"Der Artikel führt in Alfred Loerzers tiefenhermeneutische Kulturanalyse ein. Lorenzer schlägt eine Methode vor, die in dem methodologischen Umfeld der arbeitsteiligen Aufspaltung von Sozialwissenschaften, Psychologie und Psychoanalyse begründet ist. Dieser Forschungsansatz ist der Hintergrund seiner materialistischen Sozialisationstheorie, die eine Reinterpretation von Grundbegriffen der klassischen Psychoanalyse - des Unbewussten, der Triebe usw. - mit einer Sprachtheorie verbindet. Lorenzer hat das 'szenische Verstehen' im klinischen Deuten der Psychoanalyse in ein Textinterpretationsverfahren transformiert. Es geht darin um das Verständnis kollektiver unbewusster Bedeutungen eines Textes. Diese Methode der Textinterpretation wird mit sozialwissenschaftlichen Verfahren der Textinterpretation verglichen. Daran schließt sich ein kurzer systematischer Überblick über Loerzers Schlüsselbegriffe an - Interaktionsformen, Engramme, Erfahrung, Symbolisierung, Sprachspiel, utopische Phantasie - in Verbindung mit Begriffen der Soziologie der Frankfurter Schule. Die Praxis von Loerzers Interpretationsverfahren wird zusammenfassend an einem psychosozialen Forschungsprojekt kurz vorgestellt. Darin spielt das Forschungssubjekt bei der Entdeckung von unbewussten Bedeutungen in der sozialen Interaktion eine besondere Rolle. Loerzers Ansatz, die Individuen als gesellschaftlich produzierte Wesen zu theoretisieren und zu erforschen, erscheint als eine psychosoziale Alternative zum Mainstream des sozialen Konstruktivismus." (Autorenreferat)
"International zu beobachtende rechtlich-institutionelle Bemühungen, selektives 'policing race' zu reduzieren, werden durch die zunehmende Raumorientierung der Polizeiarbeit konterkariert, weil 'policing space' tendenziell von sozialen Verhältnissen sowie Zuschreibungen abstrahiert, gerade dadurch eine Selektivität des polizeilichen Zugriffs bewirkt und so diskriminierende gesellschaftliche Strukturen reproduziert. Aufbauend auf Diskussionen der Produktion des Raums, der Definitionsmacht der Polizei sowie dem Zusammenhang beider Aspekte in Institutionalisierungen und Alltag des policings, wird diese These anhand polizeilich ausgewiesener 'Gefahrengebiete' in Hamburg illustriert." (Autorenreferat)
"Ausgehend von der Annahme, dass alle geäußerte Emotion ein Resultat soziokultureller Prägung ist ergibt sich, dass Emotionen historisch variabel sind, da sie zum kulturellen Fundus einer jeweiligen Gesellschaft gehören. Analog zum Wortschatz einer Sprache lassen sich je gesellschaftsspezifische Gefühlslexika mit größerem oder kleinerem "Gefühlsschatz" bilden, in denen die Emotionen mit ihren dinglichen Korrelaten aufgelistet bzw. umgekehrt die Dinge mit ihren emotionalen Konnotationen (Tod/Angst; Mutter/Liebe) eingetragen sind. Als Momente kreativer Vollzüge sind Gefühle darüber hinaus auf ein habituelles Gedächtnis angewiesen, wobei hier aber die erfahrenen Emotionen nicht als vorgestellte Vergangenheit, sondern als fortdauernde Wirkung präsent sind (Kondensation im Sinne Luhmanns). Die sinnhafte Konstitution und Gestaltung einer Situation bedarf eben auch der sie interpretierenden Emotionen. Zum Gefühlshaushalt von Gesellschaften gehört auch ihre je differenzielle Normierung sowohl in normativer Hinsicht (moralisch, kognitiv, kathektisch) wie auch auf der Ebene situations-, rollen- und kontextspezifischen Orientierung im Sinne der Parsons'schen Pattern Variables, so dass man auf diese Weise den gesamten Rollenhaushalt einer Gesellschaft danach rubrizieren könnte, je nachdem, welche Bedeutung jeweils Affekte haben und wie legitim ihr Ausdruck ist." [Autorenreferat]
Der Beitrag widmet sich dem qualitativen Verfahren der Hermeneutik in den Sozialwissenschaften. Zunächst werden die Unterschiede zwischen Verstehen und Fremdverstehen in Alltag und Wissenschaft dargestellt, um schließlich auf die Besonderheiten des sozialwissenschaftlichen Verstehens einzugehen. "Sozialwissenschaftliches Verstehen soll dazu dienen, gesellschaftliche Wirklichkeit(en) angemessen und stimmig, zuverlässig, gültig und überprüfbar zu rekonstruieren. Sozialwissenschaftliches Verstehen zielt, anders als andere artifizielle Verstehensformen auf die Erkenntnis des Typischen, und zwar sowohl des typischen Handelns als auch des mit diesem zusammenhängenden typischen Wissens, wie schließlich auch des typischen alltäglichen Verstehens. (...) Das hier vorgestellte interpretative Vorgehen ist mithin ein Interaktionsverstehen in grundsätzlicher (zeitlicher) Distanz zum Interaktionsgeschehen selber. D. h., daß das Verstehen des Sozialwissenschaftlers sich nicht auf eine aktuelle, lebendige Umwelt, sondern auf das erfahrungsgesättigte und kompetente Imaginieren einer Mit- oder Vorwelt bezieht. Sein Verstehen geschieht in einer besonderen Einstellung, die sich einerseits auf die allgemeinen Bedingungen und Verfahren sowohl alltäglicher als auch wissenschaftlicher Auslegungen und andererseits auf 'alle Probleme der Vernunft - der Vernunft in allen ihren Sondergestalten richtet'. Das aber impliziert eine Einstellung des prinzipiellen Zweifels an sozialen Selbstverständlichkeiten, eine Einstellung, die man als ,methodischen Skeptizismus' oder, etwas pointiert, auch als 'künstliche Dummheit' bezeichnen könnte. Die herkömmliche sozialwissenschaftliche Forschungspraxis klärt hingegen nicht, zumindest nicht genügend, wie ihr Wissen und Erkenntnis über die Lebenswelt des Anderen überhaupt möglich ist. Die herkömmliche Forschungspraxis setzt vielmehr ihre Gegenstände, ohne Rechenschaft darüber zu geben, wie sie sich konstituieren. Sie perpetuiert somit unreflektiert den 'gesunden Menschenverstand' des Alltags im sogenannten 'Fachverstand' der Sozialwissenschaften. Der Unterschied zwischen 'verstehenden' und 'nichtverstehenden' Verfahren besteht demnach also keineswegs darin, daß es die letzteren mit 'nackten Tatsachen' zu tun hätten, sondern eher darin, wie reflektiert bzw. unreflektiert von Beginn an die einzelnen Deutungsschritte absolviert werden." (FR2)
Frontmatter -- Preface -- Table of Contents -- List of Abbreviations/Siglenverzeichnis -- Editors' Introduction. The Owl's Flight. Hegel's Legacy in a Different Voice -- Introduction -- Hegel's Theory of Absolute Spirit as Aesthetic Theory -- Section 1 The Night of Reason -- The Dark Side of Thought. The Body, the Unconscious and Madness in Hegel's Philosophy -- The Feminine in Hegel. Between Tragedy and Magic -- A Plastic Anthropology? Dialectics and Neuroscience in Catherine Malabou's Thought -- Maternal Consciousness and Recognition in the Anthropology of Hegel -- The Rise of Human Freedom in Hegel's Anthropology -- Seele, Verrücktheit, Intersubjektivität. Einige Überlegungen zu Hegels Anthropologie -- Die Behandlung der psychischen Störung. Hegel und Pinel gegen die De-Humanisierung der Geisteskranken -- Verrücktheit und Idealisierung. Wachen, Schlaf, Traum in Hegels Philosophie des Geistes -- Im wachen Zustand träumen. Der Einfluss der Gefühle auf die Entstehung psychischer Krankheiten -- Dialectics of Madness: Foucault, Hegel, and the Opening of the Speculative -- Section 2 Women for and against Hegel -- Hegel's Master and Servant Dialectics in the Feminist Debate -- Giving an Account of Precarious Life and Vulnerability. Antigone's Wisdom after Hegel -- "Men and women are wonderfully alike after all". The Practical Adaption of Hegel by Anna C. Brackett (1836–1911) -- Simone de Beauvoir Reading Hegel. The Master-Slave Dialectic -- Irigaray as a Reader of Hegel. The Feminine as a Marginal Presence -- Domination and Exploitation. Feminist Views on the Relational Subject -- Subversion without Subject? Criticism of the Dissolution of Nature and I-Identity in Performativity -- Considerations on the Female Body between Political Theory and Feminism. The Rehabilitation of Hegel? -- Reading Hegel on Women and Laughing. Hegel against or with Women/Other? -- Section 3 Female Characters in Hegel's Philosophy -- Hegel's Constellation of the Feminine between Philosophy and Life. A Tribute to Dieter Henrich's Konstellationsforschung -- Von Antigone zur anständigen Frau. Hegels Frauenbild im Spannungsfeld zwischen der Phänomenologie des Geistes und der Rechtsphilosophie von 1820 -- "Der Stand der Frau − Hausfrau". Hegels Affirmation der bürgerlichen Geschlechterverhältnisse -- Antigone and the Phenomenology of Spirit. Between Literary Source (vv. 925–928) and Philosophical Reading -- The Feminist Potential of Hegel's Tragic Heroines -- Welches Recht ist gerecht? 