Sozialstrukturen und Geschlechterverhältnisse in Lateinamerika: Mythen und statistische Halbwahrheiten
In: Frauen (und) Macht in Lateinamerika, S. 141-164
"Strukturmuster der sozialen Ungleichheit stehen weltweit seit mehreren Jahrzehnten unter verschieden methodischen, theoretischen und ideologischen Vorzeichen im Zentrum sozialwissenschaftlicher Debatten. Die Ungleichheitsforschung ist ein unübersichtliches und bisweilen trübes Gewässer, das von unterschiedlichen Strömungen und Strudeln durchzogen ist. Makroperspektivische Strömungen der Ungleichheitsforschung konzentrieren sich sowohl auf multivariate Armutsanalysen als auch auf die Frage nach der Zu- oder Abnahme sub-nationaler, nationaler und globaler Ungleichheiten (vgl. Tokman/ O'Donnell 1998; Wade/ Wolf 2003; Addison/ Hulme/ Kanbur 2009). In der mikroperspektivischen Ungleichheitsforschung wurde in den letzten Jahren der im Kontext der Gender Studies, Queer Studies, Postcolonial Studies und Critical Race Studies entwickelte Intersektionalitätsansatz zu einem prominenten Paradigma (Lutz/ Herrera Vivar/ Supik 2011), das auch Arbeiten über lateinamerikanische Strukturmuster der sozialen Ungleichheit inspiriert. Hinter dem Begriff Intersektionalität verbirgt sich der ambitionierte Anspruch, eine komplexe Matrix von Privilegierungen und Unterdrückungen in den Blick zu nehmen, die sich gegenseitig verstärken oder auch abschwächen können. Konkret geht es dabei um ungleichheitsgenerierende Kategorien wie Klasse, 'Rasse', Geschlecht, Ethnizität, Religion, Sexualität, Alter und geographische Herkunft. Während sich mikroperspektivische Intersektionalitätsanalysen in der Regel durch einen kritischen und dekonstruktivistischen Anspruch auszeichnen, der insbesondere auch das System der Zweigeschlechtlichkeit hinterfragt, lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die binäre Konstruktion von Geschlecht, die auch in der sozialstatistischen Unterscheidung zwischen genau zwei Genusstypen sichtbar ist, aus einer makroperspektivischen Perspektive oft unhinterfragt reproduziert wird." (Textauszug)