Dieser Beitrag befasst sich mit der Spannung zwischen der dualistischen Tradition unseres Kulturkreises (WERTHEIM, 1999) einerseits und neueren Ansätzen, die die Konstruktion und Genese von Wissen als leibgebundenes Handeln innerhalb biologischer und ökologischer Systeme nachzuvollziehen versuchen andererseits (z.B. DAMASIO, 1994; LEAR, 1998; LEMKE, 1995; MATURANA & VARELA, 1992). Dabei werden auch Implikationen eines biosozialen Modells für Forschungsmethodologie und für akademisches Schreiben diskutiert. Ausgangspunkt hierfür war die in meiner Doktorarbeit festgehaltene Erfahrung, welche Rolle der Leibgebundenheit bei der Konstruktion von Wissen zugekommen ist, eine Erfahrung, die zunächst bewusst kaum greifbar schien. Dies wohl auch, weil von solchen Arbeiten nach wie vor erwartet wird, dass sie dem Mythos folgen, Wissen und Lernen resultierten beinahe ausschließlich aus abstrakten und logischen Prozessen, aus einem körperlosen Geist.
"In the first part of this paper, Blossfeld discusses some of the historical reasons why the explosion of rational choice scholarship in the social sciences has had surprisingly little influence on macro-sociological data analysis. In the second part, he shows that any theoretically powerful sociological analysis of a macro-sociological problem must pay attention to both structural- and micro-Ievel issues but not in the usual static way. Any macro-micro framework must recognize that time is significant in this relationship. It must identify the particular historical structures and processes that dominate the changes occurring in a given population, and it must specify the causal mechanisms that allow us to trace the encounters of intentionally acting individuals with the flow of history as a series of choice processes."
Der Beitrag beschreibt drei hermeneutische Ansätze in der empirischen Sozialforschung und diskutiert deren Potenzial für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung: (1) Der psychoanalytische Ansatz leitet seine Grundsätze aus der Frankfurter Schule (J. Habermas, A. Lorenzer) und der Annahme von möglichen "Sprachdeformationen" ab: An der Deutung einer Äußerung, eines Textes usw. wird derjenige, der sie als Untersuchungsperson gegeben hat, beteiligt (deshalb auch dialogischer Ansatz). Die Grundbedingung für das Gelingen solcher Dialoge besteht in einer kontrafaktisch geltenden "idealen Sprechsituation" (im Sinne von Habermas), die gegenseitiges argumentatives Überzeugen ermöglicht. (2) Unter der Bezeichnung objektive Hermeneutik (auch: genetischer Strukturalismus oder strukturale Hermeneutik) entwickelt U. Oevermann in den 1970er Jahren ein Verfahren der Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen alltäglichen Handelns mit Hilfe hermeneutischer Textinterpretation. Ausgangspunkt ist die Vertextung einer symbolisch vermittelten Interaktion in Gestalt eines schriftlichen Interaktionsprotokolls. (3) Die hermeneutisch orientierte Wissenssoziologie basiert auf der Annahme eine reflexiven Zusammenhangs zwischen Wissen und Sozialstruktur, der nur in einem "hermeneutischen Zirkel" aufzuklären ist. Diese iterative Annäherung an den Sinn von Begriff und Text, von Teil und Ganzem bedeutet: Das Teil kann nur mit Hilfe einer hypothetischen Annahme über die Bedeutung des Ganzen verstanden werden, das Ganze nur aus der Bedeutung seiner Teile heraus, wobei auch das Ganze wiederum als Teil eines größeren Ganzen gesehen wird, so dass sich dieser Prozess auf der nächsthöheren Ebene wiederholt. (ICA)
