2022). Die Rede ist von Giorgia Meloni, die am 22. Oktober 2022 als Vorsitzende der nationalistischen, konservativen und postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia (FDI) als Ministerpräsidentin vereidigt wurde.Mit dem Wahlsieg der italienischen Postfaschistin ist ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Entwicklung vollzogen worden, die den autoritären Rechtspopulismus als Regierung zu einem sichtbaren Bestandteil der politischen Realität macht. Ihre politische Gruppierung wird weithin als populistisch, postfaschistisch und weit rechts im politischen Spektrum positioniert, was in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde. Die folgende Seminararbeit versucht nach mehr als einem Jahr an der Macht eine Bilanz zu ziehen, die Auswirkungen der Wahl zu analysieren und die Besonderheiten der italienischen Rechten näher zu beleuchten.Melonis Aufstieg in der politischen Landschaft Italiens: Vom Engagement in der Jugendpolitik über die MSI zur Gründung der Fratelli d'Italia Die am 15. Januar 1977 in Rom geborene Meloni ist nicht nur die erste Frau, die das Amt ausübt, sondern auch die erste Regierungschefin, deren politische Karriere in der postfaschistischen Ära Italiens begann. Sie kandidierte bereits in ihren Jugendjahren für politische Ämter in Italien. Im Jahr 2006 wurde sie zur jüngsten Ministerin Italiens ernannt. Heute ist die Vorsitzende der von ihr mitbegründeten rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens, benannt nach der ersten Zeile der Nationalhymne, mit Wurzeln in der postfaschistischen Bewegung) die erste weibliche Premierministerin.Vor 31 Jahren, im Juli 1992, begann Giorgia Meloni ihr politisches Engagement in Rom mit dem Beitritt zur Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Soziale Bewegung), einer von Faschist:innen gegründeten Partei (Ventura, 2022, S. 8 ). Die italienische Ministerpräsidentin unterstreicht häufig, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammt und in einer Familie von Angestellten aufgewachsen ist. Dabei verschweigt sie allerdings gerne die Tatsache, dass ihre Mutter, Anna Paratore, der MSI damals angehörte (Feldbauer, 2023, S. 15).Die am 26. Dezember 1946 gegründete Italienische Soziale Bewegung entstand unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Gründer:innen der Partei waren politisch in der Italienischen Sozialen Republik (Repubblica Sociale Italiana, RSI) aktiv, einem Satellitenstaat, der während der deutschen Besatzung von 1943 bis 1945 von Mussolini regiert wurde. Ideologisch bezog sich die Partei auf den "sozialen Faschismus" der RSI (Ventura, 2022, S. 2). Die MSI zeichnete sich nicht nur durch ihre antikapitalistische und antiliberale Ideologie mit korporatistischer Entscheidungsfindung aus, sondern auch durch ihren ausgeprägten Antikommunismus und ihre scharfe Kritik an den etablierten Parteien. Obwohl es innerhalb der MSI von Anfang an eine konservative und pro-westliche Minderheit gab, blieb die Partei bis Anfang der 1990er Jahre unfähig, sich wesentlich zu reformieren und konnte daher keinen nennenswerten Einfluss auf das politische System Italiens ausüben (ebd.).Im Januar 1995 wurde die Partei kurz nach dem Beitritt Melonis aufgelöst und in die "Alleanza Nazionale" (AN, Nationale Allianz) umgewandelt. Die AN fusionierte 2009 mit der Partei "Forza Italia" (FI, Vorwärts Italien) von Silvio Berlusconi zur Partei "Il Popolo della Libertà (PdL, Das Volk der Freiheit). Der damalige Parteivorsitzende Gianfranco Fini wollte den von der AN eingeleiteten liberal-konservativen Rechtsruck erfolgreich zu Ende führen, was jedoch einigen ehemaligen Aktivist:innen und Führungskräften aus den Reihen der MSI missfiel. Diese Unzufriedenheit machte sich später Meloni zunutze. Im Jahr 2006 wurde Meloni ins Parlament gewählt und zwei Jahre später wurde sie die jüngste Ministerin (Jugend und Sport) in der Geschichte Italiens. Die einzige Regierungserfahrung hat sie auf nationaler Ebene (ebd.).Verhältnis zum (Post)Faschismus Eine Woche vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis "Marsch auf Rom", der Machtübernahme durch den "Duce", übernahm Meloni ihr Amt. Ihr Kabinett, welches hauptsächlich aus Anhänger:innen Mussolinis besteht, wurde in linken Medien als eine Regierung von "reuelosen Faschisten" beschrieben (Feldbauer, 2023, S. 38f). Meloni war im Jahr 2012 Mitbegründerin der Partei FdI, die in der Tradition des italienischen Faschismus steht, und gehört somit zur dritten Generation des Partito della Fiamma (Livi & Jansen, 2023, S. 173). Das Symbol der faschistischen Flamme, das in der Vergangenheit der MSI vorbehalten war, ist im Parteilogo vertreten (Feldbauer, 2023, S. 16f).Im Jahr 1929 wurde das Wort "Faschismus" zum ersten Mal in den Duden aufgenommen. Dies geschah sieben Jahre, nachdem die italienische Partito Nazionale Fascista (PNF) unter Benito Mussolini 1922 in die Regierung Italiens eingetreten war. 1926 entwickelte sie sich zu einer diktatorischen Staatspartei, bevor sie 1943 aufgelöst wurde. Der Begriff "Faschismus" wurde von der PNF als Selbstbezeichnung verwendet und entstammt dem italienischen Wort "fascio", dessen Bedeutung dem Begriff "Bund" gleichgestellt ist (Schütz, 2022). Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Terminus eine nationalistische, antidemokratische und rechtsextreme Ideologie, die nach dem Führerprinzip ausgerichtet ist. Seit den Parlamentswahlen in Italien im vergangenen Jahr sind vermehrt Artikel zum Thema "Postfaschismus" verfügbar. Dies hängt mit dem Sieg bei der Parlamentswahl und der FdI zusammen, welche als "postfaschistisch" bezeichnet wird (ebd.).Gianfranco Fini distanzierte sich 2003 offiziell vom Faschismus und bezeichnete ihn als "absolut böse" (Tagesschau, 2022). Giorgia Meloni hat es jedoch bis heute vermieden, eine so eindeutige Aussage über die Wurzeln ihrer Partei zu tätigen. Meloni erhob sogar Vorwürfe gegen Gianfranco Fini, das Erbe der italienischen Rechten zu zersplittern (Ventura, 2022, S. 6). Im Jahr 2014 wurde Meloni zur Vorsitzenden der FdI gewählt. Sie konnte den harten Kern der Faschist:innen um sich versammeln, indem sie sich auf Mussolini bezog. Aufgrund der möglichen Verluste eines Teils ihrer Wählerschaft an die Lega kann sie die Flamme nicht aus dem Parteilogo entfernen. Sie hob wiederholt hervor, wie stolz sie auf das Wappen mit der italienischen Trikolore sei, bezeichnete Mussolini sogar als einen "guten Politiker" (Feldbauer, 2023, S. 16).Froio (2020) stellt fest, dass die FdI ein "emotionales" Verhältnis zu ihrer faschistischen bzw. postfaschistischen Vergangenheit pflegt, mit der sie sich nie wirklich kritisch auseinandergesetzt hat. Dies wird durch die Statements von Giorgia Meloni sowie durch die Aussagen und Handlungen von Vertreter:innen und Führungskräften der FdI deutlich. So trat Meloni am Tag vor der Wahl 2018 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Latina, einer von Mussolini gegründeten Stadt südlich von Rom, in Begleitung seiner Enkelin Rachele Mussolini auf. Dabei kündigte sie die Absicht ihrer Partei an, dem Symbolort den ihm gebührenden Platz in der Geschichte der italienischen Rechten wieder zu verschaffen (Latza Nadeau, 2018). Bei ihrem Versuch, sich in ihrer Ansprache vor der Abgeordnetenkammer am 25. Oktober 2022 trotz ihrer früheren Bekenntnisse zum Faschismus Mussolinis zu distanzieren, stieß Meloni angesichts der genannten Tatsachen auf Widerstand. Mit ihrer Partei verkörpert Meloni nach wie vor die "Kontinuität des Faschismus" (Feldbauer, 2023, S. 16f).Auch Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) erkennen die Identitätswurzeln der FdI im Neofaschismus, der in Italien jahrzehntelang durch die MSI verkörpert wurde. Ihrer Meinung nach sei es jedoch falsch, die FdI als neofaschistische Partei zu bezeichnen, da wesentliche Merkmale wie die Akzeptanz von Gewalt als Mittel des politischen Wettbewerbs fehlen würden. In der öffentlichen Debatte und in den offiziellen Dokumenten der Partei würden tatsächlich die für die europäische radikale Rechte typischen Themen wie Islamophobie und eine allgemeine Feindseligkeit gegenüber der Einwanderung betont, die als potenzielle Verwässerung der Identität der italienischen Nation angesehen werden.Der Weg einer "Frau, Mutter, Italienierin und Christin" an die MachtMeloni präsentiert sich gerne als Frau, Mutter, gläubige Christin und als hilfsbereite Vertreterin aller Italiener:innen (Feldbauer, 2023, S.70). Diese Worte passen zum allgemeinen Slogan "Gott, Heimat und Familie" (Dio, patria e famiglia), welcher von Melonis Partei und anderen radikalen Rechtsparteien in der Vergangenheit übernommen wurde (De Giorgi et. al, 2022).Im Jahr 2022 wurden mehr als 70 Prozent der parlamentarischen Parteien in den EU-Mitgliedsstaaten von