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Historikerin, Liberale, PR-Fachfrau, ehemals Landtagsabgeordnete und Geschäftsführerin eines Studentenwerks – heute eine der profiliertesten Digital-Politikerinnen. Das alles ist Lydia Hüskens, Ministerin für Infrastruktur und Digitales des Landes Sachsen-Anhalt. Porträt einer Ungeduldigen.
Lydia Maria Hüskens, 59, ist Landesvorsitzende der FDP in Sachen-Anhalt, Mitglied des FDP-Bundespräsidiums, zweite stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin für Infrastruktur und Digitales. Foto: FDP-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt.
VORHIN HAT SIE eine Fahrt im Promille-Simulator absolviert, auf der Nase eine Spezialbrille, die das Sichtfeld einschränkt. Um sie herum Berufsschüler*innen, die das auch dringend ausprobieren wollten. Jetzt steht Lydia Hüskens ein paar Kilometer weiter auf einem Schulhof in Dessau und legt den Kopf in den Nacken. Die Sonne knallt, es ist schwül, aber Hüskens, Ministerin für Infrastruktur und Digitales des Landes Sachsen-Anhalt, lässt als einzige ihr schwarzes Jackett an. Über ihr schwebt eine Foto-Drohne, ein paar Meter weiter gackert eine Horde Neuntklässler, und der Mann mit der Fernbedienung in der Hand gibt sich alle Mühe, das verabredete Gruppenfoto zu arrangieren.
Es ist Geodäsie-Projekttag an der Sekundarschule "Am Schillerpark", das Landesamt für Vermessung und Geoinformation hat auf Initiative von Hüskens Ministerium groß aufgefahren: Winkelprisma, Fluchtstab, Tachymeter, Laserscanner und jede Menge Hightech, alles zum Ausprobieren. Ihr werdet gebraucht, und zwar hier im Bundesland, das ist Teil eins der Botschaft an die Jugendlichen. Teil zwei lautet: Es gibt coole Berufe für euch da draußen. Hüskens plaudert und schwitzt, sie hört zu, in der Hand hält sie zwei Smartphones übereinandergestapelt, eines in Blau, eines in Gelb.
"Ich freue mich richtig, dass das geklappt hat", sagt Hüskens später, als sie wieder in ihrer Dienstlimousine sitzt, endlich ohne Jackett. "In der Sommerzeit sind die Termine nicht so dicht, da kann ich selbst raus an die Schulen." Früher, das heißt: vor zwei Jahren, als sie noch Geschäftsführerin des Studentenwerks Halle war, gehörte der Kontakt mit jungen Leuten, das Nachdenken über ihre Lebenswirklichkeit, zu ihrem Alltag. Heute muss sie sich bewusst die Gelegenheiten suchen. Wichtig für eine 59-Jährige, deren Geschäft die Zukunft ist.
Ein riskantes Projekt
Seit September 2021 im Amt, hat sich Hüskens, zugleich FDP-Landesvorsitzende, bundesweit einen Namen gemacht als eine der versiertesten Digitalpolitikerinnen. Das hat mit einer Reihe kluger strategischer Entscheidungen zu tun, von denen die erste war, überhaupt mit der Forderung nach einem eigenen Digitalministerium Wahlkampf zu machen. Dann, sich nach erfolgreicher Regierungsbildung den früheren Piraten-Parteichef Bernd Schlömer zum Staatssekretär und "Landes-CIO" zu ernennen. Und schließlich, als das Bundesministerium für Bildung und Forschung an der Umsetzung der 200-Euro-Energiehilfe für Studierende und Fachschüler*innen zu scheitern drohte, sich nicht wegzuducken, als der Hilferuf kam.
„Wir konnten mit dem Online-Portal
Einmalzahlung200.de zeigen, dass wir als
kleines Bundesland bundesweite digitale
Lösungen hinbekommen“
"Wir konnten zeigen, dass wir als kleines Bundesland bundesweite digitale Lösungen hinbekommen", sagt Hüskens stolz. Tatsächlich hat das neue Online-Portal in Sachen Automatisierung einer Verwaltungsleistung neue Standards gesetzt: Von der Beantragung über die Bewilligung bis zur Anweisung des Geldes vergehen oft nur Minuten, im Normalfall läuft der Prozess ohne Eingriff von Sachbearbeiter*innen ab. In seinem Perfektionismus auch ein riskantes Projekt, aber das passte irgendwie zu Hüskens, die in ihrem Leben schon häufiger gesprungen ist, wo andere eher auf Zeit gespielt hätten.
Sie hat jetzt ein bisschen Zeit zum Erzählen. Von Dessau zum nächsten Termin im Magdeburger Hafen sind es zwar Luftlinie nur gut 50 Kilometer, doch die Fahrt dauert fast anderthalb Stunden. Sie führt durch zahllose Dörfer, vorbei an Baustellen und Umleitungen, die Ministerin bekommt aus erster Hand den Zustand der Infrastruktur in ihrem Bundesland vorgeführt – und die manchmal chaotisch wirkenden Anstrengungen, daran etwas zu ändern.
Magdeburg als neue Heimat
Eigentlich, sagt die promovierte Historikerin und lehnt sich zurück, habe sie Professorin werden wollen, "aber das, was mich da ins Studium gebracht hat, bekam mit der Zeit immer mehr Fragezeichen." Nicht nur, weil es so viele Promovierende und so wenig Professuren gab, sondern weil sie bei Praktika ihr Faible für Öffentlichkeitsarbeit entdeckte. So dass sie nach dem Studium in einer PR-Agentur in Mühlheim anfing. Nach zwei Jahren folgte schon der nächste Sprung, als sie, geboren und aufgewachsen in Geldern an der niederländischen Grenze, das Angebot bekam, nach Magdeburg zu gehen, ins Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt. 1992 war das, man sprach noch von "den neuen Bundesländern", und die wurden für Hüskens zu ihrer neuen Heimat, die sie bis heute nicht mehr loslässt. Hier sind ihre Kinder geboren und aufgewachsen.
„Das Diskutieren, das hohe Tempo,
das Gestalten und Entscheiden.
Das ist ganz und gar mein Ding“
Nach zehn Jahren im Ministerium wurde sie im Jahr 2002 in den Landtag gewählt, sie wurde Fraktionssprecherin für Finanz- und Sozialpolitik und parlamentarische Geschäftsführerin der FDP-Landtagsfraktion. "Das war nun ganz und gar mein Ding", sagt Hüskens. "Das Diskutieren, das hohe Tempo, das Gestalten und Entscheiden."
Umso bitterer für sie, als die Liberalen 2011 aus dem Landtag flogen und Hüskens zurückmusste in den Landesdienst. Sie landete im Ministerium für Wissenschaft und Wirtschaft, aber das ging gar nicht mehr für sie. "Da zu sitzen und immer schon zu wissen, wie der Tag läuft, und nichts an der Schlagzahl ändern zu können", sagt Hüskens, und während sie erzählt, drückt sie einen Anruf weg, wirft erst einen Blick aufs blaue, dann einen Blick aufs gelbe Handy. "Mir war klar: Bevor ich kirre werde, muss ich etwas Anderes machen."
Leitthema Digitalisierung
Dieses Andere kam in Gestalt des Studentenwerks Halle, das eine neue Geschäftsführerin suchte. 200 Mitarbeiter*innen und ein Spektrum vom studentischen Wohnen über die Mensen bis hin zum Semesterticket und der Digitalisierung des BAföG. Überhaupt, die Digitalisierung, sagt Hüskens, "das hat nichts mit meinem Studium zu tun, aber in jeder Phase meines Berufslebens tauchte das als Leitthema wieder auf."
Das andere Leitthema, das für sie als Liberale stets besonders wichtig war: vieles ermöglichen, aber möglichst wenig vorschreiben. "Die Grenze ist auch in meinem Job als Studentenwerk-Geschäftsführerin gewesen, wenn ich anfange, erwachsene Menschen zu etwas zu zwingen." Etwa dazu, sich in Mensen fleischlos zu ernähren. Weshalb auf den Speiseplänen des Studentenwerks Halle unter ihrer Führung immer beides gestanden habe: vegane Menüs und auch solche mit einem hochwertigen Stück Fleisch. Insofern, sagt Hüskens, halte sie auch gar nichts von Forderungen nach einem verpflichtenden Deutschland-Ticket für Studierende. "Zum Glück scheint das vom Tisch zu sein." Ansonsten, fügt sie bedauernd hinzu, sei sie aktuell nicht mehr so drin in den Studierenden-Themen. "Aber der Blick für die junge Generation und ihre Belange, der ist schon geblieben", sagte sie – und so engagiert, wie sie eben aus ihrer Studentenwerks-Zeit berichtet hat, fällt es leicht, ihr das zu glauben.
"Sachsen-Anhalt fährt hoch", war der Slogan, mit dem Hüskens als FDP-Spitzenkandidatin ihre Partei im Frühjahr 2021, inmitten der Corona-Pandemie, zurück in den Landtag geführt hat. Und sie selbst fuhr mit, als Ministerin und zweite stellvertretende Ministerpräsidentin.
Der erste stellvertretende Ministerpräsident heißt Armin Willingmann, ist seit 2016 Minister für Wissenschaft und Wirtschaft für die SPD und hat die Zuständigkeit für Digitalisierung 2021 an Hüskens abgetreten. Unter seiner Ägide hat Sachsen-Anhalt – wiederum für den gesamten Bund – die BAföG-Beantragung digitalisiert. Allerdings, so wie damals vereinbart, nur die Beantragung.
Pragmatisch, konziliant, durchsetzungsfähig
Fragt man ihn nach seiner Kollegin, antwortet Willingmann mit mehr als nur diplomatischer Höflichkeit. "Es ist ein Vorteil, dass mit Lydia Hüskens jemand für die Digitalisierung zuständig ist, die die Studierendenwerke so gut kennt und so auch eine Nähe hat zu hiesigen Hochschuleinrichtungen." Er lobt ihre pragmatische Art, sie sei ebenso konziliant wie durchsetzungsfähig, ohne jemals laut zu werden. "Und das mit den 200 Euro war ein gutes, professionelles Zusammenspiel zwischen ihrem Ministerium und meinem, nachdem das Bundesforschungsministerium die Angelegenheit ziemlich verschleppt hatte."
Ein kleiner Seitenhieb auf Bettina Stark-Watzinger, wie Hüskens Mitglied im Bundespräsidium der FDP – die aber immerhin schließlich den kurzen liberalen Dienstweg nach Sachsen-Anhalt zu nutzen wusste.