In dem Beitrag wird untersucht, welche sozialen Bedingungen die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit im Laufe individueller Biographien, besonders im Jugend- und Erwachsenenalter, fördern. Im Mittelpunkt stehen die sozialen Bedingungen der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit, moralische Kognitionen und biographische Prozesse. Vorliegende Ansätze dazu werden skizziert: Durkheim, Piaget, Kohlberg, Hoffmann, Garbarino und Bronfenbrenner. Aus diesen Konzeptionen wird eine Liste sozialer Entwicklungsbedingungen moralkognitiver Urteilsfähigkeit zusammengestellt, um auf dieser Grundlage eine systematische Rekonstruktion des Bedingungsgefüges und einer interaktionistischen Begründung der einzelnen Bedingungen und ihres Zusammenhangs vorzunehmen. Die fallanalytische Überprüfung der Methoden und Hypothesen wird beschrieben. Abschließend wird ein Ausblick auf weitere Forschungsaufgaben gegeben. (RW)
Die Verflechtung einer Vielzahl von AkteurInnen abseits von geplanten Prozessen bringt mitunter neuartige überraschende Strukturen hevor. Dadurch bilden sich ''wirkmächtige Arrangements von Dingen, Zeichen und Subjekten'' (S. 10), die durch Wiederholungen automatisiert werden und sich teilweise der Wahrnehmung entziehen. Diese Annahmen über Automatismen legen eine Auseinandersetzung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nahe, die im Mai 2010 in dem Workshop 'Strukturentstehung durch Verflechtung' des Paderborner Graduiertenkollegs 'Automatismen' unternommen wurde. Der daraus entstandene gleichnamige Sammelband setzt einen größeren Rahmen. In ihm werden Kompatibilitäten und gemeinsame Traditionslinien sozial- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen und der Akteur-Netzwerk-Theorie untersucht. In den Beiträgen zu so verschiedenen Themen wie der Atemwegserkrankung SARS, der Hamburger Schilleroper, New Orleans nach Kathrina, Quantenphysik oder der Fernsehserie 'Kunst und Krempel' (Bayrischer Rundfunk, 1985–2012) wird auf das Motiv der 'Strukturentstehung durch Verflechtung' Bezug genommen. Dies geschieht im ersten Teil des Bandes durch die Rekonstruktion von Verflechtungen unerwarteter Handlungsquellen in sich neu etablierenden Netzwerken. Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes stellen Fragen nach Machtrelationen innerhalb nicht intendierter Strukturen und reflektieren Macht als temporär stabilisierenden Effekt. Im dritten Teil finden sich Abhandlungen zu Kritik, Korrekturen und Akzentverschiebungen der ANT. Die einzelnen Beiträge bieten dabei einen guten Einblick, wie mit Modellen und Elementen der ANT in der Medien- und Kulturwissenschaft umgangen wird, welche Thesen, Vorgehensweisen, Begriffe und Motive aufgegriffen werden, wie sich diese an Gegenständen testen und weiterentwickeln lassen und wo Lücken und Schwachstellen liegen. Dem Band vorangestellt ist ein Artikel von John Law, der die Entstehungsgeschichte(n) der ANT von den wissenschafts- und organisationstheoretischen Studien über eine erste Formierung der ANT in den 1990er-Jahren bis zur Kritik und Diaspora nach 2000 nachzeichnet (S. 21). Besonders hilfreich ist ein Überblick über die Schwerpunkte, Begriffe und Werkzeuge der ANT in den jeweiligen Phasen. Eine der Geschichten von John Law beginnt mit den mittlerweile berühmten Studien von Michel Callon und Bruno Latour. Diese und Latours Äußerungen zu Kunst nimmt Renate Wieser als Ausgangspunkt. Die moderne sozial- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Naturwissenschaft, die nach Latour entweder eine sozialkonstruktivistische Haltung einnimmt oder ihr unreflektiert affirmativ begegnet, trifft auch auf Bereiche der Kunst zu. In den beiden von Wieser besprochenen Beispielen, Installationen