männlichen Führungskräften geleitet (Openpolis, 2022, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). In Italien wurde bis zum Jahr 2013 keine Partei, weder aus dem politischen Establishment noch aus dem rechten Spektrum, von einer Frau geführt (De Giorgi et. al, 2022). Studien, die sich auf das weibliche Führungsverhalten konzentrieren, betonen oft, wie Frauen Führungspositionen erreichen können, wenn sie von einem "Legacy Advantage", also sozusagen von einem Vorteil ihres Erbes profitieren, wie als Ehefrau, Witwe, Tochter oder eine andere enge Verwandte eines Schlüsselakteurs in der Politik (Baker & Palmieri, 2021). Diese Praxis ist auch bei rechtsextremen Parteien üblich. Ein bekanntes Beispiel ist Marine Le Pen, die die Führung des Front National (jetzt Rassemblement National) von ihrem Vater übernommen hat. Auch in Italien gibt es rechtsgerichtete Politikerinnen mit starken familiären Bindungen zu ehemaligen Staatsoberhäuptern und prominenten politischen Persönlichkeiten, wie Alessandra Mussolini, die Enkelin des ehemaligen Diktators, die mehrmals als Abgeordnete für die AN gewählt wurde (De Giorgi et. al, 2022). Giorgia Meloni hebt sich von diesem Weg ab. Ihr politisches Engagement begann 1992, als Meloni der Jugendorganisation der MSI beitrat. Im Unterschied zu anderen Oppositionsführer:innen, welche dazu neigen, ihre politische Außenseiterposition zu betonen, hebt Meloni oft ihren beruflichen Werdegang sowie ihr politisches Know-how hervor und verbindet dies mit der Idee der "Kompetenz". Darüber hinaus gibt es in Italien keine weitere politische Partei, die von einer Frau geführt wird, wodurch Meloni zweifellos eine beachtliche Medienpräsenz in dieser Hinsicht erreicht hat (Feo & Lavizzari, 2021).Angesichts der politischen Geschichte Italiens sei der Erfolg der FdI nicht verwunderlich. Die italienischen Rechten sind mit ihren traditionellen Anliegen seit Jahrzehnten erfolgreich. Der Gesamterfolg der FdI-FI-Lega-Koalition im Jahr 2022 kam daher weder überraschend noch sei er außergewöhnlich (POP, 2023). Der Erfolg kann auf die langjährige Dominanz der wechselnden Mitte-Rechts-Koalitionen um Berlusconi zurückgeführt werden, die in den letzten drei Jahrzehnten die Mehrheit der Wahlen gewinnen konnten. Trotz der langen Präsenz der größten kommunistischen Partei des Westens in Italien seit mehr als 50 Jahren war das Land mit Ausnahme einer kurzen Periode in den 1970er Jahren immer strukturell rechts orientiert (Livi & Jansen, 2023, S. 178f).Die Mehrheit der italienischen Gesellschaft war antikommunistisch, prokapitalistisch, katholisch und von konservativen Vorstellungen über die Familie, Geschlechterrollen und soziale Ordnung geprägt. Die Christlich-Demokratische Partei (DC, Democrazia Cristiana), die in der Ersten Republik dominierte, integrierte eine breite konservative Mittelschicht, die sich als antikommunistisch verstand und einem autoritären traditionellen Katholizismus anhing. Diese Schicht bildete die Grundlage für Berlusconis Aufstieg in den 1990er Jahren. So entstand eine neue konservative Rechte. Berlusconi mobilisierte eine bis dahin politisch unsichtbare konservative Strömung in der Gesellschaft, die im Hintergrund agierte (ebd.).Mit 43 Prozent der Stimmen ist die Koalition nicht weit von ähnlichen Prozentsätzen entfernt, die Mitte-Rechts-Koalitionen in den neunziger Jahren oder bei den Wahlen 2001, 2006 und 2008 erzielt haben. Die konservativen Parteien genießen in Italien mehr Unterstützung als die progressiven, und wenn diese aus allgemeinen Wahlen als Sieger hervorgehen, dann vor allem infolge von Spaltungen innerhalb der rechtsgerichteten Parteien (POP, 2023).Neben ihrer eigenen Partei, die bei den Wahlen 26 Prozent der Stimmen erhielt, gehören zur Regierungskoalition der Premierministerin zum einen die Lega, Matteo Salvinis Partei, die mit fremdenfeindlichen und separatistischen Ansichten bis 2018 als Lega Nord bekannt war. Zum anderen die liberal-populistische Partei von Ex-Premier Silvio Berlusconi, Forza Italia. Die Lega kam auf 8,8 Prozent, gefolgt von der Forza Italia mit 8,1 Prozent (Feldbauer, 2023, S.7). Aufgrund der besonderen Regeln des italienischen Wahlrechts verfügen diese drei Regierungsparteien über breite Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments, der Camera und dem Senato (Livi & Jansen, 2023, S.169). Neben der Berufung ihres Schwagers hat die italienische Ministerpräsidentin auch ihre Schwester in die Führungsebene ihrer Partei geholt. Melonis ältere Schwester, Arianna, ist nun verantwortlich für das politische Sekretariat. Ihr Ehemann, Francesco Lollobrigida, Landwirtschaftsminister und Mitglied der FdI, gilt als enger Vertrauter von Meloni (Ventura, 2022, S. 3).Laut Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) liegt der interessante Aspekt darin, dass sich die FdI innerhalb der rechten Parteien durchsetzte. Dies könnte vor allem damit begründet werden, dass die Forza Italia eine schon lange schwindende Partei sei, während die Positionen von FdI und Lega in den wesentlichen Punkten übereinstimmen. Dazu gehören feindselige Haltungen gegenüber Migration, die Verteidigung traditioneller Werte, die Unterstützung der wirtschaftlichen Interessen zahlreicher italienischer Kleinunternehmen, der Schutz der traditionellen Familie vor einer angeblichen "Gender-Theorie", die darauf abziele, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verwischen oder auszulöschen, und die vertikale Abgrenzung zur EU in Form von Skepsis bzw. offener Feindseligkeit gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt. Allerdings habe die Persönlichkeit von Giorgia Meloni im Vergleich zu Matteo Salvinis abnehmender Führungsstärke sowie die Glaubhaftigkeit und Beständigkeit der Partei der FdI 2022 den entscheidenden Vorteil gebracht. Salvini habe sich im Vergleich zu Meloni in der Vergangenheit auf Koalitionen, wie zum Beispiel mit der Fünf-Sterne-Bewegung eingelassen, die nicht besonders gut bei den rechten italienischen Wähler:innen ankamen. Meloni war und ist jedoch innerhalb des Rechts-Bündnisses eine überzeugte Hardlinerin (Feldbauer, 2023).WählerschaftDie Partei von Giorgia Meloni übte vor allem eine Anziehungskraft auf ehemalige Lega-Wähler:innen aus, aber auch Wähler:innen der Forza Italia bekundeten Interesse an der FdI. In soziodemografischer Hinsicht ist festzustellen, dass FdI-Anhänger:innen in der Altersgruppe von 50-64 Jahren überrepräsentiert, in der jüngsten Altersgruppe (18-34 Jahre) unterrepräsentiert waren. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass jüngere Wähler:innen ihre Proteststimme eher der Fünf-Sterne-Bewegung ohne postfaschistische Vergangenheit gaben. Die Partei erhielt Unterstützung von verschiedenen Berufsgruppen wie Handwerker:innen, Händler:innen, Selbstständigen sowie Angestellten und Lehrkräften, also weitgehend der (unteren) Mittelschicht.Die geografische Verteilung der Wählerschaft der FdI zeigt nicht nur - wie anfangs in der Parteigeschichte - eine starke Präsenz im Süden Italiens, sondern auch eine landesweite Verbreitung. Die Wählerschaft weist migrationsfeindliche und europaskeptische Tendenzen auf, insbesondere bei langjährigen Anhänger:innen. Neu gewonnene Wähler:innen zeigen eine populistische und anti-elitäre Haltung, bei der die Ablehnung von Migration eine große Rolle spielt (Ventura, 2022, S. 5).Migrationspolitik als Kernthema Bei den Parlamentswahlen stand die Migrationspolitik im Fokus. Es bestanden Bedenken, die neue Regierung unter der Führung der FdI könne in der Asyl- und Migrationspolitik einen äußerst restriktiven und sogar illegalen Weg einschlagen. So hatte Meloni für ihr Amt mit dem Ziel kandidiert, der "illegalen" Einwanderung nach Italien Einhalt zu gebieten. Es wurde auch über die mögliche Errichtung einer Seeblockade vor Nordafrika sowie die Einrichtung von Hotspots auf afrikanischem Territorium diskutiert (Angeli, 2023, S. 4f). Durch ihre Forderungen in der Opposition konnte sie das Thema Migration für sich gewinnen. Dennoch ist die Verwirklichung politischer Versprechen im Wahlkampf und ihre Umsetzung in konkrete Politik keineswegs als selbstverständlich anzusehen. Im Zuge der sogenannten "Flüchtlingskrise" bestimmten nativistische und souveränistische Motive die Haltung der Partei zur Migration. Die auf dem Parteitag 2017 verabschiedeten programmatischen "Thesen von Triest für die patriotische Bewegung" stellten die Migration als existenzielle Bedrohung für den Fortbestand der europäischen Nationalstaaten dar. In diesem Zusammenhang fand auch die Verschwörungstheorie vom "großen Austausch" Eingang in das Parteiprogramm (Baldini et. al, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei warf der EU vor, aus demografischen Gründen ein "multikulturelles Prinzip" zu verfolgen, woraus