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Ein echt schwieriges Wort, dieses "poniemieckie", was so viel wie "ehemals deutsch" oder "post-deutsch" bedeutet, bei weitem aber nicht so vertraut und unauffällig klingt wie im Polnischen. Es ist etwas merkwürdig, dass dieses Buch erst jetzt oder gerade jetzt erscheint, nachdem die großen deutsch-polnischen Geschichtsdebatten etwa über die polnische Aneignung der Oder-Neiße-Gebiete, die Vertreibung der Deutschen, die Ansprüche der Preußischen Treuhand oder das Sichtbare Zeichen schon etwas zurückliegen. Gleichzeitig ist "Poniemieckie" von Karolina Kuszyk (Czarne 2019) ein wichtiges Buch, eine Pflichtlektüre sozusagen, für alle, die auf beiden Seiten der Grenze sich mit den ehemals deutschen Gebieten nicht nur wissenschaftlich oder journalistisch, sondern auch familiär und gefühlsmäßig verbunden fühlen.Die Autorin Karolina Kuszyk, großgeworden in den 1980er und 1990er Jahren in Liegnitz/Legnica und heute wohnhaft in Berlin, schreibt in ihrem Vorwort von der Erfahrung des Lebens als Kind in der "nicht ganz vertrauten Landschaft" der sog. Wiedergewonnenen Gebiete, wo sie mit einem dumpfen Gefühl aufwuchs, "dass die Geschichte der eigenen Stadt und Umgebung mit einem schamhaften Geheimnis" belegt sei. Die Autorin sucht nach Antworten auf die Frage, auf welche Weise nun die zweite und dritte Generation der "(ost)polnischen Siedler" sich mit der post-deutschen Umwelt vertraut machte und gleichzeitig lernte, ihr mit der Zeit zu vertrauen.Und Kuszyk hält Wort: Sie schreibt von den Siedlern selbst – von ihrer Unsicherheit, Angst und Wut, vom blinden Zerstören all dessen, was poniemieckie war, vom großen Kehraus und ständigen Reinemachen, das bis in die 1970er Jahre andauerte. Sie richtet ihren Blick darauf, was nach 1945 von den Deutschen geblieben ist. Poniemieckie Gegenstände, die trotz der Zerstörungswut übrig waren. Gefühle, die mit poniemieckie zusammenhängen: Hass, Wut, Angst, Schuld, aber auch Interesse und Faszination. Kuszyk zeigt, wie sie die Ungereimtheiten als Kind und Jugendliche Stück für Stück für sich entdeckte, denn wie war es eigentlich möglich, in Polen aufzuwachsen und von so vielem poniemieckie umgeben zu sein? Von Piasten-Legenden zu hören, die den Anspruch auf ein polnisches Schlesien begründeten, und den Tee aus deutschen Bechern zu trinken? Den polnischen Unterricht in ehemals deutschen Schulen zu absolvieren, später Arbeit in ehemaligen deutschen Betrieben zu verrichten? Denn poniemieckie Gegenstände prägten sie wie viele andere junge Polen ihrer Generation durch die Form, den Inhalt und die oft ungeliebte Sprache.All das verlangte nach Anstrengung, Auseinandersetzung, Bewältigung der vorgefundenen Tatsachen und Öffnung gegenüber dem Fremden, auch wenn es so klein wie eine Zuckerdose war. So zeigt die Autorin, wie aus ehemals deutschen Häusern nun polnische wurden. Wie Gegenstände, die aus dem Osten mitgebracht wurden, sich mit den ehemals deutschen Artefakten verständigen mussten.Präzise, bildliche SpracheMit einer präzisen, bildlichen Sprache nähert sich die Autorin zunächst dem Schicksal ehemals deutscher Häuser: Landschlösser ebenso wie großbürgerlicher Stadtpaläste, Arbeiter-Mietskasernen und Dorfgebäude. Der Leser bekommt einen Eindruck von einer langen Beziehung, ja einer intimen Vertrautheit, mit der vermeintlich unbelebten und doch so lebendigen Materie bürgerlicher Salons, Jugendstilstucks, geheimnisvoller Flure und Keller, wo es spukt… Und nicht selten kommen in den Aussagen der Siedler Geister vor, natürlich deutsche Geister. Diese mussten vertraut gemacht werden und gelegentlich auch mit den eigenen, polnischen, in Einklang gebracht werden. Bis heute hält die Faszination am post-deutschen Unheimlichen an, und Kuszyk begleitet in ihrem Buch sogar Schatzsucher, die in alten Stollen des NS-Untergrundprojekts "Riese" unermüdlich nach versteckten Schätzen, etwa dem "goldenen Zug der Nazis", suchen.Während in den letzten Jahrzehnten viele wissenschaftliche Beiträge den ehemals deutschen Ostgebieten, den dortigen öffentlichen Gebäuden und Architekturzeugnissen, den Meilensteinen des technischen Fortschritts, auch bedeutenden deutschen Familien und Persönlichkeiten wie etwa den schlesischen Nobelpreisträgern gewidmet wurden, nimmt sich Kuszyk den eher unterbelichteten Aspekten und Gegenständen post-deutscher Realität an, denen man bis heute nur im privaten Raum begegnet. Die Autorin widmet einzelne Kapitel den ehemals deutschen Möbeln, dem Weck-Glas-Eingemachtem und den Konserven, Biedermeier-Gemälden und einfachen Heiligenbildern, schließlich Post- und Ansichtskarten, mit denen heute jede Stadt und jede Gemeinde in den Wiedergewonnenen Gebieten mithilfe von zweisprachigen Alben, die Postkarten "vor und nach" dem Krieg zeigen, prahlt.Das Buch ist komplex angelegt und umfangreich, doch es erschlägt den Leser nicht mit der Komplexität. Es beinhaltet auch u.a. eine Liste polnischer Rechtsvorschriften der frühen Nachkriegszeit, mit denen der neue Staat das poniemieckie Hab und Gut enteignet, sich aneignet und es den neuen polnischen Siedlern für einen Obolus zur Verfügung gestellt hat. Sie zeigt die Reaktionen der Siedler auf die in den neuen Gebieten vorgefundenen Verhältnisse, wo nicht selten das Gesetz des Stärkeren herrschte. Sie beschreibt die Wildwest-Methoden des Staates, aber auch die der Rotarmisten und der Parteifunktionäre, der gewieften Schmuggler und der sog. einfachen Menschen, die nicht selten die deutsche Bevölkerung brutal anpackten und alles, was ihr gehörte, wegnahmen. Kuszyk sieht darin die Methoden der deutschen Besatzung in Polen á rebours. Sie spart auch nicht mit deutschen Reaktionen auf die polnische Vorherrschaft, zeigt die Versklavung der Deutschen und ihre Ohnmacht in dem Moment, als sie alles zurücklassen müssen: die Wohnung, die vertraute Umgebung, den Kleiderschrank, die Familienandenken, manchmal die Würde selbst.Beklemmend: Der Umgang mit den FriedhöfenDer vielleicht beklemmendste Teil des Buches betrifft den Umgang mit ehemaligen deutschen Friedhöfen in Nachkriegspolen. Es gab mehr als 3.000 davon, nur wenige blieben bis heute bestehen, z.B. in Breslau kein einziger, wenn man von den zwei jüdischen Friedhöfen absieht. In Kuszyks Augen bleibt das ein Zeugnis, das am schwersten wiegt, da sich die Polen nicht einmal gegenüber den Toten der früheren Jahrhunderte gütig erwiesen haben. Ihre Gräber wurden eingestampft, in Grünanlagen umgewandelt, sogar in Freizeitparks mit Gaststätten und Stundenhotels, wie in Słubice. Und dies sind nicht die schlimmsten Beispiele für die Störung der Totenruhe und die Entwürdigung der ehemaligen Bewohner.Und doch geschah, bei aller Unsicherheit, Feindschaft und Distanz zu der Vergangenheit dieser Gebiete, ein gewisses Wunder, ein Wunder der "Verständigung durch poniemieckie Gegenstände", die alte und neue Bewohner verbinden. Dort, wo das Polentum noch lange als bedroht empfunden wurde, gerade dort – in Breslau, Grünberg, Stettin – verloren die Kinder und Enkel der Ansiedler nicht nur die Angst vor den Deutschen, sondern luden diese in deren ehemalige Wohnungen ein, boten ihnen Kaffee und Kuchen an, verweigerten nicht das Gespräch. Im Gegenteil – sie suchen das Gespräch mit den Deutschen, sogar über die schon erwähnten "schamhaften Geheimnisse", die ihre Städte und Umgebung umhüllten, versuchten zu verstehen, zeigten Empathie, stellten sich offen und ohne Vorurteile der ehemals deutschen Realität. Ein großer Teil von ihnen spricht heute die Sprache des Nachbarn, denn (wie paradox!) gerade Deutsch wurde in ganz Niederschlesien in weiterführenden Schulen als 2. Fremdsprache unterrichtet, eine gute Voraussetzung für den Dialog. Aber sie bringen noch mehr – Interesse und Engagement für die deutsche Vergangenheit der neuen Heimat, es entstehen nun polnische "Heimat"-Vereine, die den Polen die Geschichte ihrer ehemals deutschen Gegend erzählen, und deutsch-polnische Gesellschaften, Kontakte mit ehemaligen Bewohnern werden geknüpft und gepflegt, sogar mit den (west)deutschen Vertriebenenverbänden.An der Stelle fragt man sich, wie es wohl wäre, wenn man in die andere Richtung – nach Deutschland – schauen würde: Wieviel Interesse würde man heute dort für die alte Heimat der Vorfahren bei der dritten Generation der Vertriebenen noch vorfinden? Mit ihren Großvätern, den "Hupkas und Czajas", schreckte man polnische Kinder in Liegnitz und Breslau der Nachkriegszeit, sie wurden als "Revanchisten" und "Kriegstreiber" verschrien, heute gibt es sie nicht mehr und ihre Nachfahren sind nur mäßig an Niederschlesien, Pommern, Ostpreußen und dem eigenen Familienstammbaum interessiert. Wie die Polen nach 1945 die Häuser und Wohnungen von allem poniemieckie zu befreiten suchten, so fallen nun die Andenken und Mitbringsel der Großväter und Großmütter den Entrümpelungsfirmen zum Opfer, kaum einer der Nachfahren interessiert sich für die vermeintlich wertlosen Gegenstände: die kitschigen Schutzengelbilder, die Schulzeugnisse aus Glatz (wo liegt das eigentlich, Glatz?), Eichendorffs Gedichtsammlung in alter Frakturschrift (wer kann das heute noch lesen?), eine dunkle Rübezahlplastik (wer war das?).Faszinierendes Panorama der NachkriegsgeschichteKuszyks Buch ist keine systematische Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch, dafür erwartet den Leser ein faszinierendes Panorama polnischer und deutsch-polnischer Nachkriegsgeschichte in Polens neuem Westen. Die Autorin stützt ihre Aussagen auf Literaturbeispiele, zitiert Aussagen aus den Tagebüchern der Ansiedler, aus Umfragen und Wettbewerbsarbeiten, die regionale Zeitungen, aber auch Einrichtungen wie das Westinstitut in Posen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten veranstalteten. Kuszyk kennt auch die schöne Literatur, die sich an dem deutsch-polnischen Gegensatz in den Westgebieten reibt, die unbequeme Fragen stellt und bisher, seien wir ehrlich, nicht wirklich viele Leser gefunden hat. Und es lohnt sich, die Autoren zu lesen: Tomasz Różycki, Tadeusz Różewicz, Inga Iwasiów, Piotr Adamczyk.Zum Schuss zwei Bemerkungen und ein Gedichtauszug: Kuszyk macht Hoffnung bei allem Leid, das im Buch vorkommt. Unbedingt lesenswert ist dabei das Kapitel über Engelsbilder, denn Schutzengel waren wohl am Werk, als die Autorin beschloss, der Spur von poniemieckie zu folgen, die zahlreichen Einzelgeschichten zu Häusern, Möbeln oder Parkanlagen zu recherchieren und das Schicksal des verlorenen, geringgeschätzten und später vertraut gemachten und heute sogar begehrten poniemieckie nachzuzeichnen. Spätestens nach dem Umbruch 1990, so die Autorin, hat die Mittelklasse in Polen den Wert des poniemieckie erkannt und zeigte sich für all das alte offen, weil sie "nicht mehr leben wollte an Orten, deren Geschichte sie nicht kannte", so eine Lehrerstimme aus dem bekannten Film "Schlesiens wilder Westen" von Ute Badura.Kuszyks Buch ist wahrlich eine Pflichtlektüre für heute, lange überfällig. Aber deutsch-polnische Pflichtlektüre verpflichtet beide Seiten zum Lesen, das polnische Buch ist schon da, das Buch auf Deutsch wartet noch auf seinen Verleger.Und nun das versprochene Fragment aus dem Gedicht "Totemy i koraliki" (Totems und Korallen) von Tomasz Różycki ("Kolonie", 2006), in der Übersetzung von Bernhard Hartmann:Alles bei mir war ehemals deutsch – deutsch war die Stadt,deutsch waren die Wälder und deutsch waren die Gräber,deutsch war einst die Wohnung, deutsch waren die Treppen,die Uhr, der Schrank, der Teller, deutsch waren das Auto,die Jacke wie auch das Glas, die Bäume, das Radio,und ich errichtete mir auf genau diesem Plunderein Leben, auf diesen Resten werde ich herrschen,werd' sie verdauen, zersetzen, ich soll aus ihnenein Vaterland bauen [...] Andrzej Kaluza, April 2020Karolina Kuszyk: Poniemieckie. Wołowiec: Wydawnictwo Czarne 2019. 458 S.
DIE ÄLTESTE GESCHICHTE DES JÜDISCHEN VOLKES Weltgeschichte des jüdischen Volkes (-) Die älteste Geschichte des jüdischen Volkes (1, Orientalische Periode / 1925) ( - ) VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE (V) Inhaltsverzeichnis (VII) Einleitung ([XI]) I. Allgemeine Auffassung der jüdischen Geschichte (XIII) II. Periodisierung und Stoffverteilung (XXIII) Schlußbemerkung (XXX) Erstes Buch Die Entstehung des Volkes Israel (XX.-XI. Jahrhundert vor der christlichen Ära) ([1]) Erstes Kapitel Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten (3) § 1. Die Wanderung der Semiten und das vorisraelische Palästina (3) § 2. "Ibrim" und Israel. Sagen über die Stammväter in Kanaan (11) § 3. Die Wüste und Ägypten. Moses (17) Zweites Kapitel Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit (25) § 4. Kanaan und Transjordanien (25) § 5. Die Eroberung Transjordaniens und Kanaas (29) § 6. Die Stammesverfassung und die "Schoftim". Die Hegemonie Ephraims (36) § 7. Der Kampf mit fremden Eindringlingen. Monarchistische Tendenzen (Gideon, Abimelek) (40) § 8. Das Philisterjoch und das Streben nach einer staatlichen Vereinigung (45) § 9. Die Königswahl Sauls (50) Drittes Kapitel Die ursprüngliche Kultur Israels (54) § 10. Die babylonisch-kanaanitische Grundlage (54) § 11. Die ursprüngliche Religion Israels; Jahveismus und Baalismus (61) Zweites Buch Das vereinigte Königreich unter den ersten Königen (Um 1030 - 930) ([71]) § 12. Allgemeine Übersicht (73) Erstes Kapitel Das Königtum Sauls (Um 1030-1010) (76) § 13. Die Feldzüge gegen die Philister und die Amalekiter (76) § 14. Das Eingreifen des Stammes Juda und das Hervortreten Davids (81) § 15. Der Kampf Sauls mit David (87) § 16. Sauls Ende (91) Zweites Kapitel Das Großkönigtum Davids (Um 1010-970) (94) § 17. Esbaal und David (94) § 18. David - König von ganz Israel. Das Zentrum in Jerusalem (97) § 19. Die Kriege Davids und die Erweiterung des Landgebietes (100) § 20. Die inneren Verhältnisse. Das Königshaus (105) § 21. Der Aufstand Absaloms und die Verschwörung Sebas (110) § 22. Der Streit um die Thronfolge (116) Drittes Kapitel Die Regierung Salomos (Um 970-930) (119) § 23. Die bürgerliche und wirtschaftliche Verfassung (119) § 24. Die Errichtung des Tempels in Jerusalem (124) § 25. Die Licht- und Schattenseite der Regierung Salomons (127) § 26. Politische Schwierigkeiten (131) Drittes Buch Die Periode der zwei Reiche (Um 930 - 720 vor der christlichen Ära) ([135]) § 27. Allgemeine Übersicht (137) Erstes Kapitel Der Zwiespalt und die Zeit der Wirren (Um 930-885) (142) § 28. Die Reichstrennung (142) § 29. Jerobeam und seine Reform (Um 930-908) (145) § 30. Rehabeam und seine Nachfolger (147) § 31. Dynastische Wirren im nördlichen Reiche (149) Zweites Kapitel Die Omriden in Samarien und das Bündnis der Beiden Reiche (Um 885-842) (152) § 32. Omri und Gründung Samarias (152) § 33. Ahab und Isebel; die phönizische Kultur (154) § 34. Der Prophet Elias und sein Kampf um die nationale Kultur (158) § 35. Kriege mit den Aramäern; das Gespenst Assyriens (161) § 36. Ahab und Josafat. Der Tod Ahabs (165) § 37. Die Nachfolger Ahabs. Der Prophet Elischa (168) § 38. Die Auflehnung Jehus und der Untergang der Omriden (173) § 39. Atalja und die Palastrevolution in Juda (176) Drittes Kapitel die Jeduiden in Samarien und der Kampf der beiden Reiche (842-740) (179) § 40. Jehu, Joahas und Joas in Samarien (179) § 41. Jehoasch, Amazia und Usia in Juda (182) § 42. Jerobeam II. und die Blütezeit Samariens. Der Prophet Amos (187) Viertes Kapitel Der Einbruch Assyriens und der Untergang des nordisraelischen Reiches (740-720) (191) § 43. Der Kampf um die Krone und die Einmischung Assyriens. Der Prophet Hosea (191) § 44. Das Bündnis gegen Assyrien und der Verlust der nördlichen Provinzen des israelischen Reiches (195) § 45. Der Untergang Samariens (199) Fünftes Kapitel Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung (204) § 46. Das wirtschaftliche und häusliche Leben (205) § 47. Gesellschaft und Staat (213) § 48. Religion und Kultus (218) § 49. Die Entstehung von Prophetismus (225) § 50. Sprache und Schrifttum; die Urquellen der Bibel (237) § 51. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums (244) Viertes Buch Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens und Babyloniens (720-586 vor der christlichen Ära) ([257]) § 52. Allgemeinde Übersicht (259) Erstes Kapitel Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens (720-608) (263) § 53. Die Reform des Königs Hiskia (263) § 54. Auflehnung gegen Assyrien; der Einfall Sanheribs (266) § 55. Das geistige Leben unter König Hiskia (275) § 56. Die Gegenreform des Königs Manasse (690-640) (278) § 57. Die Regierung Jodias und der Triumph der Prophetenpartei (283) § 58. Die Restaurierung des Gesetzes (Deuteronomium) (287) § 59. Der Niedergang Assyriens und der Kampf mit Ägypten (294) Zweites Kapitel Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda (299) § 60. Jojakim als Vasall Ägyptens; Jeremia (607-604) (299) § 61. Der Kampf mit Babylonien; die Gefangenschaft Jojakins (604-597) (303) § 62. Zedekia und der Kampf der Parteien in Jerusalem (309) § 63. Der Aufstand und der Fall Jerusalem (312) § 64. Der Statthalter Gedalja; Auswanderung nach Ägypten (317) Fünftes Buch Das babylonische Exil und die persische Herrschaft (586-332 vor der christlichen Ära) ([323]) § 65. Allgemeine Übersicht (325) Erstes Kapitel Das babylonische Exil (586-537) (332) § 66. Die Judäische Verbannten unter Nebukadrezzar (332) § 67. Die Entwicklung des Schrifttums; der Prophet Jeheskel (336) § 68. Die Siege Kyros' und die Hoffnungen der Judäer (343) § 69. Der Prophet der Wiedergeburt (Jesaja II) (345) § 70. Der Fall Babyloniens und die Befreiung der Judäer (351) Zweites Kapitel Die erste Restauration; Serubbabel und Josua (357) § 71. Die Lage in Judäa unter Kyros und Kambyses (537-521) (357) § 72. Der neue Tempel; die Propheten Haggai und Sacharja (520-516) (361) Drittes Kapitel Die zweite Restauration: Esra und Nehemia (367) § 73. Die inneren Mißstände und die Verarmung; der Prophet Maleachi (um 500-450) (367) § 74. Esra und der Kampf gegen die Mischehen (458-445) (370) § 75. Nehemia und die Befestigung Jerusalems (445-433) (374) § 76. Die Veröffentlichung der Thora als der Verfassung Judäas (378) § 77. Der Isolierungsprozeß. Die Absonderung der Samaritaner (um 432-420) (381) Viertes Kapitel Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie (385) § 78. Das zweite Jahrhundert der persischen Herrschaft (385) § 79. Die Diaspora in Babylonien und im Inneren Persiens (389) § 80. Die ägyptische Diaspora. Die Kolonie in Elephantine (395) Fünftes Kapitel Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus (405) § 81. Selbstverwaltung und theokratische Verfassung (405) § 82. Das wirtschaftliche Leben und die Volkskultur (410) § 83. Die letzte Thoraredaktion (415) § 84. Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern des Kanons (422) § 85. Religiöse Lyrik. Die Psalmen (432) § 86. Die religiöse Philososphie (Das Buch Hiob) (439) § 87. Weltweisheit und Moral (Sprüche) (444) ANHANG ([451]) Ergänzungen und Exkurse (453) Note 1: Die Untersuchungsmethoden in der ältesten Geschichte Israels (453) Note 2: Der chronologische Audgangspunkt der israelitischen Geschichte (zu § 2) (456) Note 3: Die Zeit des Auszugs aus Ägypten (zu § 3) (460) Note 4: Die Primärformationen in der geistigen Kultur Israels (zu § 10-11) (461) Note 5: Die Chronologie der Königszeit (463) [2 Tabellen]: (1)Die Reichstrennungsepoche: (2)Der Fall Samatiens 722 - 720 (466) Note 6: Die Zusammensetzung der Thora und der Geschichtsbücher (zu § 10-11, 50-51, 58, 67, 83-84) (466) Note 7: Von den Einwirkungen des Parsismus (zu § 79 und 82) (470) BIBLIOGRAPHIE (472) Quellen- und Literaturverzeichnis (472) § 1. (Das vorisraelische Palästina) § 2. (Ibrim und Israel) (472) § 3. (Ägypten) (472) § 4. (Kanaan) § 5. (Die Eroberung Kanaans) § 6-7. (Die Richterzeit) § 8-9. (Die Philister. Die Königswahl) (473) § 10-11. (Die älteste Kultur) (473) § 13-16. (Saul) § 17-22. (David) § 23-26. (Salomo) § 28-31. (Die Reichstrennung) § 32-39. (Die Omriden) (474) § 40-45. (Die Jehuiden und der Fall Samariens) (474) § 46-48. (Die Lebensformen zur Zeit der Reichstrennung) § 49. (Der Prophetismus) § 50-51. (Das Schrifttum) (475) § 53-55. (Hiskia) § 56-59. (Manasse und Josia) § 60-64. (Der Fall Judas) § 66-70. (Das babylonische Exil) (476) § 71-77. (Die Restauration) § 78-80. (Judäa und die Diaspora) § 81. (Die Selbstverwaltung) (477) § 82. (Die Lebensform) (477) § 83. (Die Thora in der abschließenden Redaktion) § 84. (Die geschichtlichen und prophetischen Bücher) § 85. (Psalmen) § 86. (Das Buch Hiob) (478) § 87. ("Sprüche") (479) Nachbemerkung des Übersetzers (479) Namen- und Sachregister (480) Aron - Auszug aus Ägypten (480) Baal - Byblos (480) Chabiru - Ezechiel (481) Familie - Hyksos (482) Jaddua - Jotam (482) Isaak - Kyros (483) Laban - Lyrik (483) Maleachi - Orakel (484) Pacha (Pecha) - Purim (484) Ramses II. - Ruben (485) Sabbat - Syrien (485) Taanak - Zion (486) Einband ( - ) Einband ( - )
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
"Wenn über das Grundsätzliche keine Einigkeit besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu schmieden." – Konfuzius (551-479 v.Chr.).Der grundsätzliche universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte besagt, dass die Menschenrechte jedem Menschen auf der Welt zustehen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 drückt das folgendermaßen aus: "Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand […]" (UN-Vollversammlung 1948, Artikel 2). Jedoch ist dieser universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte in der Realität häufig noch ein Ideal. Mit der Deklaration von Bangkok, die einige südostasiatische Staaten Anfang der 1990er Jahre unterzeichneten, wurde er sogar explizit in Frage gestellt. Was ist die Sichtweise dieser südostasiatischen Staaten auf die Universalität der Menschenrechte und wie begründen sie diese? Wie könnten Perspektiven für einen interkulturellen Menschenrechtsdialog aussehen? In diesem Beitrag werden die Menschenrechte durch eine Definition und einen Abschnitt zur Geschichte kurz vorgestellt. Anschließend wird die Debatte um Universalität und (Kultur-)Relativismus erläutert, welche überleitet zur "asiatischen Perspektive" auf die Menschenrechte und zu den "asiatischen Werten". Abschließend werden die Kritik und Perspektiven für einen interkulturellen Dialog aufgegriffen.Menschenrechte – eine Definition
Zerstörung, Elend, menschliches Leid und der Völkermord an den europäischen Juden führten in "dramatischer Weise die Notwendigkeit eines wirksamen Schutzes grundlegender Menschenrechte durch verbindliche internationale Normen und kollektive Mechanismen" vor Augen (Gareis/Varwick 2014, S. 179).