und Skizzen von Duyckaert und Dittmer, in denen Laborsituationen adaptiert werden, vermischen sich Fakt und Fiktion und werden die Grenzziehungen zwischen naturwissenschaftlicher und kultureller Handlungsmacht in Frage gestellt. Den (post-)modernen Laboren der Quantenphysik stellt Julian Rohrhuber Aspekte der klassischen wissenschaftssoziologischen Studien der ANT gegenüber. In Bruno Latours Studien werden konkrete Übersetzungsschritte verfolgt: Operationsketten, die von einem unübersichtlichen materiellen Ausgangspunkt zu anschaulichen formalen Rückschlüssen verlaufen. In der theoretischen Physik hingegen wird mit Variablen gearbeitet, die Verkettungen von Ungeklärtem erlaubt. Der übersichtlichste Punkt des Forschungsprozesses ist hier der epistemische Pol, unanschaulich sind die vorläufigen formale Enden des Prozesses. Rohrhubers Versuch den formalen AkteurInnen zu folgen zeigt, dass das Abstrakte im Forschungsprozess der modernen Physik mit zirkuliert. Dass die Prämisse, 'den AkteurInnen zu folgen' die Gefahr einer Blindheit gegenüber AkteurInnen mit eingeschränktem Handlungsspielraum birgt, betont Katharina Holas in ihrem Beitrag zu feministischen Akzentverschiebungen und Kritik an der ANT. Indem häufig große Technikprojekte und Fragen zu Konzeption und Design im Zentrum stehen, bleiben Exklusionsmechanismen intransparent und Dichotomien, etwa die zwischen Planung und Nutzung, bestehen. Mit Verweis auf das Konzept der Multiplizität von Annemarie Mol und Arbeiten von Donna Haraway und Susan Leigh Star lenkt Holas die Aufmerksamkeit auf Unsichtbarkeiten, unintendierte Handlungsabfolgen und bestehende Hierarchien. Zwei Filme über die urbane Sportart 'Parkour' und die Frage wie Atmosphären inszeniert werden, sind der Ausgangspunkt für die Studie von Christoph Michels. Der Beitrag zeigt auf, dass durch die Alltagspraxis 'Parkour' Körper und Orte inszeniert und zugleich in räumliche, soziale und narrative Ordnungslogiken, eingebunden werden. Dies geschieht beispielsweise durch den Gebrauch von SuperheldInnen- oder Tiermetaphern, die als Anleitung für neue Bewegungsabläufe und für ein neues Verhältnis zu den Orten und Gegenständen dienen. Michels beschreibt dies als gegenseitige Übersetzungsprozesse. Ein Element der ANT, das in mehreren Beiträgen aufgegriffen wird, ist der von Bruno Latour geprägte Begriff der 'immutable mobiles'. Er umfasst Techniken wie die Kartografie und Verfahren wie Statistik und bezeichnet die Eigenschaft der Formkonstanz bei gleichzeitiger Mobilität. Nach Bruno Latour machen die 'immutable mobiles' die Überlegenheit westlicher Institutionen aus und haben Anteil an der modernen Reinigungs- und Ausdifferenzierungsarbeit, die Latour in seinem Buch Wir sind nie modern gewesen ausgiebig untersucht und kritisiert hat. Im Prozess des Wiederaufbaus nach dem Hurrikan 'Kathrina', den Anne Dölemeyer in ihrem Beitrag untersucht, zeigt die Autorin wie Daten, Texte und Karten als Verbündete mobilisiert werden. Durch diese Verbündeten wird Wissen sichtbar gemacht, abgeglichen und kombiniert. So agieren die Grafiken und Karten als Machtinstrument, Knotenpunkt und Repräsentation und versammeln NutzerInnen, Vergangenheit und Zukunft in politischen Aushandlungsprozessen. Erhard Schüttpelz zeigt, dass ausgehend vom Postulat einer allgemeinen Symmetrie teleologische, sozial- und technikdeterministische Mediengeschichten und ''Medien-Ursachen-Setzungen'' (S. 244) fragwürdig werden. Dies lässt sich an Bruno Latours Kodak-Studie nachvollziehen: Gegliedert in interdeterministische Schritte können für jeden historischen Zeitpunkt Verflechtungen