angeblich eine Zustimmung zur unkontrollierten Einreise von Menschen aus anderen Kontinenten abgeleitet wurde (FdI, 2017, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei befürwortete restriktive Maßnahmen im Zusammenhang mit legaler Zuwanderung. Diese sollten nur für Staatsangehörige möglich sein, die sich problemlos integrieren könnten, ohne Sicherheitsprobleme zu verursachen. Dabei wurde die Bedeutung des Grenzschutzes besonders betont, der mit dem Schutz des "Vaterlandes" gleichgesetzt wurde. Die FdI schlugen drastische Maßnahmen, wie eine internationale "Landmission" vor, die Kontrolle über die Häfen übernehmen sollte, sowie die Möglichkeit einer Seeblockade. Der Schwerpunkt lag dabei auf Nationalitäten, die weniger bereit seien, die Gesetze und die Kultur zu akzeptieren, insbesondere wurden damit Muslim:innen gemeint. Darüber hinaus wurde zum ersten Mal die Einrichtung von Hotspots in Nordafrika zur Prüfung von Asylanträgen vorgeschlagen, verbunden mit der Absicht, das Recht auf "humanitären Schutz" abzuschaffen. Die programmatische Entwicklung der Partei im Bereich der Migrationspolitik war von zwei konträren Tendenzen geprägt. Einerseits stand die Partei unter dem Druck, sich dem Mitte-Rechts-Bündnis anzupassen, was zu einem einheitlichen Programm für die Parlamentswahlen 2018 führte, welches jedoch nicht die radikalsten migrationspolitischen Positionen enthielt. Andererseits sorgte die Konkurrenz innerhalb des Rechtsbündnisses für einen Differenzierungsbedarf insbesondere in der Migrationspolitik. Hier konkurrierten die FdI und die Lega darum, sich als die restriktivere und migrationsfeindlichere Partei zu präsentieren (Angeli, 2023, S. 6f).Die FdI hob zunehmend ihr Alleinstellungsmerkmal durch die kompromisslose Verteidigung der italienischen Interessen hervor, insbesondere durch die häufige Verwendung von "Italians first". Dieser Slogan implizierte einen Wettbewerb zwischen Italiener:innen und Menschen mit Migrationshintergrund und wurde zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen verwendet (Ventura, 2022). Im Wahlprogramm für die Europawahl 2019 wurde der Vorrang der italienischen Bevölkerung hervorgehoben und normativ untermauert (ebd.). Das Wahlprogramm für die Parlamentswahlen 2022 markierte eine Abkehr von der Radikalisierung der Partei in der Migrationspolitik, die in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Stattdessen kehrte die FdI zu einer sicherheitspolitisch motivierten Migrationsskepsis zurück, ähnlich wie im Wahlmanifest von 2013. Im Gegensatz zu früheren Positionen betonte das Manifest nicht mehr den Grundsatz "Italians first", der das Primat der italienischen Identität und Interessen in der Migrationspolitik hervorhob. Stattdessen verfolgte das Programm einen nüchternen Ansatz zur Migration, ohne aggressive oder aufrührerische Sprache. Dies deutet darauf hin, dass die Partei realistische und machbare Ansätze für eine geregelte Einwanderung und soziale Integration formulieren wollte (Angeli, 2023, S. 6f). In ihrer ersten Regierungserklärung schlug Meloni einen versöhnlichen Ton an, auch in Bezug auf das Thema Migration. Es gab kaum nativistische Elemente. Zwar betonte sie die strategische Rolle Italiens im Mittelmeerraum, doch die Verhinderung irregulärer Einwanderung wurde vor allem mit juristischen oder humanitären Gründen gerechtfertigt, etwa um Schiffbrüche oder Menschenhandel zu verhindern (ebd.).Melonis migrationspolitische Maßnahmen und Entscheidungen in den letzten 12 Monaten könnten auf einen pragmatischen Umschwung hindeuten. Diese Annahme ist jedoch mit Vorbehalten behaftet. Die Entwicklung des migrationspolitischen Programms der FdI zeigte bereits vor den letzten Parlamentswahlen eine Mäßigung bzw. "Entradikalisierung" (Angeli, 2023, S. 9). Das Wahlprogramm 2022 betonte die Förderung der legalen Migration und verstärkte diplomatische Bemühungen mit Herkunfts- und Transitländern irregulärer Migranten. Dennoch hat Meloni wenig getan, um der Kriminalisierung von NGOs entgegenzuwirken, die Rettungsschiffe für Asylsuchende betreiben. Sie argumentiert, diese Schiffe seien ein "Pull-Faktor", der die illegale Migration begünstige. Meloni hat sogar strenge Bedingungen für Rettungsaktionen von NGOs eingeführt, um die Ressentiments ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu befriedigen. Es bleibt abzuwarten, ob die steigende Zahl von Geflüchteten, die das Mittelmeer überqueren, Meloni dazu veranlassen werden, radikalere Maßnahmen zu ergreifen, um sich die Unterstützung ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu sichern. Erste Anzeichen für einen Umschwung gab es Mitte September, als Melonis Kabinett unter dem Druck negativer Schlagzeilen eine Verschärfung der Maßnahmen beschloss, darunter die Erhöhung der Höchstdauer der Abschiebehaft und die Einrichtung spezieller Abschiebegefängnisse durch das Militär in dünn besiedelten Regionen des Landes (Angeli, 2023, S. 10).Die politikwissenschaftliche Forschung hat in jüngerer Zeit wiederholt die Diskrepanz zwischen rechtspopulistischen Migrationsdiskursen und der tatsächlichen Migrationspolitik untersucht (Lutz, 2021). Demnach komme es öfters zu Mäßigungen, sobald Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt seien. Die Ausprägung dieser Mäßigung kann jedoch stark variieren und von vielen Faktoren beeinflusst werden. Unter anderem sind sie als Regierungspartei institutionellen Zwänge unterworfen, die ihr politisches Agieren limitieren. Aber auch die Notwendigkeit, die bestehenden Verfassungsorgane zu bewahren, veranlasst sie oft dazu, sich von ihren radikalsten Ansätzen im Bereich der Migrationspolitik zu distanzieren. Darüber hinaus stehen rechtspopulistische Parteien vor der Aufgabe, neben ihren eigenen Anhänger:innen auch breitere Gesellschaftsschichten und die Eliten für ihre Ziele zu gewinnen. Aus diesem Grund könnten sie ihre Migrationspolitik entsprechend umgestalten, um weitere wichtige Interessengruppen zu erreichen. Schließlich kann auch internationaler Druck zu einer Kursänderung rechtspopulistischer Parteien führen. Bei der italienischen Regierung betrifft dies vor allem die EU, die finanzielle Hilfe als Druckmittel zur politischen Einflussnahme nutzen kann (Angeli, 2023, S. 4). Das Thema Migration war für die FdI von Anfang an ein zentrales Wahlkampfthema. Allerdings ist diesem Thema nur einer von insgesamt 25 Abschnitten im Wahlprogramm von 2022 gewidmet. Dennoch sollte die Bedeutung dieses Abschnitts keineswegs unterschätzt werden. Die "Gefahr" der irregulären Migration hat der Partei zu politischer Sichtbarkeit verholfen, insbesondere aufgrund des gestiegenen Interesses der italienischen Öffentlichkeit am Thema Migration seit 2013. Der Umgang der Partei mit dem Thema spiegelt somit die Radikalisierungs- und Mäßigungstendenzen wider, welche sie während der letzten zehn Jahre erfahren hat (Angeli, 2023, S. 5f). In einem Artikel mit dem Titel " Das schwarze Jahr " kritisierte die Zeitung "La Repubblica" die Migrationspolitik von Giorgia Meloni als gescheitert. Meloni selbst gab in einem Interview mit der RAI zu, dass die erzielten Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen. Daraufhin kündigte sie erneut härtere Maßnahmen an, darunter die Verlängerung der möglichen Abschiebehaft auf die EU-Höchstdauer von 18 Monaten und den Bau weiterer Abschiebezentren. Sie forderte die Vereinten Nationen auf, den Menschenhändler:innen einen "globalen Krieg" zu erklären (ZEIT ONLINE, 2023).Wirtschafts- und SozialpolitikBesonders frauenpolitische Themen spielten eine wichtige Rolle in und für Melonis Partei. Es wird davon ausgegangen, dass die Parteivorsitzende Meloni eine wichtige Rolle für die weibliche Wählerschaft spielt. Sie setzt sich für einen Imagewandel der männerdominierten Partei ein und engagiert sich insbesondere für Frauen und Mütter, zumindest im Hinblick auf den Schutz vor potenziellen "Bedrohungen", wie dem Zuwachs an Migration, der Islamisierung und sozialer Unsicherheit, wie von der Kommilitonin Schmidt bereits beschrieben wurden (Feo & Lavizzari, 2021, S. 13). Zusätzlich engagiert sie sich entschlossen in der Verteidigung der Frauenrechte, wobei der Fokus jedoch auf anti-immigrationspolitischen Zielen liegt. In Bezug auf frauenrelevante Themen hat Giorgia Meloni niemals ihre anti-abtreibungsorientierten Überzeugungen verschleiert. Diese basieren auf ihrem katholischen Glauben sowie persönlichen Erfahrungen. In ihrer Biografie wird dargelegt, dass ihre Mutter in Erwägung zog, die Schwangerschaft abzubrechen (Meloni, 2021, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). Meloni strebt vor allem eine breite Unterstützung in katholischen Kreisen an, indem sie sich gegen Abtreibung und Leihmutterschaft aussprach. Nachdem sie dort jedoch auf erheblichen