In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4597-4610
"Soziologie wird, je nach Autor, definiert als Wissenschaft vom sozialen Handeln, sozialen Systemen oder auch (sozialer) Kommunikation. In der 'alten' soziologischen Systemtheorie (e.g. Marx, Parsons) werden soziale Systeme tendenziell als Strukturen aufgefasst. Mit Luhmanns problemfunktionalistischer Wende wird jedoch das Konzept sozialer Systeme radikal dynamisiert. Prozess und Dynamik treten klar in den Vordergrund. Dabei erlauben die systemtheoretischen Konzepte der Systemhierarchie und Emergenz eine schlüssige Integration des Soziologischen mit den anderen (naturwissenschaftlichen) Disziplinen. Dies in den Dimensionen des Objektbereichs und der Wissenschaft und Wissenschaftstheorie selbst. Damit wird die Konzeption einer konsistenten und durchgängigen theoretischen Struktur von den binären Bits der Informatik und IT bis hin zur Komplexität hochkontingenter sozialer und kultureller Systeme möglich. Soziokybernetik öffnet so den Weg für eine Soziologie als 'Science of (social) complexity'. Die der Systemwissenschaft inhärente Interdisziplinarität legt es nahe, eine solche Konzeption in die philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen hinein zu verlängern. Dazu liefert der einem großen Teil der neueren Systemwissenschaft zugrunde liegende erkenntnistheoretische Konstruktivismus (von Foerster, von Glasersfeld, Kjellman) das konzeptuelle Instrumentarium. Spencer-Brown mit seiner Grundlegung der Mathematik in den 'Laws of Form' steuert ein zuvor fehlendes zentrales Bindeglied zwischen Mathematik, Erkenntnistheorie und letztlich auch den anderen Wissenschaften bei. Auf den Grundlagen eines phänomenologisch inspirierten erkenntnistheoretischen Konstruktivismus verschwinden zwar die Unterschiede zwischen Gesellschaft und Natur oder Geistes- und Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften nicht, sie verlieren aber ihren ontologisch-grundsätzlichen Charakter und werden zu Systemgrenzen im Rahmen eines übergreifenden Kontexts, der sich als Einheit der Wissenschaft konzipieren lässt. Die Systemgrenze, ein Kernkonzept der Systemtheorie, kann sowohl geschlossen wie auch offen sein, auch die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft. Diese wird zwar immer weiter hinausgeschoben durch gesellschaftsinterne Problemlösungen und somit geschlossener (Gesellschaft wird autonomer), sie wird jedoch durch immer massivere Eingriffe in die Natur auch immer offener (Gesellschaft wird verletzlicher). Soziokybernetisch ist das nicht verwunderlich, da Gesellschaft in das von ihr aus nicht steuerbare globale Ökosystem integriert ist. Der Beitrag konzentriert sich auf Information als zentrales Konzept zum Verständnis der Komplexitätsbeziehung Gesellschaft-Natur, der Nichtsteuerbarkeit des globalen Ökosystems und der begrenzten Steuerbarkeit sozialer Systeme auch in der Informationsgesellschaft." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 3114-3122
"Die Etablierung der Soziologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin verdankt sich nicht zuletzt der Entwicklung von Theorien sozialen Handelns, die das Individuum in den Mittelpunkt rücken, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären. Nicht nur die Soziologie, sondern auch die Handlungstheorie beruht auf Grundideen der Aufklärung und ist damit letztlich ein Produkt der Moderne. Die Vorstellung eines Individuums, das als freier und eigenverantwortlicher Handlungsträger losgelöst von Tradition und Gemeinschaft rational kalkulierend agiert, wäre für vormoderne Zeiten ebenso undenkbar, wie die Idee der gestaltenden Handlungsfähigkeit der selbstbestimmt koordinierten Individuen. Bei aller Kritik die dem homo oeconomicus und dem demokratisch gelenkten Staat immer wieder entgegengebracht wurde, ist doch beides zumindest als Idealtypus nicht aus der Geschichte der Neuzeit wegzudenken. Dass nun beides zugleich - sowohl der Glaube an die 'Trägerschaft' der Handelnden als auch jener an die selbstbestimmte Gestaltungsfähigkeit der Demokratie - schwindet, dürfte kein Zufall sein. Die industrielle Revolution war ebenso wie das gesamte Industriezeitalter von der kollektiven Erfahrung getragen, dass rationales, intentionales, individuelles Handeln wie auch absichtsvoll koordiniertes im Staat es vermag, die Welt zu verändern. Heute schwindet dieses moderne Selbstverständnis mehr und mehr dahin. Der individuelle Lebensweg hängt, so hat man den Eindruck, eher von verschiedensten Zufällen als von den intendierten Handlungen des Einzelnen ab. Die Entwicklung des Staates wirkt mehr von den unentrinnbaren Folgen der Globalisierung gelenkt als vom Volk selbstbestimmt. Das eigene ebenso wie das Schicksal der Gesellschaft scheint sich unabhängig von den Handelnden gemacht zu haben. Damit verlässt man aber die Gedankenwelt der aufgeklärten Moderne, die auf der Überzeugung von der Gestaltbarkeit der Welt durch das handelnde Individuum gründet. Wenn sich nun einerseits so manche Soziologen von der Handlungstheorie abwenden, und andererseits andere zwar an ihr festhalten, aber sie in einem Maße modifizieren, dass sich geradezu eine 'De-Individualisierung' der Handlungsträgerschaft ergibt, dann bildet der Wandel der Sozialtheorie den Spiegel einer 'konjunktiven Erfahrung', wie sie für Mannheim im Mittelpunkt des sozialen Lebens und Denkens steht." (Autorenreferat)