Die Idee, dass jedem Menschen, "unabhängig seines Geschlechts, Alters, seiner Religion oder seiner ethnischen, nationalen, regionalen oder sozialen Herkunft, angeborene und unveräußerliche Rechte zu eigen sind, die sich aus seinem Menschsein ableiten", verfestigte sich und führte am 10. Dezember 1948 zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Gareis/Varwick 2014, S. 179).
Erstmals wurde in einem internationalen Dokument festgehalten, dass jedem Menschen wegen "grundlegender Aspekte der menschlichen Person" grundlegende Rechte zugesprochen werden. Diese Rechte sind unveräußerlich und vorstaatlich, was bedeutet, dass der Staat sie nicht vergeben kann, denn jeder Mensch hat sie aufgrund der "biologischen Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung" inne (Human Rights 2018). Dem Staat obliegt es, diese Rechte zu schützen.
Menschenrechte besitzen demnach vier Merkmale: Sie sind universell (alle Menschen sind Träger dieser Rechte), egalitär (eine ungleiche Verteilung dieser Rechte ist ausgeschlossen), individuell (der Träger der Menschenrechte ist ein individueller Mensch, keine Gruppe) und kategorial (wer der menschlichen Gattung angehört, besitzt sie automatisch) (vgl. Lohmann 2010, S. 36).
Die Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 ist keine rechtlich bindende Resolution. Doch auch wenn sie rechtlich nicht bindend ist, hat sie "moralische Wichtigkeit bekommen" (Human Rights 2012). Sie wird dem Gewohnheitsrecht zugeordnet, was bedeutet, dass sie sowohl allgemein anerkannt als auch angewendet und deswegen als verbindlich angesehen wird (vgl.: Human Rights 2012). Sie ist das "weltweit am meisten verbreitete und am meisten übersetzte internationale Dokument" (Gareis/Varwick 2014, S. 179) und dient als Grundlage für zahlreiche Abkommen (vgl. Maier 1997, S. 39).
Juristisch können die Menschenrechte wie folgt definiert werden: "Internationale Menschenrechte sind die durch das internationale Recht garantierten Rechtsansprüche von Personen gegen den Staat oder staatsähnliche Gebilde, die dem Schutz grundlegender Aspekte der menschlichen Person und ihrer Würde in Friedenszeiten und im Krieg dienen" (Human Rights 2012).
Seit 1948 haben sich die Menschenrechte weiterentwickelt, und es hat sich etabliert, von den Menschenrechten in drei Generationen zu sprechen. Zur ersten Generation gehören "die klassischen bürgerlichen und politischen Freiheits- und Beteiligungsrechte" wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit oder das Verbot von Folter (Krennerich 2009). Die zweite Generation der Menschenrechte umfasst wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, so beispielsweise das Recht auf Bildung, Teilhabe, aber auch auf Freizeit und Erholung. Die dritte Generation der Menschenrechte "bezeichnen allgemeine, noch kaum in Vertragswerken konkretisierte Rechte wie etwa das Recht auf Entwicklung, Frieden oder saubere Umwelt" (Krennerich 2009). Alle drei Generationen "sollten gleichberechtigt nebeneinander bestehen" (Barthel, zitiert nach Hamm 1999, S. 23).
Der Gedanke der angeborenen Rechte, die ein Mensch qua Menschsein besitzt, ist jedoch älter als die Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 und die Vereinten Nationen selbst.
Eine kurze Geschichte der Menschenrechte
Der Ursprung der Menschenrechte geht auf das antike Griechenland zurück. Der "revolutionäre Gedanke der Stoiker, der beschreibt, dass alle Menschen gleich sind", wurde durch die im 18. Jahrhundert entstandene Naturrechtslehre weiter gefestigt (vgl.: Müller 2017, 03:06-03:20). Die "überlieferten konkreten Freiheiten der Ständegesellschaft wurden dort in eine allgemeine Freiheit des Menschen umgedacht" (Maier 1997, S. 11). Wegweisend war, dass diese Rechte nun allen Menschen zugesprochen wurden und diese Rechte Ansprüche an den Staat stellten (vgl. Maier, 1997 S. 11f). Denn "[er sollte] nicht tun dürfen, was ihm beliebt, [und] in substantielle Bezirke individueller Freiheit nicht […] eingreifen dürfen" (Maier 1997, S. 12). Als vorstaatliche Rechte kann der Staat diese nur akzeptieren, nicht aber verleihen.
Die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte kulminierte schließlich in der Unabhängigkeitserklärung der 13 britischen Kolonien 1776 in Nordamerika (zentrales Dokument: Virginia Bill of Rights) und fand schließlich 1789 in der Französischen Revolution (zentrales Dokument: Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen) in Europa ihren Durchbruch. Diese Dokumente legten den Grundstein für die modernen Menschenrechte, die nun als Grundrechte in zahlreichen Verfassungen verankert sind. Schließlich, im Jahr 1966, wurden die ersten völkerrechtlich bindenden Menschenrechtsabkommen durch die Vereinten Nationen verabschiedet (vgl.: Wagner 2016).
Besonders eindrücklich zeigt die Geschichte der Menschenrechte, dass ihre Idee auf "konkrete Unrechtserfahrungen der Menschen des Okzidents zurückgehen" (Tetzlaff 1998, S. 60). Darauf, nämlich dass die Menschenrechte 'im Westen' ihren Ursprung haben und individualistisch geprägt seien, bezieht sich im Wesentlichen die Kritik an ihnen. Diese Kritik zieht auch in Zweifel, ob die Menschenrechte universell sind. (Kultur-)Relativismus vs. Universalismus
Verfechter des Universalismus verstehen die Menschenrechte als unveräußerliche, angeborene Rechte eines jeden Menschen. "Niemand kann, mit Bezug auf welche Eigenschaft auch immer, von der Trägerschaft ausgeschlossen werden" (Lohmann 2010, S. 37). Ausgeschlossen ist hierbei auch die "ungleiche Verteilung" der Rechte (vgl. Lohmann 2010, S. 37). So muss der Staat seinen Pflichten nachkommen und für die Einhaltung, Wahrung und Durchsetzung der Menschenrechte sorgen.
Jedoch werden die Menschenrechte, wie sie 1948 verabschiedet wurden, in ihrem universellen Gültigkeitsanspruch von vielen Ländern und Kulturen auf der Welt nicht akzeptiert. Der (Kultur-) Relativismus in seiner extremen Form sieht die Menschenrechte als nicht vollständig übertragbar und "nur relativ zu einem bestimmten Kultursystem 'begründbar'" (Lohmann 2009). Manche Staaten gehen sogar so weit und verstehen die Menschenrechte als ein westliches Produkt, das "dem Osten" aufoktroyiert wurde. Auch seien die Menschenrechte nicht, wie der universalistische Anspruch behauptet, unabhängig von Zeit, Raum und kulturellem Hintergrund gültig. Sie seien aus der europäisch-nordamerikanischen Aufklärung entstanden, abendländisch geprägt und somit nicht in dieser Form in anderen Kulturkreisen anwendbar. Zudem sei ihre "weltweite Propagierung Ausdruck einer Mentalität der Einmischung, welche die Tradition des Kolonialismus mit anderen Mitteln fortsetze" (Hilpert 2019, S. 230). Tatsächlich sei "das Menschenrechtsverständnis in erster Linie abhängig von dem Menschenbild in einer spezifischen Kultur […], wonach es keinen Standard gibt, der unabhängig von bestimmten sozialen Lebensformen wäre" (Pohl 2002, S. 7).
Von (Kultur-)Relativisten konkret kritisiert werden häufig die "individuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, das Vorrangverhältnis zwischen Individuum zur Gemeinschaft, die Gleichheit von Männern und Frauen, die religiöse Toleranz und die Einschätzung demokratischer Mitbestimmung" (Lohmann 2010, S. 41).
Zum anderen wird bemängelt, dass bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 die westlichen Länder dominierten, während die meisten Länder des Globalen Südens noch unter kolonialer Herrschaft standen. Viele Staaten werfen dem Westen sogar "moralischen Chauvinismus" (Pollis/Schwab 2006, S. 68), "Ideologismus" und eine "quasi-religiöse" Auslegung der Menschenrechte vor (Pohl 2002, S. 7).
Genau an diese Dichotomie, Universalismus und (Kultur-)Relativismus, knüpfte die 1993 vorgelegte Deklaration von Bangkok an, welche von vielen (süd-)ostasiatischen Ländern unterzeichnet wurde. Bevor die Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahr 1993 begann, zweifelten diese Länder die Universalität der Menschenrechte an und legten eine "asiatische Perspektive" auf die Menschenrechte und sogenannte "asiatische Werte" vor.
Die asiatische Perspektive auf die (Universalität der) Menschenrechte und 'asiatische Werte'
Die ,asiatische Sicht' auf die Menschenrechte und die 'asiatischen Werte' werden im Grunde kulturrelativistisch begründet. Im folgenden Abschnitt werden die 'asiatischen Werte' zeitgeschichtlich eingeordnet und näher erläutert.
Die zeitgeschichtliche Einordnung der 'asiatischen Werte'
Die Kontroverse, dass sich die Menschenrechte in (Südost-)Asien anders entwickelt hätten, spitzte sich Anfang der 1990er Jahre zu und erlangte mit der Verabschiedung der Deklaration von Bangkok weltumspannende Beachtung. Die Gründe für den Ausbruch dieser Debatte sind vielfältig. Zum einen genoss 'der Westen', vor allem die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, zu dieser Zeit beispielloses politisches und ökonomisches Selbstbewusstsein. Der Ost-West-Konflikt war beendet, die Demokratie und der Kapitalismus schienen 'die' Erfolgsmodelle zu sein, die "das Ende der Geschichte" einläuteten (Fukuyama 1992). Die Globalisierung schritt unaufhaltsam voran, während der Kommunismus in vielen osteuropäischen Ländern in sich zusammenbrach. Zudem gewann die Idee des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus mehr und mehr an Bedeutung.
In dieser Zeit gingen die Vereinigten Staaten und viele Mitgliedsstaaten der EU auf die Forderung vieler Menschenrechtsorganisationen ein, die Menschenrechte und die Demokratie in anderen Ländern zu verbreiten. Die Regierung unter Präsident Bill Clinton ging sogar so weit und erklärte sowohl die Verbreitung der Menschenrechte als auch der Demokratie zu einer der drei Säulen der US-amerikanischen Außenpolitik (vgl.: Barr 2000, S. 313). Allerdings missbilligte insbesondere China den menschenrechtlichen Druck vieler westlicher Staaten, der durch das Massaker von Tiananmen im Jahr 1989 und Chinas Tibet-Politik stetig zunahm.
Hinzu kam, dass viele ostasiatische Staaten, allen voran China, Malaysia, Japan, Hongkong, Taiwan, Singapur und Südkorea, als 'ostasiatische Wirtschaftswunder' bezeichnet wurden (vgl.: Ernst 2009). Diese wirtschaftliche Prosperität ließ ein "neues Selbstbewusstsein und eine neue politische Elite entstehen, die vom 'Westen' das Recht auf einen eigenen entwicklungspolitischen Weg einforderte und die Vormachtstellung der alten Industriestaaten Europas und Nordamerikas herausforderte" (Ernst 2009). Darüber hinaus sahen sie in der Rolle des starken Staates eine wichtige "Erklärungsvariable" für den wirtschaftlichen Erfolg (Heinz 1995, S. 11).
Die Bestimmtheit, mit der die Europäische Union und die Vereinigten Staaten um die Durchsetzung der Menschenrechte in Asien rangen, wurde von (ost-)asiatischen Ländern als Versuch verstanden, ,Asien' ,dem Westen' unterwürfig zu halten. Zudem wurde die Kritik als "Einmischung, irrelevant und kulturfremd abgewehrt" (Heinz 1995, S. 12).Schließlich, im Vorfeld der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahr 1993, "bestritten [unter anderem] die Regierungen Indonesiens, Singapurs und Chinas die Universalität der Menschenrechte" (Heinz 1995, S. 16). Stattdessen müssten die jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen betrachtet werden, weil sie nur anhand derer verwirklicht werden könnten (vgl.: Heinz 1995, S. 15f). Deshalb wurden sogenannte 'asiatische Werte' vorgestellt. Was sind 'asiatische Werte'?
'Asiatische Werte' beschreiben eine (kultur-)relative Sicht auf die Menschenrechte, die in den frühen 1990er Jahren von asiatischen Politiker*innen und Wissenschaftler*innen vorgestellt und von 34 Staaten verabschiedet wurden. Sie umfassen im Groben die Bereiche Politik, Wirtschaft und Kultur (vgl.: Tai 2005, S. 34). Federführend bei der Debatte waren Lee Kuan Yew, der damalige Premierminister von Singapur, und Mahathir bin Mohamad, der damalige Premierminister von Malaysia. Sie, die 'asiatischen Werte', sollen eine Anpassung zum aus asiatischer Sicht "westlichen Modell der Menschenrechte" darstellen (Henders 2017). Die regionale Bezeichnung 'Asien/asiatisch' bezieht sich in diesem Zusammenhang eher auf (Süd-) Ostasien beziehungsweise pazifisch-Asien als auf den Nahen oder Mittleren Osten. Das bedeutet auch, dass sich die 'asiatischen Werte' hauptsächlich auf die "konfuzianische Kultur" stützen und weniger vom Islam oder dem Hinduismus geprägt sind (Ernst 2009).
Allerdings lehnen die ostasiatischen Länder die Menschenrechte nicht grundsätzlich ab. Schließlich haben einige dieser Länder, darunter China, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 verabschiedet und bekräftigten 1993 in Wien nochmals ihren Einsatz für Prinzipien, die in der Erklärung enthalten sind (vgl.: Tay 1996, S. 751). Sie plädierten mit der Deklaration von Bangkok stattdessen für nationale und regionale Unterschiede in der Schwerpunktsetzung und auch in der praktischen Umsetzung der Menschenrechte (vgl.: Tay 1996 S. 751f).
Befürworter der 'asiatischen Werte' bestanden zudem darauf, dass sie nicht nur durch den wirtschaftlichen Erfolg, den die ostasiatischen Staaten in den Jahrzehnten vor der Wiener Menschenrechtskonvention 1993 erlebt hatten, legitimiert würden, sondern auch maßgeblich für diesen Erfolg verantwortlich seien. Darüber hinaus müsse die wirtschaftliche Entwicklung bei ökonomisch aufstrebenden Ländern über allem stehen; bürgerliche und politische Rechte sollten den ökonomischen und sozialen Rechten deswegen untergeordnet sein (vgl.: Henders 2017).
Bisher wurde keine offizielle "umfassende, verbindliche Liste" vorgestellt (Heinz 1995, S. 25), aber häufig genannte 'asiatische Werte', die bei der Wiener Menschenrechtskonvention 1993 vorgelegt wurden, waren: "Disziplin, harte Arbeit, eine starke Führungskraft" (Tai 2005, S. 34ff), "Sparsamkeit, akademischer Erfolg, die Balance zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen, Respekt vor Autorität" (Henders 2017) und ein starker, stabiler Staat (Barr 2000, S. 310). Darüber hinaus wird "nationales Teamwork", die Erhaltung einer "moralisch sauberen Umwelt" (das Magazin 'Playboy' wird in Singapur beispielsweise nicht verkauft) und keine absolute Pressefreiheit für zentral erachtet (Heinz 1995, S. 26).
Die asiatische Perspektive auf die Universalität der Menschenrechte
Im Diskurs um die ,asiatische Perspektive' haben sich mehrere häufig genannte Argumente herausgebildet. Einige davon sollen näher beschrieben werden, nämlich die Behauptungen, dass Rechte kulturspezifisch seien, die Gemeinschaft in Asien über dem Individuum stehe, dass Rechte ausschließlich den jeweiligen Staaten oblägen und dass soziale und ökonomische Rechte über zivilen und politischen Rechten ständen.
Rechte sind kulturspezifisch
Die Idee der Menschenrechte entstand bereits in der Antike auf dem europäischen Kontinent und entwickelte sich schließlich unter bestimmten sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen ebendort und in Nordamerika (vgl.: Li 1996, S. 19). Die Umstände, die die Umsetzung der Menschenrechte voranbrachten, könnten aber nicht auf diese Art auf Südostasien übertragen werden. So beschreibt China in seinem 1991 veröffentlichten Weißbuch, dass sich aufgrund des eigenen historischen Hintergrunds, des Sozialsystems und der jeweiligen ökonomischen Entwicklung die Länder in ihrem Verständnis und ihrer Auslegung der Menschenrechte unterscheiden würden (vgl.: Weißbuch 1991, Vorwort). Das ist eine Haltung, welche auch 1993 auf der Menschenrechtskonferenz in Wien nochmals bekräftigt wurde (vgl.: Li 1996, S.19).
Die Gemeinschaft steht über dem Individuum
Die südostasiatischen Länder insistierten, dass die Bedeutung der Gemeinschaft in asiatischen Ländern nicht mit dem Primat des Individuums vereinbar sei, worauf die Vorstellung der Menschenrechte beruht (Li 1996, S. 19). Zudem stünden Pflichten über Rechten (vgl.: Nghia 2009, S. 21). Dies seien auch die entscheidenden Faktoren, die 'Asien' fundamental vom 'Westen' unterschieden. Die Menschenrechte seien von Natur aus individualistisch geprägt, was nach (süd-)ostasiatischer Auffassung eine Bedrohung für den (süd-)ostasiatischen sozial-gemeinschaftlichen Gesellschaftsmechanismus darstellen könnte. Als Begründung für diese Behauptung führten die (süd-)ostasiatischen Staaten den Zusammenbruch vieler Familien, die Drogenabhängigkeit und die hohe Zahl an Obdachlosen im 'Westen' an (vgl.: Li 1996, S. 20).