Widerstand stieß, versuchte sie ihre Position zu mildern, indem sie betonte, das Recht auf Abtreibung nicht abschaffen zu wollen. Im Unterschied dazu blieb sie gegenüber Homosexuellen und sexuellen Minderheiten unverändert kompromisslos (Feldbauer, 2023, S. 70)."Wir wollen eine Nation, in der es kein Skandal mehr ist, zu sagen, dass – unabhängig von legitimen Entscheidungen und Neigungen jedes einzelnen – wir alle geboren sind durch einen Mann und eine Frau. Eine Nation, in der es kein Tabu mehr gibt. Es heißt, dass es die Mutterschaft nicht zu kaufen gibt, dass die Gebärmutter nicht zu mieten ist, dass Kinder keine Produkte sind, die man aus dem Regal kauft, als wäre man im Supermarkt. Wir wollen neu beginnen beim Respekt der Würde." (Meloni, 2022, zit. nach Seisselberg, 2023)Wie aus dem Zitat hervorgeht, betont die Politikerin ausdrücklich ihre Unterstützung der sogenannten natürlichen Familie, um die traditionellen Werte zu bewahren. Mit der Verteidigung dieser Werte und dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Bild erfolgt eine Ablehnung der LGBTQ+-Gemeinschaft, die von Meloni als "LGBT-Lobby" bezeichnet wird (De Giorgi et. al, 2022). Die Ministerpräsidentin zeigt kein Interesse an einer feministischen Agenda, sondern strebt weiterhin ein traditionelles Familienmodell an (POP, 2023). Frauenrechte und Geschlechtergleichheit wurden von Meloni und ihrer Partei mehr für femonationalistische Argumente instrumentalisiert (De Giorgi et. al, 2022).In wirtschaftspolitischer Hinsicht herrscht in Italien eine Unzufriedenheit, da verschiedene Wahlversprechen nicht umgesetzt wurden. Dies ist auf das Schrumpfen der italienischen Wirtschaft im zweiten Quartal sowie der hohen Inflation zurückzuführen. Zudem wurde noch kein Mindestlohn eingeführt. Die Regierung unter Giorgia Meloni wurde auch dafür kritisiert, dass knapp 170.000 Menschen per SMS darüber informiert wurden, dass sie ab sofort keinen Anspruch mehr auf die Sozialleistung reddito di cittadinanza, auch Bürgergeld genannt, haben. Dies wurde von Gewerkschaften als "soziale Bombe" bezeichnet (ZEIT ONLINE, 2023). Es sei jedoch absehbar gewesen, dass die Umstrukturierung des Staatshaushalts wesentlich auf Kosten der ärmeren Bevölkerung erfolgen würde. Dennoch glaubten die meisten Menschen, dass die postfaschistische Regierung in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht so weit gehen würde, wie ihre Rhetorik des "Runter vom Sofa" suggerierte, mit der sie ihren Geldgebern in Industrie, Landwirtschaft und Tourismus billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollten (Seeßlen, 2023).EU und Außenpolitik Der Zuwachs an Migration wurde von Meloni vor allem dazu genutzt, um das Thema der irregulären Migration auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Sie war auch maßgeblich am Zustandekommen des Europäischen Migrationspaktes beteiligt, gegen den Widerstand ihrer einstigen Verbündeten aus Polen und Ungarn. Durch diese diplomatischen Bemühungen wird Meloni nun nicht mehr als internationale Außenseiterin in Bezug auf die europäische Migrationspolitik betrachtet. Im Gegensatz zu einigen früheren Verbündeten, wie Viktor Orbán, steht sie nicht mehr auf der Seite der Visegrád-Staaten (Angeli, 2023, S. 8f). Melonis Wandlung zu einer gemäßigten Politikerin findet nicht nur national, sondern auch im internationalen Kontext innerhalb und außerhalb der EU statt. Trotz ihrer Position als Präsidentin der EU-Parlamentsgruppe der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) hat Meloni ihre frühere euroskeptische Haltung zurückgefahren. Die Entscheidung, von der Leyen in Rom zu empfangen, wird als Versuch der Anbahnung einer Zusammenarbeit zwischen der ECR (unter Melonis Führung) und der Europäischen Volkspartei (EVP) bewertet. Die FdI hat einen moderaten Kurswechsel von radikalen Positionen gegenüber der EU hin zur Mitte vor den Wahlen 2022 vollzogen. Ziel dieses Kurswechsels sei der Aufbau eines guten Rufs im Ausland und die Sicherung vorteilhafter internationaler Abkommen (Griffini, 2023). Giorgia Meloni hat ihre gemäßigte politische Ausrichtung durch das Einhalten ihres Wahlversprechens im Hinblick auf Atlantizismus und Unterstützung für die Ukraine gegenüber dem russischen Eindringling weiter gestärkt. Ihre diplomatischen Beziehungen zur Ukraine und das Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew untermauern dies. Im Gegensatz zu Salvini, der im Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine uneindeutige Standpunkte vertrat, zeigte sich Meloni klar positioniert. Der Unterschied in ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine führte zu Spannungen innerhalb der Regierungskoalition und betonte Melonis gemäßigte Position in dieser Angelegenheit (ebd.). Manche sagten für Italien einen heißen Herbst voraus, aber nicht in Hinblick auf die außenpolitische Lage. Meloni verfolgte in diesem Bereich einen äußerst pragmatischen Ansatz. Der schrille Ton des Wahlkampfes, in dem sie die EU für fast alle Probleme verantwortlich gemacht hat, ist vorbei. Das hat auch mit der prekären Finanzlage des Staates zu tun, denn Italien braucht dringend die fast 200 Milliarden Euro, die ihr von der EU zur Bewältigung der Folgen des Coronavirus versprochen wurden (ZEIT ONLINE, 2023).Meloni in den Medien"Melonis Politik, anders als die einiger ihrer Vasallen, besteht auch darin, die innere Faschisierung nicht allzu sehr als ein internationales lesbares Bild zu präsentieren. Die Giorgia Meloni, die erscheint, wo man unter sich ist, und die Giorgia Meloni, die vor internationalen Kameras spricht, unterscheiden sich gewaltig" (Seeßlen, 2023).Durch die Stärkung des Kerns der Partei ist es Meloni gelungen, mit einem breiteren Publikum zu interagieren, wobei ihr geschickter Einsatz von Social-Media-Plattformen eine Schlüsselrolle spielte. Dies führte dazu, dass sie als das neue Gesicht der italienischen Politik wahrgenommen wird. Ihre einzigartige Position als erste weibliche Ministerpräsidentin in Italien hat zweifellos dazu beigetragen. Außerdem hat sie bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Herausforderungen zu meistern, mit denen populistische Politiker:innen konfrontiert sind (POP, 2023).Der Erfolg der FdI wäre ohne die entschlossene und konsequente Führungsperson, die dem Volk sehr nahe steht, unvorstellbar. Durch ihre Ansprachen an das Volk im römischen Dialekt kommt sie den Italiener:innen sehr nahe. Schon kurz nach der Gründung und dem Vorsitz der FdI war die charismatische Führerin ein gern gesehener Gast in den wichtigsten Talkshows. Sie zeichnete sich durch Jugend, Attraktivität, Selbstbewusstsein, außergewöhnliche Eloquenz und eine kompromisslose Haltung aus und scheute keine Konfrontation. Man kann behaupten, Meloni brachte frischen Wind ins Fernsehen und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit in diesem Medium (Ventura, 2022, S.6).Im Laufe der Zeit hat ihre Medienpräsenz stetig zugenommen, insbesondere in den letzten Jahren, als sie eine immer bedeutendere Funktion im Mitte-Rechts-Lager einnahm. Meloni macht ausgiebigen Gebrauch von sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram, in denen sie ihre politischen Inhalte darstellt und gleichzeitig ihr öffentliches Image zu pflegen versucht. Unter den italienischen Politiker:innen war sie Vorreiterin bei der Einrichtung eines Instagram-Profils. Darauf veröffentlichte sie in erster Linie Bilder, die Botschaften von Stärke und Entschlossenheit vermitteln und in der Popkultur verwurzelt sind. Parallel dazu zieht sie informative, institutionelle und ereignisbezogene Nachrichten vor (Moroni, 2019).Bis vor wenigen Jahren versuchte Meloni, ihr Privatleben aus der Öffentlichkeit weitestgehend herauszuhalten. Doch in letzter Zeit begann sie damit, ihr Privatleben zu inszenieren und sehr persönliche Einblicke zu gewähren, was auch als "intimate politics" beschrieben werden kann. Vor allem in ihrer 2021 erschienenen Autobiografie präsentiert sie sich als Tochter, Mutter und Partnerin. Diese Inszenierung wird von den Medien in zahlreichen Interviews und im Fernsehen aufgegriffen, wobei vor allem Infotainment- und Unterhaltungssendungen erneut die Aufmerksamkeit auf Melonis Pop- und Privatseite lenken. Dabei geraten viele der eigentlichen politischen Botschaften des Buches in den Hintergrund (Ventura, 2022, S. 6).Auf ihrem Popkanal präsentiert Giorgia Meloni ein attraktives Bild von sich selbst, das ihre kulturellen und politischen Ansichten in den Hintergrund drängt. Diese Ansichten spiegeln u.a. ein ambivalentes Verhältnis zum italienischen Faschismus und Postfaschismus wider. Laut Ventura (2022, S. 6) propagiert sie die Idee einer illiberalen und organisierten Gesellschaft, die auf einer reaktionären Auslegung der individuellen Rechte