'Sittlichkeit' und 'Gerechtigkeit' in Hegels Deutung der Antigone -- Antigone's Guilt. Reading Antigone with Hegel and Butler -- Die Tochter der Nacht: "Nemesis" im Maß. Das Maßlose und die absolute Indifferenz in Hegels Wissenschaft der Logik -- Die mütterliche Seite der Dreieinigkeit an einer Stelle der Phänomenologie des Geistes -- The Sphinx and Hegel's Philosophy of History. On the Philosophical Riddle -- Section 4 The Twentieth Century and Hegel: Subversion or Conciliation? -- Subversion or Conciliation? The Challenges of Hegel's Legacy -- Hegels Relevanz für den heutigen Diskurs zu "Gemeinschaft/Community" -- The Work of Man and the End-of-History. Hegel Transfigured by Kojève's Thought -- Subjects of Desire and Law Hypothesis on Kojève's Hegel -- Der Andere in der Begierde. Kojèves Hegelianismus und dessen Einfluss auf die französische Philosophie -- Kreis und Ellipse Adornos Kritik an Hegel -- The Hegelian Influence in Adorno's Construction of the Idea of Nature -- Difference and Affirmation. Deleuze against Hegel -- WO-MAN DIFFÉRANCE (I): Figuras indecidibles. Sexual Difference and Gender (Hegel read by Heidegger, read by Derrida, read by Cixous, read by Butler … et ainsi de suite) -- The Logic of Remains in Derrida -- With Portia in the Passage towards Philosophy. The Place of Translation in Hegel's System -- Reading Hegel's Phenomenology of Spirit. A Feminist Issue -- Section 5 Re-thinking the Absolute Spirit -- Suggestions on a Re-interpretation of Hegel's Philosophy of Absolute Spirit -- Friendship and Religion. Some Missing Elements in Hegel's Conception of "Lordship and Bondage" -- "Das Lob der Frauen". Hegel und das ästhetische Ideal Schillers -- The Reins of the Inconceivable. Contemporary Echoes of Hegel's Theory on Symbolic Art: Interpreting Kapoor's Art between Danto, Mitchell and Gadamer -- Philosophy and the End of Art. Hegel in Danto's View -- Judaism as the Other of Greek-Christian Civilization. Samuel Hirsch, Franz Rosenzweig, and Ernst Cassirer on Hegel's Religionsphilosophie -- Von Homer bis Hegel. Die Konzeption der Geschichte in Homer und der 'Traum des Hades' als vorstrukturierte Lesart der Hegelschen spekulativen Philosophie -- Hegel's Thought in Egypt. The "East", Islam, and the Course of History -- The "Feminine". A Breach in the Absolute Levinasian Anti-idealism -- Conclusion -- Critique, Refutation, Appropriation: Strategies of Hegel's Dialectic -- List of Contributors -- Editors -- Invited Contributors -- Selected Papers -- Index
Zugriffsoptionen:
Die folgenden Links führen aus den jeweiligen lokalen Bibliotheken zum Volltext:
Ausgangslage Aufgrund der Corona Pandemie wurden im Kanton Zürich (Schweiz) politische Massnahmen zu deren Eindämmung beschlossen (Zeitraum März 2020-aktuell), welche auf die Lebenslage, die Lebenswelt sowie die Lebensbewältigung von Sexarbeiter*innen einen grossen Einfluss haben (z.B. Berufsverbot). Sexarbeiter*innen werden gesellschaftlich und politisch als besondere Risikogruppe identifiziert. Nebst den gesundheitlichen Risiken führt die Pandemie zu finanziellen Problemen. Wenn das Einkommen wegfällt, kein Vermögen vorhanden ist und der Zugang zu staatlichen Erwerbsersatzansprüche (Sozialhilfe oder Ansprüche aus diversen Sozialversicherungen) eingeschränkt oder verunmöglicht ist, z.B. aufgrund des Aufenthaltsstatus, drohen schnell Mittellosigkeit und Wohnungsverlust. Mediale und politische Stigmatisierung sowie soziale Isolation erhöhen die Belastung zusätzlich. Ziele Das Forschungsprojekt "Sexwork und Corona" untersucht im Kontext der politischen Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus deren Auswirkungen auf die Lebenslage von Sexarbeiter*innen in der Stadt Zürich, die Lebensbewältigungsstrategien, welche sie in der Pandemie entwickelt haben, und was dies für die Wirksamkeit der Massnahmen zu Bekämpfung der Pandemie bedeutet. Methode Im empirischen Teil der Untersuchung wurden im April 2021 14 Fachpersonen aus Organisationen befragt, welche mit Sexarbeiter*innen als Zielklientel arbeiten und diese während der Corona-Pandemie unterstützt haben. Anhand der Aussagen der Fachpersonen konnten erste Erkenntnisse zu den Lebenslagen, Lebenswelten und der Lebensbewältigung von Sexarbeiter*innen festgehalten werden. Zudem ermöglichten diese Gespräche eine erste Einschätzung der Narrative im öffentlichen Diskurs über Sexarbeit und Corona. Im Weiteren lieferten sie Informationen über die Auswirkungen der Massnahmen auf die soziale und medizinische Unterstützung von Sexarbeiter*innen und über die deshalb erfolgten Angebotsanpassungen. Danach wurden 11 Sexarbeiter*innen befragt. Dabei variierten Geschlecht (Frauen, Männer, Trans), Aufenthaltsstatus (Sans-Papiers, 90-Tage-Visum für selbstständig erwerbstätige EU-Bürger*innen, Niederlassung B oder C, Schweizer Bürgerschaft), Herkunft (Schweiz, Deutschland, Osteuropa, ehemaliges Jugoslawien, Südeuropa, Südamerika), Art und Form der ausgeübten Sexarbeit (Strassensexarbeit, Escort, Club/Bordell/Salon, Domina). Für ein Interview nicht erreicht werden konnten Sexarbeiter*innen aus Afrika. Die Interviews basierten auf einem Leitfaden und wurden ausnahmslos vor Ort durchgeführt. Teilweise wurden die Interviews durch Fachpersonen übersetzt oder von den Interviewerinnen in einer anderen Sprache als Deutsch geführt. Dem empirischen Teil wurden eine Literaturanalyse und eine Analyse der politischen Vorstösse vorangestellt. Ergebnis Die vorliegende Untersuchung folgte dem Ansatz, Lebenslage, Lebenswelt und Lebensbewältigungsstrategien von Sexarbeiter*innen während der Corona-Pandemie im Kanton Zürich zu untersuchen. Das Konzept folgt der Definition von Björn Kraus (2014), der sich dabei auf eine etablierte Theorie innerhalb der Sozialen Arbeit von Hans Thiersch und Lothar Bönisch bezieht. Die sogenannte Lebensweltorientierung formuliert die These, dass sozialarbeiterische Interventionen wirkungsvoller sind, wenn sie sich an der Lebenswelt der Adressat*innen orientieren. In der vorliegenden Arbeit wurde diese Prämisse auf gesundheitspolitische Regulierungen während der Corona-Pandemie im Kanton Zürich angewendet. Die Frage war, ob die kantonalen Massnahmen gegen die Corona-Pandemie im Sexgewerbe auf Lebenslage, Lebenswelt und Lebensbewältigungsmöglichkeiten von Sexarbeiter*innen abgestimmt waren. Die Antwort lautet: Nein, es wurde nicht beachtet, dass Massnahmen, die für die breite Bevölkerung gedacht waren, wie z.B. die Registrierungspflicht, bei einer bestimmten Zielgruppe in einer besonderen Lebenslage nicht funktionieren oder sogar kontraproduktiv wirken würden. In den Interviews mit Sexarbeiter*innen und Fachpersonen zeigte sich, dass die Vulnerabilität von Sexarbeiter*Innen durch die Coronakrise multidimensional bedingt war. Es waren Kombinationen verschiedener Faktoren, welche die individuelle Lebenslage, ihre Deutung und die Möglichkeiten zur Lebensbewältigung bestimmten. So kann nicht davon ausgegangen werden, dass nur einzelne spezifische Faktoren (z.B. Geschlecht, Aufenthaltsstatus, Arbeitsort) die erhöhte Vulnerabilität ausmachen, sondern diese als Zusammenspiel verschiedener Dimensionen aufeinander einwirken. Empfehlungen Die empirischen Daten haben gezeigt, dass Sexarbeiter*innen stark von den Massnahmen betroffen waren, an deren Ausarbeitung sie nicht beteiligt waren. Gefässe zu installieren, an welchen Betroffene sowie Fachstellen mitwirken können, um Massnahmen zu formulieren, ist unter diesem Gesichtspunkt eine erste Empfehlung. Mitwirkung kann sowohl die Effektivität als auch die Akzeptanz solcher Massnahmen erhöhen. Auch der Austausch von Informationen und Ideen zwischen Stadt, Kanton, Bund und Fachstellen, wie etwa ein runder Tisch, wäre hilfreich gewesen. Grundsätzlich wird empfohlen, in einem ähnlichen Fall kein Berufsverbot auszusprechen und auch nicht allgemeine Hygienebestimmungen unabhängig von der besonderen Situation aus das Sexgewerbe zu übertragen. Die negativen Effekte überwiegen die positiven, insbesondere beim Versuch des Contact-Tracings mittel Registrierung der Freier. Es wäre sinnvoller, Massnahmen zu entwickeln, die auf die Situation im Sexgewerbe abgestimmt sind und darum auch umgesetzt werden können. Dazu bedarf es einer ernsthaften Auseinandersetzung der zuständigen Behörden mit Lebenslage, Lebenswelt und Lebensbewältigungsfähigkeiten von Sexarbeiter*innen. Das kann auch im Austausch mit involvierten Sozialarbeiter*innen oder Fachstellen erfolgen. Bei einer Einschränkung der Berufsausübung, wie dies beim Arbeitsverbot der Fall war, muss der daraus entstanden Erwerbsausfall systematisch ersetzt werden. Wird dies wie im vorliegenden Fall nicht oder bloss punktuell gemacht, entwickeln die verschiedenen Beteiligten ihre eigenen Überlebensstrategien. Das kann den eigentlichen Zielen des Arbeitsverbotes zuwiderlaufen und kontraproduktive Effekte erzeugen. Die Hilfen sollten unbürokratisch, umfassend und insbesondere nachhaltig ausgerichtet werden. Finanzielle Hilfen konnten zwar während der Pandemie durch Fachstellen ausbezahlt werden, zeigten sich jedoch nicht als nachhaltig bzw. reichten nicht für alle, die Anspruch gehabt hätten. Die Fachstellen gerieten durch die Rollenerweiterung in eine kontrollierende Rolle, was für den eigentlichen Auftrag hinderlich sein kann. Weil der Regierungsrat das Verbot verordnet hat, die Unterstützung von Sexarbeiter*innen aber Kommunen und Privaten überlassen hat, war die Situation unübersichtlich und unkoordiniert. Sowohl die gesetzlichen Bestimmungen als auch ihr Vollzug müssen einheitlich und koordiniert sein. Weder das Eine noch das Andere war während der Corona-Pandemie der Fall. Die kantonalen Regelungen waren extrem unterschiedlich, sodass es zu Verlagerungen von einem Kanton in andere kam. Und auch der Vollzug war im Kanton Zürich disparat und unübersichtlich. Das erhöhte die Wirkung der Massnahmen keinesfalls. Der Eindruck schlecht koordinierten Vorgehens entstand nicht nur in Bezug auf die Durchsetzung des Verbotes. Auch bei den unterstützenden Organisationen mangelte es zuweilen an gegenseitiger Information und Absprachen. Insbesondere hätte man sich arbeitsteilig organisieren und so die vorhandenen Ressourcen gezielter ausschöpfen können.