Soziale und ökonomische Rechte stehen über zivilen und politischen Rechten
Zentral bei der ,asiatischen Auslegung' der Menschenrechte waren die Priorisierung der Gemeinschaft gegenüber der Individuen und die Suche nach dem Konsens im Gegensatz zum Konflikt. Dominanz und Autorität würden nicht limitiert oder gar als suspekt betrachtet, sondern gälten im Gegenteil als vertrauens- und förderungswürdig (vgl.: Tay 1996, S. 753ff). Die asiatische Auslegung, so wurde argumentiert, lege den Fokus auf ökonomische und soziale Rechte, die durch ein starkes wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand legitimiert würden, worauf Asiat*innen Wert legten und was ihnen wichtig sei. So proklamiert das Weißbuch der chinesischen Regierung aus dem Jahr 1991, dass "sich sattessen und warm kleiden die fundamentalen Bedürfnisse der chinesischen Bevölkerung seien, die lange unter Hunger und Kälte leiden mussten" (Weißbuch 1991, Kapitel I). Wohlstand könne nur effizient erreicht werden, wenn die Regierenden autorisiert seien, die politischen Rechte ihrer Bürger*innen zu limitieren, um wirtschaftlichen Wohlstand zu garantieren (Li 1996, S. 20). Die wirtschaftliche Entwicklung müsse deswegen bei ökonomisch aufstrebenden Ländern über allem stehen; zivile und politische Rechte sollten den ökonomischen und sozialen Rechten untergeordnet sein (vgl.: Henders, 2017). Implizit schwingt bei dieser Behauptung mit, dass erst alle basalen Bedürfnisse und eine stabile politische Ordnung sichergestellt werden müssten, um politische und bürgerliche Rechte zu implementieren (vgl.: Li 1996, S. 20f). Befürworter der Idee der asiatischen Perspektive erachten es somit für wichtig, den Staat als Oberhoheit zu sehen (vgl.: Henders 2017).
Rechte sind die Angelegenheit der jeweiligen Staaten
Das Recht eines Staates zur Selbstbestimmung schließe den Zuständigkeitsbereich der Menschenrechte mit ein. So seien Menschenrechte innenpolitische Angelegenheiten, in die sich andere Staaten oder Organisationen nicht einzumischen hätten (vgl.: Li 1996, S. 20). "Die Bestrebung des Westens, auch bei Entwicklungsländern einen universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte durchzusetzen, sei versteckter kultureller Imperialismus und ein Versuch, die Entwicklung [wirtschaftlich aufstrebender Länder] zu behindern" (Li 1996, S. 20).
Kritik an der asiatischen Perspektive Generell wurde bemängelt, dass nicht einfach über 'asiatische' Werte geredet werden könne, weil es die einzelnen asiatischen Länder simplifiziere, stereotypisiere und sie um ihre Vielfalt bringe (vgl.: Henders 2017). Des Weiteren seien die genannten Werte nicht alleinig in Asien zu finden, sondern hätten auch in anderen Teilen der Welt Gültigkeit (vgl.: Tai 2005, S. 35). Tatsächlich, so wurde argumentiert, gebe es keine ,asiatischen Werte', denn der Begriff sei mit "seiner Allgemeinheit und Undifferenziertheit ein Konstrukt, das ganz bestimmten Zielen dienen soll" (Schreiner 1996, S. 57). Außerdem seien nur mächtige Politiker*innen leitender Teil der Debatte gewesen; die Argumente seien weder in die Gesellschaft getragen noch philosophisch (fort-)geführt worden. Die einzelnen 'asiatischen' Argumente gegen die Universalität der Menschenrechte wurden jedoch auch einzeln kritisiert. Einige Kritiker*innen stellten die Ansicht der Kulturspezifizität in Frage. Das Argument impliziere, dass soziale Normen, die in anderen Ländern und Kulturkreisen ihren Ursprung hatten, in der asiatischen Kultur keine Anwendung finden sollten oder könnten. Kapitalistische Märkte und die Konsumkultur, welche ebenfalls außerhalb der asiatischen Länder entstanden sind, konnten jedoch sehr wohl von asiatischen Kulturen aufgenommen werden (vgl.: Li 1996, S. 20). Die schwerfällige Akzeptanz und Umsetzung der Universalität der Menschenrechte könne somit nicht ausschließlich auf ihre kulturelle Herkunft zurückgeführt werden.
Die zweite Behauptung, dass Asiat*innen die Gemeinschaft über das Individuum stellten, würde als kulturelles Argument missbraucht werden, um aufzuzeigen, dass unveräußerliche Rechte eines Einzelnen sich nicht mit der Idee von asiatischen Gesellschaften verstünden. Kritiker*innen der ,asiatischen Perspektive' sahen hier die Gefahr der generellen Verdammung der Rechte des Einzelnen. Dabei würden individuelle Freiheiten den asiatischen Gemeinschaftswerten nicht generell oppositionell gegenüberstehen. Vielmehr seien grundlegende Rechte, wie eine Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie Toleranz, wichtig für eine Gemeinschaft (vgl.: Li 1996, S. 21).
Beim dritten Argument, welches die südostasiatischen Länder vorlegten, kritisierten viele Verfechter*innen der Universalität der Menschenrechte, dass die nationale ökonomische Entwicklung nicht gleichzusetzen sei mit der ökonomischen Absicherung (sozio-)ökonomisch benachteiligter Gruppen einer Gesellschaft. Nationales ökonomisches Wachstum garantiere schließlich nicht automatisch Rechte für ökonomisch benachteiligte Mitglieder einer Gesellschaft. Stattdessen würden sich politisch-zivile und sozial-ökonomische Rechte bedingen und nur effektiv wirken, wenn alle vier Ebenen garantiert werden könnten (vgl.: Li 1996, S. 22).
Abschließend wurde kritisiert, dass die vorgebrachten Argumente, insbesondere die Forderung der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten, als Vorwand für einen illiberalen und autoritären Regierungsstil verwendet werden würden. Zudem sollten diese Argumente die Schwäche des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells der asiatischen Länder verschleiern (vgl.: Henders 2017). Das sind beides Kritikpunkte, die während der asiatischen Wirtschaftskrise 1997/1998 weitgehend bestätigt wurden und zur Verabschiedung der asiatischen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1998 führten.
Was ist mit 'asiatischen Werten' passiert?
Der Dialog über die in der Deklaration von Bangkok vorgestellten 'asiatischen Werte' begleitete staatliche und nicht-staatliche Akteure sowie Wissenschaftler*innen bis in die 1990er Jahre hinein. Als im Jahr 1997 eine Wirtschafts- und Finanzkrise Asien ereilte, wurde es jedoch nicht nur still um die 'asiatischen Werte', sie wurden nun sogar "als Ursache der Krise gedeutet" (Ernst 2009). Insbesondere die staatliche Intervention und die starken Familienwerte wurden als Verursacher genannt (vgl.: Ernst 2009). Um den wirtschaftlichen Anschluss an den industriellen 'Westen' nicht zu verlieren, waren Menschenrechtsorganisationen in Südostasien bemüht, den Menschenrechtsschutz bottom-up durchzusetzen. Die Asiatische Menschenrechtscharta, die die 'asiatischen Werte' ablehnt, wurde 1998 von Menschenrechtsorganisationen in Kwangju, Südkorea, verabschiedet. Sie ist auch ein Versuch, asiatische Regierungen bei Menschenrechtsverstößen zukünftig in die Verantwortung nehmen zu können.
Seit dem Ausbruch der asiatischen Wirtschaftskrise ist die Debatte um 'asiatische Werte' nahezu versiegt. Gleichwohl werden interkulturelle Dialoge über die Menschenrechte weiter geführt. Zwischen Kulturrelativismus und Universalismus – Perspektiven für einen Dialog
Eine globale Durchsetzung der Menschenrechte bleibt nach wie vor ein Ideal, ebenso wie deren uneingeschränkte Einhaltung. Die ostasiatischen Länder sind nur ein Beispiel von vielen, denn Kritik an der Universalität der Menschenrechte kommt auch aus anderen Ländern und von anderen Religionen. Dabei hat die Forderung nach weltweiter Umsetzung der Menschenrechte nicht an Dringlichkeit verloren. Wie kann aber ein Dialog über die Menschenrechte oder gar ein Konsens vorangebracht werden?
Bei dieser Problematik ist es wichtig zu bedenken, dass die Menschenrechte kein starres System sind, sondern auch nach ihrer Verabschiedung im Jahr 1948 weiterentwickelt wurden. Zudem hat die Idee der Menschenrechte zwar primär in der Zeit der europäisch-amerikanischen Aufklärung ihre Wurzeln, konnte ihre volle Durchsetzungskraft jedoch erst in der Moderne entfalten (vgl.: Bielefeldt 1999, S. 59f). Insbesondere im Hinblick auf das Argument der Nichtumsetzbarkeit der Menschenrechte in kulturell anders geprägten Regionen "wäre es verfehlt, den Begriff der 'Aufklärung' auf eine bestimmte Epoche der europäischen Geschichte zu verkürzen" (Bielefeldt 1999, S. 60). Schließlich muss es auch für andere Kulturen möglich sein, "humane Anliegen der eigenen Tradition in moderner Gestalt in den Menschenrechten wiederzuerkennen" (Bielefeldt 1999, S. 61).
Aufgrund dessen sprechen sich viele Wissenschaftler*innen für eine Adaption der Menschenrechte aus. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Alison Dundes Renteln, beispielsweise, "möchte am Begriff universaler Menschenrechte durchaus festhalten, ihn zugleich aber auf interkultureller Basis inhaltlich neu bestimmen […], indem sie nach einem weltweit gemeinsamen Nenner in den Wertorientierungen unterschiedlicher Kulturen sucht" (Bielefeldt 1999, S. 45f). Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht sich für einen "ungezwungenen Konsens" aus, der anderen kulturellen Normen Verständnis entgegenbringt (Taylor 1999, S. 124). Der Dialog über die Menschenrechte zwischen Asien und 'dem Westen' solle sich global ausweiten und eine Auseinandersetzung über eine Übereinstimmung an Normen, die menschliches Verhalten und politisches Handeln leiten sollten, starten. Dieser Grundkonsens auf der Basis der Menschenrechte soll bindend sein, darf sich aber in seiner Begründung unterscheiden (vgl.: Carnegie Council 1996). Der deutsche Philosoph Georg Lohmann vertritt wiederum die Position, dass der "Universalismus" nicht zwingend eine "Einheitskultur darstellt oder in einer solchen resultiert" (Lohmann 2009). Für ihn sind Universalismus und Relativismus auch keine Gegensätze; er sieht im Partikularismus das Gegenteil zum Universalismus. Deshalb ist er der Ansicht, dass ein "verwirklichter und rechtlich wie politisch konkretisierter universeller Menschenrechtsschutz die Möglichkeiten einer kulturellen Vielfalt der Menschen erweitern wird" (Lohmann 2009). Kulturelle Vielfalt ist hier aber nicht mit Willkür gleichzusetzen. Unterscheiden muss man zwischen "Besonderheiten, die mit dem Universalismus der Menschenrechte kompatibel sind und solchen, die ihm widersprechen" (Lohmann 2009). "Strikter" soll der Universalismus bei negativen Pflichten agieren, so zum Beispiel beim Verbot von Folter (Lohmann 2009). Bei positiven Pflichten, wie beispielsweise bei Leistungsrechten, kann der Universalismus lockerer angewendet werden und mehrere, kulturell unterschiedliche Auslegungen zulassen (vgl.: Lohmann 2009). Ein interkultureller Dialog und die Suche nach einem Konsens bedeuten jedoch nicht, dass "die Menschenrechte [völlig neu überdacht und] bereits bestehende international vereinbarte Standards und Konventionen […] abgetan werden sollen. Das wäre gefährlich" (Utrecht 1995, S. 11). Für eine strikte Durchsetzung ideal, so konkludiert Lohmann, "wäre ein gut etabliertes Rechtssystem, in dem die Menschenrechte individuell eingeklagt und mit Hilfe staatlicher Gewalten auch durchgesetzt werden können" (Lohmann 2013, S. 19). Fazit
Viele (süd-)ostasiatische Länder brachten im Jahr 1993 mit der Deklaration von Bangkok kulturrelativistische Argumente hervor, mit denen sie ihre Sichtweise auf die Universalität der Menschenrechte aufzeigten und rechtfertigten. Eine zentrale Begründung war hier, dass das "individualistische Rechtsverständnis" der Menschenrechte nicht mit dem asiatischen Gemeinschaftsverständnis vereinbar sei (Tetzlaff 2002, S. 5). Ebenso waren die Kulturspezifität von Rechten und das Primat des wirtschaftlichen Wohlstands Teil der Begründung. Auseinandersetzungen darüber fanden bis weit in die 1990er Jahre hinein viel Gehör und Gegenrede. Erst mit der asiatischen Wirtschafts- und Finanzkrise 1997/1998 wurde es still um die 'asiatischen Werte'. Was von der Debatte allerdings bleibt, ist die Diskussion über den Universalismus und den (Kultur-) Relativismus, für die der Menschenrechtsrat (MRR) der Vereinten Nationen in Genf eine Plattform bietet.
Bei allen Vorschlägen und Denkanstößen, die eine kulturelle Sensibilität und Variabilität ermöglichen sollen, ist der interkulturelle Dialog zentral. Fraglich bleibt jedoch, wie gut sich eine Diskussion über Normen auf der Basis der Menschenrechte und deren anschließende Durchsetzung in autoritär geführten Staaten durchsetzen lässt (vgl.: Carnegie Council 1996). Denn schließlich sagte schon Konfuzius (551 v. Chr. bis 479 v. Chr.), dass es sinnlos sei, miteinander Pläne zu schmieden, wenn über das Grundsätzliche keine Einigkeit bestehe.
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1. EinleitungAls im Frühjahr viele Menschen auf die Straße gingen, um gegen die von der Regierung beschlossenen Einschränkungen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus zu demonstrieren, fühlten sich nicht wenige an die Pegida-Proteste - beginnend im Dezember 2014 - erinnert, bei denen vor allem in Dresden, aber auch in anderen deutschen Städten tausende Menschen auf die Straße gegangen sind, um ihrem Unmut hinsichtlich der Einwanderungspolitik der Regierung Ausdruck zu verleihen.Den Teilnhemer:innen der Pegida-Proteste wird oftmals vorgeworfen, 'rechts' oder gar Neo-Nazis zu sein, während die "Querdenker" als Verschwörungstheoretiker:innen und Maskenverweigerer dargestellt werden. Entsprechend konnten einschlägigen Medien die folgenden Überschriften entnommen werden:Pegida-Teilnehmer beschimpfen Hotel-Gäste rassistisch (Abendzeitung am 03.08.2016) [1]Typischer Pegida-Anhänger ist 48, männlich und gut gebildet (Berliner Zeitung am 04.02.2020) [2]"Querdenker"-Demo in Leipzig: Journalisten angegriffen, Grünen-Politiker belästigt (Frankfurter Rundschau am 08.11.2021) [3]Angriff auf Reichstag: 40 mutmaßliche Randalierer bislang ermittelt (ntv.de am 16.01.2021) [4]Aber wer sind diese Leute wirklich, die auf die Straße gehen, welche Motive haben sie und wie rechts sind sie? Mit dieser Frage beschäftigten sich verschiedene Forscherteams, die mit Hilfe von Befragungen versucht haben, dies herauszufinden. In der vorliegenden Arbeit werden diese Studien aufgegriffen und miteinander verglichen. Da die Ereignisse, insbesondere die Pegida-Proteste, bereits einige Jahre zurückliegen, wird in einem ersten Schritt die Entstehung und Chronologie der Proteste beschrieben, bevor im zweiten Teil die Pegida-Proteste mit denen der Querdenker verglichen werden.Dabei beschränkt sich die hier vorliegende Arbeit darauf, die Querdenker-Demonstrationen und die Pegida-Proteste hinsichtlich der Teilnehmer:innen und den Motiven für die Teilnahme zu untersuchen und vergleichen. Zudem soll das rechtextremistische Potential analysiert werden. Bei den ausgewählten Kategorien werden die jeweiligen Protestphänomene zunächst getrennt voneinander betrachtet und in einem zweiten Schritt miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. 2. Chronologie der Proteste2.1 Chronologie der Pegida-ProtesteVersetzt man sich in das Jahr 2014, dem Beginn der Pegida-Proteste zurück, ist in Deutschland und insbesondere in Sachsen eine anhaltende negative Stimmung gegenüber Geflüchteten zu beobachten. Immer wieder kommt es zu Protesten gegen geplante Unterkünfte für die temporäre Unterbringung von Flüchtlingen, wie beispielsweise im November 2013 in Schneeberg, wo sich rund 2000 Menschen versammeln, um gegen die Unterbringung von rund 250 aus Syrien geflüchteter Menschen zu demonstrieren (Röpke 2013; Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 35).Von dieser allgemeinen Stimmung angeregt, gründete Lutz Bachmann später eine Facebookgruppe "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes", woraus schließlich der eingetragene Verein 'Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes' kurz 'Pegida' hervorging (Geiges, Marg & Walter 2015, S. 19), welcher am 20. Oktober 2014 zu einem sogenannten Abendspaziergang in die Dresdner Innenstadt aufrief (Vorländer, Herold & Schäller 2016, S. 109).Unter der Bezeichnung 'Spaziergang' fanden diese Demonstrationen fortan jeden Montag in Dresden statt, um gegen Glaubens- und Stellvertreterkriege auf deutschem Boden sowie gegen die 'Islamisierung des Abendlandes' zu protestieren (Geiges, Marg & Walter 2015, S. 12), wobei am 8. Dezember 2014 zum ersten Mal die Marke von 10.000 Teilnehmenden überschritten wurde (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 35).In den darauffolgenden Wochen konnte ein weiterer Zustrom zu den wöchentlich montags stattfindenden Protesten beobachtet werden. Den Höhepunkt der Demonstrationen bildete der Spaziergang am 12. Januar 2015, der unter den Eindrücken des Anschlags auf das französische Satiremagazin 'Charlie Hebdo' stand und an dem sich nach offiziellen Angaben der Polizei rund 25.000 Menschen beteiligten (ebd.; Geiges, Marg & Walter 2015, S. 18).Angeregt von dem großen Zuspruch der Dresdner Spaziergänge gründeten sich in ganz Sachsen, aber auch in viel anderen Städten der Bundesrepublik, wie München, Würzburg, Kassel, Hannover und Bonn, Ableger, die allerdings mit wenigen Ausnahmen in Sachsen nicht annähernd so großen Zulauf hatten wie die Proteste in Dresden und an denen teilweise nur wenige Dutzend Menschen teilnahmen (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 36).Im Frühjahr und Sommer flachte, auch aufgrund anhaltender Konflikte innerhalb des Organisationsteams, der Zulauf zu den Demonstrationen merklich ab. Bisweilen versammelten sich nur noch weniger als 2.000 Menschen zu den Spaziergängen in Dresden. Jedoch fanden insbesondere im Umland von Dresden nahezu täglich Demonstrationen, organisiert von Pegida Ablegern, statt (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 47, Geiges, Marg & Walter 2015, S. 21).Auch unter dem Einfluss des anhaltenden Zustromes von Flüchtlingen konnte über den Sommer hinweg wieder eine Steigerung der Teilnehmerzahl beobachtet werden. Waren es im Juli noch rund dreitausend Teilnehmende, waren es Anfang September bereits über fünftausend, was sich bis Ende September auf neuntausend Teilnehmende steigerte (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 47). Zum einjährigen Bestehen von Pegida am 19. Oktober 2015 versammelt sich bei einer stationären Kundgebung in der Dresdener Innenstadt 15.000 bis 20.000 Menschen (ebd.).Bei den folgenden Kundgebungen konnte eine immer aufgeladenere Stimmung beobachtet werden, die zunehmend auch zu gewaltsamen Ausschreitungen führte. Beispielsweise wurden am Rand des Pegida-Weihnachtssingens am 21. Dezember 2015 gezielt Menschen von Nazis und Hooligans angegriffen, die sich unter die Pegida-Anhänger gemischt hatten (ebd.; Jacobsen 2015).Vorläufiger Höhepunkt sollte eine europäische Vernetzung der Pegida-Demonstrationen am 6. Februar 2016 sein, bei der in vielen europäischen Städten wie Graz, Amsterdam, Dublin und Antwerpen gleichzeitig Kundgebungen abgehalten und so die 'Festung Europa' symbolisiert werden sollte. Der Zuspruch blieb aber selbst in Dresden weit hinter den Erwartungen zurück (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 50; Zeit online 2016).Insbesondere in Dresden kam es dennoch bis weit ins Jahr 2017 hinein zu weiteren Protestkundgebungen mit bis zu zweitausend Teilnehmenden. Die bisher letzte größere Protestaktion fand anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Organisation am 20. Oktober 2019 statt, bei der sich rund dreitausend Menschen versammelten, um erneut gegen die Migrationspolitik zu demonstrieren (Tagesschau 2019). 