aus technischen, natürlichen, sozialen und diskursiven Ursachen festgestellt werden. Die medienhistorische Überprüfung der 'immutable mobiles', die Schüttpelz darauf folgend vornimmt, macht die Beteiligung der modernen Medien an den drei Wissensformationen von Natur, Gesellschaft und Diskurs deutlich. Der Hamburger Schilleroper, 1889 als Zirkusgebäude in Auftrag gegeben, über 100 Jahre vielfältig genutzt und seit 2007 leer stehend, widmet sich Anke Rees in ihrem Artikel. Sie versucht, die Widerspenstigkeit des Gebäudes mit Begriffen der ANT zu erklären. Rees beschreibt ein verflochtenes Netz an Baumaterialien, EigentümerInnen, Nutzungsvorstellungen, Nachbarschaften und Behörden mit teils widersprüchlichen Interessen, aber auch die Atmosphären als Verbündete des Gebäudes, die bis jetzt zu dessen Erhalt beigetragen haben. Auffällig häufig ist der Bezug zu Michel Foucault, der in vielen Artikeln im Sammelband hergestellt wird. Verwiesen wird in diesen Beiträgen sowohl auf die Kombinierbarkeit, aber auch auf die Differenzen zu Begriffen und Konzepten Foucaults. Auch der eingangs erwähnte Beitrag von John Law weist auf die Nähe zwischen der Akteur-Netzwerk-Theorie und Foucaults Denkmodellen hin. Er bezeichnet in einer seiner Geschichtsschreibungen die ANT als ''empirische Übersetzung des Poststrukturalismus'' (S. 29). Thomas Foth gelingt es, Foucaults Analyse von Dispositiven mit der ANT in seiner Untersuchung von PatientInnenakten im Nationalsozialismus zu verbinden. Er fasst die Akte als AkteurIn innerhalb der Souveränitäts- und Disziplinarmacht Psychiatrie auf. Kombiniert mit anderen 'inscription devices' wie Checklisten, Thermometern, Waagen und Tabellen sind Akten beteiligt am Erstellen von dokumentarischen Biografien, in denen die PatientInnen sich selbst als psychisch Kranke anerkennen sollen. Umgekehrt kann das Ausbleiben von Aktenaufzeichnungen den Subjektstatus bedrohen, wie Foth am Beispiel einer Akte zeigt. In seinem Artikel ''Strategien ohne Strategen'' (S. 173), setzt Theo Röhle Michel Foucaults Modell der Dispositive in Kontrast zur ANT, in dem er dem Problem der Intentionalität in einer relationalen Perspektive nachgeht. Während Foucault zwischen den Ebenen Strategie und Taktik unterscheidet, bemüht sich die ANT alle Verbindungen und Übersetzungen auf einer Ebene darzustellen. Um Relationen zu beschreiben, ohne auf vorgängige Intentionen zurückzugreifen, habe in der ANT die Sprache eine große Last zu tragen, so Röhle. So werden in sprachlichen Kippfiguren die AkteurInnen sowohl als Ausgangspunkt als auch als Resultat von Übersetzungsprozessen beschrieben. Metasprachliche Begriffe wie Handlungsprogramm oder AkteurIn sollen eine symmetrische Darstellung der Beteiligten ermöglichen. Auch Andrea Seier macht das Verhältnis zwischen Dispositiven und den Agenturen der ANT zum Thema ihres Beitrags und fragt dabei nach ihrer jeweils spezifischen Produktivität für die Medienwissenschaft. Einer der Unterschiede zwischen beiden Modellen liegt demnach in der Konzeption von Handlungsmacht. So lassen sich mit der Dispositivanalyse Rahmungen und Bedingungen untersuchen, die Handlungen anreizen, wahrscheinlich machen oder verunmöglichen. Mit der ANT geraten hingegen hybride Konstellationen aus Dingen, Apparaten und Menschen in den Blick, die in Handlungsketten aufgeschlüsselt werden können. Dass sich beide Modelle produktiv miteinander kombinieren lassen, zeigt Seier an dem Reality TV Format 'Kunst und Krempel' (Bayrischer Rundfunk, 1985–2012). Zwei der Herausgeber des Sammelbands, Tobias Conradi und Florian Muhle, gehen in ihrem Beitrag auf die Möglichkeit der