Mit Blick auf das Phänomen mobiler Kommunikationstechnologien konstatiert Timo Kaerlein eine "eigentümliche Diskurslücke" in der deutschsprachigen Medienwissenschaft, welche "umso bemerkenswerter" erscheine, "wenn man die soziokulturelle Bedeutung eines Mediums zumindest heuristisch an seinem ökonomischen Erfolg bemisst" (S. 50). Die gute Nachricht: Mit seiner Monographie Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. Zur Kybernetisierung des Alltags schließt er einige solcher Lücken und schafft für viele weitere eine Grundlage zur weiteren Bearbeitung. Den Einstieg unternimmt Kaerlein mit einer behutsamen Kritik jüngerer maschinenstürmender Pamphlete älterer Digitalkulturkritiker wie Hans-Magnus Enzensberger ('Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg') und Frank Schirrmacher ('Mein Kopf kommt nicht mehr mit'), deren Ansinnen er uns rund 200 Seiten später als "Wunsch nach Selbstamputation" (S. 223) enthüllen wird, vergleichbar der Körperschemastörung Xenomelie und damit einer "organische[n] Ausbildung einer Gliedmaße, die allerdings 'unbeseelt' bleibt" (S. 222). Damit ist auch schon verraten, wohin die Reise mit Kaerlein geht: Indem er Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien entwirft, kann er nicht nur kulturpessimistische Deutungen in sein Schema integrieren, er entwickelt insbesondere einen Weg, Smartphones als angesiedelt im Übergang von Körper und Technik begreifbar zu machen – und das ohne die naiven, dyadischen Verhältnisse von Mensch und Medienobjekt zu beschwören, wie sie den Diskurs über Smartphonegebrauch beherrschen. Dabei arbeitet sich Kaerlein vergleichbar einer Wendeltreppe voran, um den Gegenstand mit jeder Windung mit einem zusätzlichen Beschreibungsniveau zu verdichten. Er beginnt mit der Präsentation einer Definition von Nahkörpertechnologien als "portable internetfähige Computer [.] die aufgrund ihrer Größe und Form sowie der temporalen Intensität ihrer Nutzung einen privilegierten Körperbezug aufweisen" (Herv. i. O., S. 31). Seine Bezugsdisziplinen – nicht bloß der angesprochenen Lücke, sondern vielmehr der Genese des Gegenstands geschuldet – sind dabei vielfältig: Entsprechend bietet das zweite Kapitel "Bring your own device" eine breite Aufarbeitung einschlägiger Literatur und Herangehensweisen an Mobiltelefon- und Smartphonekulturen, welche das Buch schon allein deswegen für jede_n lohnenswert macht, die oder der sich diese zum Gegenstand machen wollen. Ebenfalls sehr instruktiv ist das dritte Kapitel "Institutional, Personal, Intimate Computing", in dem Kaerlein eine auf das Smartphone hin geschärfte Zusammenschau der Computergeschichte liefert, welche plausibel macht, inwieweit Schemen digitaler Nahkörpertechnologien der Gegenwart bereits in den 1960ern wahrnehmbar waren. Wer auf der Suche ist nach einem Text, der Militärtechnik, Engelbart und Licklider, Dynabook, Apple und kalifornische Ideologie eingängig verhandelt, wird hier fündig. Als Kernkapitel schließlich nimmt sich das vierte aus, bei dem nun die "Verkörperungen des Smartphones" thematisch werden. Aus dem – zunächst entfalteten – Katalog der Körperlichkeits- bzw. Embodiment-Konzepte wählt Kaerlein drei aus, um diese bis zum Smartphone auszuweiten: das der Affordanzen (primär nach J.J. Gibson), das die Aufmerksamkeit auf das Potenzial der Möglichkeiten eines Damit-Tuns richtet; das der Körpertechniken (im Anschluss an Mauss bzw. Schüttpelz), bei denen der Körper als primäres Mittel technischer Vermittlung gilt; und das des Körperschemas (nach Head, Schilder, Lhermitte und Merleau-Ponty, wobei v. a. letzter explizit in der Human-Computer-Interface-Forschung Anwendung gefunden hat), das nachvollzieht, wie alle Umweltbezüge des Leibes – etwa auch bediente Geräte – in diesen integriert werden. Wie in den übrigen Kapiteln finden sich vielerlei Anregungen zum Umgang mit dem sich entziehenden Smartphone – zugleich wünscht man sich, Kaerlein würde noch länger verweilen bei der eigentlichen Anwendung seiner gut präparierten Instrumente. So werden die Affordanzen des Smartphones kompakt auf zwei Netto-Seiten (d. h. ohne Fußnoten) durchdekliniert – es ist die These spannend, dass "das Smartphone dann in ein exploratives Verhalten übergeht, sobald weitere Affordanzen von der Software ausgehen" (S. 169) und eben deswegen würde man sie gerne noch in weiteren Analysen getestet sehen. Selbes gilt für die Körpertechniken: Die Anwendungspassagen "Gehen mit dem Smartphone" (S. 184–190) als auch "Im Bett mit dem Smartphone" (S. 190–194) verlangen fast nach einer Ausweitung auf je 20-seitige Beiträge, vergleichbar etwa dem inspirierenden, von Kaerlein ebenfalls diskutierten Text von Heidi Rae Cooley über "The Hand, the Mobile Screenic Device and Tactile Vision"[1]. Auch wenn Kaerlein sich eingangs einer paranoisch-schizophrenen Medienwissenschaft nach dem Vorbild Kittlers (oder Schrebers) verschreibt, wünscht man sich hier die Individualisierungen, die jener womöglich verdächtig erscheinen. Als zweitwichtigstes Kapitel erscheint Nummer 5, "Handhelds and Landhelds – Zum Technologisch-Unbewussten des Smartphones", in welchem er eben dieses Unbewusste in Nachfolge von u. a. Baudry, Comolli und Anders ('Apparate-Es') skizziert als das Nicht-Sichtbare, dass das Medium entscheidend konstituiert: "Das Smartphone scheint reduziert auf das Interface eines berührungsempfindlichen Bildschirms, der fast die gesamte Oberfläche des Geräts einnimmt. Batterie, Prozessor, Antenne, Sensoren, Lautsprecher und andere technische Komponenten sind fest im Gehäuse verbaut und gelangen nicht zur Sichtbarkeit" (S. 239). Eben solche unsichtbaren Aspekte gilt es damit einzuholen – und zwar, mit Verweis auf Galloway, erst recht jene durch Datenspuren und IT-Protokolle geschaffenen Bereiche noch jenseits des Geräts. Kapitel 6 und 7 (Fazit) schließlich nehmen sich Fragen der Kybernetisierung des Alltags vor und enden mit dem wichtigen Appell, die Ausverhandlung der Nähe zu unseren Geräten als politischen Prozess zu verstehen (und nicht etwa die Verantwortung den Einzelnen zuzusprechen). Was bietet das Buch also als Ganzes? Auf alle Fälle eine willkommene Unterlage für weitere Erkundungen des Smartphones und ein reichhaltiges Bündel möglicher Instrumente für diese – wie erwähnt weckt es auch den Wunsch nach tiefergehenden Analysen, was keineswegs ein Malus ist, sondern ein hilfreicher Hinweis für künftige Untersuchungen. Dazu würde auch eine neuerliche Befragung des Urteils Kaerleins zählen, dass es sich beim Smartphone eher nicht um ein persönliches Medium handele, da es sowohl beobachtbare Praktiken des Teilens gäbe als auch User_innen, die mehrere Geräte besäßen (vgl. S. 58). Die Vermutung der Rezensentin ist, dass gerade das Technologisch-Unbewusste des Smartphones von Deutungslogiken angetrieben wird, die selbst in diesen Fällen noch eindeutige IDs herauszurechnen imstande sind – angefangen von der Mobilfunknummer hin zu den vielfältigen Identifikatoren der Datenplattformen (denn wie viele Google-Identitäten kann ein Mensch auf je nur einem Gerät betreiben?). Insofern das Urteil: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien – für die eigene Anschaffung oder Empfehlung an die medienwissenschaftliche Bibliothek des Vertrauens in jedem Fall empfohlen. [1] Heidi Rae Cooley, "It's All About the Fit. The Hand, the Mobile Screenic Device and Tactile Vision", in: Journal of Visual Culture, 3/2 (2004), S. 133-155.