2.2 Chronologie der Querdenker-ProtesteErste Meldungen, nach denen in der Provinz Wuhan in China ein vermutlich tödliches, hoch ansteckendes Virus entdeckt wurde, konnten den Medien bereits Ende 2019 entnommen werden. Der erste bestätigte Fall wurde in Deutschland schließlich am 27. Januar 2020 in Bayern gemeldet (Imöhl & Ivanow 2021). Nachdem die Bundesregierung zunächst eher zurückhaltend reagiert und sich gegen striktere Maßnahmen ausgesprochen hatte, wurde schließlich beginnend mit dem 22. März 2020, zunächst befristet bis zum 19. April, der erste Lockdown verhängt, der mehrmals verlängert wurde und schließlich nach sieben Wochen am 7. Mai. 2020 endete (Bundesministerium für Gesundheit 2022).Unter dem Begriff der 'Hygienedemos' fanden bereits im April erste Protestaktionen gegen die von der Bundesregierung beschlossenen tiefgreifenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens statt. Nachdem anfänglich ein Schwerpunkt der Proteste in Berlin beobachtet werden konnte, fanden bereits kurze Zeit später ähnliche Aktionen in anderen deutschen Großstädten und ebenfalls im ländlichen Raum statt (Frei & Nachtwey 202, S. 1).Die Proteste gewannen dabei schnell an Zulauf und breiteten sich immer weiter aus. Im Anschluss an eine Großkundgebung am 9. Mai 2020 in Stuttgart mit über 20.000 Teilnehmenden gründete sich schließlich unter der Federführung von Michael Ballweg die Initiative 'Querdenken 711' (ebd.). Hierbei wurde auch der Begriff 'Querdenken' geprägt (Bundesstelle für Sektenfragen 2021, S. 5).Bundesweit gründeten sich nach dem Stuttgarter Vorbild weitere Querdenken-Initiativen, sowohl in größeren Städten als auch im ländlichen Raum. Zudem gelang es den Organisatoren der Querdenker-Bewegung innerhalb kurzer Zeit, erhebliche finanzielle Mittel zu generieren, mit denen die Protestkundgebungen finanziert werden konnten (Holzer, et al., 2021, S. 21).Den Höhepunkt erreichten die Proteste Mitte Mai 2020, ehe mit Auslaufen des Lockdowns auch die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen wieder abflachte (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 12). Initiiert von der Querdenker-Bewegung unter der Führung von Michael Ballweg vernetzten und strukturierten sich die einzelnen Protestgruppen und es wurden bundesweit Kundgebungen organisiert (Holzer, et al., 2021, S. 13).Die größten Kundgebungen fanden am 1. und 29. August in Berlin, am 4. Oktober in Konstanz sowie am 7. November 2020 in Leipzig statt (Frei & Nachtwey 202, S. 1), ehe über den Winter hinweg der Zulauf erneut abflachte. Eine weitere Protestwelle konnte im Frühjahr 2021 beobachtet werden. Vor dem Hintergrund des zweiten Lockdowns, der am 6. Januar 2021 beschlossen wurde und bis in den Mai hinein anhielt, zogen wieder vermehrt Menschen auf die Straße, um gegen die Maßnahmen zu demonstrieren (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 12).In diesem Zusammenhang identifizierte der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2022, S. 12) eine positive Korrelation zwischen steigenden Infektionszahlen und Protestgeschehen. Der Bericht stellt zudem fest, dass im Lauf des Jahres 2021 eine Zunahme verbal aggressiven Verhaltens seitens der Teilnehmenden zu beobachten war und sich Ärzt:innen, Politiker sowie Wissenschaftler als Feindbild herausbildeten, die teilweise sogar angegriffen und bedroht wurden (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 16; S. 20).Mit Abflachen der Infektionswelle nahm auch das Protestgeschehen im Sommer 2021 zunächst merklich ab. Im Herbst veränderte sich schließlich die Form des Protestes. Die Querdenken-Organisationen verloren zunehmend an Einfluss und statt großer Kundgebungen war eine Verschiebung hin zu einer Vielzahl kleinerer Protestaktionen in kleineren Städten und ländlichen Gebieten zu beobachten (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 16; S. 20).Mit dem Auslaufen der meisten Corona-Maßnahmen konnte auch ein deutlicher Rückgang an Protesten gegen die Maßnahmen beobachtet werden. Zurzeit finden nach wie vor in vielen Städten noch regelmäßig Demonstrationen statt, wie beispielsweise am 13. August 2022 in Berlin ein Auto- und Fahrradkorso, um gegen das vom Bundestag beschlossene Infektionsschutzgesetz zu demonstrieren [5]. 3. Vergleich der Protestphänomene3.1 Wer nimmt an den Protesten teil?3.1.1 Pegida-ProtesteMit der Frage, wer an den Protesten teilnimmt, beschäftigt sich insbesondere eine Studie von Vorländer, Herold & Schäller aus dem Jahr 2015, bei der durch "Face-to-Face-Interviews" (Vorländer, Herold & Schäller 2015; S 13) mit Teilnehmenden an Pegida-Demonstrationen in Dresden die soziodemografische Zusammensetzung sowie die zentralen Motive der Protesttierenden ermittelt werden sollten.Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass die Befragten durchschnittlich 47,6 Jahre alt und von den 397 Teilnehmenden der Proteste eine Mehrheit von 74,6 Prozent männlich waren (ebd., S. 43f). Zudem wurde der letzte Bildungsabschluss ermittelt. Die Mehrheit der Befragten hat demnach die Schule nach der 10. Klasse verlassen (ebd. S. 45). Ebenfalls auffällig ist der hohe Anteil an Befragten, die einen Hochschulabschluss als letzten Bildungsabschluss angaben [6]. Mit 28,2 Prozent ist der Anteil im Vergleich zum Bundesdurchschnitt doppelt so hoch (ebd., S. 46). Des Weiteren gaben 5 Prozent einen Hauptschulabschluss, 16,4 Prozent die Hochschulreife und 8,6 Prozent einen Meisterabschluss als letzten Bildungsabschluss an (ebd.). Mit rund 47,6 Prozent waren die meisten der Befragten Arbeiter oder Angestellte, gefolgt von 20,4 Prozent Selbständigen und 17,6 Prozent Rentner (ebd., S. 47). Beamte, Studierende, Auszubildende, Schüler:innen und Arbeitslose machten lediglich etwas mehr als 10 Prozent der Protestierenden aus.Auch wurde nach der Parteiverbundenheit der Pegida-Anhänger gefragt. Eine große Mehrheit von 62,1 Prozent fühlt sich demnach zu keiner der etablierten Parteien hingezogen (ebd., S. 52). Betrachtet man die Ergebnisse, geben 16,8 Prozent der Befragten an, dass ihre Einstellungen am ehesten mit den Ideen der 'Alternativen für Deutschland' (AfD) übereinstimmen. Die anderen Parteien sind weit abgeschlagen: CDU 8,9 Prozent, NPD 3,7 Prozent, Linke 3,0 Prozent, SPD und FDP 1,2 Prozent, Grüne 1,0 Prozent (ebd.). Die Ersteller der Studie vermuten zudem eine große Schnittmenge zwischen dem hohen Anteil an Nichtwähler bei der Landtagswahl in Sachsen (50,9 Prozent) und dem Anteil der Befragten an den Pegida-Kundgebungen, die sich zu keiner der etablierten Parteien hingezogen fühlen (ebd., S. 53).Die Ergebnisse der Studie lassen darauf schließen, dass es sich um eine sehr heterogene Gruppe mit überdurchschnittlicher Bildung und überdurchschnittlichem Einkommen handelt, die sich vorwiegend aus Menschen in der 'Mitte der Gesellschaft' zusammensetzt (Kocyba 2016, S. 149f). Die hier verwendeten Daten müssen allerdings mit Vorsicht betrachtet werden, Kocyba (2016, S. 151) und Nachtwey (2016, S. 305) merken an, dass beobachtet werden konnte, dass viele der Demonstrierenden nicht an wissenschaftlichen Befragungen teilnahmen und dadurch nur ein verzerrtes Ergebnis hin zur Mitte der Gesellschaft abgebildet werden konnte.3.1.2 Querdenker-ProtesteBei den verwendeten Studien handelt es sich zum einen um eine Umfrage, die im Rahmen der sogenannte Erntedank-Demonstration Anfang Oktober in Konstanz durchgeführt wurde, die von der Initiative "Querdenken 753" organisiert wurde und bei der es gelungen ist, 138 Personen zu interviewen (Koos 2022, S. 68). Dabei wurden nach dem Zufallsprinzipe gezielt Protestierende auf der Demonstration angesprochen und per Handzettel zur Teilnahme an der Umfrage eingeladen (ebd.).Bei der zweiten Studie handelt es sich um eine im Herbst 2021 durchgeführte Online-Umfrage des Schweizer Forscherteams Frei, Schäfer & Nachtwey. Bei dieser nicht-repräsentativen Umfrage wurden die Einladungen zur Teilnahme in offenen Telegram-Gruppen von Protestorganisator:innen gepostet (Frei, Schäfer & Nachtwey 2021, S. 251). Dadurch konnten 1152 Umfrageteilnehmer gewonnen werden (ebd.).Beide Studien kommen zum Schluss, dass die Teilnehmer:innen an den Protesten durchschnittlich etwa 48 (47) [7] Jahre alt sind und vorwiegend über einen höheren Bildungsabschluss verfügen (Koos 2022, S. 71). Nachtwey, Schäfer & Frei fanden dabei heraus, dass rund 34 Prozent über ein abgeschlossenes Studium verfügen, 31 Prozent das Abitur als höchsten Abschluss angaben und 21 Prozent mindestens die Mittlere Reife. Damit sind unter den Demonstrationsteilnehmer:innen Personen, die mindestens das Abitur als höchsten Bildungsabschluss angaben, überdurchschnittlich häufig vertreten verglichen mit dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung (ebd.).Ebenfalls überrepräsentiert sind Selbständige mit 20 (25) Prozent der Teilnehmer:innen, während die Mehrheit von 46 Prozent sich selbst als Arbeiter oder Angestellte einstuften (ebd.). Rentner:innen, Hausfrauen, Student:innen bildeten zusammen rund 20 Prozent der Teilnehmenden (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 8). Beide Studien kommen entsprechend zum Schluss, dass sich die Teilnehmer:innen der Querdenker-Proteste meist der Mittelschicht zuordnen lassen (Koos 2022, S. 72).Eine Mehrheit von 61 Prozent bezeichnet sich den Umfragen zufolge als politisch interessiert (ebd. S. 80). Fragt man nach dem Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017, gaben die meisten (23 Prozent) an, die Grünen gewählt zu haben, gefolgt von 'Die Linke' (18 Prozent), AfD (15 Prozent), CDU/CSU (10 Prozent), FDP (7 Prozent), SPD (6 Prozent) sowie 'andere Parteien' (21 Prozent) (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 10).Auf die Frage, welche Partei die Teilnehmer:innen heute wählen würden, antworteten 61 Prozent 'andere Parteien' (ebd.). Die AfD käme demnach auf 27 Prozent der Stimmen, FDP 6 Prozent, die Linke 5 Prozent, Grüne und CDU/CSU jeweils 1 Prozent und SPD 0 Prozent (ebd.). Es zeigt sich hier eine deutliche Verschiebung hin zu anderen Parteien und auch zur AfD, was darauf schließen lässt, dass sich eine Mehrheit der Befragten nicht ausreichend von den etablierten Parteien vertreten fühlt.Hierbei sei bemerkt, dass die Studie von Koos die Tendenzen hin zur AfD nicht bestätigen konnte. Zwar wurden auch hier 'andere Parteien' mit 55 Prozent am häufigsten genannt, es gaben jedoch lediglich 2 Prozent der Befragten an, die AfD bei der kommenden Bundestagswahl wählen zu wollen (Koos 2022, S. 81). Diese Diskrepanz könnte darauf zurückzuführen sein, dass Koos lediglich Personen befragte, die bei der Demonstration in Konstanz teilnahmen, während Nachtwey und Kolleg:innen auf Umfrageteilnehmer:innen aus ganz Deutschland zurückgriffen, entsprechend auch aus Regionen, in denen die AfD stärker vertreten ist (Sachsen: 28,4 Prozent [8]; Thüringen: 22 [9]) als in Baden-Württemberg (9,7 Prozent [10]), was darauf schließen lässt, dass dort unabhängig von Corona die AfD eher eine etablierte Wählerklientel aufweisen kann.3.1.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeDer Vergleich der Pegida-Demonstrationen und der Querdenker-Proteste zeigt, dass sich die Teilnehmenden recht ähnlich sind. Vergleicht man die beiden Protestphänomene miteinander, ist zunächst das Durchschnittsalter mit 47-48 Jahren auffällig gleich. Auch hinsichtlich des Bildungsabschlusses und der Berufstätigkeit gibt es nur geringe Unterschiede. In beiden Fällen sind die Teilnhmer:innen eher überdurchschnittlich gebildet. Der Anteil von Angestellten und Arbeitern ist jeweils am höchsten. Außerdem ist auffällig, dass ein nicht unerheblicher Teil einer selbstständigen Tätigkeit nachgeht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der Geschlechterverteilung. Während bei den Querdenker-Protesten die Verteilung nahezu gleich ist, sind männliche Teilnehmer bei den Pegida-Kundgebungen in der Überzahl.Schaut man sich das Wahlverhalten an, stellt man fest, dass die meisten der Befragten keine der 'etablierten' Parteien bei der nächsten Bundestagswahl wählen würden. Bei den jeweiligen Befragungen kommt keine der 'etablierten' Parteien über 10 Prozent der Stimmen. Vor allem Parteien aus dem linken Spektrum überzeugen nur wenige der Protestteilnehmer:innen. Dies spiegelt die große Unzufriedenheit der Befragten mit der Arbeit von Regierung und Politikern wider, auf die im folgenden Kapitel nochmals genauer eingegangen wird.Die Rolle der AfD ist etwas undurchsichtiger. Von den etablierten Parteien findet die AfD unter den Pegida-Anhänger die meiste Zustimmung, wenngleich der Wert mit etwas mehr als 16 Prozent recht gering ist. Bei den Querdenker-Anhängern kommen die Befragungen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Bei der Online-Befragung würden 27 Prozent bei der kommenden Bundestagswahl die AfD wählen, während dies bei der Vor-Ort-Befragung in Konstanz nur zwei Prozent tun würden.Die hier aufgeführten Aspekte zeigen eine recht große Übereinstimmung hinsichtlich demographischer, sozioökonomischer und politischer Einstellungen der Protesteinehmerenden, die im folgenden Kapitel auch hinsichtlich ihrer Motive für die Protestteilnehme verglichen werden.3.2 Welche Motive haben die Protestteilnehmer:innen?3.2.1 Pegida-ProtesteDie Motive für die Teilnahme an den Pegia-Protesten in Dresden sind vielfältig. Generell lassen sich die Motive als allgemeine Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen und deren Kommunikation beschreiben (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 63). Bei der Umfrage des Dresdner Forscherteams Vorländer, Herold und Schäller gaben über 71 Prozent der Befragten dies als eines der Hauptmotive für die Teilnahme an den Pegida-Protesten an. Weitere wichtige Teilnahmemotive waren Kritik an Medien und Öffentlichkeit (34,5 Prozent), grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern (31,2 Prozent) sowie Protest gegen religiös oder ideologisch motivierte Gewalt (10,3 Prozent) [11] (ebd. S. 59). Sonstige Motive nannten 21,9 Prozent.Betrachtet man die Antwortengruppe 'Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen und deren Kommunikation' genauer, waren die am häufigsten gegebenen Antworten 'Unzufriedenheit mit der Asylpolitik' und 'Allgemein empfundene Diskrepanz zwischen Volk und Politikern' mit jeweils über 25 Prozent (ebd. S. 62). Zudem wurden häufig die 'Unzufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik', 'Unzufriedenheit mit Zuwanderungs- und Integrationspolitik', 'Allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik' sowie 'Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik' genannt (ebd.).Daraus resultiert, dass rund 34 Prozent (bereinigt von Doppelnennungen) der Befragten allgemein mit der Integrations-, Asyl- oder Sicherheitspolitik der Regierung unzufrieden sind (ebd. S. 63). Generell scheinen grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderung, insbesondere aus dem islamischen Raum, eines der Hauptmotive für die Teilnahme zu sein.Wirft man einen genaueren Blick auf die Kategorie 'Grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern', geben 15,4 Prozent der Befragten an, allgemeine Vorbehalte gegenüber Muslimen bzw. dem Islam zu haben (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 69). Die Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung, Sorge um hohe Kriminalität von Asylbewerbern und die Furcht vor eigenem Identitätsverlust und 'Überfremdung' werden ebenfalls häufig als zentrale Motive für die Teilnahme genannt (ebd.).In einem Positionspapier fordern die Organisatoren von Pegida entsprechend eine im Grundgesetz verankerte Integrationspflicht für Geflüchtete, um einer "Islamisierung des Abendlandes" und damit verbundenen "Glaubenskriegen auf deutschem Boden" entgegenzuwirken (Antifa Recherche Team Dresden 2016, S. 45).Laut Organisator:innen gibt Pegida all den Menschen eine Stimme, die sich "überfremdet, benachteiligt und in ihrer Identität bedroht fühlen" (ebd. S. 35), um zu verhindern, dass Asylsuchende Geld vom Staat bekommen, während ein Großteil der Bevölkerung sich das alltägliche Leben nicht mehr leisten kann. Hierbei gibt es Überschneidungen zwischen den Kategorien 'Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik' und der allgemeinen Angst, das eigene Leben nicht mehr finanzieren zu können, sowie der 'Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung' durch Einwanderung.Obwohl rund 34 Prozent der Antworten das Themenfeld Integrations-, Asyl- und Sicherheitspolitik als Motiv für die Protestteilnahme angeben, wurde von lediglich 24,2 Prozent der Befragten explizit der Islam, Islamismus und Islamisierung als Grund genannt (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 72).Neben den Themen Zuwanderung, Asyl und Islam ist auch die kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Öffentlichkeit und Medien, insbesondere gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eines der Hauptmotive für die Teilnahme an den Pegida-Demonstrationen. Der Begriff der 'Lügenpresse' verdeutlicht die Wut und ablehnende Haltung gegenüber Vertretern der Medien und den Medien als Institution.21,2 Prozent der Befragten äußerten entsprechend eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Berichterstattung der Medien und 18,4 Prozent kritisieren eine diffamierende Berichterstattung über die Pegida-Proteste (Vorländer, Herold, & Schäller 2015; S. 66.). Oft wird dabei pauschalisierend Kritik an der politischen Einstellung und an der Arbeit von Medienvertretern geübt (ebd. S. 67). Anhänger der Pegida-Bewegung bemängeln zudem, dass sie zu wenig im öffentlichen Diskurs gehört werden und die Sorgen und Ängste nicht ernst genommen werden. Zudem wird beklagt, dass der Öffentlichkeit Informationen vorenthalten werden (ebd. S. 68). Am Rande der Demonstrationen ist entsprechend eine aufgeladene Stimmung gegenüber Vertretern der Medien sowie eine Weigerung, mit Medienvertretern zu sprechen, zu beobachten.3.2.2 Querdenker-ProtesteSo vielfältig wie die Protestteilnehmer:innen sind auch die Motive für die Teilnahme. Trotz der Heterogenität vereint alle der zentrale Aspekt, gegen etwas zu sein (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 251). Ein Hauptgrund für die Teilnahme bilden die durch die Krise hervorgebrachten sozialen Ungleichheiten und die hierdurch verursachte wahrgenommene Benachteiligung in unterschiedlichsten Bereichen (Koos 2022, S. 73).Befragungen von Koos (2022, S. 73) bei der Demonstration in Konstanz im Herbst 2022 zeigen, dass weniger die persönliche Betroffenheit Grund für die Teilnahme ist, sondern vielmehr die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen ausschlaggebend sind. Lediglich rund 20 Prozent der Befragten nannten unmittelbare finanzielle Auswirkungen als ein Teilnahmemotiv (ebd.).Hauptsächlich spielt die Sorge um die eigene familiäre Situation eine Rolle. 39 Prozent (der Studie von Nachtwey, Schäfer, & Frei [2022, S. 16] zufolge rund 34 Prozent) der Befragten gaben an, dass durch die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens übermäßig hohe Belastungen für Familien entstanden sind (Koos 2022, S. 74). Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Nachtwey und Kollegen (2021, bei ihrer Umfrage eine 80-prozentige Zustimmung zur Aussage über die Willkürlichkeit der Corona-Maßnahmen ermittelten und dass rund 95 Prozent der Aussage, die Regierung dramatisiere oder übertreibe die Corona-Problematik,k zustimmten bzw. voll und ganz zustimmten (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 14f.).Größter Kritikpunkt an den Maßnahmen sind die temporären Einschränkungen der Grundrechte, wie Ausgangsbegrenzungen und Kontaktverbote. 80 Prozent der Befragten nannten die negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf die eigenen Grundrechte als einen der Hauptgründe, sich an den Querdenker-Protesten zu beteiligen (Koos 2022, S. 75). Zudem stimmten 95 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Corona-Maßnahmen die Meinungsfreiheit und Demokratie bedrohen (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 17).Als Einschränkung der Grundrechte wird auch die Verpflichtung zum Tragen von Masken gesehen. Teilnehmer:innen behaupteten hierbei, dass es durch das Tragen der Maske zu Todesfällen in Deutschland gekommen sei (Gensing 2020). Entsprechend stimmen über 88 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Maskenpflicht Kindesmissbrauch sei (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 18). Auch aufgrund der temporären Schulschließungen ist der Schutz von Kindern unter den Motiven der Demonstrationsteilnehmer:innen zu finden und rückte mit zunehmendem Verlauf des Corona-Protestgeschehens vermehrt in den Fokus der Debatte.Neben Kritik an den konkret aufgrund der Corona-Pandemie getroffenen Maßnahmen durch die Bundesregierung ist auch die allgemeine Kritik an Regierung und Parlament eine der Hauptmotivationen. So gaben 88 Prozent der Befragten an, kein Vertrauen in die Regierung zu haben (Koos 2022, S. 79). Gleiches gilt für den Bundestag. In das Parlament und die gewählten Abgeordneten haben nur 4 Prozent Vertrauen (ebd.). Eine Mehrheit von 77 Prozent hat dabei das Vertrauen in das politische System verloren (ebd. S. 80). Dennoch lehnen 94 Prozent eine Diktatur als möglicherweise bessere Staatsform ab (ebd.). Der Aussage, dass 'Medien und die Politik unter einer Decke stecken' stimmen rund 77 Prozent der Teilnehmer in der Befragung von Nachtwey, Schäfer, & Frei (2022, S. 17) zu.Entsprechend groß ist die Ablehnung gegenüber etablierten Medien (91 Prozent) (Koos 2022, S. 79). Die oftmals als einseitig empfundene Berichterstattung von den Corona-Protesten, vermeintlich tendenzielle Berichterstattung und das mutmaßliche Zurückhalten wichtiger Informationen werden oft als Hauptgründe für die ablehnende Haltung gegenüber etablierten Medien, insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk genannt (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 225). Konkret wird den Medien 'Angstmacherei' vorgeworfen mit dem Ziel, die Menschen zu verunsichern. Die Teilnehmer:innen bezeichnen sich daher oftmals selbst als besonders kritische Menschen, die Dinge hinterfragen und gegen die "mediale Desinformation" (ebd. S. 256) vorgehen und aufklären wollen.Waren im Frühjahr und Herbst 2020 noch die von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen und deren Auswirkungen, wie Lockdown, Schulschließungen und Maskentrageverordnung, der Hauptgrund für die Teilnahme an den Querdenker-Demonstrationen, wandelten sich die Motive im Lauf der Zeit. Mit der Entwicklung von Corona-Impfstoffen, deren Zulassung und den anschließenden, im Frühjahr und Sommer 2021 groß angelegten Impfkampagnen, wurde vermehrt auch die Kritik an einer vermeintlichen Zwangsimpfung und die Diskriminierung Ungeimpfter zum zentralen Motiv (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 3).Entsprechend konnten sich 70 Prozent der Befragten vorstellen, dass einflussreiche Geschäftsleute die Menschheit zwangsimpfen lassen wollen, um so persönlich davon zu profitieren (Koos 2022, S. 77). Allgemein haben Verschwörungstheorien und eine darauf aufbauende "Realität" großen Einfluss, die Motive der Teilnehmer:innen betreffend. Unter den Befragten können sich 75 Prozent vorstellen, dass Wissenschaftler gezielt manipulieren, Tatsachen erfinden oder Beweise zurückhalten, um die Öffentlichkeit zu täuschen (ebd.).Zwar haben 37 Prozent der Befragten Vertrauen in die Wissenschaft, dieser vergleichsweise hohe Wert könnte aber auch darauf zurückgeführt werden, dass sich im Lauf der Pandemie eine Vielzahl selbsternannter Experten etabliert hat, deren Wissen und Expertise gleichgesetzt wurde mit Wissen von Experten, die dem etablierten Wissenschaftssystem zuzuordnen sind (ebd. S. 79). Hauptkritikpunkt ist dabei die Nichtproduktion eindeutiger Ergebnisse und die Anpassung von Empfehlungen aufgrund neuster Erkenntnisse, die oftmals zu Verwirrung und Irritationen führten.Es bleibt festzuhalten, dass sich berechtigte Kritik an den Corona-Maßnahmen mit inhaltlich diffuser Kritik (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 257) mischt, was zu einer wirren Verflechtung von Tatsachen mit Verschwörungserzählungen führt, die schließlich zur Teilnahme an den Querdenker-Demonstrationen führen.3.2.