beruht, wobei das Individuum stets der Familie und der Gemeinschaft verpflichtet ist. Sie vertritt auch einen essentialistischen und ethnozentrischen Nationalismus und relativiert die Werte, die nach dem Sieg über den nationalsozialistischen Totalitarismus entstanden sind. Trotz ihres reaktionären Weltbildes, welches einen stark vereinfachenden Gegensatz zwischen Volk und Elite sowie eine verschwörungstheoretische Interpretation der Realität beinhaltet, kann ihre Kommunikation als erfolgreich bewertet werden (ebd.).Die laufende Legislaturperiode erstreckt sich über weitere vier Jahre, was normalerweise keine typische Amtszeit für italienische Regierungschefs ist. Diese Ausdauer wird der Rechtsnationalistin jedoch zugute gehalten. Berichte über die verschiedenen Angriffe der Regierung auf die Pressefreiheit zeigen auf, dass es Verleumdungsklagen und Versuche gibt, die öffentliche Rundfunkanstalt RAI auf Linie zu bringen, indem sie ihre eigenen Leute in der Leitung beruft und kritische Programme streicht (Braun, 2023). Sie habe den staatlichen Fernsehsender RAI weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Einige Leute würden bereits über "Tele-Meloni" spotten, allerdings stellen Privatsender keine große Bedrohung dar, da viele von ihnen der Familie von Silvio Berlusconi gehören (ZEIT ONLINE, 2023). Ein weiteres Beispiel dafür ist die Streichung des Programms des prominenten Anti-Mafia-Journalisten und Aktivisten Roberto Saviano (Braun, 2023).Melonis Umgestaltung hat für die Frage nach der Kontinuität, Mäßigung oder Radikalisierung der Partei in der Regierung eine doppelte Bedeutung. Einerseits zeigt Meloni ihre "Nähe zum Volk", was ein typisches Merkmal populistischer Parteien ist. Auf diese Weise betont sie ihre anti-elitäre und volkszentrierte Haltung, die seit der Gründung der FdI besteht. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihre Rhetorik durch eine bürgerliche Aura aus, die durch Werte wie den Respekt vor der EU, der Rechtsstaatlichkeit, der nationalen Sicherheit und den Rechten der Frauen unterstrichen wird. Diese Betonung von Gewöhnlichkeit und Bürgersinn verbirgt jedoch radikalere ideologische Aspekte der neuen Regierung unter Meloni. Es handelt sich um eine Strategie, die darauf abzielt, eine bürgerliche Fassade zu schaffen. Diese Strategie ist von radikalen populistischen Rechtsparteien in Europa als Versuch bekannt, Ideologie und Politik zu mäßigen und sich selbst in führende Machtpositionen zu bringen (Griffini, 2023).Deutlicher Rechtsruck?"Es hätte schlimmer kommen können" – so lautete nicht nur der Titel eines Beitrags im Deutschlandfunk Kultur über das erste Jahr von Giorgia Meloni als Regierungschefin in Italien. Dieser Tenor stand im Mittelpunkt vieler Analysen zu ihrem Jahrestag als Ministerpräsidentin. In zahlreichen Medien wurde bezeugt, dass sie sich in ihrem ersten Amtsjahr weitaus gemäßigter verhalten hat als erwartet. "Die gefährlichste Frau Europas" sei sie keinesfalls (Seisselberg & Kolar, 2023, zit. nach Galetti, 20230). Die Grundaussage war, dass die Faschisten nicht so besorgniserregend seien wie befürchtet. Es scheint, als hätte Giorgia Meloni den inneren Frieden in Italien bisher nicht gefährdet und als bleibe das Land eine "stabile" parlamentarische Demokratie mit intakten Institutionen. Insbesondere in grundlegenden Bereichen wie der Außenpolitik und der Wirtschaft wird betont, dass Melonis Regierung nicht als Bedrohung für die Europäische Union gesehen wird. Die bisherige Amtszeit Melonis wird als eher konventionelles Regieren bezeichnet (Reisin, 2023). Sie sei "gekommen, um zu bleiben" und innerhalb weniger Monate zu einer "festen Größe" geworden (ZEIT ONLINE, 2023).Andere Journalist:innen sind jedoch der Meinung, dass die Gefahr in den Details liege. Sie argumentieren, dass Meloni sehr geschickt agiere und es fraglich sei, ob sich ihre politische Haltung überhaupt geändert habe (Reisin, 2023). Seeßlen (2023) warnt davor, Italien als eine Demokratie mit einer rechten Regierung zu betrachten. Stattdessen beschreibt er das Land als einen Ort, an dem die Verbindung von neoliberaler Postdemokratie und funktionalem Postfaschismus exemplarisch erprobt werde. Die Gesamtheit dieser Transformation könnte übersehen werden, da es der Regierung unter Meloni noch gelingt, nicht alle Aspekte ihrer Machtübernahme deutlich erkennbar zu machen. Die Rhetorik von Populisten ist bekanntermaßen darauf ausgerichtet, extreme Positionen vor der allgemeinen Öffentlichkeit zu verbergen. Auch das kommunistische Online-Portal Contropiano (zit. nach Feldbauer, 2023, S. 81) hat vor der Gefahr gewarnt, Meloni zu unterschätzen, da sie ihr reaktionäres Weltbild mit rechtsextremen, nationalistischen, fremdenfeindlichen und homophoben Positionen gegenüber der EU mit der Inszenierung als vernünftige und verantwortungsbewusste Politikerin kaschiere. Die Frage nach einem möglichen Rechtsruck in Italien wird kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird der Wahlsieg Melonis als Teil einer allgemeinen europäischen Tendenz hin zum rechten Spektrum gedeutet. Auf der anderen Seite wird betont, dass die Regierung unter Meloni eine gewisse Kontinuität mit den politischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre in Italien aufweist und somit nicht als radikaler Neuanfang zu interpretieren ist. Melonis Erfolg wurde vor allem auch durch die Enttäuschung über etablierte politische Figuren begünstigt (Livi & Jansen, 2023).FazitAls Giorgia Meloni mit ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia die Wahlen gewann, stellte sich in ganz Europa die Frage, wie mit ihr umgegangen werden sollte. Ob diese Frage nun vollständig geklärt ist, erscheint ungewiss. Für viele macht Meloni bisher jedoch einen relativ gemäßigten Eindruck. Die Zusammenarbeit mit der EU wirkt jedoch eher zweckorientiert als von tiefer Überzeugung getragen. Obwohl Meloni eine pro-europäische Haltung einnimmt, kann man sie nicht uneingeschränkt als überzeugte Verfechterin der EU bezeichnen. Während sie eine gemäßigte Außenpolitik verfolgt, engt sie im Inneren die Freiheit der Medien ein, limitiert die Rechte von Minderheiten und stellt die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Eltern in Frage. Trotz der Befürchtungen über eine mögliche Radikalisierung der FdI deuten die gegenwärtigen Anhaltspunkte in eine andere Richtung. Angesichts dieser Erkenntnisse lässt sich ableiten, dass die FdI zweifellos als populistisch-radikale Rechtspartei agiert, die zur Mäßigung tendiert. Weite Teile zeigen die Kontinuität der Partei mit den Wahlaussagen von 2022, obwohl einige Schwankungen in Richtung Radikalisierung erkennbar sind. Es bleibt abzuwarten, ob sie diesen gemäßigten Ansatz in der Migrationsdebatte langfristig beibehalten wird, oder ob sie angesichts der steigenden Zahlen von Geflüchteten zu einer aggressiveren Rhetorik und Politik zurückkehrt. Obwohl eine Legislatur auf dem Papier fünf Jahre dauert, liegt die durchschnittliche Dauer italienischer Regierungen bei 18 Monaten (Siefert, 2023). Die Prognosen bezüglich Melonis politischer Zukunft sind vorsichtig optimistisch, wobei einige spekulieren, dass sie eine längere Amtszeit haben und sogar zur Galionsfigur der "neuen Rechten" in Europa werden könnte. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass sich solche Vorhersagen als irreführend erweisen können (ZEIT ONLINE, 2023).Insgesamt scheint es, als fehle es in Italien an Diskursen und Ideen sowie Kraft für Widerstand. Die italienische Gesellschaft, die aus widersprüchlichen Lagern der Linken und der katholischen Gemeinschaft sowie aus den nördlichen, mittleren und südlichen Teilen besteht, ist zersplittert. Von der Opposition kommt wenig Kritik an der aktuellen Regierung und es scheint, als ob ihr die Herausforderungen, vor denen Italien steht, noch weniger zugetraut werden. Bei vielen sozialen Fortschritten der letzten Jahre, einschließlich der Errungenschaften im Kampf gegen die Mafia, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder auch Maßnahmen gegen Verfall von Bildung und Infrastruktur deutet sich ein Rückschritt an. Der Weg in Richtung einer offenen und toleranten Gesellschaft wird unter Melonis Führung stark gehemmt. Mit der Postfaschistin an der Macht wird in Italien eine rückwärtsgerichtete Umkehr angestrebt, ganz im Sinne eines reaktionären Katholizismus. Literatur Angeli, O. 2023: Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung, MIDEM-Policy Paper 2023-4, Dresden. Baker, K. & Palmieri, S. (2023). Können weibliche Politiker die gesellschaftlichen Normen der politischen Führung stören? Eine vorgeschlagene Typologie des normativen Wandels. International Political Science Review, 44(1), 122–136. https://doi.org/10.1177/01925121211048298 Brandl, L. & Ritter, A. (2022). Wenn