"Sie sah ihn nicht einmal an, […] Morten küsste sie langsam und umständlich auf den Mund. Dann sahen sie nach verschiedenen Richtungen in den Sand und schämten sich über die Maße." Scham – ein Gefühl, das die Menschheit seit Jahrtausenden begleitet. In diesem Zitat aus Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie klingt ein kleiner Teilaspekt eines menschlichen Phänomens an, das von sexueller Scham, Scheu, Schuld bis zu Schande, Peinlichkeit, Schamhaftigkeit reicht und in einer 2009 veranstalteten Tagung "Zur Kulturgeschichte der Scham" vom Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz Landau analysiert wurde. Das daraus entstandene Buch präsentiert ein bunt gemischtes Programm aus zwölf Beiträgen zur Scham, wobei theologische, soziologische, moralphilosophische neben anthropologischen und historischen Zugängen für eine Diversität sorgen, die für diese Thematik fruchtbar ist. In "Zur Nacktheit und Scham in Genesis 2–3" (Erzählung der Vertreibung aus dem Paradies in der Bibel) erläutert die Herausgeberin Michaela Bauks semantisch wie das doppeldeutige Wort 'Scham' (weibliche Scham bzw. Gefühl der Scham) unterschiedlich gedeutet und übersetzt wurde. Das im Althebräischen zunächst als "Schande, Beschämung" begriffene Wort verwandelt sich im Mittelhebräischen in "Schamhaftigkeit". Spätestens im Mittelalter wird die Vertreibung aus dem Paradies als "Sündenfall" bewertet. Bauks kommt zu dem Schluss, dass das Sich-Schämen im Paradies aber nicht sexuell besetzt ist, sondern als ein "In-Schande-Sein als Konsequenz unloyalen Verhaltens gegenüber Gott" (S. 23) zu werten sei. Gott stattet die Menschen letztendlich mit Kleidung aus, nicht um ihre körperliche Nacktheit zu verhüllen, sondern um ihnen einen Schutz gegen die Verletzlichkeiten, die das Leben außerhalb des Paradieses mit sich bringt, zu bieten. Anhand des frühgriechischen Epos Illias erläutert Martin F. Meyer das klassische griechische Denken in Bezug auf die Scham anders: Das Thema der Schamempfindung habe einen großen Stellenwert; es sei jedoch mehr der Verlust des Ehrgefühls bzw. die Folge einer Verletzung der Norm in der sozialen Gruppe z. B.: Fliehen vor einer Kampfhandlung. Bei Hesiod sei die Scham stark mit dem Gefühl des Rechts verbunden. Meyer verweist auch auf eine Abhandlung über die Rolle der Bettler und die soziale Scham im letzten Teil der Odyssee. Schämen dürfe sich nur derjenige, der auch um Achtung kämpfen muss. Jörn Müller beschreibt die Scham bei Augustinus und Thomas von Aquin. Bei Ersterem ist die Scham eindeutig jene für und vor dem eigenen Körper, den man nicht kontrollieren kann. Bei Thomas von Aquin ist sie die Furcht vor der Schändlichkeit, die bei Unmäßigkeit existiert. Müller interpretiert dies als Proportionalitätsbeziehung. "Unmäßigkeit ist zwar schändlich, aber nicht automatisch sittlich schlecht" (S. 62). Rudolf Lüthe befasst sich in seinem Beitrag mit David Humes Lehre zu "pride" and "humility" im 18.Jahrhundert. Da der Begriff "humility" auf Deutsch zwischen Niedergedrücktheit, Demut und Scham changiert, hält Lüthe sich gar nicht mit Übersetzungen auf, sondern stellt einen Hume-Katalog der Eigenschaften zusammen, die "humility" auslösen. Wir schämen uns unserer inneren und äußeren Mängel wegen, unserer Laster, unserer Hässlichkeiten und unserer Armut, die wieder im Betrachter Antipathie auslösen, weil sie als glücksgefährdende Eigenschaften erlebt werden. Als Scham und Schande im sozialen Sinn sieht Michael Meyer "shame" in der frühen Neuzeit Englands. Scham ist eine "internalisierte Verhaltenskontrolle" (S. 86), die aber rang- und gesellschaftsspezifischen Unterscheidungen unterliegt. Scham und Schande können entsprechend auch als Instrumente der Macht fungieren. In Ulrike Bardts Ausführungen finden wir Analysen des Themas von Micha Hilgers, der Scham als Regulativ des Selbst auch in Bezug auf unsere Wirkung auf die anderen sieht – ein positives Gefühl, das "förderlich für die Identitätsfindung und die Autonomie des Menschen" (S. 107) sei. Die Autorin untermauert die These mit Zitaten von Descartes, Montaigne, Rousseau und Sartre. Für den Laien ist der "Versuch über die Transzendentalität der Scham" von Werner Moskopp, in dem er die Scham bei Kant reflektiert, auf sehr hohem Niveau angesiedelt. Die Scham sei eine Art "Zwischenphänomen" (S. 132), das uns helfe, dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele und unserer Vervollkommnung (die wir natürlich nicht erreichen können) näher zu kommen. Jürgen Boomgaardens Exkurs zu Kierkegaards Schambegriff ist leichter zu verstehen: Scham und Angst sind seit Adam und Eva eng miteinander verbunden. Der Mensch ist quasi durch dieses Gefühl gefangen, besinnt sich aber dann auf sich selbst und seine bis dato unbeachteten Möglichkeiten. Eine Entfesselung seines Potentials wird durch Scham erst ermöglicht. Dieser Artikel ist aufgrund seiner Verständlichkeit – bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Fundiertheit – ein Highlight dieser Phänomenologie. Max Schelers anthropologisch-philosophische Deutung der Scham – beleuchtet durch Eduard Zwierlein – sieht in der Scham "ein schönes Verbergen des Schönen" (S. 165). Scham und Ehrfurcht stünden nahe nebeneinander. Das Vermögen des Menschen, Scham zu empfinden, situiere ihn zwischen Tieren und Göttern. Nach Japan führt Clemens Albrecht in "Zur Wirkungsgeschichte der Unterscheidung von Scham- und Schuldgefühlen", basierend auf Ruth Benedicts 1946 (im Auftrag der US-Regierung) entstandener Studie "The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture". Kritisch interpretiert Albrecht das darin angesprochene Schamgefühl, das bis zum heutigen Tag im Westen kulturgeschichtlich missverstanden werde, auch bedingt durch Benedicts politisch-historisch gefärbte Auslegung (zeitliche Nähe zur japanisch-amerikanischen Auseinandersetzung im Zweiten Weltkrieg). Die Verschiedenheit und die Gemeinsamkeit, das, was man sieht, zu sehen glaubt oder das verborgen bleibt, machen für ihn die Basis der Scham und auch der Anthropologie aus. Der Soziologe Axel T. Paul behandelt das Werk Norbert Elias' Über den Prozeß der Zivilisation aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts und die Kritik von Hans-Peter Duerr an diesem Werk. Betitelt mit "Die Gewalt der Scham" stellt Paul diese beiden Werke einander gegenüber und versucht eine Dialektik zwischen Scham und Schamlosigkeit zu entfalten. Christina-Maria Bammels Artikel "Zur Relevanz der Scham im Theater und dramatischen Denken" beendet diese Phänomenologie. "Im Theater wird aufgeführt, wie maßlos Menschen sein können, wenn ihnen die Scham fehlt" (S. 221). Durch den Fall der Protagonisten werde die Geschichte für das Theater interessant. Beispiele aus Shakespeares Stücken belegen dies. Der Autorin fällt es jedoch schwer, nach der interessanten theaterwissenschaftlichen Abhandlung über Darstellung, "Lebensschauspieler" (S. 227) und Maske den Bogen zur Scham und den Zitaten von Nietzsche und Plessner zu spannen. Insgesamt eröffnen die unterschiedlichen Beiträge zur Scham in diesem Buch ein erstaunlich breit gefächertes Spektrum, das auch dazu einlädt, sich mit den Autoren selbst näher zu beschäftigen.