"Die moderne Biologie, speziell Genetik und Neurobiologie, scheinen die handlungstheoretische Basis der Soziologie in Frage zu stellen. Widerlegen ihre neuesten Ergebnisse tatsächlich Axiome, deren Fortfall das soziologische Theoriegebäude einstürzen ließe? Diese Axiome beziehen sich auf unser Menschenbild. Diesem Menschenbild zufolge hat der im Prozess primärer und sekundärer Sozialisation geprägte Akteur sozial-kulturell geformte Präferenzen, die sein Handeln leiten, er ist offen für seine Umwelt und reproduziert in seinem Handeln kulturell vorgegebene Muster. Die moderne Genetik scheint das Verhältnis zwischen Natur und Umwelt, nature and nurture in der Bestimmung des menschlichen Handelns zugunsten der Natur zu verschieben. Bei genauerer Betrachtung bestätigt sich jedoch, dass der handelnde Mensch, der Mensch der Soziologie ganz überwiegend ein Produkt der Sozialisation in eine historisch geformte Gesellschaft hinein ist. Die Genetik definiert lediglich die äußerste Grenze sozio-kultureller Formbarkeit. Die Hirnforschung stellt den autonomen Akteur in Frage und macht Bewusstsein zum Epiphänomen organisch-neurologischer Prozesse. Für die Soziologie ist der freie Wille jedoch niemals notwendiges handlungstheoretisches Axiom gewesen. Für Vilfredo Pareto wird menschliches Handeln sogar ausdrücklich von unbeobachtbaren bio-psychischen Zuständen angetrieben. Nicht ob Menschen bewusst handeln, sondern nach welchen - bewussten oder unbewussten - Regeln sie es tun, ist soziologisch relevant. Dabei hat die Hirnforschung selbst festgestellt, dass die ins erwachsene Gehirn einprogrammierten Reaktionstendenzen nicht genetisch determiniert sind, sondern in Interaktion mit der Umwelt 'gelernt' oder zumindest verstärkt oder gehemmt werden. Die nachgewiesene Plastizität des Gehirns bannt die Gefahr des neurologischen Determinismus, und auch inhaltlich stellen die neu entdeckten, neurophysiologisch verankerten Reaktionstendenzen die von Soziologen benutzte Handlungstheorie nicht in Frage. Die Soziologie braucht und benutzt lediglich ein stilisiertes Modell des Menschen: Der homo sociologicus ist ein höchst selektives Konstrukt. Das intellektuelle Schattenboxen mit der modernen Biologie fördert keinen Widerspruch zu fundamentalen soziologischen Axiomen zutage." (Autorenreferat)
Dieser Beitrag befasst sich mit der Spannung zwischen der dualistischen Tradition unseres Kulturkreises (WERTHEIM, 1999) einerseits und neueren Ansätzen, die die Konstruktion und Genese von Wissen als leibgebundenes Handeln innerhalb biologischer und ökologischer Systeme nachzuvollziehen versuchen andererseits (z.B. DAMASIO, 1994; LEAR, 1998; LEMKE, 1995; MATURANA & VARELA, 1992). Dabei werden auch Implikationen eines biosozialen Modells für Forschungsmethodologie und für akademisches Schreiben diskutiert. Ausgangspunkt hierfür war die in meiner Doktorarbeit festgehaltene Erfahrung, welche Rolle der Leibgebundenheit bei der Konstruktion von Wissen zugekommen ist, eine Erfahrung, die zunächst bewusst kaum greifbar schien. Dies wohl auch, weil von solchen Arbeiten nach wie vor erwartet wird, dass sie dem Mythos folgen, Wissen und Lernen resultierten beinahe ausschließlich aus abstrakten und logischen Prozessen, aus einem körperlosen Geist.
"In the first part of this paper, Blossfeld discusses some of the historical reasons why the explosion of rational choice scholarship in the social sciences has had surprisingly little influence on macro-sociological data analysis. In the second part, he shows that any theoretically powerful sociological analysis of a macro-sociological problem must pay attention to both structural- and micro-Ievel issues but not in the usual static way. Any macro-micro framework must recognize that time is significant in this relationship. It must identify the particular historical structures and processes that dominate the changes occurring in a given population, and it must specify the causal mechanisms that allow us to trace the encounters of intentionally acting individuals with the flow of history as a series of choice processes."
Der Beitrag beschreibt drei hermeneutische Ansätze in der empirischen Sozialforschung und diskutiert deren Potenzial für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung: (1) Der psychoanalytische Ansatz leitet seine Grundsätze aus der Frankfurter Schule (J. Habermas, A. Lorenzer) und der Annahme von möglichen "Sprachdeformationen" ab: An der Deutung einer Äußerung, eines Textes usw. wird derjenige, der sie als Untersuchungsperson gegeben hat, beteiligt (deshalb auch dialogischer Ansatz). Die Grundbedingung für das Gelingen solcher Dialoge besteht in einer kontrafaktisch geltenden "idealen Sprechsituation" (im Sinne von Habermas), die gegenseitiges argumentatives Überzeugen ermöglicht. (2) Unter der Bezeichnung objektive Hermeneutik (auch: genetischer Strukturalismus oder strukturale Hermeneutik) entwickelt U. Oevermann in den 1970er Jahren ein Verfahren der Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen alltäglichen Handelns mit Hilfe hermeneutischer Textinterpretation. Ausgangspunkt ist die Vertextung einer symbolisch vermittelten Interaktion in Gestalt eines schriftlichen Interaktionsprotokolls. (3) Die hermeneutisch orientierte Wissenssoziologie basiert auf der Annahme eine reflexiven Zusammenhangs zwischen Wissen und Sozialstruktur, der nur in einem "hermeneutischen Zirkel" aufzuklären ist. Diese iterative Annäherung an den Sinn von Begriff und Text, von Teil und Ganzem bedeutet: Das Teil kann nur mit Hilfe einer hypothetischen Annahme über die Bedeutung des Ganzen verstanden werden, das Ganze nur aus der Bedeutung seiner Teile heraus, wobei auch das Ganze wiederum als Teil eines größeren Ganzen gesehen wird, so dass sich dieser Prozess auf der nächsthöheren Ebene wiederholt. (ICA)