Italien wackelt, schwankt die EU: Darum ist Giorgia Meloni die gefährlichste Frau Europas. https://www.stern.de/politik/ausland/wahlen-in-italien--ist-giorgia-meloni-die-gefaehrlichste-frau-europas--32742572.html De Giorgi, E., Cavalieri, A. & Feo, F. (2023). Vom Oppositionsführer zum Premierminister: Giorgia Meloni und Frauenfragen in der italienischen radikalen Rechten. Politik und Governance, 11(1). https://doi.org/10.17645/pag.v11i1.6042 Feo, F. & Lavizzari, A. (2021): Fallstudie Italien; in: Triumph der Frauen? Das weibliche Antlitz des Rechtspopulismus und -extremismus in ausgewählten Ländern, Heft 06, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) - Forum Politik und Gesellschaft, online unter: https://www.fes.de/themenportal-gender-jugend-senioren/ gender-matters/artikelseite/fallstudie-italien. Finchelstein, F. (2017). Populismus als Postfaschismus – Essay. BPB.de. https://www.bpb.de /shop/zeitschriften/apuz/257672/populismus-als-postfaschismus-essay/ Griffini, M. (2023). Auf dem Grat zwischen Mäßigung und Radikalisierung: Die ersten 100 Tage der Meloni-Regierung. Quaderni dell Osservatorio elettorale QOE - IJES. https://doi.org/10.36253/qoe-14413 Latza Nadeau, B. (2018): Femme Fascista: Wie Giorgia Meloni zum Star der extremen Rechten Italiens wurde, in: World Policy Journal, 35, 2, 2018. Livi, M. & Jansen, C. (2023). Giorgia Meloni und der Rechtsruck in Italien: Eine Analyse fünf Monate nach der Wahl. Leviathan, 51(2), 169–185. https://doi.org/10.5771 /0340-0425-2023-2-169 Lutz, Philip (2021): Neubewertung der Gap-Hypothese: Hartes Reden und schwaches Handeln in der Migrationspolitik? In: Party Politics, 27(1), S. 174–186. Verfügbar unter: https://doi. org/10.1177/1354068819840776Moroni, C. (2019): La politica si fa immagine: la narrazione visual del Leader politico, in: H-ermes. Zeitschrift für Kommunikation, 15. 2019.Oliviero, A. (2023). Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung (MIDEM-Policy Paper 2023-4). https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2023/10 /TUD_MIDEM_PolicyPaper_2023-4_Giorgia-Meloni-und-Migrationsfrage.pdf (POP) Politisches Observatorium für Populismus. (2023). Brüder und Schwestern Italiens: Von den faschistischen Wurzeln zur Normalisierung – ein Doppelinterview. https://populismobserver.com/2023/07/11/brothers-and-sisters-of-italy-a-double-interview/ Reisin, A. (2023). Italien.Medien schreiben sich das erste Amtsjahr von Giorgia Meloni schön. https://uebermedien.de/89003/wie-sich-medien-das-erste-amtsjahr-von-giorgia-meloni-schoenschreiben/ Roio, C. (2020). Prefazione. La grande trasformazione dell'ultradestra, in: C. Mudde: Ultradestra. Rom: Luiss University Press. Schütz, D. (2022). Begriff "Postfaschismus". Italienischer Sonderweg. TAZ.de. https://taz.de/Begriff-Postfaschismus/!5880112/ Seeßlen, G. (2023, 17. August). Giorgia Melonis Kürzung der Sozialhilfe als faschistischer Krieg gegen die Armen Italiens. Gesellschaft als Beute Italien: Ein Lehrstück der Faschisierung in Europa. Jungle.World, Hintergrund (2023/33). Seisselberg, J. (2023). Ein Jahr Meloni in Italien – Neue Schale, rechter Kern (04.10.2023; NDR Info Hintergrund). https://www.ndr.de/nachrichten/info/epg/Ein-Jahr-Meloni-neue-Schale-rechter-Kern,sendung1384714.html Siefert, A. (2023). Italien. Meloni und ihre "Mutter aller Reformen". https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/italien-giorgia-meloni-verfassungsreform Tagesschau. (2022). Porträt. Giorgia Meloni. "Zuallererst Italienerin". Tagesschau.de https://www.tagesschau.de/ausland/italien-meloni-107.html ZEIT ONLINE. (2023, 25. September). Gekommen um zu bleiben: Ein Jahr Giorgia Meloni. https://www.zeit.de/news/2023-09/25/gekommen-um-zu-bleiben-ein-jahr-giorgia-meloni
Die Bedeutung emotionaler Intelligenz in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung am Beispiel rechtspopulistischer Ausgrenzungsstrategien
Blog: Emotionen in Politik und politischer Bildung
Vortrag von Sina Marie Nietz bei Festo am 24.10.2019 (verschriftlichte Form)Der Titel dieses Vortrags beinhaltet mehrere "Riesenbegriffe": Globalisierung und Digitalisierung, zwei Begriffe, die heutzutage geradezu inflationär genutzt werden und dabei ganz unterschiedliche Prozesse und Entwicklungen beschreiben. Autonomer Individualverkehr, Pflege-Roboter, softwaregesteuerte Kundenkorrespondenz und Social Media, Big-Data-Ökonomie, Clever-Bots, Industrie 4.0. Die Digitalisierung hat ökonomische, kulturelle und politische Auswirkungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die zunehmenden technischen Möglichkeiten vor allem durch KI zwingen uns auch zu einer Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und unseren bisherigen Konzepten von Intelligenz. Was zeichnet menschliches Handeln aus? Wie unterscheidet sich menschliche, natürliche Intelligenz von Künstlicher? Die Frage, was menschliches Handeln und menschliche Intelligenz von Maschinen unterscheidet, wird aus einem Alltagsverständnis heraus häufig mit Emotionen wie Empathie, Mitgefühl, Einfühlungsvermögen, Mitmenschlichkeit beantwortet. All diese Begriffe wollen wir nun zunächst einmal unter "emotionaler Intelligenz" zusammenfassen, bevor wir uns zu einem späteren Zeitpunkt näher damit auseinandersetzen werden.Globalisierung – ein weiterer überaus komplexer Begriff, der genutzt wird, um ganz unterschiedliche Prozesse zu beschreiben. Globalisierung meint die Verflechtung von Handelsbeziehungen und Kommunikationstechnologien sowie den Anstieg von Mobilität. Globalisierung umfasst zunehmende transnationale Abhängigkeiten in Form von losen Abkommen, Verträgen und Gesetzen. Globalisierung bedeutet auch, dass Organisationen wie NGOs, transnationale Institutionen, Konzerne und Staaten über Ländergrenzen hinweg agieren und kooperieren. Globalisierung meint jedoch auch globale Herausforderungen wie internationalen Terrorismus und vor allem die Klimakatastrophe. In dieser Zeit zunehmender Verflechtungen und internationaler Abhängigkeiten lassen sich gleichzeitig nationalistische Tendenzen beobachten, die der zunehmenden Öffnung gesellschaftliche Abschottung entgegenzusetzen versuchen. Die Frage nach Öffnung oder Abschottung polarisiert und spaltet. In der Wissenschaft wird von einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie, einer cleavage gesprochen. Die cleavage zwischen Öffnung und Abschottung, zwischen Kosmopoliten und Nationalisten, zwischen Rollkoffer und Rasenmäher.Die Ergebnisse der letzten Europawahlen im Mai 2019 haben jene cleavage eindeutig widergespiegelt. Die etablierten Parteien, allen voran CDU/CSU und SPD, haben erneut massiv Wählerstimmen eingebüßt. Wohingegen auf der einen Seite der neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie die AfD mit ihrem Abschottungskurs und auf der anderen Seite die Grünen, die klare Kante für Kosmopolitismus verkörpern, Stimmenzuwächse verzeichnen konnten. Auch in anderen europäischen Ländern sahen die Wahlergebnisse programmatisch vergleichbarer Parteien ähnlich aus.Bereits seit der Wirtschafts- bzw. "Eurokrise" erhalten rechtspopulistische Parteien zunehmend Zuspruch in ganz Europa. Deutschland war mit der AfD in dieser Hinsicht ein Nachzügler. Der Begriff "Rechtspopulismus" ist dabei nicht ganz unproblematisch. Zum einen dient er als sogenannter "battle term", um gegnerische Parteien oder PolitikerInnen zu degradieren. Zum anderen findet er keine einheitliche Verwendung, sondern wird genutzt, um einen Politikstil, eine rhetorische Strategie, eine Mobilisierungsstrategie oder eine politische Ideologie zu bezeichnen. Des Weiteren bildet sich zunehmend der Konsens heraus, dass mit dem Begriff auch die Gefahr der Verharmlosung in Bezug auf Parteien oder Personen einhergeht, die ihrer politischen Gesinnung nach eigentlich als rechtsradikal bis rechtsextrem einzuordnen sind. Trotz dieser Schwierigkeiten hat sich in den vergangenen Jahren durch zahlreiche Publikationen ein wissenschaftlicher Konsens geformt. Im Folgenden soll die Definition von Rechtspopulismus nach Jan Werner Müller, einem der federführenden Populismusforscher in Deutschland, umrissen werden. Populismus leitet sich von dem lateinischen Wort "populus", zu deutsch "Volk", ab. Der Bezug auf das Volk ist für jede Form des Populismus essenziell. In der Logik des Populismus stehen "dem Volk" die "korrupten Eliten", das Establishment gegenüber ("Altparteien", "Eurokraten"…). Es ist prinzipiell variabel, wer zu den Eliten zählt. In diesem Zusammenhang wird häufig das vermeintliche Paradoxon Donald Trump angeführt. Dieser zählt aufgrund seines Vermögens definitiv zu einer finanziellen Elite, kann sich jedoch aufgrund seines Mangels an Politikerfahrung als Politikaußenseiter, als "Mann aus dem Volk" und Sprachrohr des Volkes darstellen.Jan Werner-Müller