Ein Vergleich der Schrift Grimmelshausens mit anderen in der Fürstenspiegelliteratur vertretenen Positionen ergab einen völligen Gegensatz zum rein innerweltlichen ratio status-Begriff Machiavellis, aber auch eine weitreichende Differenz zum rational-scholastischen Denken Thomas von Aquins, das Theologie und Philosophie methodisch und inhaltlich trennt und beiden Wissensbereichen je spezifische Erkenntnisquellen zuschreibt. Grimmelshausens Schrift erweist sich als eine wesentlich theologische, die auf einer biblischexemplarischen Argumentation beruht. Für Grimmelshausen gibt es sowohl eine gebotene als auch eine verpönte ratio status. Weil die gebotene ratio status auch eine erforderliche Selbsterhaltung und Pflege des bonum commune gewährleisten soll, ist sie nicht wesentlich vom tradierten Begriff der prudentia zu unterscheiden. Die verpönte ratio status dagegen dreht die Beziehung der gebotenen ratio status zum Gemeinwohl um: Statt das bonum commune zu suchen, folgt der ungerechte Regent ausschließlich seinem bonum privatum. Um die ethische Neutralität dieses Strebens genauer zu artikulieren, wird angedeutet, dass der von der verpönten ratio status geleitete Regent per fas vel nefas handelt. Obwohl weder nach göttlichem noch nach natürlichem Recht Menschen dazu bestimmt sind, über andere Menschen zu herrschen, wird Grimmelshausen zufolge legitime politische Herrschaft in der Regel von Gott mittels des Volkes übertragen. Daher soll das Volk (mit Hilfe Gottes) seine politische Führung selbst bestimmen. Das heißt, dass das Volk berechtigt ist, über die Tugend und Aufrichtigkeit des künftigen Regenten selbst zu entscheiden. Um seine Deutung der Versuchung und Verwerfung des ersten israelitischen Königs zu begründen, stellt Grimmelshausen Sauls ursprüngliche Demut und Tugendhaftigkeit im Einzelnen dar. Saul wird anfänglich mit diesen königlichen Eigenschaften geschildert, um seine spätere Entwicklung zum Tyrannen als Ergebnis seiner Überheblichkeit gegen Gott und seiner fehlenden Selbsterkenntnis zu begründen. Diese Interpretation wird von Grimmelshausen verwendet, um seine Auffassung von der verpönten ratio status mit tradierten Vorstellungen der Tyrannen-Lehre zu verbinden. Anhand der Geschichte Davids stellt der Autor seine theologisch geprägte Erläuterung der gebotenen ratio status exemplarisch dar. Hier wird auch deutlich gemacht, dass die grundlegende Differenz zwischen David und Saul in ihrer unterschiedlichen Einstellung zu Gott besteht und nicht in ihrem äußeren Verhalten. Die Demut und Selbsterkenntnis Davids erlauben es ihm - trotz seiner moralischen Verfehlungen - seine Beziehung zu Gott zu festigen und der gebotenen ratio status zu folgen. Die biblische Darstellung Jonathans wird vom Autor benutzt, um die religiös-politische Rolle von Freundschaft in seiner Vorstellung der gebotenen ratio status näher zu bestimmen. Grimmelshausen betont die tradierte Ansicht, dass die Freundschaft tugendhafter Menschen eine wirkungsvolle Abwehr gegen die Gefahren der verpönten ratio status des Tyrannen bildet. Das unglückliche Ende Jonathans wird dann benutzt, um die politischen Dimensionen der Theodizee-Problematik zu diskutieren. Anschließend verwendet der Autor die Gestalt Joabs, des Heerführers Davids, um Standeserhalt als ein ethisches und politisches Problem einzuführen. Die Besonderheit dieser Diskussion liegt darin, dass sie versucht, die Verpflichtungen übertragener politischer Autorität zu begründen. Grimmelshausen versucht direkte Beobachtungen aus der damaligen Gesellschaft aufzuarbeiten, um die Entstehung und Wirkung der verpönten ratio status zu untersuchen. Dazu benutzt er die Gestalt Oliviers aus Simplicissimus Teutsch. Anhand dieser Verkörperung eines Räuber-Königs wird Machiavellis Vorstellung von der virtú des ethisch-autonomen Regenten in die Diskussion des Autors eingeführt, um einen Kontrast zu der politischen Tugend der frommen Regenten darzustellen. Dabei stellt sich heraus, dass die Entstehung der machiavellischen Mentalität von der luxuria und avaritia des damaligen Handelskapitalismus ermöglicht wurde. In seinen politisch-ethischen Schriften kann Grimmelshausen sich darauf verlassen, dass er einen Grundstock von christlich-biblischen und antiken Vorstellungen und Topoi mit seiner Leserschaft teilt. Dementsprechend kann man eine kontrastive Auseinandersetzung mit der Problematik der ratio status vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeiten durchführen. Um Zeugnisse dieser Zeit begreiflich zu machen, muss man versuchen, sie in ihrem konkreten historischen und kulturellen Kontext zu verstehen, weil nur in diesem Kontext ihre politischen Absichten sichtbar gemacht werden können, die sich – im Falle Grimmelshausens – sowohl gegen die Entwicklung des modernen Kapitalismus als auch gegen die Herausbildung des absolutistischen Staates richten. Diese Voraussetzungen haben durch die Entwicklung der Politik als eine Erfahrungswissenschaft vieles von ihrer Verständlichkeit verloren. Die Vorstellung, dass die antike Tradition oder die Bibel zeitlos gültige Normen liefern oder dass sie übertragbares Erfahrungswissen oder gültige Analogien und brauchbare Präzedenzfälle bereitstellen, kann heute nur mit Mühe nachvollzogen werden. Die damals vertrauten Ideen, dass Politik die Lehre vom guten und gerechten Leben sei oder dass Ethik, Politik und Ökonomie nicht wahllos auseinandergetrennt werden dürfen, haben vieles von ihrer Selbstverständlichkeit verloren. Eine kontrastive Untersuchung der Gegensätze zwischen Grimmelshausens heilsgeschichtlichem Verständnis biblischer Vorbilder und den innovativen Vorstellungen einiger anderen politischen Denker der Frühen Neuzeit soll exemplarisch zeigen, dass die gleichen Topoi, Personen und Episoden unterschiedliche politische Interpretationen hervorrufen konnten. In einer Zeit, in der das tradierte Verständnis des Königtums und politische Legitimation im Allgemeinen sich grundsätzlich wandelte, konnte diese exegetische Vielfalt als Ausdruck grundlegender politischer Konflikte verstanden werden. Indem man die eher herkömmlich geprägten Beispiele politischer Argumentation in der Arbeit des Autors mit der pragmatischen Rezeption alttestamentarischer Gestalten und Episoden seitens einiger Anhänger des erstarkten Königtums vergleicht, kann man feststellen, dass bereits ein epochaler politischer Wandel sich ankündigte. Die Vermutung liegt nahe, dass durch diesen Wandel die alte sakrale Geschichtsauffassung umgestaltet werden musste, wie Bossuets Discours sur l'histoire universelle deutlich zeigt. Trotz ihrer antiabsolutistischen Absichten war die politische Wirkung der Schrift Grimmelshausens sowohl begrenzt als auch kurzlebig: Mit dem Aufkommen eines säkularen Geschichtsverständnisses verlor die heilsgeschichtlich begründete Darstellung antiabsolutistischer Argumentation weitgehend an Überzeugungskraft. Auf der einen Seite hat diese Entwicklung wohl zu einer Versachlichung politischer Argumentation geführt. Andererseits hat sie zu einer Verschleierung der politischen Intentionen des Autors beigetragen.