In dem Beitrag wird untersucht, welche sozialen Bedingungen die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit im Laufe individueller Biographien, besonders im Jugend- und Erwachsenenalter, fördern. Im Mittelpunkt stehen die sozialen Bedingungen der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit, moralische Kognitionen und biographische Prozesse. Vorliegende Ansätze dazu werden skizziert: Durkheim, Piaget, Kohlberg, Hoffmann, Garbarino und Bronfenbrenner. Aus diesen Konzeptionen wird eine Liste sozialer Entwicklungsbedingungen moralkognitiver Urteilsfähigkeit zusammengestellt, um auf dieser Grundlage eine systematische Rekonstruktion des Bedingungsgefüges und einer interaktionistischen Begründung der einzelnen Bedingungen und ihres Zusammenhangs vorzunehmen. Die fallanalytische Überprüfung der Methoden und Hypothesen wird beschrieben. Abschließend wird ein Ausblick auf weitere Forschungsaufgaben gegeben. (RW)
This dissertation consists of five studies on dynamic micro founded macroeconomics. Micro founded macroeconomics is a flexible paradigm. It can be enriched by micro data, assess drivers of economic fluctuations, and is particularly suited for policy analysis. The studies contained in this dissertation contribute to all of these aspects. Chapter 1 outlines the contribution to contemporary scholarship and connects the five studies through their shared scientific paradigm. Chapter 2 provides a novel experimental design that allows to test preferences of people over the temporal resolution of consumption uncertainty. Our experimental design does not require any structural assumptions and measures these attitudes directly in a model-free way. Preferences regarding the temporal structure of uncertainty play a key role in recursive utility models. They constitute a central ingredient in macrofinancial studies and beyond. In a laboratory experiment, we find that, on average, subjects only weakly prefer an early resolution of uncertainty. Surprisingly, recursive utility has no predictive power in explaining preferences over the temporal resolution of consumption uncertainty. The remaining chapters apply dynamic micro founded models to macroeconomic research questions, which are at the center of contemporary discussions. Chapter 3 explores the effects of technological advances in automation technology on growth and inequality. For this purpose, the study builds a novel macroeconomic model with household (skill) heterogeneity, in which automation capital serves as a production input. The model suggests that automation amplifies aggregate growth but generates substantial inequality when skillshares are fixed. Endogenous education choice reduces rising inequality via general equilibrium effects. The chapter discusses potential policy responses in the form of taxes on machines, corporate income taxation, and education subsidies. Chapter 4 asks what drives protracted low inflation in the post-crisis euro area. The estimation of a non-linear dynamic stochastic general equilibrium (DSGE) model of the global economy finds that weak domestic demand, in combination with the zero lower bound, explains a large share of the inflation slowdown. Labor market developments have put additional downward pressure on prices. However, a DSGE model, which focuses on domestic shocks, cannot tell the whole story: External price developments, related to substantial swings in commodity prices and declining euro area (EA) import prices, play a significant role in the post-crisis inflation process. Chapter 5 estimates a multi-region DSGE model to study the fiscal policy implications of downward nominal wage rigidity (DNWR) for an individual country in a currency union. Non-linear methods explicitly account for an endogenous occasionally binding DNWR constraint and the state-dependence of policy. We show that a cut in social security contributions (SSC) paid by employers is particularly effective under DNWR: While the impact multiplier of government expenditure is larger, the SSC reduction entails more persistent growth effects. Moreover, the adjustment of the economy to an SSC reduction is more tax rich, which makes this policy attractive for countries during an economic crisis with limited fiscal space. The US macroeconomic experience of the last decade stressed the importance of jointly studying the growth and business cycle fluctuations behavior of the economy. To analyze this issue, Chapter 6 embeds a model of Schumpeterian growth into a medium-scale DSGE model. Results from a Bayesian estimation suggest that fluctuations in investment risk premia are key drivers of the slump following the Great Recession. Demand shocks are relevant to the evolution of technology, and endogenous growth amplifies financial crises. However, the model estimation challenges the common claim that the slump is a pure demand-side phenomenon. We identify adverse supply-side factors such as a decline of the innovative capacity and frontier technology well before