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeZu den Gemeinsamkeiten beider Protestgruppen lässt sich zunächst herausstellen, dass beide sehr heterogen zusammengesetzt sind und eine Vielzahl von Motiven die Menschen zur Teilnahme an den Protesten veranlasst. In beiden Gruppen ist eines der Hauptmotive die allgemeine Unzufriedenheit mit Mandatsträgern und politischen Entscheidungen im allgemeinen.Beide Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich des konkreten Anlasses für die Proteste. Während der Hauptauslöser für die Pegida-Proteste in der Asylpolitik der Regierung, der mangelnden Kommunikation bei der Unterbringung von Geflüchteten sowie in einer vermeintlichen Überfremdung Deutschlands liegen, resultierte die Unzufriedenheit bei den Querdenker-Protesten hauptsächlich aus den Grundrechtseinschränkungen, die die Corona-Pandemie eindämmen sollten, sowie später aus der vermeintlichen Diskriminierung von Ungeimpften.Auch wenn sich die konkreten Anlässe unterscheiden, ist der Auslöser für die jeweiligen Proteste eine aktuelle Gegebenheit, die aufgegriffen und instrumentalisiert wird. Die Proteste beziehen sich dabei nicht nur auf den konkreten Anlass, sondern lassen sich als allgemeine Unzufriedenheit interpretieren. Was beide Gruppen gemein haben, ist die generelle Ablehnung von Politik und der Vertrauensverlust in Politik und Politiker. Waren es bei den Pegida-Protesten rund 71 Prozent, die angaben, mit politischen Entscheidungen unzufrieden zu sein, nannten bei der Befragung bei einer Querdenken-Kundgebung in Konstanz 88 Prozent der Teilnehmer:innen dies als Grund für die Teilnahme.Hier zeigt sich eine Zunahme der Unzufriedenheit. Dies ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass die Menschen aufgrund der Corona-Maßnahmen direkter von Regierungsentscheidungen betroffen sind und diese auch das tägliche Leben betreffen. Bei beiden Umfragen zeigt sich besondere eine ablehnende Haltung gegenüber politischen Mandatsträgern, die sich nach Ansicht vieler Befragter zu weit vom einfachen Bürger entfernt haben und nicht mehr im Sinne des Volkes handeln.Bei beiden Protestbewegungen konnte zudem eine ablehnende Haltung gegenüber etablierten Medien beobachtet werden. Dies zeigte sich zum einen in der Verweigerung, mit Medien zusammenzuarbeiten, als auch in verbalen und teilweise handgreiflichen Übergriffen auf Medienvertreter:innen. Sowohl bei Querdenker-Kundgebungen als auch bei Pegida-Demonstrationen hat sich der Begriff 'Lügenpresse', als Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber Medien etabliert. Häufig wird zudem eine tendenziöse, abwertende Berichterstattung von den Protestkundgebungen und ein absichtliches Zurückhalten von vermeintlich wichtiger Informationen für die ablehnende Haltung genannt.Sowohl bei den Protesten der Querdenker-Bewegung gegen die Corona-Politik als auch bei den Pegida-Protesten spielt die Angst vor einer sozioökonomischen Benachteiligung eine wichtige Rolle, wenngleich die Angst unterschiedlich begründet wird. Während dies bei Pegida-Anhängern durch die Zuwanderung von Menschen mit muslimischem Glauben und damit verbundener größerer Konkurrenz um Arbeitsplätze sowie der durch Einwanderung veränderten Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel auf mehr Personen begründet wird, argumentieren Anhänger der Querdenker-Bewegung dahingehend, dass mit den von der Politik getroffenen Maßnahmen, die das öffentliche Leben einschränken, die Lebensgrundlage wegfällt. Auch wenn viele der Teilnehmer:innen angaben, von den Maßnahmen nicht unmittelbar betroffen zu sein, zeigt sich die Angst besonders bei Selbständigen, die aufgrund der Maßnahmen ihrer Berufstätigkeit nicht mehr nachgehen können.Auch hinsichtlich des Glaubens an Verschwörungstheorien gibt es eine Schnittmenge zwischen beiden Protestphänomenen. Zentral ist die Idee einer geheimen Machtelite, die negativen Einfluss auf das Volk nehmen möchte. Bei den Pegida-Protesten wird dieses Narrativ untermauert von dem Glauben an eine "Umvolkung", also dem Austausch der Deutschen durch zugewanderte Flüchtlinge aus dem islamischen Raum. Von der Unterdrückung des Volkes durch die getroffenen Maßnahmen und die vermeintliche Absicht, die Menschen durch die Corona-Impfung zu reduzieren oder zumindest durch das Einpflanzen eines Computerchips unter die Kontrolle einer Machtelite zu bringen, sind zentrale Erzählungen bei Querdenker-Kundgebungen.Auch wenn sich die Protestbewegungen in ihren eigentlichen Auslösern unterscheiden, gibt es die Motive betreffend erstaunlich viele Überschneidungen. Die Einwanderung bzw. der Protest gegen die Corona-Maßnahmen sind in beiden Fällen ein allgemeiner Ausdruck angestauter politischer Unzufriedenheit, der sich im Kontext der konkreten Anlässe entlädt. 3.3 Das rechtsradikale Potential der Protestbewegungen3.3.1 Pegida-ProtesteAuch wenn die Studie von Vorländer, Herold & Schäller vermuten lässt, dass die Pegida-Teilnehmer:innen vorwiegend aus der Mitte der Gesellschaft kommen, stellt dies kein Grund zur Verharmlosung dar (Kokyba 2016, S. 149). Oftmals wird dieser Studie vorgeworfen, das rechtsradikale Potenzial der Protestbewegung zu unterschätzen. Als Hauptgrund wird angeführt, dass eine Vielzahl von Teilnehmenden sich weigern, an wissenschaftlichen Umfragen teilzunehmen, und dass diejenigen, die mit wissenschaftlichen Institutionen sprechen, eher der gemäßigten Mitte zuzuordnen sind und daher das Ergebnis in Richtung gemäßigter Ansichten verzerren.Als Indiz für eine rechtsradikale Gesinnung kann allein die Teilnahme an einer Kundgebung unter dem islamfeindlichen Motto 'Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes' angesehen werden (ebd. S. 152). Auch kann eine solche Gesinnung aus den Rednern und den Inhalten von Reden im Rahmen der Kundgebungen abgeleitet werden.Bei der Kundgebung zum einjährigen Bestehen von Pegida am 19. Oktober 2015 war Akif Pirinçci einer der Hauptredner. Pirinçci, der offen rechtspopulistische und islamfeindliche Positionen vertritt und zudem aufgrund diverser Äußerungen rechtskräftig verurteilt wurde, sprach bei der genannten Veranstaltung unter anderem von der "Moslemmüllhalde" Deutschland und warf Politikern vor, als "Gauleiter gegen das eigene Volk" zu agieren (Spiegel.de 2015). Wegen dieser Äußerungen und auch der Aussage "die KZs sind leider derzeit außer Betrieb" wurde die Rede schließlich nach 25 Minuten abgebrochen und Pirinçci im Anschluss wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe verurteilt (ebd.).Offiziell grenzt sich Pegida zwar immer wieder von rechtsextremen Positionen ab, die Bewegung mobilisiert jedoch eine rechtspopulistisch rebellierende Bevölkerung, die sich aus der Mitte der Bevölkerung her rekrutiert und den Anspruch erhebt, das Volk zu repräsentieren (Nachtwey 2016, S. 210). Eine Studie von Daphi et al. (2015: S. 22f.) zeigt zudem, dass über 59 Prozent der Pegida-Anhänger bei der Landtagswahl in Sachsen 2014 der AfD ihre Stimme gegeben haben. Somit hat eine Partei, die zwar im Bundestag vertreten ist, aber in Teilen aufgrund von verfassungswidrigen Positionen vom Verfassungsschutz beobachtet wird, eine absolute Mehrheit unter den Pegida-Anhängern erzielen können.Vorländer, Herold & Schäller (2016, S. 116) stellen jedoch auch heraus, dass sich die rechtsradikale und ausländerfeindliche Einstellung der Pegida-Teilnehmer in Dresden nicht wesentlich von Werten in West- bzw. Gesamtdeutschland unterscheiden. Es bleibt festzuhalten, dass die Pegida-Bewegung keine "originär" (Nachtwey 2016, S 1) rechtsextreme Bewegung ist, jedoch das rechtsextreme Potenzial nicht unterschätzt werden darf.3.3.2 Querdenker-ProtesteDer Sonderbericht des nordrhein-westfälischen Innenministeriums bescheinigt der Querdenker-Bewegung, dass einzelne Personen und Bewegungen aus der rechtsextremistischen Szene Einfluss nehmen und die Bewegung für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren versuchen (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 34). Zudem wurden bei den Kundgebungen rechtsextremistische Inhalte geteilt, bei gleichzeitigem Bemühen, einen demokratischen und rechtsstaatlichen Anschein zu wahren (Stern 2021, S. 2).Der Bericht bezieht sich dabei auf eine hohe Ablehnung des Rechtsstaates, die sich jedoch laut der Umfrage von Koos (2022, S. 80) nur bedingt bestätigen lässt. 96 Prozent der Teilnehmenden widersprechen zumindest der Aussage, dass eine Diktatur eine möglicherweise bessere Regierungsform sei. Dennoch lässt sich bei den Kundgebungen eine gewisse antisemitische sowie anti-rechtsstaatliche Haltung finden, die sich vor allem in diversen Verschwörungserzählungen ausdrücken. Einer der Protagonisten in Berlin, Attila Hildmann, behauptete beispielsweise am Rande einer Kundgebung, jüdische Familien wollen die "deutsche Rasse auslöschen" (Leber 2020).Der Verfassungsschutz von Nordrhein-Westfalen schätzte im Dezember 2020 zudem, dass rund 10 Prozent der Demonstranten Rechtsextreme oder Reichsbürger sind (Grande, Hutter, Hunger & Kanol 2021, S. 22). Einer Umfrage von Grande et al. (2021, S. 22) zufolge sind 7,5 Prozent der Protestierenden dem rechten Rand zuzuordnen. Zwar ist dies nur eine Minderheit, die jedoch aufgrund ihres Mobilisierungspotentials nicht vernachlässigt werden darf, zumal 40 Prozent der Befragten rechtsextreme Positionen zustimmungsfähig finden (ebd.). Die Umfragen haben zudem gezeigt, dass sich das rechtsextreme Potenzial im Lauf der Zeit verstärkt hat. Vergleicht man die erste Protestwelle mit der zweiten, stieg der Zustimmungswert von knapp über 30 Prozent auf über 40 Prozent (Grande et al. 2021, S. 23).Dieses Potenzial zeigt sich auch, wenn Teilnehmer:innen mit Reichskriegsflaggen die Absetzung der Regierung fordern. Am Rande der Kundgebung in Berlin Ende August 2022 versuchte schließlich eine Gruppe von Corona-Gegnern, den Reichstag zu stürmen und die Regierung zu stürzen (Patenburg, Reichhardt, Sepp 2021, S. 3). Zudem sind häufig Forderungen zu hören, die Verantwortlichen für die Corona-Maßnahmen bei einer Neuauflage der Nürnberger Prozesse zur Rechenschaft zu ziehen (Virchow 2022). Diese und weitere aus der NS-Zeit abgeleitete Semantik ist ein weiteres Indiz für die Nähe von Querdenkern zu rechtsradikalen Positionen.Zu beobachten ist zudem, dass sich immer wieder bekannte Neonazis unter die Demonstranten mischen. Diese nutzen die friedlichen Demonstrationen, um unter dem Deckmantel 'Corona' rechtsradikale Thesen zu verbreiten. Hierbei besteht insbesondere die Gefahr, dass friedliche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft für eine rechtsradikale Agenda missbraucht werden. Abschließend kann herausgestellt werden, dass der zunächst friedliche Protest zunehmend von Anhängern rechtsradikaler Bewegungen unterlaufen und zunehmend für rechte Zwecke missbraucht wurde.3.3.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeSowohl die Pegida-Proteste als auch die Querdenker-Kundgebungen rekrutieren ihre Teilnehmer:innen aus der Mitte der Gesellschaft. Obwohl sie den Anschein einer bürgerlichen Protestbewegung haben, ist ein rechtsextremistisches Potenzial nicht zu unterschätzen. Forschungen zeigen, dass bei beiden Bewegungen eine rechtsradikale Minderheit unter den Teilnehmenden vertreten ist, die die Proteste für eigene Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Entsprechend konnte bei beiden Bewegungen eine zunehmende Radikalisierung festgestellt werdenCharakteristisch für beide Bewegungen ist zudem eine allgemeine Ablehnung von Rechtsstaat und politischen Institutionen. Dies zeigt sich auch im Wahlverhalten. Bei beiden Protestphänomenen identifizieren sich nur wenige Teilnehmenden mit einer der etablierten Parteien und gaben an, bei der kommenden Wahl eine 'andere Partei' wählen zu wollen.Unter den im Bundestag vertretenen Parteien kann lediglich die AfD einen nennenswerten Stimmenanteil auf sich vereinen. Auch hierbei zeigt sich das rechtsradikale Potenzial der Proteste. Die AfD ist zwar im Bundestag vertreten, doch werden einzelne Mitglieder und Landesparteien vom Verfassungsschutz beobachtet. Diese Haltung zeigt sich teilweise auch in Verschwörungserzählungen, die oftmals als Rechtfertigung für die Proteste herangezogen werden. Zudem sind bei beiden Protesten nationalistische Symbole wie die Reichskriegsflagge zu beobachten und Reden eindeutig rechter nationalistischer Personen zu hören.Was beide Protestgruppen unterscheidet, ist die ursprüngliche Intention, mit der die Menschen auf die Straße gegangen sind. Während bei Pegida von vorneherein eine eindeutig nationalistische, auch rechtsradikale Positionierung zu erkennen war, war die ursprüngliche Intention der Querdenker-Demonstrierenden gegen die aus ihrer Sicht unsinnigen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Erst später bildeten sich auch hier nationalistische und rechtsradikale Züge heraus. Hier kann als Höhepunkt dieser Entwicklung der 'Sturm auf den Reichstag' genannt werden. Es beliebt festzuhalten, dass sich bei beiden Protestgruppen legitime Anliegen mit rechtsradikalen Positionen vermischen, was die Proteste so gefährlich macht.4. Zusammenfassung und AusblickIn der hier vorliegenden Arbeit wurden die Querdenker-Proteste in Folge der Corona-Pandemie und die aus dem vermehrten Zuzug islamischer Flüchtlinge resultierenden Pegida-Proteste miteinander verglichen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt. In einem ersten Schritt wurde die Chronologie der Protestbewegungen dargestellt und anschließend hinsichtlich dreier spezifischer Merkmale miteinander verglichen.Im Hinblick auf demografische und sozioökonomische Aspekte sowie dem Wahlverhalten sind sich die Teilnehmenden an beiden Protestphänomenen recht ähnlich. Die im Schnitt 48 Jahre alten Demonstrationsteilnehmer:innen sind zumeist Angestellte oder Arbeiter, wobei der Anteil an Selbständigen recht hoch ist. Politisch fühlt sich eine Mehrheit nicht von den etablierten politischen Parteien ausreichend vertreten und würde daher bei der kommenden Wahl eine 'andere Partei' wählen. Es konnte zudem gezeigt werden, dass bei Pegida- und Querdenker-Protesten die AfD als einzige der im Bundestag vertreten Parteien eine nennenswerte Wählerschaft anspricht.Auch in Bezug auf die Motive zeigte sich eine erhebliche Schnittmenge zwischen Teilnehmer:innen der Pegida- und Querdenker-Demonstrationen. Beide Phänomene nehmen aktuelle politische Entscheidungen als Demonstrationsanlass, die aber lediglich als Katalysator für aufgestaute Wut und Enttäuschungen wirken. Entsprechend wurde gezeigt, dass allgemeine Unzufriedenheit mit Politik, Regierung und Mandatsträgern ein zentrales Motiv für die Proteste ist.Hinzu kommt die Kritik an Medien, tendenziöse Berichterstattung zu betreiben und voreingenommen über die Proteste zu berichten. Zudem würden zentrale Informationen gezielt nicht weitergegeben, um so die Menschen gezielt zu täuschen und wahre Beweggründe politischer Entscheidungen zu verschweigen. Hier zeigte sich auch die Anfälligkeit der Proteste für Verschwörungstheorien, die auch Einfluss auf Wissensbasis und Motive haben.Abschließend wurde das rechtsradikale Potenzial der Bewegungen aufgezeigt. Beide Bewegungen haben sich dabei aus der Mitte der Gesellschaft hin an den rechten Rand bewegt, wobei die Pegida-Kundgebungen von Beginn an eher rechts zu verorten waren. Größtes Problem ist die Instrumentalisierung der Proteste durch rechte Gruppen, die unter dem Deckmantel friedlicher Proteste mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft rechtsradikale Propaganda gesellschaftsfähig machen wollen.Die hier untersuchten Kategorien bilden die beiden Protestphänomene bei weitem nicht vollständig ab. Es ist daher nötig, weitere Vergleiche anzustellen. Beispielsweise wäre es noch interessant zu ermitteln, inwiefern sich die Protestkundgebungen in puncto Wahrnehmung in der Bevölkerung unterscheiden oder inwiefern sich Politik und Regierung mit den Protesten auseinandergesetzt haben. Überdies sollte noch erforscht werden, wie die Teilnehmer:innen das Vertrauen in Politik zurückgewinnen können und was getan werden muss, um bei zukünftigen politischen Krisen ähnliche Protestbewegungen zu verhindern.Abschließend bleibt festzuhalten, dass wir uns zukünftig vermutlich häufiger mit solchen Formen des Protestes auseinandersetzen müssen. Im Zuge der Energiekrise, resultierend aus dem russischen Angriffskrieg und den Sanktionen gegen Russland, haben erste Verbände und Parteien dazu aufgerufen, den Unmut über Regierungsentscheidungen auf die Straße zu tragen und gegen die Regierenden zu demonstrieren. Es bleibt also abzuwarten, ob sich in den kommenden Monaten eine Protestbewegung, ähnlich wie die Pegida- und Querdenker-Proteste, entwickelt.5. LiteraturverzeichnisAntifa Recherche Team Dresden. (2016). Pegida: Entwicklung einer rechten Bewegung. In T. Heim (Hrsg.), Pegida als Spiegel und Projektionsfläche (S. 33-54). Wiesbaden: Springer VS.Bundesministerium für Gesundheit. 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Abgerufen am 12.08.2022 von https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-02/pegida-aktionstag-europa-fluechtlinge-dresdenFußnoten[1] https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/pegida-teilnehmer-beschimpfen-hotel-gaeste-rassistisch-art-354308[2] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/studie-der-tu-dresden-typischer-pegida-anhaenger-ist-48-maennlich-und-gut-gebildet-li.24398[3] https://www.fr.de/politik/leipzig-querdenker-demonstration-eskalation-angriff-journalisten-gruene-gewalt-verletzte-news-zr-91099309.html[4] https://www.n-tv.de/panorama/40-mutmassliche-Randalierer-bislang-ermittelt-article22295508.html[5] Quelle: Demonstrationskalender der Polizei Berlin, abzurufen unter: https://www.berlin.de/polizei/service/versammlungsbehoerde/versammlungen-aufzuege/ (abgerufen am 13.08.2022)[6] Vgl. Mikrozensus 2013. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Jahrbuch/statistisches-jahrbuch-2018-dl.pdf?__blob=publicationFile (zu beachten ist, dass die Daten aufgrund der zeitlichen Verschiebung nur eingeschränkt miteinander verglichen werden können, dennoch Tendenzen davon abgeleitet werden können.[7] Die Werte in Klammern beziehen sich auf die Studie von Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022[8] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl in Sachsen am 01. September 2019. Quelle:https://wahlen.sachsen.de/landtagswahl-2019-wahlergebnisse.php (angerufen am 14.08.2022)[9] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019 Quelle: https://www.wahlen.thueringen.de/datenbank/wahl1/wahl.asp?wahlart=LW&wJahr=2019&zeigeErg=Land (angerufen am 14.08.2022)[10] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl Baden-Württemberg am 14. März 2021. Quelle: https://www.statistik-bw.de/Wahlen/Landtag/02035000.tab?R=LA (angerufen am 14.08.2022)[11] Die mehr als 100 Prozent sind auf Mehrfachnennungen der Befragten zurückzuführen.