Wenn man sich abseits des offiziellen Protokolls in der Magdeburger Politszene umhört, stößt man allerdings auch auf Stimmen, die sagen, Hüskens und ihre Landes-FDP würden noch mit jedem bundespolitischen Streitthema auch in Sachsen-Anhalt eine Welle zu starten versuchen. Und so zupackend und im positiven Sinne ungeduldig Hüskens sei, stelle sie allmählich doch selbst die Diskrepanz fest zwischen den hochfliegenden FDP-Digitalisierungsankündigungen im Wahlkampf – und der real existierenden Umsetzung in einem Bundesland, das etwa beim Breitbandausbau immer noch auf den hinteren Plätzen liege.
Ihr Termin mit dem ministeriumseigenen Logistikbeirat hat offiziell schon vor ein paar Minuten begonnen, als ihr Fahrer im weitläufigen Magdeburger Hafengebiet zwischen Containern, Kränen und Flachbauten auf die Schranke vor dem Gebäude der Hafen GmbH zukurvt, doch die Ministerin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie sagt, natürlich wäre es besser gewesen, wenn man schon vor zwei, drei Jahren nicht nur die BAföG-Beantragung, sondern auch die Bearbeitung der Anträge in den Studierendenwerken digitalisiert hätte, aber da habe, Stichwort Föderalismus "zunächst wohl das vollständige Bild gefehlt." Es klingt nicht wie ein Vorwurf, eher wie eine Feststellung.
„Die Wirtschaft, die Industrie und Logistik
sind längst im digitalen Zeitalter. Die
Verwaltung muss da endlich hinterher“
So wie es auch nach Feststellung klingt, wenn Hüskens hinzufügt, dass man über dieses Thema hoffentlich nächstes Jahr nicht mehr werde reden müssen, weil dann die Komplett-Digitalisierung des BAföG erledigt sei, "nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern überall in Deutschland." Und doch ist auch das nur ein Baustein zu dem, was Hüskens, kurz bevor sie das Jackett wieder anzieht und raus in die Hitze geht, als ihre wichtigste Mission formuliert: die Modernisierung der Verwaltung und die Digitalisierung aller ihrer Leistungen. "Schauen Sie sich doch um", sagt sie, "die Wirtschaft, die Industrie und Logistik sind längst im digitalen Zeitalter. Die Verwaltung muss da endlich hinterher."
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Mit den diesjährigen Präsidentschaftswahlen in Polen endet der Wahlmarathon, der mit den Kommunalwahlen 2018 begann, gefolgt von den Europa- sowie den Sejm-Wahlen 2019. Nachdem die ursprünglich für den 10. Mai angesetzten Wahlen im letzten Moment verschoben wurden (siehe auch DPI-Blog-Beitrag #6), werden die Wahlen nun am kommenden Sonntag, den 28. Juni stattfinden.Zu Beginn des Jahres schien die Wahl weitestgehend offen zu sein. Mit rund 40 Prozent Zustimmung führte der amtierende Präsident Andrzej Duda die Umfragen zwar deutlich an, wäre aber zu jenem Zeitpunkt dennoch auf einen zweiten Wahlgang angewiesen gewesen, um die notwendige absolute Mehrheit der Stimmen zu erhalten. Damit ergab sich für seine Konkurrent*innen eine reelle Chance, den Kandidaten der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in einem zweiten Wahlgang zu bezwingen. Hier konnten sich sowohl die Kandidatin des von der Bürgerplattform (PO) dominierten Walbündnisses Bürgerkoalition (KO) Małgorzata Kidawa-Błońska, der unabhängige Kandidat Szymon Hołownia und der Vertreter der Bauernpartei (PSL) Władysław Kosiniak-Kamysz Chancen ausrechnen. Einzig der Kandidat der Linken Robert Biedroń und der Kandidat der rechtsnationalistischen Konfederacja Krzysztof Bosak wären Duda in einem zweiten Wahlgang klar unterlegen gewesen.Mit dem Beginn der Ausbreitung der Corona-Pandemie in Polen in der ersten Märzhälfte und den darauffolgenden vergleichsweise harschen Restriktionen gewann auch der Präsidentschaftswahlkampf eine neue Dynamik. Als Folge des allgemeinen Versammlungsverbots konnten die Kandidat*innen keine Wahlkampfveranstaltungen abhalten und mussten zunehmend auf die sozialen Medien ausweichen. Einzig Präsident Duda konnte aufgrund seines Amtes und der extremen Regierungsnähe des öffentlichen Senders TVP auf eine mediale Dauerpräsenz zählen. In der Folge nahmen die Zustimmungswerte für Duda weiter zu, so dass ein Sieg im ersten Wahlgang im Bereich des Möglichen zu sein schien. Nicht zuletzt aus diesem Grund beharrte PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczyński trotz empörter Proteste der Opposition bis zuletzt auf dem ursprünglichen Wahltermin am 10. Mai.Kurz vor dem anvisierten Tag der Stimmabgabe einigte man sich schließlich auf eine Verschiebung der Wahlen. Der erste Wahlgang wurde auf den 28. Juni gelegt, ein eventuell nötiger zweiter Wahlgang würde dann am 12. Juli stattfinden. In dieser Situation gewann der Wahlkampf eine neue Dynamik. So konnten die Kandidaten nun wieder öffentliche Wahlkampfveranstaltungen durchführen und auch die Oppositionskandidaten hatten einen besseren Zugang zu den Medien. Gleichzeitig nutze die KO die Möglichkeit, ihre bisherige glücklose Kandidatin Kidawa-Błońska, der man offenbar kein Comeback in diesem Wahlkampf mehr zutraute, mit dem dynamischen Warschauer Stadtpräsidenten Rafał Trzaskowski zu ersetzen. Seine Kandidatur markierte einen Wendepunkt im Wahlkampf der Bürgerkoalition. Nachdem Kidawa-Błońska in den Umfragen zuletzt auf unter 10 Prozent abgestürzt war, gelang es Trzaskowski, seinen Anfangswert von 14 Prozent über die vergangenen Wochen hinweg auf bis zu 30 Prozent zu steigern. Damit hatte es Präsident Duda plötzlich mit einem ernstzunehmenden Herausforderer zu tun und stellte seine Wahlkampfstrategie entsprechend um. Hatte er während der Hochphase der Pandemie vor allem von der Popularität des Präsidentenamtes profitiert, zeichnete sich nun eine Rückkehr zum Duopol PO-PiS ab, das sich durch eine starke Polarisierung der polnischen Politik entlang der Parteilinien auszeichnet und das sachorientierte Fragen in den Hintergrund rücken lässt.In der Folge präsentierte Duda am 10. Juni die Familien-Charta, eine Erklärung, die die Werte der traditionellen Familie hochhält und ein "Verbot von LGBT-Ideologie in öffentlichen Institutionen" vorsieht. Damit positionierte sich Duda diametral entgegengesetzt zu Trzaskowski, der als Stadtpräsident Warschaus 2019 eine LGBT-Charta präsentiert und die Schirmherrschaft über die Gleichheitsparade übernommen hatte. Mit dieser starken Polarisierung sollte der liberale Trzaskowski als radikaler Gegner polnischer Tradition und als Vertreter der Eliten dargestellt werden, während Präsident Duda nationale Werte und die kleinen Leute repräsentiere. Trzaskowski wiederum ignorierte diese Angriffe geschickt – die Mehrheit der Pol*innen ist gegen die volle Gleichberechtigung von LGBT-Partnerschaften – und warf Duda im Gegenzug dessen nicht eingelöste Wahlversprechen vor. Im Kern ist der Wahlkampf somit zu einem Zweikampf zwischen Andrzej Duda und Rafał Trzaskowski geworden und damit letztlich auch zu einem Zweikampf zwischen PiS und PO. Dieses Duopol, das die Geschicke der polnischen Politik seit 2005 bestimmt, schien nach dem Wahlsieg der PiS 2015 und der anhaltenden Führungskrise der PO eigentlich schon an seinem Ende angelangt.Den jüngsten Umfragen zufolge wird der Kampf um die Präsidentschaft erst im zweiten Wahlgang am 12. Juli entschieden. Hier deutet nach den jüngsten Umfragen vieles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amtsinhaber Duda und seinem Kontrahenten Trzaskowski hin, ein Duell mit ungewissem Ausgang. Daher geht es für die beiden Kandidaten neben der Mobilisierung der eigenen Wählerschaft und der Demobilisierung der Wählerschaft des jeweiligen Gegners vor allem darum, die bislang unentschiedenen Wähler*innen von sich zu überzeugen. Duda wird hier den Spagat meistern müssen, indem er einerseits nationalkonservative Wähler*innen aus dem Bosak-Lager und andererseits eher gemäßigt konservative Wähler*innen aus dem PSL-Lager für sich gewinnt. Trzaskowski hingegen, der besonders in den Großstädten einen starken Rückhalt besitzt, steht vor der Herausforderung, die Wählerschaft in den kleineren und mittleren Städten von sich zu überzeugen. Dem entsprechen auch die Strategien der beiden Kandidaten gegen Ende des Wahlkampfes. Während Duda durch seinen kurzfristig anberaumten USA-Besuch am 24. Juni und das Treffen mit US-Präsident Trump versucht, sein Image des Staatsmannes in den Vordergrund zu stellen, tourt Trzaskowski durch den (Süd-) Osten Polens, wo die traditionellen Hochburgen der PiS-Wählerschaft liegen. Wenngleich der Einzug von Duda (43,1 %) und Trzaskowski (27,4 %) in die zweite Runde als sicher gelten dürfte, lohnt es sich einen Blick auf vier weitere der insgesamt elf Kandidaten zu werfen. Deren Abschneiden wird sich potenziell auf die weitere Entwicklung der polnischen Parteienlandschaft auswirken. [Die genannten und folgenden Werte beziehen sich auf eine Umfrage von IBRiS für die Wochenzeitschrift Polityka vom 23.6.2020] Szymon Hołownia (10,1 %)Im Dezember 2019 gab der (katholische) Journalist, TV-Moderator und Gesellschaftsaktivist offiziell bekannt, bei den Präsidentschaftswahlen 2020 als unabhängiger Kandidat anzutreten. Im Fokus seines im Februar 2020 vorgestellten Wahlprogramms standen die Themen nationale