Identitätsstiftung durch eine europäische Verfassung
In: Die europäische Gesellschaft, S. 109-127
Verfassungen konkretisieren allgemeine Ordnungsvorstellungen und geben ihnen Verbindlichkeit. Sie tun dies durch die Bestimmung eines Herrschaftsverbandes, durch seine Außenabgrenzung, seinen Wertbezug und die Umschreibung des Geltungsbereichs. Verfassungsrechtliche Normierungen repräsentieren einen hohen Institutionalisierungsgrad von Wertbestimmungen und Verhaltensnormierungen, an denen sich Verhalten orientiert. Der Autor zeigt vor dem Hintergrund dieser Ausgangsbestimmungen Folgendes: Mit der Europäischen Union ist ein institutionalisierter Herrschaftsverband entstanden, der einer europäischen Identitätsbildung als Bezugsobjekt dienen kann. Damit ist erstmals neben die geographischen, kulturellen und historischen Vorstellungen von Europa ein politischer Ordnungsbegriff getreten. Die Europäische Union ist jedoch ein hyperkomplexes Mehrebenensystem, das supranationale, nationale, regionale und vielfältige intermediäre und zivilgesellschaftliche Interessenbildungen und Konfliktlösungsprozesse umfasst. Auf allen diesen Ebenen bilden sich Identifikationsprozesse aus, die den Akteuren situationsspezifische Sinnbezüge für ihr Handeln bieten. Innerhalb dieses Verbundes von multiplen Identifikationen entwickelt sich eine "postnationale Identität" mit Europa, die sich aus tradierten Identifikationen mit der Kultur, Geschichte und Sprache der Nationalstaaten löst, ohne dass diese deswegen an Orientierungskraft verlieren. Je nach der konkreten Handlungssituation und ihrer Sinnbedeutung wird die eine oder andere Identifikation handlungsleitend. (ICA2)