the financial turmoil. ; Die vorliegende Dissertation besteht aus fünf Aufsätzen zu dynamischer mikrofundierter Makroökonomie. Mikrofundierte Makroökonomie ist ein flexibles wissenschaftliches Paradigma. Die Offenheit und Transparenz erlauben es, Mikrodaten sinnvoll zu integrieren, Ursachen von Konjunkturschwankungen zu untersuchen und machen mikrofundierte Makroökonomie besonders geeignet für wirtschaftspolitische Analyse. Diese Dissertation liefert Beiträge zu all diesen Aspekten. Das erste Kapitel legt die Beiträge der einzelnen Studien zur gegenwärtigen Forschung dar und verbindet sie anhand des gemeinsamen wissenschaftstheoretischen Paradigmas. Kapitel 2 entwickelt neue experimentelle Methoden, um Präferenzen hinsichtlich der zeitlichen Struktur von (Konsum-)Unsicherheit zu testen. Präferenzen hinsichtlich der zeitlichen Struktur von Unsicherheit sind ein zentrales Element rekursiver Nutzenmodelle und wichtiger Bestandteil in der makrofinanziellen Theoriebildung und darüber hinaus. Die vorgeschlagene experimentelle Methode hat den Vorteil, nicht an ein bestimmtes parametrisches Modell gebunden zu sein. Unsere Resultate zeigen, dass die meisten Teilnehmer nur schwach ausgeprägte Präferenzen hinsichtlich der zeitlichen Auflösung von Konsumunsicherheit haben. Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass das rekursive Nutzenmodell keine Erklärungskraft bezüglich dieser Präferenzen hat. Die weiteren Kapitel wenden dynamische mikrofundierte Modelle zur Analyse von makroökonomischen Fragestellungen an. Kapitel 3 analysiert die Wachstums- und Verteilungseffekte von fortschreitender Automatisierung des Produktionsprozesses. Zu diesem Zweck entwickelt Kapitel 3 ein neues dynamisches Gleichgewichtsmodell mit Haushalts- und Ausbildungsheterogenität, in dem Automatisierungskapital ein Produktionsfaktor ist. In dem Modell generiert Automatisierung Wachstum. Durch die unterschiedliche Interaktion mit verschiedenen Formen von Arbeit (Routine- versus Nicht-Routine-Tätigkeiten) führt Automatisierung auch zu einem Anstieg von Einkommens- und Konsumungleichheit, insbesondere solange die Ausbildungsniveaus der Haushalte konstant bleiben. Endogene Bildungsentscheidungen verringern den Anstieg von Ungleichheit durch starke gesamtwirtschaftliche Rückkopplungseffekte. Das Kapitel betrachtet Steuern auf Automatisierungstechnologie, Besteuerung von Kapitaleinkommen und Bildungssubventionen als potentielle Politikmaßnahmen. In diesem Zusammenhang werden potentielle Wohlfahrtsgewinne und -verluste aus dynamischer Perspektive analysiert. Kapitel 4 untersucht Faktoren, die zur gegenwärtigen langen Niedriginflationsphase in der Eurozone geführt haben. Die Schätzung eines nicht-linearen dynamischen stochastischen allgemeinen Gleichgewichtsmodells (dynamic stochastic general equilibrium, DSGE) der globalen Wirtschaft zeigt, dass die Nullzinsuntergrenze in Kombination mit Nachfrageschocks einen Großteil des Inflationsrückgangs erklären kann. Laut der Schätzung haben angebotsseitige Entwicklungen im Arbeitsmarkt (Lohnzurückhaltung) zusätzlichen negativen Preisdruck verursacht. Preisentwicklungen außerhalb der Eurozone, insbesondere Rohstoffpreisschwankungen und ein Rückgang der Exportpreise im Rest der Welt, spielen eine wichtige Rolle. Kapitel 5 analysiert fiskalpolitische Implikationen von abwärtsgerichteten Nominallohnrigiditäten (ANLR) für Länder in einer Währungsunion. Nichtlineare Lösungsmethoden und Schätzverfahren berücksichtigen, dass Löhne stärker auf gute als auf schlechte gesamtwirtschaftliche Entwicklungen reagieren. Diese Asymmetrie führt zu Zustandsabhängigkeit von Fiskalpolitik, d.h. die makroökonomischen Effekte fiskalischer Maßnahmen unterscheiden sich je nach Konjunkturphase. Die Analyse zeigt, dass eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge (SVB) auf Arbeitgeberseite im Falle einer schweren Rezession und ANLR besonders effektiv ist. Diese Politikmaßnahme erzeugt langlebigere Wachstumseffekte als Staatsausgabenerhöhungen, auch wenn letztere einen größeren Multiplikatoreffekt in der kurzen Frist aufweisen. Darüber hinaus führt die Senkung der SVB zu einer Expansion der Steuerbasis und höheren Steuereinnahmen. Eine Senkung der SVB ist daher eine sinnvolle Maßnahme zur Stabilisierung des Konjunkturzyklus für Länder mit geringem fiskalischen Spielraum. Angesichts der langanhaltenden Niedrigwachstumsphase nach der Finanzkrise analysiert Kapitel 6 Perspektiven auf Wachstum und Konjunktur. Um die komplizierten Zusammenhänge abwägen zu können, konstruiert Kapitel 6 ein neues makroökonomisches Modell, das neben Finanzkrisen und Konjunkturzyklen auch die Entwicklung von Produktivität und Technologie abbildet. Zu diesem Zweck integriert die Studie ein schumpeterianisches Wachstumsmodell in ein neukeynesianisches Konjunkturzyklusmodell. Ergebnisse einer bayesianischen Schätzung zeigen, dass Risikoprämien für Investitionen eine wichtige Ursache der Wachstumsflaute sind. Die Nachfrageschwäche beeinflusst Forschungs- und Entwicklungsausgaben und damit den technischen Fortschritt. Zugleich verstärkt endogenes Wachstum die Effekte von Finanzkrisen. Nichtsdestotrotz bestreitet die Modellschätzung, dass die Niedrigwachstumsphase ein reines Nachfragephänomen ist. Angebotsseitige Entwicklungen wie abnehmende Innovationsdynamik und Rückgang des spitzentechnologischen Fortschritts traten bereits vor der Finanzkrise auf.