Die Dissertation erschließt der deutschen Forschung die derzeit weltweit vergebenen nationalen Umweltzeichen. Dabei steht nicht der politische Kontext, sondern die gestalterisch-formale und inhaltliche Standortbestimmung, Analyse und Interpretation der Zeichenfamilie im Vordergrund. Teil I der Arbeit unterwirft den Untersuchungsgegenstand einer semiotischen Analyse nach Umberto Eco und diskutiert die Umweltzeichen im Kontext von graphischen Zeichen, Markenzeichen, Piktogrammen und Emblemen. Ein kurzer Abriss der Geschichte von Natur- und Welt-, d.h. Globusdarstellungen lotet den Bildervorrat aus, auf den zur Darstellung von 'Umwelt' zurückgegriffen werden kann. Das Umweltzeichen-Design, so zeigt sich, arbeitet mit den rhetorischen Figuren des pars pro toto bzw. des totum pro parte, um die kulturelle Einheit von /Umwelt/ und /Umweltschutz/ graphisch zu fassen. Teil II, der Hauptteil der Arbeit, besteht aus der ikonographischen Analyse und ikonologischen Interpretation aller nationalen Umweltzeichen gemäß Theorie und Methode von Aby Warburg und Erwin Panofsky. In 30 Kapiteln werden für jedes Zeichen Informationen zu Design und Designer/in, Entstehungsjahr, Abbildungsvorschriften und Intentionen der Vergabeinstitutionen zusammengestellt und die Vor-Bilder und Hintergründe zu einer ikonographisch-ikonologischen Deutung zusammengetragen. Insbesondere für die in der Arbeit detaillierter analysierten Zeichen aus Deutschland, Japan, Kanada, den USA, Österreich und Skandinavien ermöglicht die Untersuchung tiefe Einsichten in die Kulturgeschichte des jeweiligen Vergabelandes. Erkenntnisinteresse der Arbeit ist für jedes einzelne Zeichen die Entschlüsselung des (inter)kulturellen Bildgedächtnisses zum Thema /Umweltschutz/ vor dem Hintergrund der Herkunftskultur und ihrer nationalen Mythen. Farbgebung und Zeichenbildungsstrategien zeigen beim Untersuchungsgegenstand den Verzicht auf Signalement und Originalität. Neue nationale Umweltzeichen werden mehr und mehr aus dem Bildervorrat bestehender Umweltzeichen geschaffen. Die synchrone Vernetzung der Zeichen tritt gegenüber der diachronen Verankerung im Bildervorrat der Herkunftskultur immer stärker in den Vordergrund. Obwohl international einheitliche Gestaltungsrichtlinien fehlen, entsteht so eine globale Zeichentradition. Angesichts insbesondere des Designs und Re-Designs asiatischer Zeichen drängt sich abschließend die Frage auf, ob die eigentliche Zielgruppe der nationalen Umweltzeichen noch der einheimische Konsument ist oder ob – insbesondere in den Schwellenländern – die nationalen Umweltzeichenprogramme zum außenpolitischen Instrumentarium geworden sind, mit dem man sich in der Staatengemeinschaft positioniert. ; The thesis concerns the group of national ecolabels worldwide. In doing so, the thesis doesn't tend to the political context of these family of signs, but to their position-fixing in form and content as well as to the analysis and interpretation of the signs. Part I of the study carries out a semiotical investigation of the material according to the method and terminology of Umberto Eco. The family of national ecolabels are discussed in the context of graphic signs, brand labels, pictographs and emblems. A short history of the representation of nature, world and the globe shows the pictorial pool able to represent the idea of 'environment'. The ecolabel-design, as can be shown, operates with the rhetorical patterns of the pars pro toto and the toto pro parte to conceptualize the 'cultural unit' (Eco) of /environment/ and /environmental protection/. Part II as the main part of the study contains the iconographical analysis and iconological interpretation of all national ecolabels according to the theory and method of Aby Warburg and Erwin Panofsky. In 30 chapters, informations regarding the design and designer, year of publication, colouring and intention of the labelling-organisation are assembled for each sign. The models and backgrounds for an iconographical-iconological interpretation of each sign are compiled. Especially regarding the ecolabels from Germany, Japan, Canada, the USA, Austria and the Nordic Council, the study provides deeper insights into the cultural history of the respective country. The cognitive interest is to decode the (inter)cultural pictorial pool to represent /environmental protection/ against the background of the origin culture of each sign and its particular national myths. The coulouring and the strategies of design demonstrate the family of national ecolabels the abandoning the signal meaning and originality. More and more, the new national ecolabels are composed from the pictorial pool of existing ecolabels. The synchronal interconnectedness of the signs overbalances more and more the diachronical bonding of the sings in their origin culture. Though internationally standardized guidelines for the design of ecolabels are lacking, a global tradition of signs develops in this way. Facing the design and re-design of asian national ecolabels in particular, the question is to be posed, whether or not the target of the national ecolabels is still the local consumer? Maybe the national ecolabelling schemes – particularly in the newly industrialising countries – become an instrument of foreign affairs, enabling these countries to position themselves in the global community of states.
Die Dissertation erschließt der deutschen Forschung die derzeit weltweit vergebenen nationalen Umweltzeichen. Dabei steht nicht der politische Kontext, sondern die gestalterisch-formale und inhaltliche Standortbestimmung, Analyse und Interpretation der Zeichenfamilie im Vordergrund. Teil I der Arbeit unterwirft den Untersuchungsgegenstand einer semiotischen Analyse nach Umberto Eco und diskutiert die Umweltzeichen im Kontext von graphischen Zeichen, Markenzeichen, Piktogrammen und Emblemen. Ein kurzer Abriss der Geschichte von Natur- und Welt-, d.h. Globusdarstellungen lotet den Bildervorrat aus, auf den zur Darstellung von 'Umwelt' zurückgegriffen werden kann. Das Umweltzeichen-Design, so zeigt sich, arbeitet mit den rhetorischen Figuren des pars pro toto bzw. des totum pro parte, um die kulturelle Einheit von /Umwelt/ und /Umweltschutz/ graphisch zu fassen. Teil II, der Hauptteil der Arbeit, besteht aus der ikonographischen Analyse und ikonologischen Interpretation aller nationalen Umweltzeichen gemäß Theorie und Methode von Aby Warburg und Erwin Panofsky. In 30 Kapiteln werden für jedes Zeichen Informationen zu Design und Designer/in, Entstehungsjahr, Abbildungsvorschriften und Intentionen der Vergabeinstitutionen zusammengestellt und die Vor-Bilder und Hintergründe zu einer ikonographisch-ikonologischen Deutung zusammengetragen. Insbesondere für die in der Arbeit detaillierter analysierten Zeichen aus Deutschland, Japan, Kanada, den USA, Österreich und Skandinavien ermöglicht die Untersuchung tiefe Einsichten in die Kulturgeschichte des jeweiligen Vergabelandes. Erkenntnisinteresse der Arbeit ist für jedes einzelne Zeichen die Entschlüsselung des (inter)kulturellen Bildgedächtnisses zum Thema /Umweltschutz/ vor dem Hintergrund der Herkunftskultur und ihrer nationalen Mythen. Farbgebung und Zeichenbildungsstrategien zeigen beim Untersuchungsgegenstand den Verzicht auf Signalement und Originalität. Neue nationale Umweltzeichen werden mehr und mehr aus dem Bildervorrat bestehender Umweltzeichen geschaffen. Die synchrone Vernetzung der Zeichen tritt gegenüber der diachronen Verankerung im Bildervorrat der Herkunftskultur immer stärker in den Vordergrund. Obwohl international einheitliche Gestaltungsrichtlinien fehlen, entsteht so eine globale Zeichentradition. Angesichts insbesondere des Designs und Re-Designs asiatischer Zeichen drängt sich abschließend die Frage auf, ob die eigentliche Zielgruppe der nationalen Umweltzeichen noch der einheimische Konsument ist oder ob – insbesondere in den Schwellenländern – die nationalen Umweltzeichenprogramme zum außenpolitischen Instrumentarium geworden sind, mit dem man sich in der Staatengemeinschaft positioniert. ; The thesis concerns the group of national ecolabels worldwide. In doing so, the thesis doesn't tend to the political context of these family of signs, but to their position-fixing in form and content as well as to the analysis and interpretation of the signs. Part I of the study carries out a semiotical investigation of the material according to the method and terminology of Umberto Eco. The family of national ecolabels are discussed in the context of graphic signs, brand labels, pictographs and emblems. A short history of the representation of nature, world and the globe shows the pictorial pool able to represent the idea of 'environment'. The ecolabel-design, as can be shown, operates with the rhetorical patterns of the pars pro toto and the toto pro parte to conceptualize the 'cultural unit' (Eco) of /environment/ and /environmental protection/. Part II as the main part of the study contains the iconographical analysis and iconological interpretation of all national ecolabels according to the theory and method of Aby Warburg and Erwin Panofsky. In 30 chapters, informations regarding the design and designer, year of publication, colouring and intention of the labelling-organisation are assembled for each sign. The models and backgrounds for an iconographical-iconological interpretation of each sign are compiled. Especially regarding the ecolabels from Germany, Japan, Canada, the USA, Austria and the Nordic Council, the study provides deeper insights into the cultural history of the respective country. The cognitive interest is to decode the (inter)cultural pictorial pool to represent /environmental protection/ against the background of the origin culture of each sign and its particular national myths. The coulouring and the strategies of design demonstrate the family of national ecolabels the abandoning the signal meaning and originality. More and more, the new national ecolabels are composed from the pictorial pool of existing ecolabels. The synchronal interconnectedness of the signs overbalances more and more the diachronical bonding of the sings in their origin culture. Though internationally standardized guidelines for the design of ecolabels are lacking, a global tradition of signs develops in this way. Facing the design and re-design of asian national ecolabels in particular, the question is to be posed, whether or not the target of the national ecolabels is still the local consumer? Maybe the national ecolabelling schemes – particularly in the newly industrialising countries – become an instrument of foreign affairs, enabling these countries to position themselves in the global community of states.
