Der Soziologe als Hofnarr: zur politischen und soziologischen Aktualität des Denkens von Ralf Dahrendorf
In: Leviathan: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Band 38, Heft 1, S. 23-29
ISSN: 0340-0425
Durch das gesamte Werk von R. Dahrendorf zieht sich als roter Faden nicht nur eine innere Aufsässigkeit, zu der er sich in seiner Autobiografie bekannt hat, sondern auch ein fast sozialromantisches Eintreten für die Entrechteten, das gelegentlich fast Assoziationen an Robin Hood weckte. Umverteilen war seine Sache zwar nicht, aber gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, hat ihn immer wieder gereizt. Es gab einen marxianischen Zug an ihm, der ihn Entfremdung - komme sie nun als Bürokratie oder eingefahrene Konvention - geißeln und bekämpfen ließ. Nirgends wurde das deutlicher als in seiner "Skizze einer Rede an junge Menschen", in der er dazu aufforderte, sich vom Karrieredenken und der Gier nach Statussymbolen zu befreien und statt dessen nach Tätigkeiten zu trachten, die Spaß und Vergnügen bereiten und einen Beitrag zur Verbesserung der Welt leisten. Weil er kritische Reflexion und das Infragestellen von Selbstverständlichkeiten liebte, sah er sich gerne in der Rolle des Hofnarren, nicht nur in der Politik, sondern auch auf wissenschaftlichen Tagungen. Wer Dahrendorf verstehen will, muss ohne den Begriff des Sozialliberalen auskommen, kann aber auf den des Hofnarren, der mit Spaß und Vergnügen unbequeme Wahrheiten ausspricht und höfisches Treiben in Frage stellt, kaum verzichten. Eine Arbeitsteilung, in der Ökonomen in der bürgerlichen Gesellschaft die Rolle der Höflinge übernehmen, während Soziologen in der Rolle des Hofnarren oder auch der des Kindes agieren, das im Märchen "Des Kaisers neue Kleider" als einziger die Wahrheit "er hat doch gar nichts an" ausspricht, könnte sich für die Sozialwissenschaften durchaus als fruchtbar erweisen. (ICF2)