Die Verflechtung einer Vielzahl von AkteurInnen abseits von geplanten Prozessen bringt mitunter neuartige überraschende Strukturen hevor. Dadurch bilden sich ''wirkmächtige Arrangements von Dingen, Zeichen und Subjekten'' (S. 10), die durch Wiederholungen automatisiert werden und sich teilweise der Wahrnehmung entziehen. Diese Annahmen über Automatismen legen eine Auseinandersetzung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nahe, die im Mai 2010 in dem Workshop 'Strukturentstehung durch Verflechtung' des Paderborner Graduiertenkollegs 'Automatismen' unternommen wurde. Der daraus entstandene gleichnamige Sammelband setzt einen größeren Rahmen. In ihm werden Kompatibilitäten und gemeinsame Traditionslinien sozial- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen und der Akteur-Netzwerk-Theorie untersucht. In den Beiträgen zu so verschiedenen Themen wie der Atemwegserkrankung SARS, der Hamburger Schilleroper, New Orleans nach Kathrina, Quantenphysik oder der Fernsehserie 'Kunst und Krempel' (Bayrischer Rundfunk, 1985–2012) wird auf das Motiv der 'Strukturentstehung durch Verflechtung' Bezug genommen. Dies geschieht im ersten Teil des Bandes durch die Rekonstruktion von Verflechtungen unerwarteter Handlungsquellen in sich neu etablierenden Netzwerken. Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes stellen Fragen nach Machtrelationen innerhalb nicht intendierter Strukturen und reflektieren Macht als temporär stabilisierenden Effekt. Im dritten Teil finden sich Abhandlungen zu Kritik, Korrekturen und Akzentverschiebungen der ANT. Die einzelnen Beiträge bieten dabei einen guten Einblick, wie mit Modellen und Elementen der ANT in der Medien- und Kulturwissenschaft umgangen wird, welche Thesen, Vorgehensweisen, Begriffe und Motive aufgegriffen werden, wie sich diese an Gegenständen testen und weiterentwickeln lassen und wo Lücken und Schwachstellen liegen. Dem Band vorangestellt ist ein Artikel von John Law, der die Entstehungsgeschichte(n) der ANT von den wissenschafts- und organisationstheoretischen Studien über eine erste Formierung der ANT in den 1990er-Jahren bis zur Kritik und Diaspora nach 2000 nachzeichnet (S. 21). Besonders hilfreich ist ein Überblick über die Schwerpunkte, Begriffe und Werkzeuge der ANT in den jeweiligen Phasen. Eine der Geschichten von John Law beginnt mit den mittlerweile berühmten Studien von Michel Callon und Bruno Latour. Diese und Latours Äußerungen zu Kunst nimmt Renate Wieser als Ausgangspunkt. Die moderne sozial- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Naturwissenschaft, die nach Latour entweder eine sozialkonstruktivistische Haltung einnimmt oder ihr unreflektiert affirmativ begegnet, trifft auch auf Bereiche der Kunst zu. In den beiden von Wieser besprochenen Beispielen, Installationen und Skizzen von Duyckaert und Dittmer, in denen Laborsituationen adaptiert werden, vermischen sich Fakt und Fiktion und werden die Grenzziehungen zwischen naturwissenschaftlicher und kultureller Handlungsmacht in Frage gestellt. Den (post-)modernen Laboren der Quantenphysik stellt Julian Rohrhuber Aspekte der klassischen wissenschaftssoziologischen Studien der ANT gegenüber. In Bruno Latours Studien werden konkrete Übersetzungsschritte verfolgt: Operationsketten, die von einem unübersichtlichen materiellen Ausgangspunkt zu anschaulichen formalen Rückschlüssen verlaufen. In der theoretischen Physik hingegen wird mit Variablen gearbeitet, die Verkettungen von Ungeklärtem erlaubt. Der übersichtlichste Punkt des Forschungsprozesses ist hier der epistemische Pol, unanschaulich sind die vorläufigen formale Enden des Prozesses. Rohrhubers Versuch den formalen AkteurInnen zu folgen zeigt, dass das Abstrakte im Forschungsprozess der modernen Physik mit zirkuliert. Dass die Prämisse, 'den AkteurInnen zu folgen' die Gefahr einer Blindheit gegenüber AkteurInnen mit eingeschränktem Handlungsspielraum birgt, betont Katharina Holas in ihrem Beitrag zu feministischen Akzentverschiebungen und Kritik an der ANT. Indem häufig große Technikprojekte und Fragen zu Konzeption und Design im Zentrum stehen, bleiben Exklusionsmechanismen intransparent und Dichotomien, etwa die zwischen Planung und Nutzung, bestehen. Mit Verweis auf das Konzept der Multiplizität von Annemarie Mol und Arbeiten von Donna Haraway und Susan Leigh Star lenkt Holas die Aufmerksamkeit auf Unsichtbarkeiten, unintendierte Handlungsabfolgen und bestehende Hierarchien. Zwei Filme über die urbane Sportart 'Parkour' und die Frage wie Atmosphären inszeniert werden, sind der Ausgangspunkt für die Studie von Christoph Michels. Der Beitrag zeigt auf, dass durch die Alltagspraxis 'Parkour' Körper und Orte inszeniert und zugleich in räumliche, soziale und narrative Ordnungslogiken, eingebunden werden. Dies geschieht beispielsweise durch den Gebrauch von SuperheldInnen- oder Tiermetaphern, die als Anleitung für neue Bewegungsabläufe und für ein neues Verhältnis zu den Orten und Gegenständen dienen. Michels beschreibt dies als gegenseitige Übersetzungsprozesse. Ein Element der ANT, das in mehreren Beiträgen aufgegriffen wird, ist der von Bruno Latour geprägte Begriff der 'immutable mobiles'. Er umfasst Techniken wie die Kartografie und Verfahren wie Statistik und bezeichnet die Eigenschaft der