Aktuelle Kontaktdaten des Verfassers: Dr. Niels Joeres, Jettenburger Str. 9, 72770 Reutlingen, Tel. +49 151 1670 1899, E-Mail: n.joeres@googlemail.com Die Bewertung des deutsch-russischen Vertrages von Rapallo (16. April 1922) gehört zu den großen Kontroversen der Zeitgeschichte. Die bisherige Forschung hat sich im Rahmen der Interpretation des berühmten wie berüchtigten historischen Ereignisses vielfach auf eine starke Negativrolle des vermeintlich "so konservativen" deutschen Diplomaten Ago von Maltzan (1877-1927) berufen. Nach einem seit 1969/70 vorherrschenden Paradigma habe Maltzan mit Rapallo offensiv gegen den 'Westen' bzw. Polen ausgerichtete Großmachtpolitik führen oder, nach einem alternativ konkurrierenden, seit den 1950er Jahren vertretenen Deutungs¬grundmuster, Gleichgewichtspolitik in einem traditionell machtpolitisch ambitionierten Sinne betreiben wollen. In jedem Fall habe er damals, während der laufenden Weltwirtschafts¬konferenz in Genua (10. April bis 22. Mai 1922), seinen eigenen Außenminister, den Verständigungspolitiker Walther Rathenau, mit geradezu betrügerisch anmutender Verschlagenheit zur Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages gedrängt. Die vorliegende Heidelberger Dissertation hinterfragt sowohl die gängige, spektakuläre Dämonisierung des Diplomaten als auch die historischen Grundlagen für den raunenden Mythos, der mit dem Vertrag in der Geschichte der Internationalen Beziehungen einhergeht. Der Weg nach Rapallo wird umfassend historisiert und entmystifiziert - erstmalig mittels des biographischen Zugriffs auf den entscheidenden Akteur sowie auf der Grundlage einer multiperspektivisch erweiterten Quellenbasis, die über die der bisherigen wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung entscheidend hinausragt. Einige zentrale Ergebnisse lauten vorab wie folgt: Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung gehörte Maltzan bereits im Kaiserreich eher zu den progressiven, verständigungsorientierten Elementen im Auswärtigen Amt. Er blicke vor 1918/19 in dieser Hinsicht auf zahlreiche Konflikte mit der außenpolitischen und militärischen Führung zurück. Das bisherige, in mehrfacher Hinsicht schiefe Rapallo-Bild aber ist nicht nur mit einem noch schieferen Maltzan-Bild begründet worden. Ein weiterer Erkenntnisgewinn liegt darin, dass der Entstehungszeitpunkt des Vertrages überdies seinerzeit tatsächlich in erster Linie eine defensiv ausgerichtete Verteidigung berechtigter finanzieller Interessen Deutschlands in der russischen Frage darstellte. Sie wurde von Außenminister Rathenau, Reichskanzler Wirth, Ministerialdirektor Maltzan und dem späteren langjährigen Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt, Friedrich Gaus, gemeinsam getragen und nachfolgend ausführlich und im Ganzen gesehen auch sachlich zutreffend begründet. Rapallo kam in einer diplomatischen Ausnahmesituation zustande, in der alle großen Mächte bis zur letzten Minute 'pokernd' ihre nationalen Interessen durchzusetzen versuchten. Die Dramatik der Geschehnisse war auf die Konferenzregie der alliierten Hauptmächte, vor allem Englands und Italiens, zurückzuführen. Denn die maßgeblichen Vertreter der Entente führten seit dem 14. April 1922 außerhalb der Konferenzagenda ganztätig andauernde Separatverhandlungen mit der sowjetrussischen Delegation, von denen die deutschen Delegierten ausgeschlossen wurden. Insbesondere der britische Premier, Lloyd George, und der französische Delegationsleiter, Louis Barthou, forderten von Volkskommissar Tschitscherin die sofortige Unterzeichnung des sog. 'Londoner Memorandums'. Und der Verlauf dieser Vertragsverhandlungen veranlasste Tschitscherin dann am Abend des 15. April 1922 zu der Empfehlung an seine Regierung in Moskau, eine modifizierte Form des alliierten Vertragsentwurfs mit den Ententemächten durchaus zu erwägen. Aus deutscher Sicht hätte eine solche Einigung zusätzlich Russland in das durch den Versailler Vertrag geschaffene Schuldner- und Gläubigersystem eingebunden. Die erste deutsche Demokratie würde, so die von Maltzan in Genua gegenüber maßgeblichen britischen Akteuren vorgetragene Sorge, nach der Kette außenpolitischer Niederlagen seit 1919, nunmehr noch weiteren destabilisierenden Belastungen ausgesetzt. Es kam mehrfach zu Gerüchten, die darauf hindeuteten, dass eine Einigung zwischen der Entente und Sowjetrussland auf Kosten Deutschlands schon vollendete Tatsache sei bzw. unmittelbar bevorstände. Eine den deutschen Akteuren unbekannte telegraphische Weisung des ZK in Moskau in der Nacht vom 15. auf den 16. April 1922, vertragsabschlussorientierte Verhandlungen mit den Alliierten sofort abzubrechen, schloss eine unmittelbare Einigung zwischen den Ententemächten und Sowjetrussland dann allerdings aus. Die Regierung Lenins befürwortete allenfalls die Unterzeichung eines Vertrages mit Deutschland, der bereits seit Januar 1922 federführend von Maltzan inhaltlich ausgehandelt und Anfang April 1922 in Berlin auch zwischen Rathenau und Tschitscherin weithin übereinstimmend diskutiert worden war. Nach weiteren bilateralen Verhandlungen in der temporären Residenz der sowjetrussischen Delegation (dem Imperiale Palace Hotel im seinerzeit zu Rapallo gehörenden Santa Margherita Ligure), wurde der vorbereitete Vertrag zwischen der deutschen Regierung und der Regierung der RSFSR tags darauf, am Ostersonntag 1922, von Rathenau und Tschitscherin unterzeichnet. Seine wesentlichen Grundzüge waren unter anderem dem britischen und französischen Botschafter in Berlin seit Februar 1922 bekannt und dem Inhalt nach objektiv nicht zu beanstanden. Der Vertrag ging über eine in der Sache sehr begrenzte deutsch-russische Interessenidentität ohne politische Nähe geschweige denn Intimität nicht hinaus. Er vertagte ungelöst zudem selbst einige wichtige finanzielle Fragen der Vergangenheit im deutsch-russischen Verhältnis und beschränkte sich im Ganzen recht inhaltsarm schließlich sogar auf deklaratorische Absichtserklärungen. Für die deutsch-russischen Beziehungen, die auch nachfolgend enttäuschend verliefen und zutiefst von gegenseitigem Misstrauen bestimmt waren, legte er allenfalls ein grob wirkendes, unausgefülltes Fundament. Mit dem Vertragsabschluss am Ostersonntag 1922 hatte die deutsche Außenpolitik und Diplomatie nichtsdestotrotz ein gravierendes 'PR-Problem', was nicht zuletzt auch auf einige Defizite in der Öffentlichkeitsarbeit bzw. politischen Kommunikation der Führung der deutschen Delegation auf der Konferenz von Genua zurückzuführen war. Insbesondere französische Medien und Regierungsvertreter konnten die "Bombe von Rapallo" zwar nur für wenige Wochen mehr oder weniger erfolgreich instrumentalisieren. Die eingesetzte Legendenbildung aber schnitt in das zeitgenössische kollektive Gedächtnis und – nach 1945 im Kalten Krieg wiedergeboren – schließlich ebenso in das generationenübergreifende kulturelle Gedächtnis ein.