Sicherheit, Umweltschutz, soziale Solidarität, Selbstverwaltung und zivilgesellschaftliches Engagement. Neben dem professionell ausgearbeiteten Wahlprogramm wusste Hołownia mit zwei weiteren Aspekten zu überzeugen. Zum einen gelang es ihm, namhafte Expert*innen aus Wissenschaft und Politik in seinen Wahlkampf- und Beraterstab zu holen. Zum anderen verstand er es, sich überzeugend als antisystemische Alternative zu den Kandidaten der etablierten Parteien zu präsentieren. Zwischenzeitlich galt Hołownia daher als Geheimfavorit für einen möglichen zweiten Wahlgang. Auch wenn Hołownias Chancen auf den Einzug in die zweite Runde aktuell nur noch theoretischer Natur sind, kann ein relativer Erfolg bei den Wahlen durchaus eine neue Dynamik in der polnischen Politik entfachen. Dies gilt umso mehr, als Hołownia zuletzt angekündigt hatte, nach den Wahlen eine gesellschaftspolitische Bewegung aufzubauen, die letztlich in die Gründung einer neuen Partei münden soll. Den Grundstein hierfür hat er bereits gelegt. Bislang wird seine Kampagne von rund 14.000 Freiwilligen getragen, deren Zahl täglich um 200 steigt. Władysław Kosiniak-Kamysz (7,5 %)Der frühere Minister für Arbeit und Soziales sowie Vorsitzende der polnischen Bauernpartei PSL ging als einer der klaren Außenseiter in das Rennen um die polnische Präsidentschaft. Neben den Landwirt*innen spricht er vor allem diejenigen städtischen Wähler*innen an, die eine wertkonservative Weltanschauung haben, aber klar proeuropäisch und von der PO enttäuscht sind. Während des Lockdowns in Polen im April konnte sich Kosiniak-Kamysz als Arzt profilieren. Er konnte auch Personen ansprechen, die Kidawa-Błońska und die PO nicht unterstützen wollten. Mit einer frischen Dynamik und seiner proeuropäischen, modernen Einstellung hat er neue Befürworter*innen gefunden und konnte sich mit Umfragewerten um die 14 Prozent zwischenzeitlich ernsthafte Hoffnungen auf einen Einzug in die zweite Runde machen. Dies änderte sich schlagartig mit der Kandidatur von Trzaskowski. Kosiniak-Kamyszs Wahlkampf mangelt es zuletzt offensichtlich an Ideen, die letzten Umfragewerte lagen nunmehr bei 7,5 Prozent. Dies legt es nahe, sein Umfragehoch nicht als eigene Leistung zu interpretieren. Vielmehr er profitierte von der Schwäche seiner damaligen Rivalin Kidawa-Błońska. Krzysztof Bosak (6,2%)Als Abgeordneter des Sejm für das rechtsnationale Bündnis Konfederacja waren seine Chancen auf einen Einzug in die zweite Runde von Beginn an marginal. Allerdings gelang es ihm, das eigene Elektorat zu konsolidieren und sein Profil als junger, dynamischer und eloquenter Politiker zu stärken. Bosak steht für wertkonservative Positionen rechts der PiS. So fordert er etwa, ein Abtreibungsverbot und das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe in der Verfassung zu verankern. Wirtschaftlich vertritt Bosak einen marktradikalen Ansatz und spricht sich gegen jegliche Steuererhöhungen aus. Robert Biedroń (4,5 %)Einen wahren Absturz erlebte der Kandidat der Linken, der Europaabgeordnete Robert Biedroń, rangierte er doch vor zwei Jahren in Umfragen noch bei rund 20 Prozent hinter Duda und einem möglichen Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk. Zu Beginn seiner Kandidatur kam er zeitweise noch auf bis zu 12 Prozent. Somit gelang es Biedroń nicht einmal, das Kernelektorat der Linken von sich zu überzeugen. Bei den Sejm-Wahlen 2019 hatten immerhin 12,6 Prozent für die linke Koalition bestehend aus SLD, Wiosna und Razem gestimmt. Biedroń ist letztlich ein Kandidat wider Willen, nachdem Adrian Zandberg von Razem von einer Kandidatur Abstand genommen hatte und SLD-Chef Włodzimierz Czarzasty ihn zu einer Kandidatur drängte.
Als am 26. Juni 1991 die Gunst des "Wind of Change" genutzt wurde, den Michail Gorbatschow mit seiner Reformpolitik in der UdSSR ausgelöst hatte, und die Unabhängigkeit vom jugoslawischen Vielvölkerstaat erklärt wurde, kannte der Optimismus bei den ca. 2 Millionen Einwohnern der Alpenrepublik Slowenien kaum mehr Grenzen. Zum einen konnte der alte Traum von nationaler Selbstbestimmung zum ersten Mal in der Geschichte realisiert werden, nachdem man mehrere Jahrhunderte lang als Spielball der umliegenden Mächte fungieren musste und eine mehr als wechselvolle Geschichte der Fremdbestimmtheit hinter sich hatte. Zum anderen kam man aus den Wirren eines auseinander brechenden Jugoslawiens, mit all seinen ethnischen und wirtschaftlichen Problemen, mehr als glimpflich heraus, obwohl man eigentlich zusammen mit Kroatien Initiator eben dieses Zusammenbruchs war. Zum Dritten wurden die ökonomischen Ausgangsbedingungen im eigenen Land geradezu euphorisch positiv eingeschätzt. Immer wieder tauchte in der öffentlichen Diskussion der Begriff "Schweiz der Reformstaaten" auf. Dies stützte sich einerseits auf die Tatsache, dass man in fast allen Belangen im ehemaligen Jugoslawien als Musterschüler gegolten hatte und eine gut ausgebaute Infrastruktur besaß, andererseits auf die traditionell guten Beziehungen zu den westlichen Industrienstaaten – vor allem zu Österreich, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Innerhalb der sozialistischen Staaten kam es schon sehr früh zu einem Bruch des jugoslawischen Staatsgründers Josip Broz Tito mit der Sowjetunion und infolgedessen zu einer eigenen Interpretation sozialistischen Wirtschaftens, die sich im so genannten "jugoslawischen Modell der Arbeiterselbstverwaltung" manifestierte. Dieses enthielt, im Gegensatz zu den sozialistischen Satellitenstaaten, die unter sowjetischem Einfluss standen, marktwirtschaftliche Elemente und ließ Privatbesitz innerhalb definierter Grenzen zu. Obwohl das "jugoslawische Modell" letztlich infolge systembedingter Schwächen landesweit kollabierte, funktionierte es in der nördlichsten Teilrepublik aufgrund immer wieder eingeleiteter marktwirtschaftlicher Reformen noch am effektivsten, so dass Slowenien mit einen Gesamtbeitrag von 11 % zu den wesentlichen Nettobeitragszahlern innerhalb des jugoslawischen Bundeshaushalts gehörte. Beinahe 18 % der jugoslawischen Wirtschaftsleistung wurde von Slowenien erwirtschaftet, dessen Bevölkerungsanteil kaum 8 % betrug. Mit einem Pro-Kopf Einkommen von ca. 6.000 USD lag man bereits zum Zeitpunkt der Sezession über den Werten der EU-Staaten Portugal und Griechenland. Während südliche Republiken wie bspw. das Kosovo 27 % des durchschnittlichen jugoslawischen Pro-Kopf- Sozialproduktes erwirtschafteten, steigerte Slowenien seine Werte zum Zeitpunkt der Sezession auf 203 %. Das zunehmende Nord-Süd-Gefälle versuchte die jugoslawische Zentralregierung durch eine immer stärkere Umverteilung zu bekämpfen, was jedoch zu erheblichen Spannungen und Unmut bei der slowenischen Führung und der Bevölkerung führte. Im Gegensatz zu den südslawischen Nachbarrepubliken verbrachte Slowenien mehr als 1000 Jahre seiner Geschichte unter deutscher Oberherrschaft, was seine Spuren in puncto Fleiß und Ordnungsliebe derart hinterließ, dass die Slowenen als die Preußen Jugoslawiens galten und innerhalb Jugoslawiens oft als Sonderlinge angesehen wurden. Aber genau dieses Wissen um die eigene Stärke und Leistungsbereitschaft nährte den Optimismus nach der Sezession. Nachdem man sich des Klotzes der Transferleistungen gen Süden entledigt hatte, deuteten scheinbar alle Indikatoren auf ein Erfolgsmodell hin. Der Euphorie folgte jedoch, analog zu den anderen Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas, eine tief greifende Transformationskrise, die durch folgende Charakteristika gekennzeichnet werden kann: - Wegfall traditioneller Absatzmärkte in den postkommunistischen Staaten. - starker Anstieg der Inflation, ausgelöst durch binnenwirtschaftliche Liberalisierung und monetäre Reformen. - rapide Verringerung der Industrieproduktion und des Bruttoinlandsproduktes. - sinkende Arbeitsproduktivität durch die nicht erfolgte Anpassung der Beschäftigtenzahlen, danach zunehmende Arbeitslosigkeit, sinkende Reallöhne und abnehmender Lebensstandard. - starke Verschuldung der Betriebe. Obwohl auch Slowenien all diese Begleiterscheinungen der Transformationskrise durchlaufen hat, gab es signifikante Unterschiede in der Umsetzung der zentralen Elemente des Transformationsprozesses gegenüber anderen Reformstaaten, worauf im Folgenden noch näher eingegangen wird. Grundsätzlich ist der Transformationsprozess von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer freiheitlich orientierten Marktwirtschaft im Wesentlichen gekennzeichnet durch: - die Freigabe der Planpreise. - den Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte durch eine restriktive Geld- und Fiskalpolitiksierung der Staatsbetriebe, bzw. die Liberalisierung der Wirtschaft. - die außenwirtschaftliche Öffnung. Relevant in diesem Zusammenhang ist die Frage, welche Reformkräfte den Transformationsprozess leiten und welche Geschwindigkeit bei der Implementierung marktwirtschaftlicher Strukturen gewählt wird. Dabei stehen sich die Befürworter einer radikalen Schocktherapie, also einer zügigen und parallelen Implementierung demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen bzw. die Anhänger einer graduellen und partiellen Transformation argumentativ unvereinbar gegenüber. Im konkreten Falle Sloweniens wurde der "weiche" Weg eingeschlagen, was nicht zuletzt damit zusammenhing, dass die Träger des Reformprozesses im Wesentlichen Reformkommunisten, also die alten Eliten, waren. Im Gegensatz zu anderen postkommunistischen Staaten entwickelte sich in Slowenien keine nennenswerte politische Gegenkultur, die von prominenten Dissidenten angeführt worden wäre. Vielmehr war das Scheitern des jugoslawischen Modells Ende der 80er Jahre so evident, dass die kommunistische Führung Sloweniens die ökonomische Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Reformen und demokratischer Strukturen von sich aus erkannte. Dies brachte sie allerdings in erhebliche Konflikte mit den restlichen Republiken Jugoslawiens, die unter Führung Serbiens die wirtschaftlichen Probleme innerhalb des alten Systems lösen wollten. Als immer deutlicher wurde, dass eine liberale Wirtschaftsordnung innerhalb der jugoslawischen Föderation nicht umzusetzen war, erfolgte der Austritt aus dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens und als letzte Konsequenz die Sezession. Die politische Elite verteilte sich daraufhin auf die ca. 20 Gruppierungen und Parteien, die sich nun neu gründeten. Zwar gewann bei den ersten slowenischen Parlamentswahlen im April 1990 mit DEMOS ein konservativ orientiertes Mitte-Rechts-Bündnis, welches sozialistische Neu- oder Nachfolgeparteien ausschloss, doch waren auch die meisten der führenden Politiker von DEMOS in verschiedensten Funktionen bereits im alten System aktiv. Das Bündnis zerbrach im April 1992, und unter Ministerpräsident Janez Drnovšek, der im Zuge des Rotationsprinzips von 1989 bis 1990 bereits jugoslawischer Staatspräsident gewesen war, wurde eine Linksregierung gebildet, die hauptsächlich aus sozialistischen Reformparteien bestand. In wechselnden Koalitionen und mit einer kurzen Unterbrechung blieb Drnovšek als Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei bis 2002 Ministerpräsident, war also als zentrale politische Figur für den Transformationsprozess verantwortlich. Charakteristisch für den slowenischen Weg der Transformation ist einerseits das offensichtliche Bemühen, extreme soziale Härten zu verhindern, andererseits ein ausgeprägter globalisierungskritischer Protektionismus, dessen Hauptursache in der öffentlich immer wieder diskutierten Befürchtung vor einem "Ausverkauf" der slowenischen Wirtschaft zu sehen ist, so dass in der ersten Phase der Privatisierung kaum ausländische Investoren berücksichtigt wurden. Allerdings ergaben sich aus den Besonderheiten des jugoslawischen Modells der Arbeiterselbstverwaltung zum Teil recht komplexe Konstellationen, da die Betriebe konzeptionell weder staatliches noch privates Eigentum waren, sondern genau genommen gesellschaftliches Eigentum. Belegschaften und Pensionäre vertraten sehr lautstark ihre Interessen und forderten eine angemessene Partizipation am Privatisierungsprozess. Die Politik reagierte, indem ein regelrechter "Spagat" zwischen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen vollzogen wurde. Im Gegensatz zu anderen Transformationsstaaten wurde ein Unternehmen erst dann privatisiert, wenn es als wettbewerbsfähig eingestuft wurde. So sollten Spekulanten abgeschreckt und größere Pleiten verhindert werden. Auf ausländische Investoren wirkte diese Vorgehensweise zunächst jedoch abschreckend, so dass ausländische Direktinvestitionen (ADI) mit ca. 1 % des BIP lange auf einem sehr schwachen Niveau stagnierten und kaum frisches Kapital ins Land floss. Mit einem entschiedeneren Vorantreiben der Privatisierung und Liberalisierung seit 1998 sowie diversen flankierenden Maßnahmen wurden die Aktivitäten jedoch intensiviert, so dass sich die erhöhten Investitionsanreize mittlerweile auch in höheren Direktinvestitionen ausländischer Investoren widerspiegeln. Begünstigt wurden diese positiven Entwicklungen nicht zuletzt auch durch das Bemühen um einen Beitritt zur EU, der am 1. Mai 2004 realisiert werden konnte. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die grundsätzlichen Determinanten der Standortwahl zu bestimmen und die bisherigen Direktinvestitionsströme sowie die Standortqualität Sloweniens zu analysieren. Als Basis werden deshalb in Kapitel zwei die Motive und die ökonomischen Theorien untersucht, die die Beweggründe für das Tätigen von Direktinvestitionen näher beleuchten. Ausgehend von diesen Erkenntnissen werden Einflussgrößen und Faktoren, die für eine internationale Investitionsentscheidung maßgebend sind, sowie die Auswirkungen auf das Ziel- und Geberland analysiert. Kapitel zwei legt also die theoretische Grundlage für die weitere Analyse fest. Kapitel drei beschäftigt sich mit den realen Direktinvestitionsströmen in Slowenien und deren struktureller und regionaler Verteilung. Gegenstand des Kapitels vier ist eine umfassende Analyse der konkreten Rahmenbedingungen für Investoren in Slowenien anhand der in Kapitel zwei entwickelten Einflussgrößen. Vor dem Hintergrund dieses Soll- Ist-Vergleiches werden in Kapitel fünf die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit zusammengefasst, die Lehren aus dem bisherigen Transformationsprozess gezogen sowie ein Ausblick formuliert. Inhaltsverzeichnis: ErklärungII InhaltsverzeichnisIII AbbildungsverzeichnisV TabellenverzeichnisVII AbkürzungsverzeichnisVIII 1.Problemstellung1 2.Theorie der Direktinvestitionen, Einflussgrößen und Wirkungen6 2.1Definitorische Begriffsabgrenzung6 2.2Erscheinungsformen und Arten von Direktinvestitionen9 2.3Voraussetzungen und Motive von Direktinvestitionen10 2.4Ökonomische Partialtheorien13 2.4.1Entscheidungsbegründende Ansätze13 2.4.2Standorttheoretische Ansätze15 2.5Eklektischer Ansatz nach Dunning18 2.6Einflussgrößen und Wirkungen von Direktinvestitionen19 2.6.1Determinanten des Entscheidungsprozesses19 2.6.1.1 Politische, rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen19 2.6.1.2Infrastruktur, Privatisierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen22 2.6.1.3Fiskalische Stabilität und steuerliche Rahmenbedingungen24 2.6.1.4Marktgröße und Marktwachstum26 2.6.1.5Arbeitskosten und Humankapital27 2.6.1.6Außenhandelspolitik und wirtschaftspolitische Anreize29 2.6.2Grundsätzliche Wirkungen auf das Zielland30 2.6.3Grundsätzliche Wirkungen auf die Geberländer31 3.Wirtschaftsstruktur und ADI in Slowenien32 3.1Ausgangssituation und Wirtschaftstruktur32 3.2Direktinvestitionsströme in Slowenien37 3.2.1Sektorale Analyse39 3.2.2Regionale Analyse43 4.Analyse der Einflussgrößen und ihrer Wirkungen in Slowenien47 4.1Politische, rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen47 4.2Infrastruktur, Privatisierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen53 4.3Fiskalische Stabilität und steuerliche Rahmenbedingungen58 4.4Marktgröße und Marktwachstum63 4.5Arbeitskosten und Humankapital66 4.6Außenhandelspolitik und wirtschaftspolitische Anreize72 5.Resumee74 5.1Zusammenfassung und Schlussfolgerungen74 5.2Ausblick79 Literaturverzeichnis81 Internetverzeichnis90
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Stadtluft macht frei? Gdańsk kann ein Lied davon singen, eine Stadt, die sich heute gerne mit der Bezeichnung "Stadt der Freiheit" schmückt. Ein Lied davon singen kann aber auch Danzig, das einst "Freie Stadt" war. Vor 100 Jahren, am 15. November 1920, wurde dieses eigenartige Staatswesen offiziell gegründet. Damals wie heute ist die Freiheit umstritten, wird sie bestritten, war sie Schlagwort, aber nicht immer Realität. Von ihr zu sprechen, war und ist eine Provokation.Sir Edward Strutt, der Vertreter des Völkerbundes, hatte sich an diesem 15. November vor 100 Jahren in den großen, mit schwerem Holzgestühl und Historiengemälden ausgestatteten Sitzungssaal des einstigen Landeshauses begeben, das die mittlerweile aufgelöste Provinz Westpreußen sich Jahrzehnte zuvor im Neo-Renaissancestil errichtet hatte. Er trat ans Pult und sprach nach kurzer Rede die geschichtsträchtigen Worte: "Hiermit erkläre ich feierlichst die Stadt Danzig und das sie umgebende Gebiet mit dem heutigen Tage zur Freien Stadt."Seit Monaten hatte hier im Saal die Verfassunggebende Versammlung getagt, die eine von den wenigsten Mitgliedern des Hauses erwünschte Aufgabe hatte: Zur Umsetzung der Bestimmungen des Versailler Vertrags beizutragen, der den Zank zwischen Polen und Deutschland um die staatliche Zugehörigkeit Danzigs mit einem, wie es schien, salomonischen Urteil entschieden hatte. Doch weder Deutsche noch Polen waren mit der Schaffung einer "Freien Stadt" glücklich, denn das zu weit mehr als 90 Prozent von deutschsprachigen Menschen bewohnte Staatsgebiet war künstlich aus Westpreußen herausgeschnitten worden und selbst die Sozialdemokraten konnten sich eine Existenz außerhalb Deutschlands kaum vorstellen. In ihrer lokalen Tageszeitung hieß es, nunmehr sei Danzig der "Willkür" der Macht Polen überantwortet, "mit deren Staatsdasein, Wirtschaftsleben, Kultur und Sprache sich Danzigs Bevölkerung nicht verbunden