Formkonstanz bei gleichzeitiger Mobilität. Nach Bruno Latour machen die 'immutable mobiles' die Überlegenheit westlicher Institutionen aus und haben Anteil an der modernen Reinigungs- und Ausdifferenzierungsarbeit, die Latour in seinem Buch Wir sind nie modern gewesen ausgiebig untersucht und kritisiert hat. Im Prozess des Wiederaufbaus nach dem Hurrikan 'Kathrina', den Anne Dölemeyer in ihrem Beitrag untersucht, zeigt die Autorin wie Daten, Texte und Karten als Verbündete mobilisiert werden. Durch diese Verbündeten wird Wissen sichtbar gemacht, abgeglichen und kombiniert. So agieren die Grafiken und Karten als Machtinstrument, Knotenpunkt und Repräsentation und versammeln NutzerInnen, Vergangenheit und Zukunft in politischen Aushandlungsprozessen. Erhard Schüttpelz zeigt, dass ausgehend vom Postulat einer allgemeinen Symmetrie teleologische, sozial- und technikdeterministische Mediengeschichten und ''Medien-Ursachen-Setzungen'' (S. 244) fragwürdig werden. Dies lässt sich an Bruno Latours Kodak-Studie nachvollziehen: Gegliedert in interdeterministische Schritte können für jeden historischen Zeitpunkt Verflechtungen aus technischen, natürlichen, sozialen und diskursiven Ursachen festgestellt werden. Die medienhistorische Überprüfung der 'immutable mobiles', die Schüttpelz darauf folgend vornimmt, macht die Beteiligung der modernen Medien an den drei Wissensformationen von Natur, Gesellschaft und Diskurs deutlich. Der Hamburger Schilleroper, 1889 als Zirkusgebäude in Auftrag gegeben, über 100 Jahre vielfältig genutzt und seit 2007 leer stehend, widmet sich Anke Rees in ihrem Artikel. Sie versucht, die Widerspenstigkeit des Gebäudes mit Begriffen der ANT zu erklären. Rees beschreibt ein verflochtenes Netz an Baumaterialien, EigentümerInnen, Nutzungsvorstellungen, Nachbarschaften und Behörden mit teils widersprüchlichen Interessen, aber auch die Atmosphären als Verbündete des Gebäudes, die bis jetzt zu dessen Erhalt beigetragen haben. Auffällig häufig ist der Bezug zu Michel Foucault, der in vielen Artikeln im Sammelband hergestellt wird. Verwiesen wird in diesen Beiträgen sowohl auf die Kombinierbarkeit, aber auch auf die Differenzen zu Begriffen und Konzepten Foucaults. Auch der eingangs erwähnte Beitrag von John Law weist auf die Nähe zwischen der Akteur-Netzwerk-Theorie und Foucaults Denkmodellen hin. Er bezeichnet in einer seiner Geschichtsschreibungen die ANT als ''empirische Übersetzung des Poststrukturalismus'' (S. 29). Thomas Foth gelingt es, Foucaults Analyse von Dispositiven mit der ANT in seiner Untersuchung von PatientInnenakten im Nationalsozialismus zu verbinden. Er fasst die Akte als AkteurIn innerhalb der Souveränitäts- und Disziplinarmacht Psychiatrie auf. Kombiniert mit anderen 'inscription devices' wie Checklisten, Thermometern, Waagen und Tabellen sind Akten beteiligt am Erstellen von dokumentarischen Biografien, in denen die PatientInnen sich selbst als psychisch Kranke anerkennen sollen. Umgekehrt kann das Ausbleiben von Aktenaufzeichnungen den Subjektstatus bedrohen, wie Foth am Beispiel einer Akte zeigt. In seinem Artikel ''Strategien ohne Strategen'' (S. 173), setzt Theo Röhle Michel Foucaults Modell der Dispositive in Kontrast zur ANT, in dem er dem Problem der Intentionalität in einer relationalen Perspektive nachgeht. Während Foucault zwischen den Ebenen Strategie und Taktik unterscheidet, bemüht sich die ANT alle Verbindungen und Übersetzungen auf einer Ebene darzustellen. Um Relationen zu beschreiben, ohne auf vorgängige Intentionen zurückzugreifen, habe in der ANT die Sprache eine große Last zu tragen, so Röhle. So werden in sprachlichen Kippfiguren die AkteurInnen sowohl als Ausgangspunkt als auch als Resultat von Übersetzungsprozessen beschrieben. Metasprachliche Begriffe wie Handlungsprogramm oder AkteurIn sollen eine symmetrische Darstellung der Beteiligten ermöglichen. Auch Andrea Seier macht das Verhältnis zwischen Dispositiven und den Agenturen der ANT zum Thema ihres Beitrags und fragt dabei nach ihrer jeweils spezifischen Produktivität für die Medienwissenschaft. Einer der Unterschiede zwischen beiden Modellen liegt demnach in der Konzeption von Handlungsmacht. So lassen sich mit der Dispositivanalyse Rahmungen und Bedingungen untersuchen, die Handlungen anreizen, wahrscheinlich machen oder verunmöglichen. Mit der ANT geraten hingegen hybride Konstellationen aus Dingen, Apparaten und Menschen in den Blick, die in Handlungsketten aufgeschlüsselt werden können. Dass sich beide Modelle produktiv miteinander kombinieren lassen, zeigt Seier an dem Reality TV Format 'Kunst und Krempel' (Bayrischer Rundfunk, 1985–2012). Zwei der Herausgeber des Sammelbands, Tobias Conradi und Florian Muhle, gehen in ihrem Beitrag auf die Möglichkeit der Kritik in den konkreten Fallstudien der ANT und auf das gespannte Verhältnis von Bruno Latour zu anderen kritischen Theorien ein. Im Umgang mit diesen Theorien schreibt Latour fort, was er selbst anderen Theorien zum Vorwurf macht: die Aufrechterhaltung der modernen Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Reduktionismus und den Gestus der Entlarvung. Den teils polemischen Abgrenzungen Latours, die als Teil einer Wissenschaftsstrategie gelesen werden können, stellen Conradi und Muhle den reflexiveren Ansatz