Kritik in den konkreten Fallstudien der ANT und auf das gespannte Verhältnis von Bruno Latour zu anderen kritischen Theorien ein. Im Umgang mit diesen Theorien schreibt Latour fort, was er selbst anderen Theorien zum Vorwurf macht: die Aufrechterhaltung der modernen Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Reduktionismus und den Gestus der Entlarvung. Den teils polemischen Abgrenzungen Latours, die als Teil einer Wissenschaftsstrategie gelesen werden können, stellen Conradi und Muhle den reflexiveren Ansatz von John Law gegenüber. In vielen Beiträgen wird das Postulat einer allgemeinen Symmetrie aufgegriffen, eine Weiterentwicklung der wissenschaftstheoretischen Überlegungen von David Bloor bzw. Thomas Kuhn. Richtiges und falsches Wissen muss mit den gleichen Kategorien erklärt werden, damit nicht richtige Einsichten naturalisiert und Irrtümer auf soziale Größen zurückgeführt werden. Diese Vorgaben wurden in Michel Callons und Bruno Latours Konzeption von Aktanten und menschlichen und nicht-menschlichen AkteurInnen übernommen und radikalisiert. Dominique Rudin kritisiert an Bruno Latours politischen Entwürfen in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007) eine begriffliche Unschärfe zwischen dem Politischen und dem Sozialen und die Konzentration auf konsensorientierte, integrative Verfahren. Er sieht mögliche Verbindungen zwischen Jacques Rancières Prinzip der Gleichheit und der allgemeinen Symmetrie als Forschungsperspektive der ANT. Wenn AkteurInnen Gleichheit einfordern und dadurch bestehende Ordnungen in Frage stellen, wird die Symmetrie nicht nur von WissenschaftlerInnen, sondern auch von den AkteurInnen als Perspektive eingenommen. Durch diese Verschiebung lässt sich der Begriff des Politischen zur Analyse von existentiellen Konflikten, in denen neue Entitäten auftauchen und ihren Anteil einfordern, schärfen, so Rudin. Jahn-Hendrik Passoth versucht in seinem Beitrag die Denktraditionen der Praxistheorie und der ANT, die häufig als unvereinbar einander gegenübergestellt werden, zu verbinden. Er legt dar, dass der Fokus auf Multiplizität, Komplexität, Symmetrie, und Fragmentierung, den die ''postplurale ANT'' (S. 268) setzt, eine Stütze der praxäologischen Heuristik werden kann. Durch die Übernahme des Symmetrieprinzips in den Praxisbegriff kann Praxis als Zusammenspiel von Körpern und Artefakten analysiert werden, das weitere Praxis ermöglicht oder einschränkt. Die Verflechtungen von Viren, Zellen, Menschen, Tieren, Technologien und Verfahren und die Transformation etablierter Strukturen verfolgen Wiebke Pohler und Michel Schillmeier in ihrer ''Topologie von (Un)sicherheitsstrukturen'' (S. 51). Sie beschreiben die Atemwegserkrankung SARS, die 2003 die Gefahr einer Pandemie darstellte, als kosmo-politisches Ereignis, durch das Praktiken in Krankenhäusern, in der Wissenschaft und an Flughäfen verunsichert und neu konstituiert werden. SARS erscheint als hoch virulentes, komplexes Netzwerk, das tradierte Beobachtungs-, Erklärungs- und Interpretationsmuster und Routinen menschlichen Zusammenlebens radikal in Frage stellt. Der Einblick in laufende Debatten, Anwendungsbereiche und Weiterführungen der ANT ist eine Stärke des Sammelbandes. Es wird deutlich, dass die Akteur-Netzwerk-Theorie sich nicht nur der Herausforderung stellt, materiell und diskursiv heterogene Beziehungen in den Blick zu nehmen, sondern auch sehr unterschiedliche Forschungsbereiche zu Dialog und Widerspruch provoziert. Das Konzept der Automatismen kommt leider etwas zu kurz. Ein stärkerer Fokus darauf hätte dem Sammelband eine deutlichere Richtung geben können.