fühlt". Tatsächlich, man wusste schlicht nichts über das Land, das Ende 1918 neu entstanden war, ja man interessierte sich noch nicht einmal dafür. Damit standen die Eliten Danzigs nicht alleine, denn so verhielt es sich mit nahezu der gesamten deutschen Öffentlichkeit. Und nun sollte dieses lange geringgeschätzte Polen also mitbestimmen über Danzig, seine Außenpolitik vertreten, seinen Hafen mitverwalten, seine Eisenbahn betreiben? Aber auch für Polen war das alles andere als befriedigend, denn warum sich für eine Stadt und ihr bäuerliches Umland einsetzen, die ihm so fremd gegenüberstand? Für eine Stadt, die man eigentlich gerne ganz für sich gewonnen hätte? Stolz auf Danzig? "Freie Stadt" – schlecht klang das nicht. Ja wirklich, man konnte schon ein wenig stolz sein auf das neue Staatswesen mit eigener Flagge – zwei weiße Kreuze und eine goldene Krone auf rotem Feld –, mit Regierung, Briefmarken, Staatsempfängen, einer eigenen Währung und feierlichen Besuchen fremder Kriegsschiffe. Und schließlich auch mit einer eigenen Hymne, denn irgendetwas musste die Kapelle der Schutzpolizei – übernommen von den abgezogenen preußischen Regimentern – ja spielen, wenn fremde Kreuzer in den Hafen einliefen. Der Text dieser Hymne zeigt sehr gut, wie unfrei die Freie Stadt in Wahrheit war. In ihrer dritten Strophe heißt es: "Das ist die Stadt, wo deutsche Art / Voll Kraft und Mut ihr Gut bewahrt. / Wo deutsch die Glocken werben, / Und deutsch ein jeder Stein." Von dieser trotzigen Bekundung ihrer deutschen Identität konnte sich die lokale Gesellschaft kaum lösen. Die gedanklichen Mauern zu Polen waren hoch, sehr hoch.Briefmarke der Freien Stadt Danzig Eine Chance darauf, hieran etwas zu ändern, hätte es nur dann gegeben, wenn sich die Freie Stadt wirtschaftlich und kulturell bombastisch entwickelt hätte, wenn man sich nicht nur auf seine Flagge, sondern auch auf Wohlstand und internationale Anziehungskraft etwas hätte einbilden können. Doch weder das eine noch das andere war der Fall. Nach einem kurzen Strohfeuer in der Inflationszeit, als Danzig zum Mekka von Devisenschiebern und Währungsspekulanten wurde, musste sich das Staatswesen durchweg mit großen wirtschaftlichen Problemen herumschlagen. Das deutsche Militär war als Standortfaktor – und Auftraggeber für die Werften – entfallen, Industrie und Handel waren durch eine Zollgrenze von Deutschland und durch viel zu hohe Löhne von Polen getrennt. Ohne offene und versteckte Subventionen aus dem Reich und Anleihen an den internationalen Kapitalmärkten wäre der Danziger Staatshaushalt mehrmals zusammengebrochen.Auch künstlerisch hatte Danzig, außer seinem altertümlichen Stadtbild und dem Ruhm längst vergangener Zeiten, nicht viel zu bieten. Gut, nördlich von Warschau, westlich von Königsberg und östlich von Berlin, Posen und Stettin gab es kein vergleichbares Zentrum, mit einem Stadttheater, mit den sommerlichen Wagner-Festspielen im Wald bei Zoppot, mit vielen Vereinen, wie sie die Bürgerstadt der Zeit eben so kannte. Aber kaum ein künstlerisches Talent hielt es in der Stadt. Sie kamen nur zu Besuch, wenn man sie rief, und schrieben Gelegenheitsgedichte über die Stadt am Ostseestrand, geigten in den mäßig besuchten Symphoniekonzerten, warfen den Backsteinkoloss der Marienkirche oder das pittoreske Krantor mit Ölfarben auf die Leinwand. Die einzige Funktion, die Danzig im kulturellen Kosmos Deutschlands noch einnahm, war jene der "Trutzburg des Deutschtums im Osten". Und in Polen glomm nur ein schwacher Hoffnungsschimmer, vielleicht doch noch einmal Fuß fassen zu können in dieser letztlich fremden Stadt. Danzig und Gdańsk – die unfreie StadtEs kam der Würgegriff der Nazi-Zeit, wegen des Völkerbundes zwar einige Jahre lang weniger brutal als im Reich, aber das Adjektiv "frei" im Namen der Stadt musste Juden, Polen oder Sozialdemokraten zunehmend wie ein Hohn vorkommen. Dann folgte der 1. September 1939, Hitler-Deutschland brach mit dem Angriff auf das polnische Munitionsdurchgangslager auf der Westerplatte den Zweiten Weltkrieg vom Zaun und Danzig kam "heim ins Reich". Fünf Jahre später wurde Danzig polnisch, die deutschen Einwohner flohen oder wurden vertrieben, Polinnen und Polen zogen in die zerstörte Stadt. Sie wussten meist nicht viel von Gdańsk, nur dass es zwar lange deutsch war, historisch aber zu Polen gehörte und nun zu Recht wieder polnisch war. Frei war Gdańsk noch lange nicht. Während sich in Deutschland Günter Grass Danzig von der Seele schrieb und in seinen literarischen Berichten aus den proletarischen Vororten die Stadt von der Patina jahrhundertelanger Bürgerlichkeit befreite, richtete sich in Gdańsk eine neue Bevölkerung ein: Mühsam, weil Menschen aus allen Gegenden Polens erst langsam eine Stadtgesellschaft bildeten, aber mit wachsendem Stolz, weil die Werften florierten, die Umgebung so wunderschön war und es gelang, die historische Innenstadt phänomenal wieder aufzubauen.Erst nach der Systemtransformation, nach 1989, wurde Gdańsk frei. Es war letztlich die lange Amtszeit des seit 1998 amtierenden Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz, die den Wandel von einer trotz aller Größe immer noch recht provinziellen Großstadt hin zu einer überraschend lebendigen Metropole sah, unterstützt auch von Danzigern wie Donald Tusk, die in Warschau große Politik betrieben. Angetrieben nicht zuletzt durch die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt – den Zuschlag erhielt schließlich Breslau –, entstanden neue künstlerische und intellektuelle Initiativen. Das Europäische Solidarność-Zentrum, das Museum des Zweiten Weltkriegs, das Shakespeare-Theater, das im Aufbau befindliche Museum für Moderne Kunst, zahlreiche Galerien, Institute, Festivals für Musik, Literatur, Fassadenmalerei. Endlich fanden sich interessante Jobs für die Absolventen der lokalen Hochschulen, und nicht selten zogen nun Künstlerinnen, Intellektuelle, Macher des Wirtschaftslebens auch extra nach Danzig. Denn Danzig roch nach Freiheit … Danzig roch nach FreiheitDanzigs Freiheits-Erzählung hatte mit den Arbeiterprotesten von 1970 und vor allem 1980 einen immensen Schub erlebt. Die "Solidarność" war Grundstein für die Freiheit im ganzen Ostblock. Weit genug vom Machtzentrum in Warschau entfernt, konnte es zudem immer auf jenes trügerische Bild von der "Freien Stadt" zurückgreifen, das nahelegt, als habe Danzig in seiner Geschichte meist von der Freiheit gezehrt. Gerade nach dem Regierungsantritt der Kaczyński-Partei "Recht und Gerechtigkeit" 2015 entwickelte sich diese Vorstellung zu einer handlungsleitenden Maxime. Während die Zentrale argwöhnisch nach Danzig – und in andere liberal regierte Städte – schaut und es in den rechten Blättern immer wieder heißt, Danzig wolle sich am liebsten von Warschau abspalten, sich als "Freie Stadt" lieb Kind mit Deutschland machen, verstehen die liberalen Eliten Danzigs ihre Freiheit als die Verteidigung autonomer Entscheidungsgewalt der kommunalen Selbstverwaltung.Briefmarke mit Ansicht des Klosters Oliva Dahinter steht ein langer, seit Jahrzehnten in Polen ausgetragener Konflikt zwischen nationalstaatlichem Zentralismus und Dezentralisierungsbestrebungen, hinter dem historische Ängste stehen. Schließlich war die alte Adelsrepublik im 18. Jahrhundert auch an internen Partikularismen zugrunde gegangen, und die Republik der Zwischenkriegszeit fürchtete die von den Nachbarmächten unterstützte Irredenta der nationalen Minderheiten. Als deshalb im Zuge der politischen Transformation in den 1990er Jahren neue Regionalbewegungen entstanden, löste dies nicht nur intellektuelle Begeisterung, sondern vielfach auch Unbehagen aus.Bald schon stellte sich heraus, dass anders als in Deutschland nicht die Regionen, also die Länder bzw. Woiwodschaften, zu den sichtbarsten und aktivsten Akteuren jener politischen, administrativen und kulturellen Dezentralisierung wurden, sondern die Großstädte in ihrer Doppelrolle als regionale Hauptstädte und intellektuelle Zentren. Paweł Adamowicz hat es in dieser Entwicklung mit entwaffnendem Optimismus und persönlichen Engagement geschafft, Danzig im Gespräch zu halten. Seine Ermordung im Januar 2019 war deshalb ein Schock, der Motor lokaler Identitätsdynamik schien schwer beschädigt. Doch seine Nachfolgerin Aleksandra Dulkiewicz füllt seine Fußstapfen mit ebensolchem Charisma aus. Noch dazu ist sie eine der wenigen Frauen, die derzeit in Polens Politik in exekutiver Verantwortung stehen. Nichts, was sie vor der Kritik ihrer Gegner verschonen würde. Schon kurz nach ihrem Amtsantritt schrieb ein einflussreiches rechtes Blatt: "Versuche, aus dem modernen Gdańsk eine 'freie Stadt' zu machen, sind abartig. Das ist eine polnische Stadt und das bleibt es auch." Ähnliche Unterstellungen begleiten Dulkiewicz bis heute. So muss die "Freie Stadt Danzig" auch hundert Jahre nach ihrer Gründung noch für politische Auseinandersetzungen herhalten, provoziert sie immer wieder zur Stellungnahme. Und das in einer Zeit, in der das wirtschaftlich und kulturell florierende Danzig seine Freiheit so stolz behaupten kann wie nie in den letzten paar Jahrhunderten.