An die historische Erfahrung der Gleichursprünglichkeit von Theater und Politik in der attischen Polis schließt die Grundintuition der Arbeit an: Auch das Stadttheater in der Bundesrepublik Deutschland sei nicht nur eine Kulturkonsumnische oder ein Bildungsbürgerritual, sondern es bilde einen öffentlichen Raum, in dem politisch kommuniziert wird. Der empirischen Validierung dieser Intuition widmet sich eine Fallstudie, der Begriffsklärungen bezüglich politischer Öffentlichkeit vorausgehen. Diese orientieren sich am Stand der Forschung und Theorie an Hannah Arendts Begriff des Politischen, mit entsprechenden Gegenbegriffen des Konsumismus und Ritualismus. Das grundsätzliche Maß, welches die Realität des Theaters als politische Öffentlichkeit angeben kann, ist dabei die Struktur und Reichweite seiner Kommunikationen. Bezüglich des Begriffes "Öffentlichkeit" schließt die Arbeit an Jürgen Habermas und andere den Bereich normativ konzipierende Autoren an. Öffentlichkeit ist ein diskursives (reflexives) und darstellendes (präsentierendes) Netzwerk verschiedener "Arenen" und "Galerien" (Jürgen Gerhards) mit individuellen "Backstages" (Produktionsstrukturen; Bernhard Peters). Ein Bereich ist "öffentlich" insofern Sprecher ihre Beiträge auf ein Publikum ausrichten (Arena) und dieses Publikum diese Ausrichtung auch versteht (Galerie). Die politische Öffentlichkeit rahmt ihre Themen als Probleme des Gemeinwesens. "Kulturelle Öffentlichkeiten", in denen Form der Darstellung und "Kathexis" (Parsons), also affektive Besetzung der Handlungen zum Thema gemacht werden, dienen potenziell als Produktionsstruktur einer solchen politischen Öffentlichkeit, indem sie lebensweltliche Erfahrungen mit Strategien zugänglich und 'diskursfähig' machen, die der politischen Öffentlichkeit im engeren Sinne fremd sind. Die Rekonstruktion eines Begriffs des Politischen hält aus der aristotelischen Tradition einerseits fest, dass es um eine kollektive Selbstbestimmung, um einen "Raum gemeinsamer Angelegenheiten" geht. Insofern hängt der Begriff mit dem der Öffentlichkeit zusammen. Zweitens stellt politische Kommunikation den unhintergehbaren (wenngleich manipulierbaren) Bezug auf ein ethisch Richtiges her. Die Einsicht in die Pluralität der Perspektiven und Meinungen steht als drittes Definiens in einer Spannung zu dem vierten eines "agonistischen", in Entscheidungsalternativen polarisierten Raums (C. Schmitt u. a.). Im Gegensatz zu diesen Merkmalen stellt der "Konsumismus" Bezüge ausschließlich zu individuellen Präferenzen her und formuliert diese normativ neutral sowie (tendenziell) nicht-argumentativ und nicht-exklusiv. Im Gegenbegriff des "Ritualistischen" hingegen verschwindet die reflexive und pluralistische Dimension; das Gesellschaftliche wird hier auf das Gemeinschaftliche zurückgeführt. Bevor dieseBegriffe in der Fallstudie empirisch angewandt werden, verdeutlichen exemplarische historische Exkurse ins Theater Athens, des Elisabethanischen England und das Deutschland des 19. Jahrhunderts die Relevanz der Fragen nach der Kommunikationsstruktur der theatralen 'Sprecher' und ihrer Publika, wobei über die letzteren systematisch weniger bekannt ist. Am griechischen Theater wird der Bezug auf gemeinsame Angelegenheiten, am elisabethanischen die Pluralität der Sichtweisen, am deutschen die Ambivalenz zwischen aufs Private zielendem Bildungsauftrag und ritueller Gemeinschaftsbildung hervorgehoben. Das Theater der Bundesrepublik wird als Erbe des bürgerlichen Theaters, dessen Normativität in der mediatisierten Erlebnisgesellschaft unter Druck gerät, vorgestellt. Das "Stadttheater" wird als Typus von anderen Öffentlichkeiten abgegrenzt (wie der Freien Szene oder den Metropolentheatern), um klar zu machen, womit die Fallstudie sich beschäftigt. Die Fallstudie im westdeutschen "Mittelstadt" untersucht Kommunikationen des Theaterbetriebs (Interviews mit Produzenten; teilnehmende Beobachtungen), der Rezipienten (Zuschauerinterviews) und der Arena selbst (Inhaltsanalyse von Texten der Öffentlichkeitsarbeit). Von Interesse sind dabei sowohl Wissen wie Einstellungen der Befragten, also Informationen über Realia wie Desiderate. Die Analyse mit MAXQDA ist dabei qualitativ mit quantitativen Elementen, deren Gesamtbild eine Gewichtung der verschiedenen Kommunikationstypen möglich macht. Politische Attributionen finden sich, außer in Teilen der PR, deutlich stärker ausgeprägt als konsumistische. Ritualistische Vorstellungen und Vorgänge sind randständig. Diskurse haben einen wichtigen Stellenwert sowohl für Macher wie Publikum; reflexive Anschlussfähigkeit des von ihnen Vorgeführten und Wahrgenommenen wird von ihnen geschätzt, aber wegen verschiedener Hemmnisse in der Produktionsstruktur nicht durchweg genutzt. Am Ende der Arbeit werden die überwiegend positiven Befunde bezüglich politischer Kommunikation am Stadttheater der Bundesrepublik noch einmal kritisch auf ihre Reichweite hin befragt. Dabei wird der offenkundige Verlust ritueller Gemeinschaftsbildung im theatralen Feld als möglicherweise doch bedenklich für die Erneuerung politischer Öffentlichkeit gewertet. Eine neue Zentralität der in der Fallstudie oft randständigen Aufführungen und ihres kathektisch-repräsentativen Potenzials wird ins Visier genommen. Die Schwierigkeiten kultureller und politischer Öffentlichkeit, sowohl in die Breite der Gesellschaft wie in die Tiefe des individuellen Verständnisses hinein "bildend" zu wirken, werden angesprochen. ; In this dissertation, I explore how the link between politics and theatre - which share a common origin in the Attic democracy - is preserved in contemporary Germany, i.e., whether theatre still serves as a "political public sphere" (the overall title of the thesis). In order to do so, the notions of "public sphere" and "the political" are thoroughly defined by revising useful elements provided by sociological and political theory. Following Habermas and other German authors, I understand "public sphere" as a network consisting of "arenas" (speakers) and "galleries" (audiences) who produce discourses and presentations and react to them, with part of the production occuring non-publicly "backstage". While political publics frame their dis-courses as related to contentious issues of the polity, cultural publics concentrate on the for-mal aspects of presentation and on the emotive interface between the individual and society ("cathexis" in Parsonian terms). Political communication, more specifically, is understood here as discourse which relates (1) to the polity and (2) to what is good or bad for it, presenting arguments in a (3) pluralistic way, and with (4) potential polarization regarding the different alternatives. Hannah Arendt's view on the political sphere is a central inspiration for criterion [3], noting that there is a tension between this plural exchange of perspectives and the polarization criterion, which leads to diffcult trade-offs. As an antonym, "consumerist" communication is only related to indi-vidual preferences and indifferent to arguments and normative alternatives. "Ritualism", on the other hand, is akin to the political, but lacks the decisive feature of pluralism. The terrain for the empirical study is then paved by looking at exemplary stations of occi-dental theatre, namely the Athenian, the Elizabethan, and finally the German national theatre of the 19th century. The increasing ritualism of the latter is seen as the normative ancestor of contemporary state-subsidized staging in the Federal Republic of Germany. Among the different types of theatres to be found here, the typical "Municipal Theatre" is singled out as a public of local reach and importance (distinguished, e.g., from the "Metropolitan Theatre" with nation-wide frames and impacts). The discussions in that section make clear that the case study carried out in "Mittelstadt" is a typical one in many respects. The case study, operationalizing "the public" and "political communication" through a semi-quantitative content analysis of interviews (with producers and audience members) as well as of PR-related texts, finds clear evidence for both actual pluralistic discourse and reference to society, and - even stronger - for normative striving toward such kind of discourse. The "productive structure" of the Municipal Theatre imposes certain constraints on the reali-zation of said normativity, though, which result in shortcomings of dialogue and lacking of necessary knowledge about the communication partner (mostly about the audience in the case of producers). A missing centrality of the actual theatrical piece, the presentation, within the audience's discourse is a particularly critical finding. In the very last section, however, I put the overall positive findings of the case study into perspective. Firstly, I question whether the virtual 'withdrawal' of ritualistic elements can be assessed as entirely beneficial for the effectiveness of theatre as a cultural and political sphere (which re-opens the debate on the possibility and conditions for a "linguification of the Sacred" found in Durkheim and Habermas). Secondly, I make the point that the act of demonstration, of "showing" something - located at the heart of theatrical representation - harbours a specific political potential, but only if it is understood and received as a speech act in need of public interpretation. Thirdly, I reconsider the often noted tension between an in-depth elaboration of issues, on the one hand, and the inclusion of ever more topics and voices, on the other. While this tension is inherent to every public and not really dissolvable, in contemporary German theatre it might be advisable to emphasize the "Bildungsauftrag", the mandate for aesthetic in-depth education, instead of striving for an overproduction of discursive offer-ings and activities.
Leerstellen Zwischenräume Störungen Brüche Reste Risse – als defizitär werden sie schon lange nicht mehr begriffen. Das Fragmentarische als ästhetisches Merk/Mal der Postmoderne ist viel beschworen, die Skepsis gegenüber jeder Art von Totalität allgegenwärtig. TheatermacherInnen schwören dem Gedanken des Gesamt-Kunstwerks ab und widmen sich dem Work in Progress, dem Scheitern, dem Materialhaften, dem Sampling, der Trennung der Elemente und der Subversion der geschlossenen (Re-)Präsentation; TheoretikerInnen betonen die performative und politische Kraft des widerständigen Bruchstücks. Im Herbst 2009 erschien nun bei transcript ein Sammelband, dessen Konzeption Jean-Luc Nancys 1994 erschienener Aufsatz "Die Kunst - ein Fragment" zugrunde liegt. Quoi de neuf? Der Band Theater des Fragments ist hervorgegangen aus der Tagung "Diskurs und Fragment im Spannungsfeld von Prä- und Postdramatik" (Juli 2007) des Doktoratsprogramms 'Intermediale Ästhetik' der Universitäten Basel und Bern, das selbst ein - in Module - fragmentiertes ist. Verantwortlich für Tagung und Band zeichnet sich das Modul "Theatralität und Dramatik – von der Antike bis zur Postmoderne" unter Leitung von Anton Bierl und Gerald Siegmund. Der Sprung über 2.500 Jahre hinweg verdankt sich also u. a. den unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten der Herausgeber: der frühgriechischen Philologie sowie der Performancekunst der Gegenwart. In zwei einleitenden Texten verbinden Bierl und Siegmund die Prä- mit der Post-Dramatik als zwei Formen, die jeweils "historisch spezifische Möglichkeiten dar[stellen], die Geschlossenheit der Repräsentation aufzubrechen" (S. 12). Gerald Siegmund unterscheidet mit Jean-Luc Nancy - für den Kunst notwendigerweise mit dem Fragmentarischen zu tun hat - zwei verschiedene Arten des Fragments: Eines, "das selbst schon wieder eine Abgeschlossenheit behauptet, indem es seine ausgefransten Ränder in sich aufnimmt und verschließt" und eines, "dem ein Ereignischarakter zukommt, weil es in seiner Fragmenthaftigkeit etablierte Diskurszusammenhänge zu stören vermag" (S. 11f.). Dabei ordnet Siegmund das klassische Drama der ersten Kategorie zu, die prä- und postdramatischen Formen der zweiten. In dem Band geht es vor allem um das Fragment als "etwas das bleibt, obwohl oder gerade weil es nicht aufgehen will im Diskurs, das hartnäckig stört" (S. 11). Vor dem Hintergrund der Philosophie des 20. Jahrhunderts diagnostiziert Siegmund in der Ästhetik des Fragmentarischen ein "erkenntnistheoretisches Problem im Umgang mit Geschichte" (S. 13, bzgl. Benjamin), eine "Öffnung auf etwas noch nicht [.] Sagbares" (S. 15, bzgl. Kristeva) und eine "Lust [.] an dem, was den Sinn übersteigt" (S. 13, bzgl. Lacan). Dem Fragment schreibt er die performative Kraft zu, Abwesendes zur Präsenz zu bringen; das Fragmentarisieren wird damit zum "Spezifikum des Theaters", des Performativen, wie es vor allem seit den 1960er Jahren von KünstlerInnen und TheoretikerInnen explizit erforscht und praktiziert wird. Aber auch der Antikenforschung sind Fragmente nicht fremd, und das nicht nur als "Steinbruchstücke" und "zerfranste Papyrusfetzen [.], die im ägyptischen Wüstensand auftauchen" (S. 19). Anton Bierl verweist u. a. auf die frühgriechische Tradition hypertextueller Verfahren und auf den stilistischen Fragmentcharakter der Lyrik. Die kleinteiligste Fragmentierung findet er auf der Ebene der Syntax bzw. der Metrik, die die Semantik von starken Affekten im Rhythmus der Sprache spiegelt. In der Ausdrucksform des Leids ergibt sich schließlich die Verbindung zur antiken Tragödie mit ihren "Tendenzen zum Sparagmos, zur Zertrümmerung und Zersplitterung" (S. 25). Bierl sieht in ihrer Charakteristik Merkmale der Postdramatik vorweggenommen: Weder werden "Charaktere und Handlung in den Vordergrund [ge]rückt", noch beruhe die antike Tragödie "auf deutlicher Fiktion, Repräsentation oder thetischer Aussageintention" (S. 23), stattdessen zeige sie sich als "bildgesättigte Performance" und offenbare ein "selbstreferentielle[s] Bewusstsein der eigenen Fragmentierungsstrategien" (S. 26). Jene Charakteristika der antiken Literatur, aufgrund derer "das Prädramatische [.] in postdramatischen Inszenierungsmitteln seinen Aufschluss" (S. 26) findet, bilden einen Schwerpunkt des Bandes, in dem versucht werden soll, "beide Theaterformen in ihrem fragmentierenden Gestus zusammenzudenken" (Klappentext). Während jede Perspektive für sich – die klassisch philologische wie die postmodern philosophische – wenig neue Erkenntnisse liefert, liegt der Gewinn des Bandes genau in der auf das Fragmentarische zielenden Verknüpfung der "beiden Enden des abendländischen Theaters" (S. 12). Die wohl "klassischste" Verknüpfung von Prä- und Postdramatik ergibt sich dabei aus der Analyse zeitgenössischer Inszenierungen, die antike (Bruch)Stücke "für theatrale Erneuerungsexperimente fruchtbar" (S. 26) machen. Gleich drei Beiträgen dient dazu als "wohl das beste Beispiel einer tragischen Fragmentierung" (S. 24) Euripides' Tragödie Bakchen. So macht Massimo Fusillo in der grundsätzlich "kompakte[n] klassische[n] Struktur" der Tragödie einen "Riss" aus, eine "tief wurzelnde Ambiguität" (S. 259), in der er begründet sieht, dass das Potential der Bakchen für das Theater erst im 20. Jahrhundert (wieder-)erkannt wurde, "als man sich von der Tyrannei des dramatischen Textes zu lösen begann" (S. 260). Anhand von sechs Inszenierungen aus drei Jahrzehnten - u. a. von Richard Schechner und Klaus Michael Grüber - zeigt Fusillo, wie mit verschiedenen Techniken des Fragmentierens die bei Euripides angelegte Struktur radikalisiert wurde. Schechners Dionysus in 69 (bzw. dessen Aufzeichnung) wählt Christoph Meneghetti als Ausgangspunkt für dekonstruierende Überlegungen zur "Präsenzkultur" und eine kritische Betrachtung von Performance-Theorien sowie Diskursen "des anthropologischen Theaters und des Interkulturalismus" (S. 234). Grübers Bakchen dienen Helga Finter als bemerkenswertes Beispiel einer zeitgenössischen Interpretation, die die im Text angelegten Elemente umsetzt und verstärkt: Euripides' Stück erzeuge auf der Text- bzw. Inhaltsebene eine Animation des "Anderen", die von den rituellen Ursprüngen des Theaters ausgehe. Vor dem Hintergrund der Instrumentalisierung deutscher Bühnenstimmen im Nationalsozialismus beschreibt Finter Grübers Inszenierung der Bakchen als eine Fragmentierung der Einheit von Körper- und Textstimme, in deren Zwischenraum das "Andere" der Stimme hörbar wird - eine Strategie, stimmliche Präsenz zu brechen. Regisseurin Claudia Bosse sammelt in ihrem "künstlerischen" Beitrag Stichworte über das "exzessive fragmentieren" antiker Tragödien, am Beispiel ihrer Arbeit mit der Performancegruppe theatercombinat. Auch Hans-Thies Lehmann sieht die Verbindung von Prä- und Postdramatik im Zusammenspiel von Tragödie und Performancekunst, allerdings in der Charakteristik der Performance als solcher, in der "die Tragödie gleichsam ihr Erbe" (S. 166) finde. Als Gemeinsamkeit beschreibt er die Intention, Affekte auszulösen bzw. eine kathartische Wirkung zu entfalten, und untersucht am Beispiel der Performance-Künstlerin Orlan die "Erfahrung des Tragischen" (S. 165). Überschneidungen beider Formen sieht er in ihrer Eigenschaft als "Medium öffentlicher Debatte und Provokation, in der [.] Grundfragen des Menschseins, der Gesellschaft, der Moral, des Ästhetischen eng geführt werden" (S. 170). Das Fragmentarische scheint auf, wenn es um mögliche Ausdrucksformen des Tragischen geht: Im "Dionysischen" zerfällt das Dramatische - gleichsam als "Erfahrung des Sturzes, des Unfalls, des Scheiterns, der Vernichtung", kurz: der "Selbst-Überschreitung". Die Erfahrung des Tragischen als "komplexe mentale Verarbeitung" bedürfe der Sprache, führe diese aber zugleich an ihre Grenze und "über sich hinaus" - das begründe die Verfassung der Tragödie als multimediales Gesamtkunstwerk (S. 167). Mit Multimedialität, genauer mit dem Einsatz audiovisueller Medien im Theater, beschäftigen sich zwei Beiträge am Beispiel berühmter Performance-Gruppen aus New York. Anhand der Produktion Flicker (2002) der Big Art Group denkt Jens Roselt über intermediale Strategien und "Erschütterungen zwischen Körper und Bild" nach. Die Inszenierung, in der drei große Leinwände den Blick auf Bühne und Live-Geschehen verstellen, produziere zwar diverse "tote Winkel" (S. 211). Aber obgleich die Körper der DarstellerInnen durch die Videotechnik beständig fragmentiert und auf die Leinwände aufgeteilt werden, fügen sich diese doch zu einem 'ganzen' Bild - jedenfalls im Kopf der Zuschauer, die "wie an einem virtuellen Schnittpult" zu "Ko-Produzenten" werden (S. 207). So konstituiert die Fragmentierung zuallererst die Figuren und ist insofern eher als Prozess denn als Ergebnis zu begreifen. Im Ergebnis viel konsequenter fragmentarisierend-dekonstruktivistisch geht die Wooster Group mit To You the Birdie! (Phèdre) vor. Nikolaus Müller-Schöll zeigt, wie die PerformerInnen in ihrer Inszenierung das, was für Racine "Poetik und Rhetorik waren", durch "avancierte Medientechnologie" ersetzen. Nicht zum Zweck eines multimedialen Gesamt-Spektakels, sondern mit dem Effekt, dass "Gestik, Artikulation und Körperbild der Personen auf der Bühne als je für sich gestaltete Elemente auseinander" (S. 197) treten. Selbst "der vermeintlich unmittelbare Ausdruck" teilt "in jedem Fall seine eigene Mitteilbarkeit mit" (S. 201), und so zeige sich die (Körper-)Sprache gerade in ihrer Perfektion als unverlässliches Zeichen. Letztlich bleibe von den Darstellern wie Figuren auf der Bühne nur der "Körper als Medium, Träger, Schauplatz oder Matrix der Einschreibungen, letztlich also eine Leere" (S. 200). Damit reagiere die Wooster Group auf die bei Racine bereits subtil angelegten, undeutbaren "Risse" in der Transparenz des klassischen Aufbaus, die Brüche mit der "'Naturalisierung', Psychologisierung und Moralisierung" (S. 191). Auch Patrick Primavesi begnügt sich nicht mit dem Zeit-Sprung von Prä- zu Postdramatik; mit Blick auf die Blütezeit des deutschen Dramas verortet er den Beginn einer Konjunktur des Fragmentarischen im 18. Jahrhundert – mit den entstehenden Tragödienfragmenten etwa von Hölderlin, Kleist und Büchner. Diese "Anti-Dramen" stellen neben Prä- und Postdramatik eigene "konkurrierende Entwürfe von Theatralität" (S. 153) dar und richten sich gleichermaßen "gegen das abgeschlossenen Werk und gegen die Funktionslogik eines dem bürgerlichen Repräsentationsbedürfnis angepassten Dramas" (S. 163). Der "Riss", der die dramatische Form sprengt, markiere den Beginn der Krise des Dramas; als "Schreibweise der Krise" reflektiere er die "(Un-)Möglichkeit einer modernen Tragödie" (S. 147). So stoßen Müller-Schöll und Primavesi mit ihren Beiträgen nicht nur in die Geschlossenheit des Dramas, sondern auch in die leere Mitte, die im Theater des Fragments zwischen dem "Prä" und dem "Post" klafft, und bereichern damit das Konzept des Bandes gewinnbringend um weitere Facetten. An diesen Beiträgen lässt sich ablesen, dass man das Fragmentarische fast überall finden kann - wenn man denn will. In "Sprache und Musik" entdeckt es Ernest W. B. Hess-Lüttich mit seiner semiotisch geprägten Analyse von "intermedialen Übersetzungen", in der "inszenierenden Photographie" Andy Blättler mit seiner anschaulichen Fallstudie von Jeff Walls Picture for Women. Arno Böhler führt aus, wie menschliche Körper bereits im aristotelischen Denken "als Bruch-Teile einer kontinuierlichen Auf-Teilung des Raumes" (S. 53) und bei Nancy dann als "aufgebrochene, perforierte Körper" gedacht werden, und in einer Lecture-Performance mit Susanne Granzer thematisiert Böhler die "Biographie selbst als Text und Fragment" (S. 34). Die 15 Beiträge des Bandes berufen sich insgesamt also auf einen sehr weit gefassten Begriff des Fragmentarischen, das sich in den meisten Fällen vor allem als "poetic metaphor" (S. 69) verstehen lässt, wie es Gregor Nagy in seinem Beitrag "The fragmentary Muse" formuliert. Mit dem 'Fragmentarischen' als Metapher und Denkmodell bieten sich einige neue Perpektiven, An- und Einsichten - (wieder)erkennbar sind allerdings auch (alt)bekannte Phänomene, mit neuem Etikett versehen. Aber das Alter der Schläuche ist doch egal, würde Dionysos rülpsen, Hauptsache der Wein schmeckt!