"In diesem Beitrag setzen wir uns mit der zukünftigen Positionierung der Ordnungsökonomik innerhalb der Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld zwischen positiver Analyse und normativer, auf wirtschaftspolitische Beratung zielender Disziplin auseinander. Im Sinne des normativen Individualismus bieten sich das Legitimationskriterium der individuellen Zustimmung oder die Steuerungsideale der Bürger- und Konsumentensouveränität als Grundlage für die moderne Ausrichtung der Ordnungsökonomik an. Ganz im Sinne des verfassungsökonomischen Forschungsansatzes von James Buchanan werden daher die Bürgerinteressen als Referenzkriterium herangezogen. Nach einem Überblick über den neueren Methodenstreit diskutieren wir jüngste Beiträge zur zukünftigen Ausrichtung der Ordnungsökonomik vor dem Hintergrund des verfassungsökonomischen Forschungsprogramms. In einem dritten Schritt stellen wir unsere Perspektive zur Weiterentwicklung des ordnungsökonomischen Forschungsansatzes dar." (Autorenreferat)
Zwar gibt es in der qualitativen Sozialforschung einen kleinen und aufschlussreichen Korpus an Literatur, demzufolge Transkriptionen sowohl Schlüsselmomente von Entscheiden als auch von Macht im Forschungsprozess sind. Zugleich scheinen aber viele Forschende Transkriptionen für relativ unproblematisch zu halten (oder sie verhalten sich zumindest so). Die Translationswissenschaft mit ihrem Fokus auf Sichtbarkeit, Macht, Authentizität und Exaktheit kann hier wichtige Denkanstöße bereitstellen für Forscher/innen, die sich kritisch mit der Praxis und Theorie des Transkribierens beschäftigen. In diesem Beitrag erläutere ich zunächst einige aus der Translationswissenschaft stammende Theorien von Gleichwertigkeit, offener und verdeckter Übersetzung, von "Zähmung", "Auswilderung" und von "Rückständen", und ich versuche dann, fruchtbare Verbindungslinien zwischen Übersetzung und Transkription aufzuzeigen. Die Verbindungslinien verweisen auf weiter gehende politische und kulturelle Implikationen von Transkription und akademischem Diskurs, auf die Komplexität von Gleichwertigkeit und auf die zentrale Rolle derer, die – je spezifisch situiert – transkribieren.
"In unserem Beitrag nehmen wir die aktuellen Bildungsproteste im Herbst und Winter 2009 und insbesondere die Rolle und die (Un)Möglichkeiten der Psychologischen Fakultät an der Wiener Universität darin zum Anlass, um in prinzipieller Weise über die Funktion von Kritik in unserer Disziplin nachzudenken. Sowohl in der Studierendenbewegung als auch in der psychologischen Forschungspraxis kommt Kritik als Praxis ein bedeutender Rang zu. Die Kluft zwischen diesen beiden Praxen könnte allerdings kaum größer sein. Wir vermuten, dass hierin einer der Gründe dafür zu suchen ist, dass sich die Mobilisierung für eine aktive Beteiligung an den Protesten unter PsychologInnen der Universität Wien so schwierig gestaltet hat. Wir schließen mit einigen Überlegungen, wie in der Psychologie in Wien Bedingungen und Möglichkeiten für Kritik geschaffen werden könnten." (Autorenreferat)
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, in welcher Weise gestalterische Methodenansätze in Forschung und Beratung genutzt werden können, um das Verständnis von sozialen Situationen zu vertiefen. Dabei gehen die Autorinnen davon aus, dass die hinter der "Gestalt" von Darstellungen liegende Bedeutung genutzt werden kann, um Erkenntnis zu generieren. Der vorliegende Artikel ist in Form eines Theaterstücks (Drehbuch) in 6 Akten geschrieben, in dem eine Gruppe von Wissenschaftler/innen und Berater/innen dialogisch versucht, ein gemeinsames theoretisches Verständnis unterschiedlicher gestalterischer Ansätze zu entwickeln und diese im Folgenden experimentell auf einen Praxisfall aus der Beratung zu übertragen. Am Ende reflektiert die Gruppe den Erkenntnisgewinn der eingesetzten Methoden. Die Autorinnen konstatieren, dass traditionell rationalistische Methodenansätze nur schwerlich in der Lage sind, zugrunde liegende – häufig unbewusste – Motive, Bedeutungen und Emotionen von sozialen Situationen zu explizieren. Gestalterische Methoden können dagegen Bedeutung und Verständnis jenseits von Kognition und Ratio zu entfalten helfen. Insbesondere ermöglichen kreative Zugänge, wie das Malen von Bildern, Metaphern, Rollenspiele oder Märchen, das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven auf soziale Situationen und generieren damit ein Verständnis auf einem höheren Niveau. Das Drehbuch endet mit praktischen Implikationen für die Aktionsforschung im Rahmen der Unternehmensberatung und -entwicklung.