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"Da die demokratischen Institutionen und Haltungen weiterhin existieren, merken wir nicht, dass die Demokratie geschwächt und die Macht innerhalb des politischen Systems auf eine kleine Elite aus Politikern und Konzernen übergegangen ist, die eine Politik nach den Wünschen Letzterer betreiben."Dieses drastische Zitat, welches eine dramatische Betrachtung der gegenwärtigen Lage der westlichen Demokratien darstellt, ist nicht etwa aus dem Wahlprogramm einer populistischen Partei entnommen. Ebenso wenig sind es Auszüge aus einer Wutrede von Alice Weidel oder Sarah Wagenknecht. Diese rigorosen Worte stammen vom britischen Sozialwissenschaftler Colin Crouch und fassen weite Teile seiner Postdemokratie-These pointiert zusammen (Crouch 2021, S. 21).Die vermeintliche Nähe zu rechten Verschwörungsmythen und populistischen Narrativen von korrupten Eliten in angeblichen Scheindemokratien rückt Crouch auf den ersten Blick in kein gutes Licht (vgl. Mudde 2020, S. 55 f.). Ist er durch seine Kritik am Zustand der westlichen Demokratien womöglich als latenter Komplize der aufsteigenden Kräfte des rechtsradikalen Spektrums auszumachen?Hinsichtlich der evidenten Defizite in der Entwicklungsrichtung etablierter Demokratien der westlichen Hemisphäre erscheint eine kritische Analyse als durchaus sinnvoll. So bestätigt die Realität durch Wahlergebnisse und zahlreiche Umfragen beispielsweise zunehmend das vielzitierte Phänomen der Politikverdrossenheit sowie das verbreitete Misstrauen der Bürger*innen in Politik und deren Institutionen (vgl. Best et al. 2023, S. 18-21). Daher möchte der vorliegende Beitrag folgenden Fragestellungen nachgehen:Ist die Postdemokratie-These notwendige Kritik an politischen Missständen oder Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus?Sind die Ausführungen Crouchs damit als Chance oder Gefahr für die Demokratie zu bewerten? Aus Gründen des begrenzten Umfangs beziehen sich die folgenden Ausführungen explizit auf den Rechtspopulismus und klammern den durchaus existierenden Populismus des politisch linken Spektrums aus. Angesichts des fortwährend wachsenden Einflusses politischer Akteur*innen der Neuen Rechten sowie der Verbreitung einschlägiger rechtsradikaler Narrative im öffentlichen Diskurs scheint dieser Fokus aktuell von ungleich größerer Bedeutung zu sein (vgl. Mudde 2020, S. 13-17).Der inhaltliche Gedankengang des Beitrags sei an dieser Stelle knapp skizziert: Die Leitfrage soll aus verschiedenen Perspektiven bearbeitet werden, um den ambivalenten Potenzialen der These Colin Crouchs gerecht zu werden. Dabei wird der schmale Grat zwischen angebrachter Kritik, welche zu einer verbesserten Demokratie beitragen kann, und der Nähe zu rechtspopulistischen Narrativen mit gegenteiliger Wirkung thematisiert.Insbesondere die zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen Crouchs analytischen Ausführungen und rechtspopulistischer Eliten-Kritik sollen anschließend als sinnvolle Abgrenzung herausgearbeitet werden. Dies wird als Schlüssel zu einer gewinnbringenden praktischen Verwertung der Postdemokratie-These betrachtet, um sie als Chance im Sinne einer konstruktiven Kritik an negativen Entwicklungen der westlichen Demokratien fruchtbar werden zu lassen.Colin Crouch: "Postdemokratie"Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch sorgte bereits in den frühen 2000er Jahren mit Veröffentlichungen um seine These der Postdemokratie für internationales Aufsehen. Seine Gegenwartsanalyse beschreibt einige Tendenzen, die insbesondere in den etablierten Demokratien der westlichen Welt zu beobachten sind und durch komplexe Zusammenhänge eine zunehmende Schwächung der Demokratie bedeuten.Gemäß der Wortneuschöpfung mit der bedeutungsschweren Vorsilbe "post" charakterisiert er den aktuellen Zustand als Niedergang der lebhaften Demokratie nach der politischen und gesellschaftlichen Hochphase demokratischer Prozesse. Solch ein vergangener "Augenblick der Demokratie" (Crouch 2021, S. 22) zeichne sich in der Theorie durch die Verwirklichung sämtlicher demokratischer Ideale aus. Insbesondere eine lebendige Zivilgesellschaft partizipiert dabei öffentlich am politischen Prozess, wobei die aktive Beteiligung der gleichberechtigten Bürger*innen über den regelmäßigen Gebrauch des Wahlrechts hinausgeht. Eine angemessene und wirkungsvolle Verbindung zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen gewährleistet eine funktionierende Repräsentation der Bevölkerung durch demokratisch legitimierte politische Amtsträger*innen (vgl. Crouch 2021, S. 22 f.).Die neoliberale Vorherrschaft in grundlegenden politischen Entscheidungen und Handlungen seit den 1980er Jahren führte zu wachsender Ungleichheit, die auch im politischen Diskurs spürbar wurde. So dominieren in Folge von ökonomischer Globalisierung und der Entstehung mächtiger Megakonzerne wirtschaftliche Eliten zunehmend den politischen Diskurs sowie durch gezielten Lobbyismus den Raum der politischen Entscheidungsfindung.Demokratische Prozesse werden subtil ausgehöhlt, indem Wirtschaftseliten den Platz von formal gleichberechtigten Bürger*innen als bedeutendste Instanz im demokratischen Raum einnehmen. Dies führe mitunter zu einer folgenschweren einseitigen Zuwendung politischer Akteur*innen hin zu wirtschaftlichen Eliten und deren Interessen der Profitsteigerung, was mit einer symptomatischen Entfremdung der Volksvertreter*innen von der zu repräsentierenden Bevölkerung einhergehe (vgl. Crouch 2021, S. 9 f.; S. 24-26). Der renommierte Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas fasst die Zusammenhänge der These bezüglich der vorherrschenden neoliberalen Ideologie pointiert zusammen:"Ich habe den Begriff 'Postdemokratie' nicht erfunden. Aber darunter lassen sich gut die politischen Auswirkungen der sozialen Folgen einer global durchgesetzten neoliberalen Politik bündeln." (Habermas 2022, S. 87)Ein weiterer einschneidender Umbruch ist in der Zivilgesellschaft selbst verortet. So nimmt die herkömmliche Bindung an soziale Klassen und Kirchen als gesellschaftliche und politische Verortung der kollektiven Milieus innerhalb einer Gesellschaft seit Jahrzehnten massiv ab. Damit gehe in vielen Fällen auch ein Raum der politischen Betätigung und Meinungsbildung verloren, was zuweilen zur politischen Orientierungslosigkeit der Bürger*innen führe. Dies erschwere das Aufrechterhalten der Bindung politischer Akteur*innen an deren Basis in vielerlei Hinsicht. Denn nicht zuletzt orientiert sich auch die etablierte Parteienlandschaft an den einst zentralen sozialen Zugehörigkeiten der Bürger*innen (vgl. Crouch 2021, S. 26-30).Rund 20 Jahre nach den ersten einschlägigen Veröffentlichungen erneuerte Crouch seine These mit einigen Ergänzungen und Korrekturen, welche vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Entwicklungen durch den Abgleich mit der politischen Realität notwendig erschienen. Doch die Kernthese der Postdemokratie blieb grundlegend erhalten (vgl. Crouch 2021, S. 10-17):
Als knapper inhaltlicher Exkurs am Rande der Kernthematik sei an dieser Stelle ein kritischer Vermerk bezüglich relevanter politischer Entwicklungen seit 2020 eingefügt. Nach der Veröffentlichung der Originalausgabe des Buches "Postdemokratie revisited", welches die damals aktualisierte Version der Postdemokratie-These von Colin Crouch hinsichtlich veränderter politischer Umstände enthält, sind einschneidende weltpolitische Ereignisse zu bedeutenden Prägefaktoren der transnationalen und nationalen Politiken geworden.Die Corona-Pandemie und der anhaltende russische Angriffskrieg auf die Ukraine führten zu politischen Entscheidungen, welche mitunter unmittelbar spürbar für große Teile der Bürger*innen waren und dies noch immer sind. Damit einhergehend wurde eine zunehmende Politisierung der Bevölkerung einiger demokratischer Staaten beobachtet (vgl. Beckmann/Deutschlandfunk 2021). In der deutschen Gesellschaft sind zudem seit einigen Wochen zahlreiche Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zu verzeichnen, welche vom Soziologen und Protestforscher Dieter Rucht bereits als "größte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik" bezeichnet wurden (Fuhr/FAZ.NET 2024).Crouch spricht in diesem Kontext aktuell von einer durchaus verbreiteten Abneigung gegenüber den rechtsextremen Strategien von Hass und Hetze in entwickelten demokratischen Gesellschaften. Diese müsse aktiviert und politisch mobilisiert werden im Sinne einer gestärkten Demokratie gegen rechtsextreme Bestrebungen. Doch könne dies lediglich einhergehend mit ökonomischen Lösungen der wachsenden sozialen Ungleichheit seitens der politischen Akteur*innen nachhaltig wirksam werden (vgl. Hesse/fr.de 2024). Nicht außer Acht zu lassen sind diese zuweilen folgenschweren Ereignisse in der politischen und zeitgeschichtlichen Gesamtschau, wenngleich die zahlreichen raschen politischen sowie demoskopischen Wendungen der vergangenen Jahre in den folgenden Ausführungen nicht umfänglich Berücksichtigung finden können.Relevanz der AnalyseWie bereits das zustimmende Zitat des namhaften zeitgenössischen Philosophen Habermas im vorausgehenden Abschnitt anklingen lässt, treffen Crouchs Ausführungen hinsichtlich zahlreicher analysierter Missstände politischer und gesellschaftlicher Art durchaus zu. So wird die Relevanz der kritischen Gegenwartsanalyse bezüglich einiger Aspekte in Teilen angesichts der Studienergebnisse zum Thema "Demokratievertrauen in Krisenzeiten" der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2023 deutlich.Unter Berücksichtigung der multiplen Krisen der Gegenwart wurden in einer repräsentativen Zufallsstichprobe volljährige wahlberechtigte Deutsche zu Themen befragt, welche die Funktionalität des repräsentativ-demokratischen Systems sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt betreffen (vgl. Best et al. 2023, S. 5 f.). Dabei konnte ermittelt werden, dass etwas mehr als die Hälfte der Befragten unzufrieden ist mit dem gegenwärtigen Funktionieren der Demokratie. Obgleich in der Gegenüberstellung mit der Vorgängerstudie aus dem Jahr 2019 ein leichter Rückgang dieses Prozentsatzes auszumachen ist, muss ein anhaltend hohes Niveau der generellen Unzufriedenheit bezüglich der Funktionalität unseres politischen Systems diagnostiziert werden (vgl. Best et al. 2023, S. 17 f.).Dass der soziale Status