von John Law gegenüber. In vielen Beiträgen wird das Postulat einer allgemeinen Symmetrie aufgegriffen, eine Weiterentwicklung der wissenschaftstheoretischen Überlegungen von David Bloor bzw. Thomas Kuhn. Richtiges und falsches Wissen muss mit den gleichen Kategorien erklärt werden, damit nicht richtige Einsichten naturalisiert und Irrtümer auf soziale Größen zurückgeführt werden. Diese Vorgaben wurden in Michel Callons und Bruno Latours Konzeption von Aktanten und menschlichen und nicht-menschlichen AkteurInnen übernommen und radikalisiert. Dominique Rudin kritisiert an Bruno Latours politischen Entwürfen in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007) eine begriffliche Unschärfe zwischen dem Politischen und dem Sozialen und die Konzentration auf konsensorientierte, integrative Verfahren. Er sieht mögliche Verbindungen zwischen Jacques Rancières Prinzip der Gleichheit und der allgemeinen Symmetrie als Forschungsperspektive der ANT. Wenn AkteurInnen Gleichheit einfordern und dadurch bestehende Ordnungen in Frage stellen, wird die Symmetrie nicht nur von WissenschaftlerInnen, sondern auch von den AkteurInnen als Perspektive eingenommen. Durch diese Verschiebung lässt sich der Begriff des Politischen zur Analyse von existentiellen Konflikten, in denen neue Entitäten auftauchen und ihren Anteil einfordern, schärfen, so Rudin. Jahn-Hendrik Passoth versucht in seinem Beitrag die Denktraditionen der Praxistheorie und der ANT, die häufig als unvereinbar einander gegenübergestellt werden, zu verbinden. Er legt dar, dass der Fokus auf Multiplizität, Komplexität, Symmetrie, und Fragmentierung, den die ''postplurale ANT'' (S. 268) setzt, eine Stütze der praxäologischen Heuristik werden kann. Durch die Übernahme des Symmetrieprinzips in den Praxisbegriff kann Praxis als Zusammenspiel von Körpern und Artefakten analysiert werden, das weitere Praxis ermöglicht oder einschränkt. Die Verflechtungen von Viren, Zellen, Menschen, Tieren, Technologien und Verfahren und die Transformation etablierter Strukturen verfolgen Wiebke Pohler und Michel Schillmeier in ihrer ''Topologie von (Un)sicherheitsstrukturen'' (S. 51). Sie beschreiben die Atemwegserkrankung SARS, die 2003 die Gefahr einer Pandemie darstellte, als kosmo-politisches Ereignis, durch das Praktiken in Krankenhäusern, in der Wissenschaft und an Flughäfen verunsichert und neu konstituiert werden. SARS erscheint als hoch virulentes, komplexes Netzwerk, das tradierte Beobachtungs-, Erklärungs- und Interpretationsmuster und Routinen menschlichen Zusammenlebens radikal in Frage stellt. Der Einblick in laufende Debatten, Anwendungsbereiche und Weiterführungen der ANT ist eine Stärke des Sammelbandes. Es wird deutlich, dass die Akteur-Netzwerk-Theorie sich nicht nur der Herausforderung stellt, materiell und diskursiv heterogene Beziehungen in den Blick zu nehmen, sondern auch sehr unterschiedliche Forschungsbereiche zu Dialog und Widerspruch provoziert. Das Konzept der Automatismen kommt leider etwas zu kurz. Ein stärkerer Fokus darauf hätte dem Sammelband eine deutlichere Richtung geben können.
"In diesem Beitrag setzen wir uns mit der zukünftigen Positionierung der Ordnungsökonomik innerhalb der Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld zwischen positiver Analyse und normativer, auf wirtschaftspolitische Beratung zielender Disziplin auseinander. Im Sinne des normativen Individualismus bieten sich das Legitimationskriterium der individuellen Zustimmung oder die Steuerungsideale der Bürger- und Konsumentensouveränität als Grundlage für die moderne Ausrichtung der Ordnungsökonomik an. Ganz im Sinne des verfassungsökonomischen Forschungsansatzes von James Buchanan werden daher die Bürgerinteressen als Referenzkriterium herangezogen. Nach einem Überblick über den neueren Methodenstreit diskutieren wir jüngste Beiträge zur zukünftigen Ausrichtung der Ordnungsökonomik vor dem Hintergrund des verfassungsökonomischen Forschungsprogramms. In einem dritten Schritt stellen wir unsere Perspektive zur Weiterentwicklung des ordnungsökonomischen Forschungsansatzes dar." (Autorenreferat)
Zwar gibt es in der qualitativen Sozialforschung einen kleinen und aufschlussreichen Korpus an Literatur, demzufolge Transkriptionen sowohl Schlüsselmomente von Entscheiden als auch von Macht im Forschungsprozess sind. Zugleich scheinen aber viele Forschende Transkriptionen für relativ unproblematisch zu halten (oder sie verhalten sich zumindest so). Die Translationswissenschaft mit ihrem Fokus auf Sichtbarkeit, Macht, Authentizität und Exaktheit kann hier wichtige Denkanstöße bereitstellen für Forscher/innen, die sich kritisch mit der Praxis und Theorie des Transkribierens beschäftigen. In diesem Beitrag erläutere ich zunächst einige aus der Translationswissenschaft stammende Theorien von Gleichwertigkeit, offener und verdeckter Übersetzung, von "Zähmung", "Auswilderung" und von "Rückständen", und ich versuche dann, fruchtbare Verbindungslinien zwischen Übersetzung und Transkription aufzuzeigen. Die Verbindungslinien verweisen auf weiter gehende politische und kulturelle Implikationen von Transkription und akademischem Diskurs, auf die Komplexität von Gleichwertigkeit und auf die zentrale Rolle derer, die – je spezifisch situiert – transkribieren.