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 1143-1156
In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit dem Einsatz qualitativer Verfahren im Rahmen von Untersuchungen zu Reproduktions- und Sexualpraktiken. In der südafrikanischen demografischen Forschung kommen derzeit vor allem Survey-Verfahren zum Einsatz, die ihren Status als Quelle "reliabler" und "wissenschaftlicher" Daten etabliert haben. Der Drang in der Nach-Apartheid-Gesellschaft, möglichst viele verlässliche Daten für politische und Planungszwecke zu generieren, hat wenig Raum gelassen für die Diskussion "weicher", qualitativer Verfahren. Zwar spielen auch qualitative Verfahren im Forschungsalltag eine Rolle, aber nicht als Alternative zu den Groß-Erhebungen in der demografischen Forschung, die sich mit weiblicher Fertilität beschäftigt, sondern um die subjektive Bedeutung des Zusammenhangs zwischen AIDS und Fertilität nachzuvollziehen, weil Südafrika mit hohen Mortalitätsraten im Kontext AIDS zu kämpfen hat; es fehlen aber "echte" und exklusive qualitative Designs. In diesem Zusammenhang wird in dem vorliegenden Beitrag eine Langzeit-Feldstudie reflektiert und es werden alternative und "mixed method"-Ansätze diskutiert, die helfen können, die unterschiedlichen persönlichen, sozialen und kulturellen weiblichen Existenzweisen in der südafrikanischen Übergangsgesellschaft zu beleuchten.
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 1183-1197
"In seinem Beitrag argumentiert der Verfasser sowohl grundlagentheoretisch als auch inhaltlich. Der Kern der grundlagentheoretischen Argumentation besteht darin, dass sich mit dem vorhandenen soziologischen Denkinstrumentarium in Gestalt der Situationsanalyse eine Gegenposition zum Konstruktivismus beschreiben lässt, die die menschliche Natur einbezieht und gleichzeitig dem historisch und kulturell variablen soziologischen Gegenstand gerecht werden. Mit Hilfe des grundlegenden soziologischen Konzepts der Situation und ihrer Definition lassen sich äußere (u.a. Institutionen und kulturelle Symbolwelt) und innere Bedingungen (u.a. biologische Anlagen) der menschlichen Existenz miteinander verknüpfen. Durch Sozialisationsprozesse werden biologische Anlagen - vermittelt durch die 'Genotyp-Umwelt-Korrelation' - verstärkt oder auch abgeschwächt. Im Laufe der Biografie entwickeln sich so biosoziale Dispositionen, die sich in kulturell definierten (typischen) Situationen handlungswirksam manifestieren oder diese auch ändern können. Unter Verwendung der entwickelten Gegenposition vertritt er die inhaltliche These, dass im Verlauf der aktuellen innengerichteten Modernisierung bestimmte Aspekte des menschlichen Genoms (Glücksstreben, Vorlieben und Talente) soziokulturell an Bedeutung gewinnen und sich verstärkt in sozialen Strukturen niederschlagen. Besonders relevant ist das evolutionspsychologisch begründbare Streben nach Wohlbefinden und Glück, das unter den Bedingungen enorm gesteigerter materieller und sozialer Handlungsspielräume zum unmittelbaren Impulsgeber sozialer Strukturbildung wird. Neben dieser allen Menschen gemeinsamen Anlage treten auch interindividuelle Unterschiede des Genoms (Vorlieben und Talente) im Laufe der innengerichteten Modernisierung sozialstrukturell stärker hervor. Bei den genannten Prozessen hat man es mit einer globalen Entwicklung zu tun, die sich unabhängig von der 'westlichen' Kultur vollzieht." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 5371-5379