zufolge sind RechtspopulistInnen immer anti-elitär, doch nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist auch automatisch ein Rechtspopulist. Es muss immer noch ein zweites Kriterium gegeben sein, nämlich das des Anti-Pluralismus. In einer pluralistischen Gesellschaft konkurrieren zahlreiche verschiedene Organisationen, gesellschaftliche Gruppierungen und Parteien um wirtschaftliche und politische Macht. Es herrscht außerdem Vielfalt in Form von Meinungen und unterschiedlichen Lebensentwürfen. Rechtspopulismus lehnt diese Vielfalt ab. Es findet demnach nicht nur eine Abgrenzung nach oben zu "den Eliten", sondern auch nach unten ("Sozialschmarotzer") bzw. außen ("der Fremde", "der Islam", "die Flüchtlinge", Homosexuelle) statt. Rechtspopulistische Repräsentanten behaupten, ein homogen gedachtes "wahres Volk" mit einem einheitlichen Volkswillen zu vertreten. So wird ein moralischer Alleinvertretungsanspruch postuliert. Da der homogen konstruierte Volkswille in der Logik des Rechtspopulismus a priori feststeht und RechtspopulistInnen diesen repräsentieren, bedarf es keiner anderen Parteien oder Vertreter. Daraus ergibt sich jedoch ein Logikproblem, wenn sie dann bei Wahlen nicht die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen können. So betrug der Stimmenanteil der AfD bei der Bundestagswahl 2017 12,6%. Um diese Differenz "erklären" zu können, werden verschwörungstheoretische Erklärungsmuster wie das einer "schweigenden Mehrheit" herangezogen. Es werden gezielt Zweifel am politischen System, an den Medien ("Lügenpresse") und der Wissenschaft gesät. Es wird auf vermeintliche Fehler im System und die angebliche Unterdrückung des "eigentlichen Volkswillens" verwiesen. So schaffen RechtspopulistInnen eine Parallelwelt der "alternativen Fakten" und tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei.Betrachtet man die verschiedenen rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen in Europa, stößt man auf Unterschiede in deren Inhalten und Strategien. So hat Geert Wilders in den Niederlanden beispielsweise immer eine sehr liberale Gesellschaftspolitik vertreten, etwa in Form liberaler Abtreibungsgesetze und der Befürwortung gleichgeschlechtlicher Ehen. In Polen fährt die PiS-Partei hingegen einen katholisch geprägten konservativen Kurs hinsichtlich gesellschaftspolitischer Themen, wie auch die FPÖ in Österreich. Als gemeinsame Klammer dient allen rechtspopulistischen Parteien ihre ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Migration und "dem Islam". Die ausgrenzende Gesinnung bildet demnach das Kernelement rechtspopulistischer Ideologien. Das bedeutet, dass es keinen Rechtspopulismus ohne Feindbilder gibt.Und damit wären wir bei der ersten These meines heutigen Vortrags: Feindbilder sind das Kernelement von Rechtspopulismus. Rechtspopulistische Parteien greifen gezielt xenophobe Vorurteile, Stereotype und Emotionen wie Angst und Hass auf, schüren diese und verbreiten sie so. Wir werden gleich noch darauf zu sprechen kommen, wie sie dies genau machen. Vorurteile sind eine effektive Strategie, um Ungleichheit oder die Entstehung von Ungleichheit zu legitimieren. Hier dockt der Populismus perfekt an die bereits vorhandene Ungleichheitsideologie unserer meritokratischen Leistungsgesellschaft an. Unsere freie Marktwirtschaft basiert auf der Annahme der Notwendigkeit von Ungleichheit und legitimiert diese durch unterschiedliche Mechanismen. Stichworte in diesem Kontext lauten: survival of the fittest, Leistungsprinzip, Konkurrenzdruck in Zeiten von Outsourcing von Arbeitsplätzen und Zeitarbeit, Selbstoptimierung, Humankapital.Ich würde Sie an dieser Stelle gerne zu einem kurzen Exkurs in die Kognitionswissenschaft einladen, um die Bedeutung von Vorurteilen und Stereotypen für das menschliche Denken und Handeln näher zu erläutern. Der menschliche Verstand benötigt Kategorien zum Denken, zum Einordnen und Verarbeiten von Sinneseindrücken und Informationen. Andernfalls würde der Prozess der Informationsverarbeitung viel zu viel Zeit beanspruchen und wir wären nicht handlungsfähig. Wir ordnen unsere Eindrücke also bestimmten, vorgefertigten Kategorien zu. Innerhalb einer Kategorie erhält nun alles dieselbe Vorstellungs- bzw. Gefühlstönung. Der Grad der Verallgemeinerung hängt mit dem Wissen über die einzuordnende Information zusammen. Auf die rechtspopulistischen Ausgrenzungsstrategien bezogen ergibt sich Folgendes: Es wird das Feindbild "Islam" konstruiert und mit Eigenschaften wie "Gewalt" und "Terror" verknüpft. Dabei wird nicht zwischen verschiedenen Strömungen und Glaubensrichtungen unterschieden, sondern alles zu einem homogenen Gebräu innerhalb derselben Kategorie umgerührt. Individuen, die aufgrund von Herkunft, Religionszugehörigkeit, Ethnie etc. dieser Gruppe zugezählt werden, werden als Teil der Feindgruppe gedacht, nicht als Individuen. Sie werden objektiviert und entmenschlicht. Das Leiden des Einzelnen geht in der Masse unter und Empathie wird verhindert. Einzelne Ausnahmen werden als solche anerkannt, um das Gesamtbild, bzw. die gebildeten Kategorien, aufrechterhalten zu können. Und damit sind wir bei der zweiten These angelangt: Die Verallgemeinerung rechtspopulistischer Ausgrenzungsstrategien verhindert Empathie.Die einfache Zweiteilung des Freund-Feind-Denkens geht mit einer enormen Reduktion von Komplexität einher - ein attraktives Angebot in Zeiten zunehmender Komplexität und Undurchschaubarkeit (Stichwort Globalisierung). Doch wie werden diese Feindbilder nun genau erzeugt und aufrechterhalten? Hierzu bedienen sich rechtspopulistische Akteure unterschiedlicher rhetorischen Strategien.Rechtspopulistische Sprache ist zumeist eine reduktionistische und sehr bildhafte Sprache. Es werden häufig Metaphern verwendet, die Träger einer Botschaft sind. So ist der im Kontext der Migrationsbewegungen ab 2015 oft verwendete Begriff "Flüchtlingswelle" kein neutraler Begriff. Die Zusammensetzung der beiden Worte "Flüchtlinge" und "Welle" impliziert eine unaufhaltsame Naturgewalt, gegenüber der es sich durch Bauen eines Dammes abzuschotten gilt. Zudem finden auch biologistische Metaphern wie "Flüchtlingsschwärme" ihren Einzug in rechtspopulistische Narrative. Die Entlehnung nationalsozialistisch geprägter Begriffe wie beispielsweise "völkisch" durch Akteure der AfD hat nicht nur einmal zu medialer Aufmerksamkeit geführt. Weitere häufig verwendete rhetorische Strategien und Stilmittel sind Wiederholungen, Wortneuschöpfungen, Tabubrüche, kalkulierte Ambivalenz und auch die eingangs erwähnten Verschwörungstheorien. Ich möchte diese Stilmittel nicht im Einzelnen näher ausführen. Aber ich möchte auf die Beziehung zwischen Rechtspopulismus und Medien aufmerksam machen. Es gab in den vergangenen Monaten zahlreiche Beispiele für Tabubrüche seitens der AfD, die nach und nach zu einer Diskursverschiebung geführt hat, die mit einer Normalisierung von Gewalt in der Sprache im öffentlichen Diskurs einhergeht.Medien und Populismus folgen ähnlichen Kommunikationsstrategien wie beispielsweise Personalisierung, Emotionalisierung, Dramatisierung und Komplexitätsreduktion. Trotz der grundlegend feindlichen Einstellung rechtspopulistischer Parteien gegenüber der "Lügenpresse" gehen Populismus und Massenmedien eine Art Symbiose ein. Die Massenmedien sind auf Schlagzeilen angewiesen und die PopulistInnen auf mediale Aufmerksamkeit. Eine besondere Rolle spielen insbesondere seit dem letzten US-Wahlkampf soziale Medien wie Twitter. Trump bezeichnete sich einmal selbst als den "Hemingway der 140 Zeichen". Durch seine kurzen Tweets in einer einfach gehaltenen Sprache vermittelt er Nahbarkeit und inszeniert sich als Sprachrohr des Volkes. Immer in Abgrenzung zu der abgehobenen, korrupten Politikelite mit ihrer "political correctness". Es scheint, als würden "gefühlte Wahrheiten" schwerer wiegen als Fakten, so wird häufig vom Anbruch des postfaktischen Zeitalters gesprochen. Das Leugnen wissenschaftlicher Erkenntnisse bei gleichzeitiger Fokussierung auf "alternative" und "gefühlte Wahrheiten" birgt die Gefahr einer zunehmenden Parallelwelt der Fakten.Durch Echokammern und Filterblasen verfestigen sich eigene Einstellungen und die politische Meinung. Die neue Rechte hat sich zudem die Funktionsweise von Algorithmen und Bots zunutze gemacht und wirkt dadurch in Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter, aber auch in Foren und Blogs unheimlich präsent. Medien sind hier keine Einrichtungen im Sinne von Organisationseinheiten mit besonderen Rechten, Sach- und Personalmitteln, sondern Räume und Kanäle. Dialogroboter sind zugleich Werkzeug und Medium einer neuen Kommunikationswelt. In den Massenmedien kann man eine stetige Zunahme von dialogischer Kommunikation beobachten. Dialogroboter werden funktional