Im Widerstreit von Werten und Interessen: die Beziehungen der EU mit Russland oder gesinnungsethische Illusionen
In: Europäisch Denken und Lehren: Festschrift für Heinrich Neisser, S. 193-200
Russland wird, so der Verfasser, trotz Diversifikation der Lieferländer der EU-27 ein zentraler Versorger bleiben. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Russland seit Jahren versucht, seine Marktposition gegenüber den Abnehmerländern zu verbessern. Die russländischen Energieträger werden daher nicht mehr ausschließlich für EU-Märkte verfügbar sein. Dabei steigt der Produktionszuwachs im russländischen Öl- und Gassektor ohnehin nicht stark genug, um den wachsenden Binnenverbrauch und die Nachfrage der EU-27 befriedigen zu können. Die EU wird sich zudem im immer schärfer werdenden globalen Nachfragewettbewerb nach Erdgas und anderen Energieträgern mit Indien, der VR China und den USA befinden. Russland wird mit einem außerordentlich hohen Finanzvolumen seine Gas- und Ölpipelinenetze nach Ostasien ausbauen, um neue Märkte in China, Japan, Korea, den USA, Kanada und Mexiko zu erschließen. Ein wirkliches Konkurrenzverhältnis könnte aber zwischen der EU und der USA entstehen. Aus dieser Interessenkonstellation ergibt sich für eine nüchterne Energiepolitik der EU neben der Diversifikation von Energieträgern und Energieversorgern auch eine zwingende langfristige, möglichst transparente Zusammenarbeit mit Russland im Energiesektor unter größtmöglicher Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen. Die Konsequenzen für die Debatte über werte- oder interessenbasierte Beziehungen der EU mit Russland sind klar: Die Vermengung der strategischen Interessen im Energiesektor mit Menschenrechtsfragen ist unverantwortlich - wegen der strategischen Bedeutung Russlands für die europäische Energieversorgung, v. a. aber wegen der ohnehin beschränkten Möglichkeiten, den Demokratisierungsprozess in Russland nachhaltig voranzutreiben. (ICF2)