"In unserem Beitrag nehmen wir die aktuellen Bildungsproteste im Herbst und Winter 2009 und insbesondere die Rolle und die (Un)Möglichkeiten der Psychologischen Fakultät an der Wiener Universität darin zum Anlass, um in prinzipieller Weise über die Funktion von Kritik in unserer Disziplin nachzudenken. Sowohl in der Studierendenbewegung als auch in der psychologischen Forschungspraxis kommt Kritik als Praxis ein bedeutender Rang zu. Die Kluft zwischen diesen beiden Praxen könnte allerdings kaum größer sein. Wir vermuten, dass hierin einer der Gründe dafür zu suchen ist, dass sich die Mobilisierung für eine aktive Beteiligung an den Protesten unter PsychologInnen der Universität Wien so schwierig gestaltet hat. Wir schließen mit einigen Überlegungen, wie in der Psychologie in Wien Bedingungen und Möglichkeiten für Kritik geschaffen werden könnten." (Autorenreferat)
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, in welcher Weise gestalterische Methodenansätze in Forschung und Beratung genutzt werden können, um das Verständnis von sozialen Situationen zu vertiefen. Dabei gehen die Autorinnen davon aus, dass die hinter der "Gestalt" von Darstellungen liegende Bedeutung genutzt werden kann, um Erkenntnis zu generieren. Der vorliegende Artikel ist in Form eines Theaterstücks (Drehbuch) in 6 Akten geschrieben, in dem eine Gruppe von Wissenschaftler/innen und Berater/innen dialogisch versucht, ein gemeinsames theoretisches Verständnis unterschiedlicher gestalterischer Ansätze zu entwickeln und diese im Folgenden experimentell auf einen Praxisfall aus der Beratung zu übertragen. Am Ende reflektiert die Gruppe den Erkenntnisgewinn der eingesetzten Methoden. Die Autorinnen konstatieren, dass traditionell rationalistische Methodenansätze nur schwerlich in der Lage sind, zugrunde liegende – häufig unbewusste – Motive, Bedeutungen und Emotionen von sozialen Situationen zu explizieren. Gestalterische Methoden können dagegen Bedeutung und Verständnis jenseits von Kognition und Ratio zu entfalten helfen. Insbesondere ermöglichen kreative Zugänge, wie das Malen von Bildern, Metaphern, Rollenspiele oder Märchen, das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven auf soziale Situationen und generieren damit ein Verständnis auf einem höheren Niveau. Das Drehbuch endet mit praktischen Implikationen für die Aktionsforschung im Rahmen der Unternehmensberatung und -entwicklung.
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 5371-5379
"Wenn Grundbegriffe solche Begriffe sind, die 'ganze Gegenstandsgebiete im allgemeinen vor uns bringen' wie 'die Natur, die Geschichte, der Staat, das Recht, der Mensch' (Heidegger), erscheint es der Mühe wert und vielversprechend, die Grundbegriffe, die das Gegenstandsgebiet der Soziologie 'vor uns bringen', im Ausgang von der Heideggerschen Daseinsanalytik zu erschließen. Zu diesem Zweck ist am Leitfaden eines existenzialen Begriffs von Soziologie zu klären, wie - über welche Schritte der Selbstauslegung des Daseins also - das Mitsein in seinen vielfältigen Vollzugs- und Erscheinungsformen zum Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Theorie zu werden vermag. Zur Vorbereitung und zur Erhellung dieser spezifischen Voraussetzungen und der Zielrichtung solcher Analysen ist es hilfreich, Heideggers Weg von einer transzendentalen Wertphilosophie Rickertscher Prägung über die Phänomenologie Husserls zur Hermeneutik der Faktizität und zur Daseinsanalytik nachzuzeichnen. Eine implizite Aufnahme phänomenologischer Elemente glaubte Heidegger schon bei Rickert selbst, und zwar unter dem Einfluss des von ihm und Rickert gleichermaßen geschätzten Emil Lask, bemerken zu können. Und eine vergleichbare phänomenologische Wendung kennzeichnet, in einer bisher zu wenig beachteten Weise, auch die Wissenschaftslehre Max Webers. In dem Maße, in dem der Übergang Heideggers zur Daseinsanalytik überzeugt, müsste es auch überzeugend oder doch wenigstens naheliegend erscheinen, die Webersche Soziologie aus dieser Perspektive in den Blick zu nehmen. Es gibt Grund, eine besondere Affinität anzunehmen zwischen der Daseinsanalytik Heideggers und der Art und Weise, wie Weber die Soziologie aufgefasst und auf die Bahn gebracht hat. Diese Affinität erklärt sich vornehmlich daraus, dass beide Denker von einer ähnlichen geschichtlichen Erfahrung bestimmt sind, was die Aporien der modernen Kultur und Zivilisation und die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Weltanschauung angeht. Es gibt vielerlei Hinweise darauf, dass Heidegger in dieser Hinsicht nicht nur mittelbar von Max Weber - wie auch von Georg Simmel - inspiriert worden ist." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 1183-1197
"In seinem Beitrag argumentiert der Verfasser sowohl grundlagentheoretisch als auch inhaltlich. Der Kern der grundlagentheoretischen Argumentation besteht darin, dass sich mit dem vorhandenen soziologischen Denkinstrumentarium in Gestalt der Situationsanalyse eine Gegenposition zum Konstruktivismus beschreiben lässt, die die menschliche Natur einbezieht und gleichzeitig dem historisch und kulturell variablen soziologischen Gegenstand gerecht werden. Mit Hilfe des grundlegenden soziologischen Konzepts der Situation und ihrer Definition lassen sich äußere (u.a. Institutionen und kulturelle Symbolwelt) und innere Bedingungen (u.a. biologische Anlagen) der menschlichen Existenz miteinander verknüpfen. Durch Sozialisationsprozesse werden biologische Anlagen - vermittelt durch die 'Genotyp-Umwelt-Korrelation' - verstärkt oder auch abgeschwächt. Im Laufe der Biografie entwickeln sich so biosoziale Dispositionen, die sich in kulturell definierten (typischen) Situationen handlungswirksam manifestieren oder diese auch ändern können. Unter Verwendung der entwickelten Gegenposition vertritt er die inhaltliche These, dass im Verlauf der aktuellen innengerichteten Modernisierung bestimmte Aspekte des menschlichen Genoms (Glücksstreben, Vorlieben und Talente) soziokulturell an Bedeutung gewinnen und sich verstärkt in sozialen Strukturen niederschlagen. Besonders relevant ist das evolutionspsychologisch begründbare Streben nach Wohlbefinden und Glück, das unter den Bedingungen enorm gesteigerter materieller und sozialer Handlungsspielräume zum unmittelbaren Impulsgeber sozialer Strukturbildung wird. Neben dieser allen Menschen gemeinsamen Anlage treten auch interindividuelle Unterschiede des Genoms (Vorlieben und Talente) im Laufe der innengerichteten Modernisierung sozialstrukturell stärker hervor. Bei den genannten Prozessen hat man es mit einer globalen Entwicklung zu tun, die sich unabhängig von der 'westlichen' Kultur vollzieht." (Autorenreferat)