wie Massenmedien eingesetzt, funktionieren strukturell aber nach den Prinzipien interpersoneller Kommunikation.Kehren wir zu den beiden Ausgangsthesen zurück. Erstens: Feindbilder sind ein Kernelement von Rechtspopulismus. Zweitens: Die Verallgemeinerung von Feindbildern verhindert Empathie. Nun stellt sich die Frage nach möglichen Lösungsansätzen. Wie kann der dargelegten Objektivierung von Menschen durch Feindbilder entgegengewirkt werden? Welche Gegenstrategien gibt es? Häufig werden sehr allgemeine Handlungsempfehlungen ausgesprochen oder die Ausführungen zu möglichen Lösungen sehr kurz gehalten, sodass der politikwissenschaftliche Diskurs bisweilen in Bezug auf die Gegenstrategien ungenau und schwammig bleibt.Ich möchte Ihnen heute einen spezifischen Ansatz vorstellen, der darauf abzielt, Empathie als Teil emotionaler Intelligenz zu stärken, um rechtspopulistischen Feindbildern präventiv zu begegnen. Die gezielte Schulung von Empathie als Teil emotionaler Intelligenz. Das Konzept der emotionalen Intelligenz (EQ) kam in den 1990er Jahren auf, federführend unter den Sozialpsychologen John D. Mayer und Peter Salovey. Das gleichnamige Buch veröffentlichte 1995 Daniel Goleman. Bereits damals wurde Empathie als eine "Schlüsselkompetenz" emotionaler Intelligenz gefasst. Hier wurde zum einen der Versuch unternommen, auf die Bedeutung von Gefühlen beim Erreichen beruflicher Ziele und des eigenen Lebensglücks zu verweisen, zum anderen EQ messbar zu machen, sodass bald darauf zahlreiche EQ-Tests folgten. Der Versuch, Intelligenz anhand von Testsituationen oder ähnlichen Verfahren messbar zu machen, geht jedoch mit einigen Aspekten einher, die es kritisch zu betrachten gilt. Vor allem stellt sich, wie auch bei den klassischen IQ-Tests (auf denen im Übrigen unser heutiges Verständnis von Intelligenz beruht) die Frage, ob tatsächlich das gemessen wird, was gemessen werden soll. In einer Leistungsgesellschaft, die dem Diktat der Transparenz und Messbarkeit (PISA, Evaluationen etc.) unterworfen ist, haben es schlecht messbare emotionale Kompetenzen wie Empathie schwer.Die zunehmenden Abhängigkeiten im Kontext der Globalisierung weisen eigentlich in Richtung Kooperation. Die vorherrschende Ideologie unserer Gesellschaft basiert jedoch nach wie vor auf dem Konkurrenzprinzip. Die meritokratische Leistungs- und Wettbewerbsideologie des freien Marktes hat ein empathiefeindliches Umfeld geschaffen. Zudem lässt die Hyperindividualisierung Empathie unwahrscheinlicher werden. Das Wachstum des "Ichs" als Instanz der Nicht-Ähnlichkeit führt zur Kultivierung eines Bewusstseins für Differenzen anstatt für Gemeinsamkeiten. Je mehr wir uns auf die Unterschiede konzentrieren, desto schwieriger werden empathische Empfindungen und Handlungen, da diese eine Identifikation mit dem Anderen voraussetzen. Des Weiteren hat insbesondere im Bildungsdiskurs viele Jahre lang eine einseitige Fokussierung auf Rationalität stattgefunden. Diese impliziert eine künstliche Trennung zwischen Emotionalität und Rationalität. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass verschiedene gesellschaftliche, politische, aber vor allem auch ökonomische Faktoren wie die neoliberale Konkurrenz- und Wettbewerbsideologie, das Diktat der Messbarkeit, die Hyperindividualisierung sowie die einseitige Fokussierung auf Rationalität der Etablierung von Empathie als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts im Weg standen und noch immer stehen. Doch was bedeutet Empathie eigentlich konkret in einem wissenschaftlichen Verständnis? Empathie stammt von dem griechischen Wort "Pathos", zu deutsch "Leidenschaft". Umgangssprachlich ist mit Empathie die Fähigkeit des Sich-in-jemand-Einfühlens oder Hineinversetzens gemeint. Empathie hat eine kognitive (Wahrnehmung der Interessen des Anderen) und eine affektive (dabei entstehende Gefühle) Komponente. Die Entstehung von Empathie erfolgt in drei Schritten: Soziale Perspektivenübernahme, Identifikation, Empathie. Die Übernahme einer anderen Perspektive erlernen wir bereits im Kleinkindalter. Zunächst anhand der Übernahme räumlicher Perspektiven. Durch den zweiten Schritt, die Identifikation mit einer anderen Person oder einem anderen Lebewesen, entsteht das Potenzial für die empathische Einfühlung in jene Person oder jenes Lebewesen. Aus dieser empathischen Empfindung kann wiederum ein gewisses Aktionspotenzial entstehen, wenn beispielsweise eine Ungerechtigkeit Empörung auslöst und zur Aktion gegen jene Ungerechtigkeit führt.Wir kommen nun zu der dritten These meines Vortrags: Empathie kann gezielt gelehrt und gelernt werden. Jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Empathie eine erlernbare Fähigkeit ist. Die deutsche Neurowissenschaftlerin und Psychologin Tania Singer hat im Rahmen einer großangelegten Untersuchung, dem "ReSource-Projekt" am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften die Wirkung von Meditation auf das Verhalten und die damit verbundenen Veränderungen im Gehirn untersucht. Die Idee, die hinter diesem Forschungsprojekt steht, war die Suche nach einer Möglichkeit, gezielt soziale Fähigkeiten wie Mitgefühl, Empathie und die "Theory of Mind" zu fördern. Die Untersuchung ging über einen Zeitraum von elf Monaten und bestand aus unterschiedlichen Modulen. Im "Präsenzmodul" lag der Schwerpunkt vor allem auf der Achtsamkeit gegenüber geistigen und körperlichen Prozessen. Das Modul "Perspektive" konzentrierte sich auf sozio-kognitive Fähigkeiten, insbesondere die Perspektivenübernahme. Ein drittes Modul "Affekte" sollte den konstruktiven Umgang mit schwierigen Emotionen sowie die Kultivierung positiver Emotionen schulen. Die Probanden führten die entsprechenden Übungen täglich mit ihren zugeordneten Partnern durch Telefonate oder Videoanrufe aus.Das Team um Tania Singer konnte nach den drei Monaten mithilfe von Gehirnscans eine tatsächliche Verbesserung der Kompetenzen der TeilnehmerInnen feststellen, die mit struktureller Gehirnplastizität in den spezifischen neuronalen Netzwerken einhergingen. Das sozio-affektive Modul konnte so tatsächlich zur Verbesserung der Fähigkeit des Mitgefühls beitragen. Das sozio-kognitive Modul hingegen hat die Fähigkeit verbessert, sich gedanklich in die Perspektive eines anderen zu versetzen. Die Studie hat gezeigt, dass Empathie und Mitgefühl erlernbare Kompetenzen sind, die durch entsprechende Übungen gezielt gefördert werden können. Dazu bedarf es jedoch zunächst einer Anerkennung von Empathie als einer erlernbaren Kompetenz.Fassen wir zusammen: Rechtspopulismus agiert immer über Feindbilder. Diese Feindbilder basieren auf der Konstruktion einer homogenen Feindgruppe. Durch Verallgemeinerung werden den Individuen innerhalb dieser Feindgruppe Subjektivität und Individualität abgesprochen und so die Entstehung von Empathie verhindert. Die rechtspopulistische Ungleichheitslogik schließt an die Ungleichheitslogiken unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung an. Die Wettbewerbs- und Konkurrenzideologie hat ein empathiefeindliches Umfeld geschaffen. Zudem hat sich die Bildung zu lange einseitig auf Rationalität konzentriert. Daher gilt es, Empathie als eine soziale und emotionale Fähigkeit mit kognitiven Anteilen im bildungswissenschaftlichen Diskurs zu verankern. So können rechtspopulistische Differenzierungskategorien wie Nationalität oder Religion sowie die Verallgemeinerungen zugunsten einer Fokussierung auf Gemeinsamkeiten und Mitmenschlichkeit überwunden werden. Um in einer vernetzten, globalisierten Welt intelligent handeln zu können, nützt ein Rückzug in nationalistische Freund-Feind-Denkweisen nicht. Vielmehr gilt es, auf Kooperation und Empathie zu setzen, auch wenn diese nicht immer messbar ist. Vielen Dank.Literatur- und Quellenverzeichnis:Allport, Gordon W. (1971): Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bischof-Köhler, Doris (1989): Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Hans Huber: Berlin, Stuttgart, Toronto.Decker, Frank (2017): Populismus in Westeuropa. Theoretische Einordnung und vergleichende Perspektiven. In: Diendorfer, Gertraud u.a. (Hrsg.) (2017): Populismus – Gleichheit – Differenz. Herausforderungen für die politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Wissenschaft, S. 11-28.Holtmann, Everhard (2018): Völkische Feindbilder, Ursprünge und Erscheinungsformen des Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.Mudde, Cas / Kaltwasser, Cristóbal Rovira (2017): Populism. A Very Short Introduction. New York: Oxford University Press.Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin: Edition Suhrkamp.ReSource-Projekt: https://www.resource-project.org/ [10.09.2019]Wodak, Ruth (2016): Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse. Wien/Hamburg: Edition Konturen.