Flüchtiger Halt - Ein Sammelband zu Heinrich von Kleist im Kontext neuerer Forschungsliteratur. Der von Anton Philipp Knittel und Inka Kording herausgegebene, kürzlich erschienene Band der Reihe Neue Wege der Forschung ist Heinrich von Kleist (zum 225. Geburtstag des Dichters) gewidmet. Der von Anton Philipp Knittel und Inka Kording herausgegebene, kürzlich erschienene Band der Reihe Neue Wege der Forschung ist Heinrich von Kleist (zum 225. Geburtstag des Dichters) gewidmet. Es sind hier - in der Nachfolge der beiden von Walter Müller-Seidel 1967 und 1981 erschienenen Bände, allerdings mit deutlich anderen Akzentsetzungen - bedeutende, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kleists Werk dokumentierende Texte von renommierten Kleist-Forschern versammelt, deren Wiederabdrucke gemeinsam mit den drei für diesen Band konzipierten Forschungsberichten zu neuer Lektüre herausfordern. Kleist ist nicht zu Ende zu lesen, auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Oeuvre und Leben des Dichters findet stets neue Zugänge. Selbstredend spiegeln sich in den Methoden und Strategien der Untersuchungen zu Kleists Poesie die jeweils gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurse wider, ja man könnte die avancierte Forschungsliteratur zu Kleist als Parameter höchster Standards metatheoretischer Reflexionen bezeichnen. War an der Sekundärliteratur bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auch die von Ideologien geprägte Rezeptionsgeschichte - Kleist steht hier nicht allein, auch an Hölderlin, Lessing oder Grabbe etwa lässt sich dies nachvollziehen - abzulesen, so fokussieren seit einigen Jahrzehnten gänzlich neue Perspektiven Kleists Texturen. Den Herausgebern konnte es nicht darum gehen, eine Anthologie bedeutender Beiträge zur Kleist-Forschung vorzulegen, sondern prägnante, an Kleists "paradoxalen Schreib-Formen" sich entzündende Deutungen erneut zugänglich zu machen. Die Auswahl zeigt, worum es geht: Die zur Ré-lécture der Texte Kleists provozierenden Ansätze der AutorInnen sollen zur weiteren Forschung anregen. Sie sind aber auch als in die Materie einführende Grundlagentexte für Studierende zu empfehlen. Die Auswahl ist bewusst beschränkt auf literaturwissenschaftliche Studien, theater-, film- und medienwissenschaftliche Zugänge wie auch musik- und kunstwissenschaftliche sind ausgeklammert, was aber nicht heißen soll, dass diese Disziplinen nicht von einer Lektüre profitieren könnten. Auch gehen die Herausgeber nicht von einem die institutionelle Forschung repräsentierenden Kanon der Interpretationen aus, sondern einige "Neue Wege der Forschung" sollen zu einem "schillernden wie faszinierenden Wegenetz" (S. 9) verknüpft werden. Der Band eröffnet mit dem 1981 erschienenen, bis heute gültigen Text von Helga Gallas "Die Suche nach dem Gesetz oder die Anerkennung des Begehrens - eine struktural-psychoanalytische Interpretation des 'Michael Kohlhaas'". Der forschungsgeschichtlich bedeutsame Beitrag - Gallas wandte als eine der Ersten Lacans psychoanalytisch-strukturalistische Theorie auf Texte Kleists an - weist an der Signifikanz des Textes die Maskierung eines Begehrens nach und durch die offensichtlichen Bedeutungen des Textes hindurch kommt das "Subjekt des Textbegehrens" in den Blick. Sich selbst ins Spiel bringend, setzt die Autorin dieses Begehren zu sich als Analysierender in Bezug (S. 38) und stellt Korrespondenzen her, deren Voraussetzungen und Konsequenzen auch die blinden Flecken reflektieren, ohne sie auflösen zu wollen. Von Jürgen Schröders im Kleist-Jahrbuch 1985 publizierten Aufsatz "Kleists Novelle 'Der Findling'. Ein Plädoyer für Nicolo", der nach den Funktionsprinzipien dieser Novelle Kleists fragt, über Wolf Kittlers 1988 erschienenen Text "Militärisches Kommando und tragisches Geschick. Zur Funktion der Schrift im Werk des preußischen Dichters Heinrich von Kleist", in welchem Kleists "vaterländisches" Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg im Zentrum der Analyse steht, bis zu Roland Reuß' "Einführung in Kleists Erzählen" am Beispiel der Verlobung in St. Domingo, in dessen Betrachtung der "autonome und selbstbezügliche" Zusammenhang sprachlicher Momente (S. 84) in Bezug zu Editionsfragen steht, reichen die für die Forschung relevanten Perspektiven dieser Beiträge. Wie vielfältig und wandlungsfähig die Forschungsansätze zu Kleists Poesie sind, belegen weiterhin auch die hier wieder abgedruckten Texte jüngeren Datums: Gernot Müllers den Kontext der bildenden Kunst reflektierender Text "Die 'Penthesileia' als poetisches Panorama", 1995 erschienen; Bianca Theisens "Kleists Paradoxien des Lesens" (1996), deren Fokus auf das schillernde Spiel von Bedeutungen in der Bildbeschreibung Kleists, Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, gerichtet ist. Günter Blamberger setzt sich in seinem im Jahr 2000 erschienenen Beitrag mit dem Modell des Duells bei Kleist in Hinblick auf eine Wendung von der idealistischen Repräsentanz zur Performanz auseinander, wobei er Kleists Grazie-Begriff in den Kontext alter aristokratischer Verhaltenslehren fügt, wie sie beispielhaft in Castigliones Il libro del cortiegiano dargelegt sind. Aus László Földényis bestechendem, alphabetisch angeordnetem Buch Im Netz der Wörter (1999) sind die Texte "Grazie" und "Schlüsselloch" entnommen. Grazie ist hier gefasst als "unbewußte Vollkommenheit" (S. 153), das Schlüsselloch als symbolischer Ort der Brechung verschiedener Perspektiven verstanden. Jeder Blick steht für eine unvergleichliche Wahrnehmung, "jede Figur sieht etwas anderes" (S. 156). Von dem ebenfalls weithin bekannten Kleist-Forscher Bernhard Greiner ist hier der Text "Mediale Wende des Schönen - 'freies Spiel' der Sprache und 'unaussprechlicher Mensch'" wieder abgedruckt, der sich in einer Analyse mit Kleists Über die Allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden auseinandersetzt. In Gerhard Neumanns ebenfalls im Jahre 2000 erschienenem Text "Anekdote und Novelle: Zum Problem literarischer Mimesis im Werk Heinrich von Kleists" ist die Frage nach Kleists Erzählstrategien in Bezug auf die Wahrheit der Geschichte gestellt. Neumann wendet sich den zwei Weisen des Erzählens von Geschichte zu, "dem prägnanten Augen-Blick der Anekdote und dem erzählerischen System der Novelle" (S. 178), um daran den Erweis zu erbringen, dass es sich in Kleists Texten um "Mimesis des nicht Erzählbaren" (S. 199) handelt. Die für diesen Band verfassten Forschungsberichte schließlich vergegenwärtigen beispielhaft die zentralen Linien der literaturwissenschaftlichen Kleist-Rezeption der letzten Jahrzehnte: Justus Fetscher setzt sich mit Amphitryon (1978-2001) , Birgit Hansen in ihrem Beitrag "Poetik der Irritation" mit der Penthesilea-Forschung (1977-2002) und Bernd Hamacher mit Michael Kohlhaas auseinander. Abgesehen von konkreten Einblicken in die Kleist-Forschung, die gewiss in nächster Zukunft mit neuen Impulsen und Erkenntnissen für ein Weiter-Denken an den Texten Kleists aufwarten wird, stellt dieser von Inka Kording und Anton Philipp Knittel herausgegebene Band eine gelungene Grundlage zur Einschätzung der Forschungspositionen der letzten Jahrzehnte dar, die von bedeutsamen Wendungen auch wissenschaftlicher Paradigmen gekennzeichnet sind.
Diese erste Einführung in die Kultursemiotik stellt Kultur als symbolbasierte Programmatik vor, mit der eine Gesellschaft ihre Lebenswelt (um)gestaltet. Dabei wird deutlich, wie die jeweiligen Zielsetzungen der Weltgestaltung aus dem zweckbestimmten Gebrauch ihrer zentralen Denkfiguren hervorgehen. Anschauliche Beispielanalysen und (Um)deutungsprozesse von Konzepten wie Raum, Zeit, Arbeit, Familie, Geschlecht und Wachstum werfen Schlaglichter auf die ambivalente Entwicklungsgeschichte der westlich kapitalistischen Kultur. So lässt sich soziokultureller Wandel im Zusammenhang mit technologischen Entwicklungen und ökonomischem Gewinnstreben als eine fortwährende symbolische (Ver)Formung der Lebenswelt lesen. Erklärvideos sorgen für einen erleichterten Zugang zu Theorien und Analysen.
Zugriffsoptionen:
Die folgenden Links führen aus den jeweiligen lokalen Bibliotheken zum Volltext:
"The article is a guided tour to Alfred Lorenzer's proposal for an 'in-depth hermeneutic' cultural analysis methodology which was launched in an environment with an almost complete Split between social sciences and psychology/ psychoanalysis. It presents the background in his materialist socialization theory, which combines a social reinterpretation of the core insights in classical psychoanalysis - the unconscious, the drives - with a theory of language acquisition. His methodology is based on a transformation of the 'scenic understanding' from a clinical to a text interpretation, which seeks to understand collective unconscious meaning in text, and is presented with an illustration of the interpretation procedure from social research. Then follows a brief systematic account of key concepts and ideas - interaction forms, engrams, experience, symbolization, language game, utopian imagination - with an outlook to the social theory connections to the Frankfurt School. The practical interpretation procedure in a Lorenzer-based psycho-societal research is briefly summarized, emphasizing the rote of the researcher subjects in discovering socially unconscious meaning in social interaction. Finally an outlook to contemporary epistemological issues is given. Lorenzer's approach to theorize and research the subject as a socially produced entity appears as a psycho-societal alternative to mainstream social constructivism." (author's abstract)