"Wenn Grundbegriffe solche Begriffe sind, die 'ganze Gegenstandsgebiete im allgemeinen vor uns bringen' wie 'die Natur, die Geschichte, der Staat, das Recht, der Mensch' (Heidegger), erscheint es der Mühe wert und vielversprechend, die Grundbegriffe, die das Gegenstandsgebiet der Soziologie 'vor uns bringen', im Ausgang von der Heideggerschen Daseinsanalytik zu erschließen. Zu diesem Zweck ist am Leitfaden eines existenzialen Begriffs von Soziologie zu klären, wie - über welche Schritte der Selbstauslegung des Daseins also - das Mitsein in seinen vielfältigen Vollzugs- und Erscheinungsformen zum Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Theorie zu werden vermag. Zur Vorbereitung und zur Erhellung dieser spezifischen Voraussetzungen und der Zielrichtung solcher Analysen ist es hilfreich, Heideggers Weg von einer transzendentalen Wertphilosophie Rickertscher Prägung über die Phänomenologie Husserls zur Hermeneutik der Faktizität und zur Daseinsanalytik nachzuzeichnen. Eine implizite Aufnahme phänomenologischer Elemente glaubte Heidegger schon bei Rickert selbst, und zwar unter dem Einfluss des von ihm und Rickert gleichermaßen geschätzten Emil Lask, bemerken zu können. Und eine vergleichbare phänomenologische Wendung kennzeichnet, in einer bisher zu wenig beachteten Weise, auch die Wissenschaftslehre Max Webers. In dem Maße, in dem der Übergang Heideggers zur Daseinsanalytik überzeugt, müsste es auch überzeugend oder doch wenigstens naheliegend erscheinen, die Webersche Soziologie aus dieser Perspektive in den Blick zu nehmen. Es gibt Grund, eine besondere Affinität anzunehmen zwischen der Daseinsanalytik Heideggers und der Art und Weise, wie Weber die Soziologie aufgefasst und auf die Bahn gebracht hat. Diese Affinität erklärt sich vornehmlich daraus, dass beide Denker von einer ähnlichen geschichtlichen Erfahrung bestimmt sind, was die Aporien der modernen Kultur und Zivilisation und die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Weltanschauung angeht. Es gibt vielerlei Hinweise darauf, dass Heidegger in dieser Hinsicht nicht nur mittelbar von Max Weber - wie auch von Georg Simmel - inspiriert worden ist." (Autorenreferat)
Der Schwerpunkt der Argumentation liegt auf der These, dass soziologischen Erklärungen eine Notwendigkeit innewohnt, auf Computersimulationen zurückzugreifen. Vor diesem Hintergrund setzen sich die Verfasser mit den Dimensionen des soziologischen Erklärungsmodells auseinander und sehen als sein Kernelement die Identifizierung der relevanten sozialen Mechanismen, die Entschlüsselung des Prozesses von den verursachenden Bedingungen zum Explanandum, der sozialen Aggregation. Das mechanistische Erklärungsprogramm wird dabei als optimaler Ausgangspunkt für die Übertragung soziologischer Theorien auf Computersimulationen identifiziert. Vor allem die Nicht-Vorhersehbarkeit des Zusammenwirkens verschiedener Kausalfaktoren in komplexen sozialen Mechanismen macht es den Autoren nach notwendig, auf sozionische Simulationsexperimente zurückzugreifen. Zum Schluss wird ein solches Experiment vorgestellt und mit seinen Ergebnissen präsentiert. (ICG2)
Obwohl die Notwendigkeit eines reflexiven Ansatzes in der qualitativen Forschung weithin anerkannt wird, ist das Wissen über Möglichkeiten der Umsetzung im Forschungsprozess vergleichsweise unentwickelt. Bei der Untersuchung von Gesundheitsüberzeugungen von Laien sind die Forschenden selbst mit involviert, und insoweit ist die traditionelle Unterscheidung zwischen "Laien" und "Experten" teilweise hinfällig. In unserem Beitrag beschäftigen wir uns mit einigen theoretischen und praktischen Konsequenzen, die aus dieser Beobachtung erwachsen, am Beispiel einer empirischen Untersuchung, in deren Rahmen der Erstautor gesunde Personen über eine Vielzahl an gesundheitsbezogenen Themen befragte. Zur Unterstützung eines reflektierten Umgangs mit diesem Material wurde der Erstautor von der Zweitautorin entlang des in der Studie verwendeten Leitfadens interviewt; auch dieses Interview wurde wie alle anderen transkribiert und ausgewertet. Wir diskutieren Vorteile und Probleme, die mit diesem Vorgehen verbunden waren. Obwohl wir wissen, dass "Rezepte" zum Umgang mit Reflexivität im qualitativen Forschungsprozess problematisch sind, plädieren wir gleichwohl dafür, solche Strategien systematisch in den Forschungsprozess einzubinden, damit dieser transparent und sensitiv hinsichtlich spezifischer Forschungsinteressen bleibt.