der befragten Bürger*innen als einflussreicher Parameter in dieser Frage herausgestellt werden konnte, lässt sich widerspruchsfrei in Crouchs Analyse der zunehmend elitär gestalteten Politik einfügen. Denn es erscheint folgerichtig, dass Menschen aus unteren sozialen Schichten mit vergleichsweise wenig Einkommen häufiger unzufrieden sind mit dem politischen System, in welchem vermehrt die Interessen höherer sozio-ökonomischer Gruppen begünstigt werden (vgl. Crouch 2021, S. 44-47).Außerdem beklagen deutliche Mehrheiten in der Befragung die Undurchschaubarkeit komplexer Politik sowie unzureichende Möglichkeiten der politischen Partizipation, was Crouchs Ausführungen zur Entpolitisierung der Mehrheitsgesellschaft im Zuge der zunehmenden Politikverdrossenheit bestärkt (vgl. Best et al. 2023, S. 18-20). Vor die Wahl verschiedener Regierungsmodelle gestellt, bevorzugt lediglich ein Drittel der Befragten die repräsentative Demokratie, während beinahe die Hälfte zur direkten Demokratie tendiert (vgl. Best et al. 2023, S. 21 f.).Passend dazu ist das Vertrauen in die politischen Institutionen lediglich hinsichtlich der Judikative, dem Bundesverfassungsgericht, bei der großen Mehrheit unter den befragten Bürger*innen in hohem Ausmaß vorhanden. Der eklatant angestiegene Anteil der Menschen ohne jegliches Vertrauen in das Parlament und die Bundesregierung könnte im Sinne Colin Crouchs als Folge der Entfremdung der politischen Akteur*innen vom Großteil der Bevölkerung gekennzeichnet werden (vgl. Best et al. 2023, S. 26-31; Crouch 2021, S. 216 f.).Ein weiterer zentraler Kritikpunkt Crouchs wird sinngemäß durch die Frage nach konkreten Problemen der deutschen Demokratie angesprochen. So sehen über 70 Prozent der Befragten den Einfluss von Lobbygruppen als problematisch an, wobei sich diese Ansicht in vergleichbarer Weise durch alle politischen Lager zieht. Colin Crouchs kritischer Blick bezüglich eines überbordenden Lobbyismus mit unverhältnismäßigem Einfluss im politischen Prozess wird somit durch diese Studie demoskopisch gestützt (vgl. Best et al. 2023, S. 32 f.; Crouch 2021, S. 68 f.).Auch andere wissenschaftliche Veröffentlichungen, wie der aktuelle "Transformationsindex BTI 2024" der Bertelsmann-Stiftung, analysieren einen ähnlichen Zustand der politischen und gesellschaftlichen Lage westlicher Demokratien im Sinne einer akuten Krise des Liberalismus vor dem Hintergrund der neoliberalen Vorherrschaft.Das positive Potential der Postdemokratie-These liegt angesichts der ernstzunehmenden Problematiken in einer möglichen Stärkung der Demokratie durch praktische Konsequenzen auf Grundlage dieser kritischen Befunde. Praktische Ansätze im Bereich der strenger regulierten Lobbyarbeit sowie neue Formen der Bürger*innenbeteiligung sind bereits Teil der politischen Agenda und werden erprobt. Ob diese den Zweck einer erstarkenden Demokratie real erfüllen werden, ist aktuell noch offen. Im besten Falle können gestärkte demokratische Strukturen nicht zuletzt demokratiegefährdende Akteur*innen aus dem rechtspopulistischen und rechtsextremen Spektrum zurückdrängen.Jedoch klingt an dieser Stelle ein Widerspruch an. Denn stärkt nicht gerade Crouchs Framing der Kritik an politischen Eliten und an der Entwicklung des politischen Systems die antidemokratischen radikalen Kräfte am rechten Rand angesichts der vermeintlichen narrativen Überschneidungen?Parallelen zu rechtspopulistischen NarrativenCrouch selbst schreibt in seinem Buch von neuen "Bewegungen […], die ähnliche Klagen über die heutigen Demokratien vorzubringen scheinen, wie ich sie in Postdemokratie geäußert habe, und insbesondere den Vorwurf äußern, dass die Politik von Eliten dominiert werde, während normale Bürger kein Gehör mehr fänden." (Crouch 2021, S. 136).Gemeint sind aufsteigende populistische Gruppierungen und Parteien, wovon jenen aus dem rechtsradikalen Lager aktuell die höchste politische Relevanz beigemessen wird. Um die Leitfrage des Beitrags angemessen multiperspektivisch zu beleuchten, sollen nun die vermeintlichen Gemeinsamkeiten zwischen den Erkenntnissen des britischen Sozialwissenschaftlers und rechtspopulistischen Narrativen herausgestellt sowie kritisch betrachtet werden.Die augenscheinlichste Parallele liegt im Bereich der Elitenkritik, wie Crouch es im angeführten Zitat selbst andeutet. Politische Entscheidungsträger*innen und wirtschaftliche Eliten handeln überwiegend im eigenen Interesse und entfernen sich dabei immer mehr von den Bürger*innen, insbesondere von jenen mit geringem sozialen Status, und deren Anliegen. Diese Analyse Crouchs erinnert an die rechtspopulistische Dichotomie, welche die abgehobene Elite dem normalen Volk gegenüberstellt. Der Wille des Volkes werde gemäß diesem Narrativ von der etablierten Politik bewusst übergangen (vgl. Crouch 2021, S. 41 f.; Mudde 2020, S. 55 f.).Doch bereits in der Formulierung wird ein zentraler Unterschied hinsichtlich der Vorstellung der regierten Bürger*innen deutlich. So wird im rechtspopulistischen Narrativ das Volk als homogene Masse mit einheitlichem Willen angesehen, während Crouch von Bürger*innen mit verschiedenen sozioökonomischen Hintergründen und pluralen Interessen spricht (vgl. Wodak/bpb 2023; Crouch 2021, S. 258 f.).Die Globalisierung als nach wie vor prägende Entwicklung mit Auswirkungen auf alle gesellschaftliche Sphären ist Anhaltspunkt einer weiteren vermeintlichen Schnittmenge. Als hintergründige Ursache für die zunehmende Entfremdung politischer Akteur*innen von weiten Teilen der Bevölkerung sowie für den unverhältnismäßig hohen Einfluss kapitalorientierter Großkonzerne konstatiert Crouch die Globalisierung der Wirtschaft.Des Weiteren führe die Tatsache, dass Wirtschaftspolitik vor diesem Hintergrund weitgehend auf transnationaler Ebene betrieben wird, zu einem Bedeutungsverlust der nationalstaatlichen Politik. Debatten im nationalen Kontext seien somit laut Crouch oftmals als politisch gegenstandslose Scheindebatten zu kennzeichnen (vgl. Crouch 2021, S. 25 f.). Diese Beschneidung des Nationalstaats durch eine zunehmende Globalisierung wird von Akteur*innen der Neuen Rechten im Sinne ihres charakteristischen Nationalismus massiv beklagt. Damit einher geht eine misstrauische bis konsequent ablehnende Haltung gegenüber transnationaler Politik insbesondere bezüglich einschlägiger Institutionen wie der Europäischen Union (vgl. Mudde 2020, S. 56-59; S. 132 f.).Populist*innen gerieren sich grundsätzlich als wahre Stimme des Volkes, welches exklusiv durch sie vertreten werde in einem von eigennützigen Eliten regierten System (vgl. Mudde 2020, S. 46). Hinsichtlich der Postdemokratie-These lässt dies vermuten, dass populistische Bewegungen als basisdemokratischer Stachel im Fleisch der Postdemokratie charakterisiert werden können. Mitunter würde das die massive Abneigung der etablierten Parteien ihnen gegenüber erklären (vgl. Crouch 2021, S. 139-141).An dieser Stelle könnte auf eine zumindest teilweise Zustimmung Colin Crouchs hinsichtlich rechtspopulistischer Narrative geschlossen werden. Im Vorgriff auf die Ausführungen der folgenden Abschnitte sei jedoch vor einer voreiligen Gleichsetzung ohne die notwendige politikwissenschaftliche Differenzierung gewarnt. So weist Crouch selbst deutlich auf die Diskrepanz hin, welche die antidemokratischen Tendenzen rechtspopulistischer Bewegungen zweifellos von einer zukunftsorientierten Kritik an postdemokratischen Problemen trennt (vgl. Crouch 2021, S. 139).GefahrenpotentialIst Crouchs These angesichts der verwandten Anklagen Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulist*innen? Trägt die Publizierung seiner massiven Kritikpunkte womöglich zur fortschreitenden Enttabuisierung radikaler Positionen im öffentlichen Diskurs bei?In der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatte lässt sich eine einflussreiche rechtspopulistische Strategie der Diskursverschiebung beobachten. Einschlägige illiberale Narrative werden hierbei im politischen Diskurs salonfähig durch schrittweises Verrücken der roten Linien, welche das legitime demokratische Meinungsspektrum umgrenzen. Das "Perpetuum mobile des Rechtspopulismus" (Wodak/bpb 2023) lässt in einem schleichenden Prozess xenophobe und diskriminierende Haltungen durch kalkulierte rhetorische Grenzüberschreitungen rechtspopulistischer Akteur*innen zunehmend vertretbar erscheinen.Des Weiteren wird so Einfluss auf die Themensetzung im demokratischen Diskurs genommen, was nicht zuletzt durch die partielle Übernahme seitens ursprünglich gemäßigter konservativer Parteien des politischen Establishments befördert wird. Die beobachtbare Diskursverschiebung stellt eine ernstzunehmende Gefahr für liberale Demokratien dar, wie bereits an autokratischen Entwicklungen in einigen Ländern mit Regierungen des äußerst rechten Spektrums abzulesen ist (vgl. Wodak/bpb 2023).Crouchs Ausführungen bezüglich postdemokratischer Tendenzen bergen insbesondere mit Blick auf die Elitenkritik das Gefahrenpotential einer narrativen Instrumentalisierung durch illiberale Akteur*innen. Doch hinsichtlich eines entscheidenden Aspekts eignet sich die Argumentation Colin Crouchs nur schwerlich als Hilfestellung zur Enttabuisierung rechtsradikaler Positionen. So sind vereinfachende Schuldzuweisungen mitnichten Teil der analytischen Ausführungen Crouchs, und es werden keine Feindbilder unter gesellschaftlichen Minderheiten ausgemacht, was der zentralen Ideologie der äußersten Rechten entgegensteht (vgl. Crouch 2021, S. 143 f.). Vortrag von Ruth Wodak über Rechtsruck und Normalisierung: Die von Crouch geforderte Politisierung der Zivilgesellschaft sollte in diesem Zusammenhang nicht mit der fortschreitenden Polarisierung der Öffentlichkeit einhergehen oder gar gleichgesetzt werden. Dies würde gefährliche aktuelle Tendenzen der gesellschaftlichen Spaltung verstärken und somit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zusätzlich gefährden. In jener Hinsicht kann enorme politische und gesellschaftliche Polarisierung Demokratien destabilisieren, wie dies beispielsweise in der US-Amerikanischen Gesellschaft zu beobachten ist (vgl. Crouch 2021, S. 150-154). Unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes können soziale Bewegungen der äußersten Rechten kaum als anerkennenswerte Belebung der Demokratie gewertet werden, ganz zu schweigen von der antidemokratischen Ideologie, welche dahintersteht (vgl. Mudde 2020, S. 152-155).Crouch selbst geht im Buch in einem eigenen Kapitel auf die "Politik des nostalgischen Pessimismus" (Crouch 2021, S. 136) ein und stellt durch eine eingehende Analyse der populistischen Strategien und Inhalte eine kritische Distanz zu einschlägigen Bewegungen heraus. Insbesondere den Rechtspopulismus heutiger Akteur*innen der Neuen Rechten ergründet der Soziologe als antipluralistisch, antiegalitär und im Kern antidemokratisch, wenngleich diese Ausrichtungen in vielfältiger Weise öffentlich verschleiert werden (vgl. Crouch 2021, S. 169-172).ZwischenfazitDie Postdemokratie-These hat Potenziale für beide politischen Stoßrichtungen, welche in der Leitfrage des Beitrags pointiert gegenübergestellt wurden. Entscheidend sind ein reflektierter Umgang mit den Analysen sowie die gebotene Einordnung der Schlussfolgerungen im jeweiligen politischen Kontext. Zweifelsfrei ist dabei die Maxime zu beachten, niemals den Populismus antidemokratischer Kräfte zu stärken. Gleichermaßen darf die mögliche Angst vor dem schmalen Grat zwischen reflektierter sozialwissenschaftlicher Kritik und rechtspopulistischer Aufwiegelung keinesfalls zur Ignoranz postdemokratischer Missstände führen. Denn im Sinne von Jan-Werner Müllers Definition von Populismus sind "[a]lle Populisten [..] gegen das »Establishment« – aber nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist." (Müller 2016, S. 18 f.).Um die missbräuchliche argumentative Übernahme von Crouchs These durch demokratiefeindliche Rechtspopulist*innen wirksam zu verhindern, ist eine differenzierte Klarstellung im Sinne der politischen Einordnung von Crouchs Analysen erforderlich.Lösungsansatz: DifferenzierungAls Schlüssel zur fruchtbaren Berücksichtigung von Crouchs These im politikwissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Diskurs kann die Differenzierung zur Abgrenzung von rechtspopulistischen Narrativen dienen. Eine deutliche Unterscheidung ist im Sinne Colin Crouchs herauszustellen und in der Argumentation im Kontext der öffentlichen Debatte stets zu beachten, um sich deutlich von rechtspopulistischen Parolen abzugrenzen. So kann einer drohenden Enttabuisierung radikaler Positionen vorgebeugt werden, um diese Gefahr für die liberale Demokratie nicht zusätzlich argumentativ zu stützen. Zentrale Unterscheidungsmerkmale sollen nachfolgend erläutert werden.Rechtspopulistische Bewegungen sind lediglich vordergründig für mehr Demokratie und Mitbestimmung des Volkes. Denn im Kern widersprechen ihre kennzeichnenden Ideologeme liberaldemokratischen Werten, wie insbesondere der Antipluralismus deutlich macht. Die antipluralistische Ideologie steht in enger Verbindung mit dem exklusivistischen Vertretungsanspruch des Volkes und deren homogenen Interessen. Alle Gruppen und Individuen, welche sich aus diversen Gründen nicht diesem normalen Volk zurechnen lassen, werden rhetorisch exkludiert und sind Feindbilder der Rechtspopulist*innen. Dieser xenophobe Antipluralismus veranlasst die grundlegende Einordnung jener Bewegungen als illiberal und antidemokratisch (vgl. Wodak/bpb 2023).Crouch dagegen plädiert für die plurale Interessensvertretung heterogener Gruppen und Individuen als gleichberechtigte Teile einer demokratischen Gesellschaft. Darüber hinaus wird die Emanzipation jeglicher unterdrückter Gruppen innerhalb Crouchs Theorie als erstrebenswerter Moment der Demokratie angesehen, was in diametralem Gegensatz zum ideologischen Antifeminismus und Rassismus sowie zur Queerfeindlichkeit der äußersten Rechten steht (vgl. Crouch 2021, S. 22 f.).Das Verhältnis zum neoliberalen Kapitalismus markiert ebenfalls eine signifikante Differenz zwischen Crouchs Thesen und vorherrschenden Denkweisen der äußersten Rechten. Akteur*innen rechtspopulistischer Politik weisen deutliche antiegalitäre Überzeugungen auf, was programmatisch beispielsweise im angestrebten faktischen Abbau des Sozialstaats ersichtlich wird. Politisch forcierte Umverteilung im Sinne stärkerer sozialer Gerechtigkeit und striktere Regulierung von Lobbyarbeit, wie es von Crouch gefordert wird, steht dieser antiegalitären Haltung entgegen. Der sozialpolitisch im linken Spektrum einzuordnende Soziologe Crouch zeigt sich deutlich kritisch gegenüber neoliberal dominierter Politik und der Macht von Wirtschaftseliten. Als grundlegender zentraler Angriffspunkt der politischen Entwicklungen seit mehreren Jahrzehnten gilt der Neoliberalismus innerhalb seiner gesamten Analyse (vgl. Crouch 2021, S. 143; S. 234-238).Die Art der Beschreibung von Ursachen hinter beklagten Problemen der aktuellen politischen Situation stellt ein weiteres Unterscheidungsmerkmal dar. So weisen rechtspopulistische Narrative zuvörderst liberale Eliten und Migrant*innen als schuldige Sündenböcke aus, wobei diesen Akteur*innen prinzipiell unlautere Absichten unterstellt werden. Die vereinfachende Personifizierung von Schuld fungiert als bedeutender Aspekt der rechtspopulistischen Kommunikationsstrategien (vgl. Mudde 2020, S. 49-56).Die kritische Auseinandersetzung Crouchs mit postdemokratischen Tendenzen hingegen ist geprägt von der Darstellung komplexer Zusammenhänge von multiplen Ursachen. Simple Schuldzuweisungen werden dabei vermieden (vgl. Crouch 2021, S. 9; S. 24-26). Generell unterscheiden sich die Ausführungen Colin Crouchs im Charakter diametral von rechtspopulistischen Narrativen. Die nüchterne sozialwissenschaftliche Analyse beinhaltet die Herausarbeitung komplexer Entwicklungen und Zusammenhänge, während der Rechtspopulismus von allgemeiner Vereinfachung mit personalisierten Schuldzuweisungen und Feindbildern geprägt ist, welche zentrale Bestandteile rechtspopulistischer Kommunikation sind (vgl. Wodak/bpb 2023).FazitZusammenfassend ist zunächst die Relevanz der kritischen Ausführungen Crouchs zu rekapitulieren. Um die Zukunftsvision einer verbesserten Demokratie mit konkreten Maßnahmen anzustreben, ist eine analytische Grundlage bezüglich gegenwärtiger Probleme von Nöten, welche in der Postdemokratie-These gefunden werden kann. Die Ambivalenz der These angesichts einer möglichen Instrumentalisierung durch Populist*innen wurde verdeutlicht, wenngleich keine konkreten Zusammenhänge zwischen Crouchs These und dem Aufstieg der neuen Rechten nachgewiesen werden konnten.Die anschließende Erläuterung der Unterscheidungsmerkmale stellt eine unzweifelhafte Abgrenzung der Postdemokratie-These von der polemischen Ideologie der Rechtspopulist*innen dar. Dies verdeutlicht die aktuelle Notwendigkeit, im gesellschaftlichen Diskurs auf differenzierte Weise Entwicklungen des politischen Systems zu kritisieren, ohne dabei Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus zu geben. Denn die Gefahr, haltlose rechtspopulistische Parolen durch unangemessene Gleichsetzungen mit sachlichen Gegenwartsanalysen soziologisch aufzuladen und damit substantiell zu überhöhen, ist schließlich nicht zu missachten. Wenn jedoch die sozialwissenschaftlichen Analysen der Postdemokratie-These Crouchs wahrheitsgetreu Eingang in die politische Debatte finden, könnten sie der polemischen Argumentation vom rechten Rand die Substanz entziehen und diese als antidemokratisch entlarven, ohne dabei angezeigte Kritik am Status Quo der etablierten Demokratien auszuklammern.Die Fähigkeit zu einer solchen Differenzierung stellt insbesondere für angehende politische Bildner*innen eine bedeutende Kompetenz dar. Neben der stetigen Arbeit an den eigenen Fähigkeiten in diesem bedeutsamen Bereich kommt Lehrkräften die elementare Aufgabe zu, die Kompetenz der reflektierten Differenzierung an Schüler*innen zu vermitteln. Denn diese ist unerlässlich hinsichtlich der übergeordneten Zielperspektive, sie zu mündigen Bürger*innen als Teil einer lebendigen Demokratie werden zu lassen. Insbesondere angesichts der zunehmenden Polarisierung sämtlicher politischer und gesellschaftlicher Themen, die nicht zuletzt durch den Einfluss von Sozialen Medien und deren einschlägigen Mechanismen gefördert wird, ist dieser Ansatz nicht zu unterschätzen (vgl. Crouch 2021, S. 259 f.).Außerdem sind neue politische und gesellschaftliche Entwicklungen stets mitzudenken, was die Notwendigkeit einer fortwährenden Aktualisierung der sozialwissenschaftlichen Gegenwartsanalyse Colin Crouchs hervorhebt und eine stetige kritische Prüfung der Postdemokratie-These vor dem Hintergrund neuartiger Entwicklungen zweifellos miteinschließt.LiteraturBeckmann, Andreas (2021): Pandemie und Demokratie. Wurde der Kurs in der Corona-Politik ausreichend ausgehandelt? (Deutschlandfunk vom 02.09.2021), https://www.deutschlandfunk.de/pandemie-und-demokratie-wurde-der-kurs-in-der-corona-100.html [25.03.2024].Best, Volker; Decker, Frank; Fischer, Sandra et al. (2023): Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft? Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. (Hrsg.), Bonn.Crouch, Colin (2021): Postdemokratie revisited, Suhrkamp: Berlin.Fuhr, Lukas (2024): Protestforscher Dieter Rucht: "Der Höhepunkt der Demowelle liegt wohl hinter uns" (FAZ.NET vom 16.02.2024), https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/demos-gegen-rechtsextremismus-werden-laut-protestforscher-nachlassen-19518795.html#void [20.03.2024].Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Suhrkamp: Berlin.Hesse, Michael (2024): "Im Westen hält die Brandmauer noch": Politologe Colin Crouch über Rechtsextremismus (Frankfurter Rundschau vom 12.02.2024), https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/rechtsextremismus-politologe-colin-crouch-im-westen-haelt-die-brandmauer-noch-populismus-92826654.html [20.03.2024].Mudde, Cas (2020): Rechtsaußen. Extreme und radikale Rechte in der heutigen Politik weltweit, Dietz: Bonn.Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus?, Suhrkamp: Berlin.Wodak, Ruth (2023): Rechtspopulistische Diskursverschiebungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (bpb.de vom 20.10.2023), https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/diskurskultur-2023/541849/rechtspopulistische-diskursverschiebungen/ [26.03.2024].
Wenn Deutschland am 1. Januar 2019 in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einzieht, sind die Erwartungen groß. Die Bundesregierung soll und wird für den Erhalt der multilateralen Weltordnung kämpfen. Aber die zwei Jahre sind auch ein Test, ob Berlin außenpolitisch überhaupt noch handlungsfähig ist. (IP)