[SEPTEMBER 1906 - JÄNNER 1915 U. OKTOBER 1924 - OKTOBER 1927] [Anzeigen von Aufführungen des Landschaftlichen Theaters in Linz aus dem Vergnügungsanzeiger der "Tagespost" 1896-1927] (-) [September 1906 - Jänner 1915 u. Oktober 1924 - Oktober 1927] (2 / September 1906 - Oktober 1927) ( - ) Einband ( - ) 1906 - 1907 ( - ) 1906 ( - ) Der ergebenst Gefertigte erlaubt sich die höfliche Anzeige zu machen, daß er am Freitag den 21. September 1906 die Theaterspielzeit 1906/1907 eröffnen wird. ( - ) 1. Landfrieden. 2. Stein unter Steinen. 3. Der Biberpelz. ( - ) 4. Der Weg zur Hölle. 5. Die lustigen Nibelungen. 7. Tannhäuser und Der Sängerkrieg auf der Wartburg. ( - ) 6. Die eine weint, die andere lacht. 8. Die goldene Eva. 9. Mignon. ( - ) 10. Die lustige Witwe. 11. Die lustige Witwe. 12. Die Tritzige. ( - ) 13. Die Schmetterlingsschlacht. 14. Das süße Mädel. 15. Die von Hochsattel. ( - ) 16. Der Widerspenstigen Zähmung. 17. Die Fledermaus. 18. Der Müller und sein Kind. ( - ) 19. Die Sittennote. 20. Donna Juanita. ( - ) 21. Die lustige Witwe. 22. Der Probepfeil. 23. "Der Mann." ( - ) 24. Der Göttergatte. 25. Zar und Zimmermann. 26. Der Helfer. ( - ) 27. Der Wildschütz. 28. Die Näherin. 29. Filia hospitalis. ( - ) 30. Die Bohèhme. 31. Der Hüttenbesitzer. ( - ) 32. Klein-Däumling. 33. Alexander der Große. ( - ) 34. Die Strecke. 35. Vergelt's Gott! ( - ) 1907 ( - ) 36. Die Boheme. ( - ) 37. Aida. 38. Kater Lampe. 39. Arche Noah. ( - ) 40. Die Puppe. 41. Don Juan. ( - ) 42. Die Millionenbraut. 43. Fedora. ( - ) 44. Rosenkranz und Güldenstern. 45. La Traviata. 46. Die Welt ohne Männer. ( - ) 47. Die Puppe. 48. Husarenfieber. 49. Fra Diavolo. ( - ) 50. Der Richter von Zalamea. 51. Samson und Dalila 52. Husarenfieber. ( - ) 53. Der Stadtschreiber. 54. Carmen. 55. Gasparone. ( - ) 56. Samson und Dalila. 57. Die lustige Witwe. 58. Der Opernball. 59. Die Bohème. ( - ) 60. Der Dieb. 61. Die schöne Helena. 62. Heißes Blut. ( - ) 63. Apajune der Wassermann. 64. Die Braut von Messina. 65. Ein idealer Gatte. ( - ) 66. Franz Schubert. 67. Die Großherzogin von Gerolstein. ( - ) 68. Boccaccio. ( - ) 69. In Zivil. Die Puppenfee. ( - ) 1907 - 1908 ( - ) Der ergebenst Gerfertigte erlaubt sich die höfliche Anzeige zu machen, daß er am Samstag den 21. September 1907 die Theaterspielzeit 1907/1908 eröffnen wird. ( - ) 1. Die Rabensteinerin. 2. Baccarat. ( - ) 3. Der arme Narr. Der Liebling der Damen (Narcisse). 4. Der Obersteiger. ( - ) 5. Die Hugenotten. 6. Das zweite Gesicht. 7. Ein Walzertraum. ( - ) 8. Doktor Klaus. 9. Gebildete Menschen. 10. Das Glashaus. ( - ) 11. Der Troubadour. 12. Ein Walzertraum. 13. Der fliegende Holländer. ( - ) 14. Die große Gemeinde. 15. Wallenstein. ( - ) 16. Zwei glückliche Tage. 17. Der Hund von Baskerville. ( - ) 18. Lohengrin. 19. Die Lokalbahn. 20. Fräulein Josette - meine Frau. (Mademoiselle Josette - ma femme.) ( - ) 21. 1001 Nacht. 22. Die berühmte Frau. ( - ) 23. Die Afrikanerin. 24. Ein Walzertraum. ( - ) 25. Das Puppenspiel. 26. Bürgerliche Mesalliance. 27. Tosca. ( - ) 28. Die Geisha oder Die Geschichte eines japanischen Teehauses. 29. Das Protectionskind. 30. Der Herr Senator. ( - ) 31. Lucia von Lammermoor. 32. 's Nullerl. 33. Das Blumenboot. ( - ) 34. Wohltäter der Menschheit. 35. Pension Schöller. 36. Halil-Patrona. ( - ) 37. Nordische Heerfahrt. 38. Der Teufel. 39. König Lear. ( - ) 40. Die eiserne Brücke. 41. Die Boheme. ( - ) 1908 - 1909 ( - ) Der ergebenst Gefertigte erlaubt sich die höfliche Anzeige zu machen, daß er am Samstag den 28. September 1908 die Theaterspielzeit 1908/1909 eröffnen wird. ( - ) 1. Die Puppenschule. 2. Das Glöckchen des Eremiten. (Les Dragons de Villars.) 3. Die Dollarprinzessin. ( - ) 4. Die Liebe macht. (L'amour veille.) 5. Die Förster-Christl. 6. Vater. (Son Père.) ( - ) 7. Hochzeit bei Laternenschein. 8. In Knecht Ruprechts Werkstatt. 9. Die dunkle Nacht. ( - ) 10. Die Tür ins Freie. 11. Gretchen. ( - ) 12. Der Prophet. 13. Gretchen. 14. Der fidele Bauer. ( - ) 15. Moral. 16. Die fremde Frau. (La femme X.) ( - ) 17. Die Lehrerein. ( - ) 1909 - 1910 ( - ) Die unterzeichnete Direktion erlaubt sich hierdurch mitzuteilen, daß am Freitag den 24. September 1909 die Spielzeit 1909/1910 eröffnet wird. ( - ) 1. Die Revolutions-Hochzeit. 2. Der deutsche König. 3. Onkel Toni. ( - ) 4. Das nackte Weib (La femme nuc.) 6. Der König in Paris. ( - ) 5. Der Liebeswalzer. 7. Die Diebin. 8. Die geschiedene Frau. ( - ) 9. Madame Butterfly. 10. Der große Name. 11. Hinter dem Vorhang. ( - ) 12. Ein Herbstmanöver. 13. Der dunkle Punkt. 14. Der Graf von Luxemburg. ( - ) 15. Vittorio Accorambona. 16. Die neue Zeit. ( - ) 17. Der Geizige. 18. Der Sonnwendtag. ( - ) 19. Brüderlein fein. Militärfromm. Die schöne Galathée. 20. Die blaue Maus. ( - ) 21. Reiche Mädchen. 22. Buridnas Esel. ( - ) 1910 - 1911 ( - ) Die unterzeichnete Direktion erlaubt sich hierdurch mitzuteilen, daß am Freitag den 23. September 1910 die Spielzeit 1910/1911 eröffnet wird. ( - ) 1. Der Meisterdieb (Arsène Lupin.) 2. Der tapfere Soldat. ( - ) 3. Das letzte Wort. 4. Taifun. 5. Im Luxuszug. ( - ) 6. Der Müller und sein Kind. 7. Das Konzert. ( - ) 8. Das kleine Schokoladenmädchen. 9. Das Musikantenmädel. 10. Tiefland. ( - ) 11. Die zärtlichen Verwandten. 12. Der unbekannte Tänzer. ( - ) 13. Die Königin von Saba. 14. Der Kardinal. 15. Die keusche Susanne. ( - ) 16. Strandkinder. ( - ) 1911 - 1912 ( - ) Die unterzeichnete Dirtektion erlaubt sich hierdurch mitzuteilen, daß am Samstag den 23. September 1911 die Spielzeit 1911/1912 eröffnet wird. ( - ) 1. Die Sirene. 2. Der Herr Verteidiger. 3. Tiefland. ( - ) 4. Fra Diavolo. 5. Der heilige Rat. ( - ) 6. Tristan und Isolde. 7. Der Kuhreigen. 8. Der Kuhreigen. ( - ) 1912 - 1913 ( - ) Die unterzeichnete Dirtektion erlaubt sich hierdurch mitzuteilen, daß am Mittwoch den 25. September 1912 die Spielzeit 1912/1913 eröffnet wird. ( - ) 1. Arvast. ( - ) 1913 - 1914 ( - ) Die unterzeichnete Dirtektion erlaubt sich hierdurch mitzuteilen, daß am Samstag den 27. September 1913 die Spielzeit 1913/1914 eröffnet wird. ( - ) 1. Die Zain. 2. Prinzeß Gretl. 3. Margarete (Faust.) ( - ) 4. Die spanische Fliege. 5. Der lachende Ehemann. 6. Theodor Körner. ( - ) Theodor Körner. ( - ) Theater, Kunst und Literatur "Die Zarin". ( - ) 7. Das Fürstenkind. 8. Eva (Das Fabriksmädel.) 9. Polenblut. 10. Polenblut. ( - ) 11. Nur Ruhe. 12. Die ideale Gattin. 13. Der Frauenfresser. ( - ) "Die Frau des Kommandeurs" von Max Dreyer. ( - ) 14. Der ungetreue Eckehart. 15. Polenblut. 16. Die Fledermaus. ( - ) 17. Der Zigeunerprimas. 18. Hoheit tanzt Walzer. ( - ) 11. Der Hinterhalt (L' Embuscade.) Ein Tag im Paradies. ( - ) "Der Hinterhalt". ( - ) Abschieds-Journal ([1]) Einband ([1]) Titelseite ([1]) Verzeichnis der gegebenen Stücke vom 27. September 1913 bis 1. Mai 1914. ([5]) Oktober. ([5]) November. ([5]) Dezember. (6) Jänner 1914. (6) Februar. (7) März. (7) April. Mai. (8) 1924 - 1925 ( - ) Zur Eröffnung der Spielzeit 1924/1925 am Landestheater. Zweites Abonnementskonzert. ( - ) 19/I. Madame Pompadour 23/I. 26/I. Gräfin Maritza 5/II. Die rote Robe 20/II. Die lustigen Weiber von Windsor 27/I. Das Kamel geht durch das Nadelöhr ( - ) 11. März: Das Weib im Purpur. 16. März: Die Gigerln von Wien. 17. März: Der Barbier von Sevilla. 26. März: Lucia Lammermoor. 30. März: Wo die Lerche singt. 5. April: Das Dreimäderlahus. 11. April: Die Csárdásfürstin. 24. April: Die [?] von 40 Jahren. 30. April ( - ) 16. Mai: Aida. 3. Juni: Sybill 5. Juni: Die Rose von Stambul. 14. Juni: Mein Mann der große Künstler. ( - ) Die Gigerln von Wien ( - ) Der Mönch von Santaren. Die Rose von Stambul. ( - ) Das Dreimäderlhaus. ( - ) Tallavania. ( - ) Der Kuhreigen. ( - ) Sybill. ( - ) 1925 - 1926 ( - ) 1. Der Orlow. 2. Die Raschoffs. 4. Dolly. 5. Der dreizehnte Stuhl. 6. Lady Windmeres Fächer. 7. Die Zirkusprinzessin. 8. Die Tänzerin. 9. Der wahre Jakob. ( - ) 10. Antonia. 11. Paganini. 12. Die Teresina. ( - ) Der Orlow. ( - ) Die Raschoffs. ( - ) Dolly. ( - ) Der dreizehnte Stuhl. ( - ) Lady Windmeres Fächer. Die Zirkusprinzessin. ( - ) Die Tänzerin. ( - ) Der wahre Jakob. ( - ) Antonia. ( - ) Paganini. ( - ) Die Teresina. ( - ) 1926 - 1927 ( - ) Regisseure: Lenoir, Miller, Gastregisseure Robert Valberg und Direktor Körner, beide vom Modernen Theater, Wien. ( - ) Am Mittwoch den 15. d. eröffnet unsere Landesbühne die Spielzeit. ( - ) 1. Der Kreidekreis ( - ) 2. Kolportage ( - ) Arien- und Liederabend Maria Jentschke ( - ) 3. Justiz ( - ) 4. Das Schwalbennest ( - ) 5. Die Großfürstin und der Zimmerkellner (La grande duchesse et le garcon d'etage.) ( - ) 6. Der Garten Eden. 8. Dorothea Angermann.9. Gesellschaft. 10. Die Geschichte eines japanischen Teehauses. 11. Der heilige Florian. 12. Die wilde Fra[?]t. ( - ) 13. Parsival. Mignon ( - ) Kammersängerin Maria Olszewska. "Sumpf", Schauspiel von Schwarzschild. ( - ) "Oberst Chabert." Zur Erstaufführung der dreiaktigen Musiktragödie von W. von Waltershausen in der Wiener Hofoper. ( - ) [Abb.]: Ernst Reichhart ( - ) [Abb.]: Ida Bauer ( - ) [Abb.]: Landschaftliches Theater in Linz a/d. D. 1913 1914 ( - ) [Abb.]: 1912 Landschaftliches Theater in Linz. 1913 ( - ) [3 Abb.]: Landschaftliches Theater Linz 1910-11 (1)Operette (2)Lust und Schauspiel (3)Oper. ( - ) [2 Abb.]: (1)Operette 1908/9 (2)Operette 1909/10 ( - ) [2 Abb.]: (1)Schau u. Lustspiel 1908/9 (2)Oper 1908/9 ( - ) [2 Abb.]: Landschaftliches Theater Linz (1)1904 - 1905 Oper & Operette. (2)1904 - 1905 Schauspiel und Posse. ( - ) [2 Abb.]: Landschaftliches Theater Linz Schauspiel und Posse 1902 - 1903 (2)1902 - 1903 Oper und Operette ( - ) [2 Abb.]: Landschaftliches Theater Linz.1900 - 1901 ( - ) [Abb.]: Landschaftliches Theater Linz 1898 - 1899 ( - ) Einband ( - ) Einband ( - )
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Es waren Antifaschist:innen, die die italienische Verfassung ausgearbeitet haben. Sie trat 1948 in Kraft und sollte sicherstellen, dass niemand jemals wieder die Kontrolle über die Republik übernehmen konnte, ähnlich wie dies der Diktator Benito Mussolini die Jahre zuvor vollbracht hatte. Seitdem hat Italien bereits 67 Regierungen erlebt, doch die aktuelle Regierung, Nummer 68, ist auch für Italien besonders (Siefert, 2023). Sie wurde mehrfach als "gefährlichste Frau Europas" betitelt (Brandl & Ritter, 2022). Die Rede ist von Giorgia Meloni, die am 22. Oktober 2022 als Vorsitzende der nationalistischen, konservativen und postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia (FDI) als Ministerpräsidentin vereidigt wurde.Mit dem Wahlsieg der italienischen Postfaschistin ist ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Entwicklung vollzogen worden, die den autoritären Rechtspopulismus als Regierung zu einem sichtbaren Bestandteil der politischen Realität macht. Ihre politische Gruppierung wird weithin als populistisch, postfaschistisch und weit rechts im politischen Spektrum positioniert, was in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde. Die folgende Seminararbeit versucht nach mehr als einem Jahr an der Macht eine Bilanz zu ziehen, die Auswirkungen der Wahl zu analysieren und die Besonderheiten der italienischen Rechten näher zu beleuchten.Melonis Aufstieg in der politischen Landschaft Italiens: Vom Engagement in der Jugendpolitik über die MSI zur Gründung der Fratelli d'Italia Die am 15. Januar 1977 in Rom geborene Meloni ist nicht nur die erste Frau, die das Amt ausübt, sondern auch die erste Regierungschefin, deren politische Karriere in der postfaschistischen Ära Italiens begann. Sie kandidierte bereits in ihren Jugendjahren für politische Ämter in Italien. Im Jahr 2006 wurde sie zur jüngsten Ministerin Italiens ernannt. Heute ist die Vorsitzende der von ihr mitbegründeten rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens, benannt nach der ersten Zeile der Nationalhymne, mit Wurzeln in der postfaschistischen Bewegung) die erste weibliche Premierministerin.Vor 31 Jahren, im Juli 1992, begann Giorgia Meloni ihr politisches Engagement in Rom mit dem Beitritt zur Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Soziale Bewegung), einer von Faschist:innen gegründeten Partei (Ventura, 2022, S. 8 ). Die italienische Ministerpräsidentin unterstreicht häufig, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammt und in einer Familie von Angestellten aufgewachsen ist. Dabei verschweigt sie allerdings gerne die Tatsache, dass ihre Mutter, Anna Paratore, der MSI damals angehörte (Feldbauer, 2023, S. 15).Die am 26. Dezember 1946 gegründete Italienische Soziale Bewegung entstand unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Gründer:innen der Partei waren politisch in der Italienischen Sozialen Republik (Repubblica Sociale Italiana, RSI) aktiv, einem Satellitenstaat, der während der deutschen Besatzung von 1943 bis 1945 von Mussolini regiert wurde. Ideologisch bezog sich die Partei auf den "sozialen Faschismus" der RSI (Ventura, 2022, S. 2). Die MSI zeichnete sich nicht nur durch ihre antikapitalistische und antiliberale Ideologie mit korporatistischer Entscheidungsfindung aus, sondern auch durch ihren ausgeprägten Antikommunismus und ihre scharfe Kritik an den etablierten Parteien. Obwohl es innerhalb der MSI von Anfang an eine konservative und pro-westliche Minderheit gab, blieb die Partei bis Anfang der 1990er Jahre unfähig, sich wesentlich zu reformieren und konnte daher keinen nennenswerten Einfluss auf das politische System Italiens ausüben (ebd.).Im Januar 1995 wurde die Partei kurz nach dem Beitritt Melonis aufgelöst und in die "Alleanza Nazionale" (AN, Nationale Allianz) umgewandelt. Die AN fusionierte 2009 mit der Partei "Forza Italia" (FI, Vorwärts Italien) von Silvio Berlusconi zur Partei "Il Popolo della Libertà (PdL, Das Volk der Freiheit). Der damalige Parteivorsitzende Gianfranco Fini wollte den von der AN eingeleiteten liberal-konservativen Rechtsruck erfolgreich zu Ende führen, was jedoch einigen ehemaligen Aktivist:innen und Führungskräften aus den Reihen der MSI missfiel. Diese Unzufriedenheit machte sich später Meloni zunutze. Im Jahr 2006 wurde Meloni ins Parlament gewählt und zwei Jahre später wurde sie die jüngste Ministerin (Jugend und Sport) in der Geschichte Italiens. Die einzige Regierungserfahrung hat sie auf nationaler Ebene (ebd.).Verhältnis zum (Post)Faschismus Eine Woche vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis "Marsch auf Rom", der Machtübernahme durch den "Duce", übernahm Meloni ihr Amt. Ihr Kabinett, welches hauptsächlich aus Anhänger:innen Mussolinis besteht, wurde in linken Medien als eine Regierung von "reuelosen Faschisten" beschrieben (Feldbauer, 2023, S. 38f). Meloni war im Jahr 2012 Mitbegründerin der Partei FdI, die in der Tradition des italienischen Faschismus steht, und gehört somit zur dritten Generation des Partito della Fiamma (Livi & Jansen, 2023, S. 173). Das Symbol der faschistischen Flamme, das in der Vergangenheit der MSI vorbehalten war, ist im Parteilogo vertreten (Feldbauer, 2023, S. 16f).Im Jahr 1929 wurde das Wort "Faschismus" zum ersten Mal in den Duden aufgenommen. Dies geschah sieben Jahre, nachdem die italienische Partito Nazionale Fascista (PNF) unter Benito Mussolini 1922 in die Regierung Italiens eingetreten war. 1926 entwickelte sie sich zu einer diktatorischen Staatspartei, bevor sie 1943 aufgelöst wurde. Der Begriff "Faschismus" wurde von der PNF als Selbstbezeichnung verwendet und entstammt dem italienischen Wort "fascio", dessen Bedeutung dem Begriff "Bund" gleichgestellt ist (Schütz, 2022). Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Terminus eine nationalistische, antidemokratische und rechtsextreme Ideologie, die nach dem Führerprinzip ausgerichtet ist. Seit den Parlamentswahlen in Italien im vergangenen Jahr sind vermehrt Artikel zum Thema "Postfaschismus" verfügbar. Dies hängt mit dem Sieg bei der Parlamentswahl und der FdI zusammen, welche als "postfaschistisch" bezeichnet wird (ebd.).Gianfranco Fini distanzierte sich 2003 offiziell vom Faschismus und bezeichnete ihn als "absolut böse" (Tagesschau, 2022). Giorgia Meloni hat es jedoch bis heute vermieden, eine so eindeutige Aussage über die Wurzeln ihrer Partei zu tätigen. Meloni erhob sogar Vorwürfe gegen Gianfranco Fini, das Erbe der italienischen Rechten zu zersplittern (Ventura, 2022, S. 6). Im Jahr 2014 wurde Meloni zur Vorsitzenden der FdI gewählt. Sie konnte den harten Kern der Faschist:innen um sich versammeln, indem sie sich auf Mussolini bezog. Aufgrund der möglichen Verluste eines Teils ihrer Wählerschaft an die Lega kann sie die Flamme nicht aus dem Parteilogo entfernen. Sie hob wiederholt hervor, wie stolz sie auf das Wappen mit der italienischen Trikolore sei, bezeichnete Mussolini sogar als einen "guten Politiker" (Feldbauer, 2023, S. 16).Froio (2020) stellt fest, dass die FdI ein "emotionales" Verhältnis zu ihrer faschistischen bzw. postfaschistischen Vergangenheit pflegt, mit der sie sich nie wirklich kritisch auseinandergesetzt hat. Dies wird durch die Statements von Giorgia Meloni sowie durch die Aussagen und Handlungen von Vertreter:innen und Führungskräften der FdI deutlich. So trat Meloni am Tag vor der Wahl 2018 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Latina, einer von Mussolini gegründeten Stadt südlich von Rom, in Begleitung seiner Enkelin Rachele Mussolini auf. Dabei kündigte sie die Absicht ihrer Partei an, dem Symbolort den ihm gebührenden Platz in der Geschichte der italienischen Rechten wieder zu verschaffen (Latza Nadeau, 2018). Bei ihrem Versuch, sich in ihrer Ansprache vor der Abgeordnetenkammer am 25. Oktober 2022 trotz ihrer früheren Bekenntnisse zum Faschismus Mussolinis zu distanzieren, stieß Meloni angesichts der genannten Tatsachen auf Widerstand. Mit ihrer Partei verkörpert Meloni nach wie vor die "Kontinuität des Faschismus" (Feldbauer, 2023, S. 16f).Auch Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) erkennen die Identitätswurzeln der FdI im Neofaschismus, der in Italien jahrzehntelang durch die MSI verkörpert wurde. Ihrer Meinung nach sei es jedoch falsch, die FdI als neofaschistische Partei zu bezeichnen, da wesentliche Merkmale wie die Akzeptanz von Gewalt als Mittel des politischen Wettbewerbs fehlen würden. In der öffentlichen Debatte und in den offiziellen Dokumenten der Partei würden tatsächlich die für die europäische radikale Rechte typischen Themen wie Islamophobie und eine allgemeine Feindseligkeit gegenüber der Einwanderung betont, die als potenzielle Verwässerung der Identität der italienischen Nation angesehen werden.Der Weg einer "Frau, Mutter, Italienierin und Christin" an die MachtMeloni präsentiert sich gerne als Frau, Mutter, gläubige Christin und als hilfsbereite Vertreterin aller Italiener:innen (Feldbauer, 2023, S.70). Diese Worte passen zum allgemeinen Slogan "Gott, Heimat und Familie" (Dio, patria e famiglia), welcher von Melonis Partei und anderen radikalen Rechtsparteien in der Vergangenheit übernommen wurde (De Giorgi et. al, 2022).Im Jahr 2022 wurden mehr als 70 Prozent der parlamentarischen Parteien in den EU-Mitgliedsstaaten von männlichen Führungskräften geleitet (Openpolis, 2022, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). In Italien wurde bis zum Jahr 2013 keine Partei, weder aus dem politischen Establishment noch aus dem rechten Spektrum, von einer Frau geführt (De Giorgi et. al, 2022). Studien, die sich auf das weibliche Führungsverhalten konzentrieren, betonen oft, wie Frauen Führungspositionen erreichen können, wenn sie von einem "Legacy Advantage", also sozusagen von einem Vorteil ihres Erbes profitieren, wie als Ehefrau, Witwe, Tochter oder eine andere enge Verwandte eines Schlüsselakteurs in der Politik (Baker & Palmieri, 2021). Diese Praxis ist auch bei rechtsextremen Parteien üblich. Ein bekanntes Beispiel ist Marine Le Pen, die die Führung des Front National (jetzt Rassemblement National) von ihrem Vater übernommen hat. Auch in Italien gibt es rechtsgerichtete Politikerinnen mit starken familiären Bindungen zu ehemaligen Staatsoberhäuptern und prominenten politischen Persönlichkeiten, wie Alessandra Mussolini, die Enkelin des ehemaligen Diktators, die mehrmals als Abgeordnete für die AN gewählt wurde (De Giorgi et. al, 2022). Giorgia Meloni hebt sich von diesem Weg ab. Ihr politisches Engagement begann 1992, als Meloni der Jugendorganisation der MSI beitrat. Im Unterschied zu anderen Oppositionsführer:innen, welche dazu neigen, ihre politische Außenseiterposition zu betonen, hebt Meloni oft ihren beruflichen Werdegang sowie ihr politisches Know-how hervor und verbindet dies mit der Idee der "Kompetenz". Darüber hinaus gibt es in Italien keine weitere politische Partei, die von einer Frau geführt wird, wodurch Meloni zweifellos eine beachtliche Medienpräsenz in dieser Hinsicht erreicht hat (Feo & Lavizzari, 2021).Angesichts der politischen Geschichte Italiens sei der Erfolg der FdI nicht verwunderlich. Die italienischen Rechten sind mit ihren traditionellen Anliegen seit Jahrzehnten erfolgreich. Der Gesamterfolg der FdI-FI-Lega-Koalition im Jahr 2022 kam daher weder überraschend noch sei er außergewöhnlich (POP, 2023). Der Erfolg kann auf die langjährige Dominanz der wechselnden Mitte-Rechts-Koalitionen um Berlusconi zurückgeführt werden, die in den letzten drei Jahrzehnten die Mehrheit der Wahlen gewinnen konnten. Trotz der langen Präsenz der größten kommunistischen Partei des Westens in Italien seit mehr als 50 Jahren war das Land mit Ausnahme einer kurzen Periode in den 1970er Jahren immer strukturell rechts orientiert (Livi & Jansen, 2023, S. 178f).Die Mehrheit der italienischen Gesellschaft war antikommunistisch, prokapitalistisch, katholisch und von konservativen Vorstellungen über die Familie, Geschlechterrollen und soziale Ordnung geprägt. Die Christlich-Demokratische Partei (DC, Democrazia Cristiana), die in der Ersten Republik dominierte, integrierte eine breite konservative Mittelschicht, die sich als antikommunistisch verstand und einem autoritären traditionellen Katholizismus anhing. Diese Schicht bildete die Grundlage für Berlusconis Aufstieg in den 1990er Jahren. So entstand eine neue konservative Rechte. Berlusconi mobilisierte eine bis dahin politisch unsichtbare konservative Strömung in der Gesellschaft, die im Hintergrund agierte (ebd.).Mit 43 Prozent der Stimmen ist die Koalition nicht weit von ähnlichen Prozentsätzen entfernt, die Mitte-Rechts-Koalitionen in den neunziger Jahren oder bei den Wahlen 2001, 2006 und 2008 erzielt haben. Die konservativen Parteien genießen in Italien mehr Unterstützung als die progressiven, und wenn diese aus allgemeinen Wahlen als Sieger hervorgehen, dann vor allem infolge von Spaltungen innerhalb der rechtsgerichteten Parteien (POP, 2023).Neben ihrer eigenen Partei, die bei den Wahlen 26 Prozent der Stimmen erhielt, gehören zur Regierungskoalition der Premierministerin zum einen die Lega, Matteo Salvinis Partei, die mit fremdenfeindlichen und separatistischen Ansichten bis 2018 als Lega Nord bekannt war. Zum anderen die liberal-populistische Partei von Ex-Premier Silvio Berlusconi, Forza Italia. Die Lega kam auf 8,8 Prozent, gefolgt von der Forza Italia mit 8,1 Prozent (Feldbauer, 2023, S.7). Aufgrund der besonderen Regeln des italienischen Wahlrechts verfügen diese drei Regierungsparteien über breite Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments, der Camera und dem Senato (Livi & Jansen, 2023, S.169). Neben der Berufung ihres Schwagers hat die italienische Ministerpräsidentin auch ihre Schwester in die Führungsebene ihrer Partei geholt. Melonis ältere Schwester, Arianna, ist nun verantwortlich für das politische Sekretariat. Ihr Ehemann, Francesco Lollobrigida, Landwirtschaftsminister und Mitglied der FdI, gilt als enger Vertrauter von Meloni (Ventura, 2022, S. 3).Laut Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) liegt der interessante Aspekt darin, dass sich die FdI innerhalb der rechten Parteien durchsetzte. Dies könnte vor allem damit begründet werden, dass die Forza Italia eine schon lange schwindende Partei sei, während die Positionen von FdI und Lega in den wesentlichen Punkten übereinstimmen. Dazu gehören feindselige Haltungen gegenüber Migration, die Verteidigung traditioneller Werte, die Unterstützung der wirtschaftlichen Interessen zahlreicher italienischer Kleinunternehmen, der Schutz der traditionellen Familie vor einer angeblichen "Gender-Theorie", die darauf abziele, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verwischen oder auszulöschen, und die vertikale Abgrenzung zur EU in Form von Skepsis bzw. offener Feindseligkeit gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt. Allerdings habe die Persönlichkeit von Giorgia Meloni im Vergleich zu Matteo Salvinis abnehmender Führungsstärke sowie die Glaubhaftigkeit und Beständigkeit der Partei der FdI 2022 den entscheidenden Vorteil gebracht. Salvini habe sich im Vergleich zu Meloni in der Vergangenheit auf Koalitionen, wie zum Beispiel mit der Fünf-Sterne-Bewegung eingelassen, die nicht besonders gut bei den rechten italienischen Wähler:innen ankamen. Meloni war und ist jedoch innerhalb des Rechts-Bündnisses eine überzeugte Hardlinerin (Feldbauer, 2023).WählerschaftDie Partei von Giorgia Meloni übte vor allem eine Anziehungskraft auf ehemalige Lega-Wähler:innen aus, aber auch Wähler:innen der Forza Italia bekundeten Interesse an der FdI. In soziodemografischer Hinsicht ist festzustellen, dass FdI-Anhänger:innen in der Altersgruppe von 50-64 Jahren überrepräsentiert, in der jüngsten Altersgruppe (18-34 Jahre) unterrepräsentiert waren. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass jüngere Wähler:innen ihre Proteststimme eher der Fünf-Sterne-Bewegung ohne postfaschistische Vergangenheit gaben. Die Partei erhielt Unterstützung von verschiedenen Berufsgruppen wie Handwerker:innen, Händler:innen, Selbstständigen sowie Angestellten und Lehrkräften, also weitgehend der (unteren) Mittelschicht.Die geografische Verteilung der Wählerschaft der FdI zeigt nicht nur - wie anfangs in der Parteigeschichte - eine starke Präsenz im Süden Italiens, sondern auch eine landesweite Verbreitung. Die Wählerschaft weist migrationsfeindliche und europaskeptische Tendenzen auf, insbesondere bei langjährigen Anhänger:innen. Neu gewonnene Wähler:innen zeigen eine populistische und anti-elitäre Haltung, bei der die Ablehnung von Migration eine große Rolle spielt (Ventura, 2022, S. 5).Migrationspolitik als Kernthema Bei den Parlamentswahlen stand die Migrationspolitik im Fokus. Es bestanden Bedenken, die neue Regierung unter der Führung der FdI könne in der Asyl- und Migrationspolitik einen äußerst restriktiven und sogar illegalen Weg einschlagen. So hatte Meloni für ihr Amt mit dem Ziel kandidiert, der "illegalen" Einwanderung nach Italien Einhalt zu gebieten. Es wurde auch über die mögliche Errichtung einer Seeblockade vor Nordafrika sowie die Einrichtung von Hotspots auf afrikanischem Territorium diskutiert (Angeli, 2023, S. 4f). Durch ihre Forderungen in der Opposition konnte sie das Thema Migration für sich gewinnen. Dennoch ist die Verwirklichung politischer Versprechen im Wahlkampf und ihre Umsetzung in konkrete Politik keineswegs als selbstverständlich anzusehen. Im Zuge der sogenannten "Flüchtlingskrise" bestimmten nativistische und souveränistische Motive die Haltung der Partei zur Migration. Die auf dem Parteitag 2017 verabschiedeten programmatischen "Thesen von Triest für die patriotische Bewegung" stellten die Migration als existenzielle Bedrohung für den Fortbestand der europäischen Nationalstaaten dar. In diesem Zusammenhang fand auch die Verschwörungstheorie vom "großen Austausch" Eingang in das Parteiprogramm (Baldini et. al, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei warf der EU vor, aus demografischen Gründen ein "multikulturelles Prinzip" zu verfolgen, woraus angeblich eine Zustimmung zur unkontrollierten Einreise von Menschen aus anderen Kontinenten abgeleitet wurde (FdI, 2017, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei befürwortete restriktive Maßnahmen im Zusammenhang mit legaler Zuwanderung. Diese sollten nur für Staatsangehörige möglich sein, die sich problemlos integrieren könnten, ohne Sicherheitsprobleme zu verursachen. Dabei wurde die Bedeutung des Grenzschutzes besonders betont, der mit dem Schutz des "Vaterlandes" gleichgesetzt wurde. Die FdI schlugen drastische Maßnahmen, wie eine internationale "Landmission" vor, die Kontrolle über die Häfen übernehmen sollte, sowie die Möglichkeit einer Seeblockade. Der Schwerpunkt lag dabei auf Nationalitäten, die weniger bereit seien, die Gesetze und die Kultur zu akzeptieren, insbesondere wurden damit Muslim:innen gemeint. Darüber hinaus wurde zum ersten Mal die Einrichtung von Hotspots in Nordafrika zur Prüfung von Asylanträgen vorgeschlagen, verbunden mit der Absicht, das Recht auf "humanitären Schutz" abzuschaffen. Die programmatische Entwicklung der Partei im Bereich der Migrationspolitik war von zwei konträren Tendenzen geprägt. Einerseits stand die Partei unter dem Druck, sich dem Mitte-Rechts-Bündnis anzupassen, was zu einem einheitlichen Programm für die Parlamentswahlen 2018 führte, welches jedoch nicht die radikalsten migrationspolitischen Positionen enthielt. Andererseits sorgte die Konkurrenz innerhalb des Rechtsbündnisses für einen Differenzierungsbedarf insbesondere in der Migrationspolitik. Hier konkurrierten die FdI und die Lega darum, sich als die restriktivere und migrationsfeindlichere Partei zu präsentieren (Angeli, 2023, S. 6f).Die FdI hob zunehmend ihr Alleinstellungsmerkmal durch die kompromisslose Verteidigung der italienischen Interessen hervor, insbesondere durch die häufige Verwendung von "Italians first". Dieser Slogan implizierte einen Wettbewerb zwischen Italiener:innen und Menschen mit Migrationshintergrund und wurde zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen verwendet (Ventura, 2022). Im Wahlprogramm für die Europawahl 2019 wurde der Vorrang der italienischen Bevölkerung hervorgehoben und normativ untermauert (ebd.). Das Wahlprogramm für die Parlamentswahlen 2022 markierte eine Abkehr von der Radikalisierung der Partei in der Migrationspolitik, die in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Stattdessen kehrte die FdI zu einer sicherheitspolitisch motivierten Migrationsskepsis zurück, ähnlich wie im Wahlmanifest von 2013. Im Gegensatz zu früheren Positionen betonte das Manifest nicht mehr den Grundsatz "Italians first", der das Primat der italienischen Identität und Interessen in der Migrationspolitik hervorhob. Stattdessen verfolgte das Programm einen nüchternen Ansatz zur Migration, ohne aggressive oder aufrührerische Sprache. Dies deutet darauf hin, dass die Partei realistische und machbare Ansätze für eine geregelte Einwanderung und soziale Integration formulieren wollte (Angeli, 2023, S. 6f). In ihrer ersten Regierungserklärung schlug Meloni einen versöhnlichen Ton an, auch in Bezug auf das Thema Migration. Es gab kaum nativistische Elemente. Zwar betonte sie die strategische Rolle Italiens im Mittelmeerraum, doch die Verhinderung irregulärer Einwanderung wurde vor allem mit juristischen oder humanitären Gründen gerechtfertigt, etwa um Schiffbrüche oder Menschenhandel zu verhindern (ebd.).Melonis migrationspolitische Maßnahmen und Entscheidungen in den letzten 12 Monaten könnten auf einen pragmatischen Umschwung hindeuten. Diese Annahme ist jedoch mit Vorbehalten behaftet. Die Entwicklung des migrationspolitischen Programms der FdI zeigte bereits vor den letzten Parlamentswahlen eine Mäßigung bzw. "Entradikalisierung" (Angeli, 2023, S. 9). Das Wahlprogramm 2022 betonte die Förderung der legalen Migration und verstärkte diplomatische Bemühungen mit Herkunfts- und Transitländern irregulärer Migranten. Dennoch hat Meloni wenig getan, um der Kriminalisierung von NGOs entgegenzuwirken, die Rettungsschiffe für Asylsuchende betreiben. Sie argumentiert, diese Schiffe seien ein "Pull-Faktor", der die illegale Migration begünstige. Meloni hat sogar strenge Bedingungen für Rettungsaktionen von NGOs eingeführt, um die Ressentiments ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu befriedigen. Es bleibt abzuwarten, ob die steigende Zahl von Geflüchteten, die das Mittelmeer überqueren, Meloni dazu veranlassen werden, radikalere Maßnahmen zu ergreifen, um sich die Unterstützung ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu sichern. Erste Anzeichen für einen Umschwung gab es Mitte September, als Melonis Kabinett unter dem Druck negativer Schlagzeilen eine Verschärfung der Maßnahmen beschloss, darunter die Erhöhung der Höchstdauer der Abschiebehaft und die Einrichtung spezieller Abschiebegefängnisse durch das Militär in dünn besiedelten Regionen des Landes (Angeli, 2023, S. 10).Die politikwissenschaftliche Forschung hat in jüngerer Zeit wiederholt die Diskrepanz zwischen rechtspopulistischen Migrationsdiskursen und der tatsächlichen Migrationspolitik untersucht (Lutz, 2021). Demnach komme es öfters zu Mäßigungen, sobald Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt seien. Die Ausprägung dieser Mäßigung kann jedoch stark variieren und von vielen Faktoren beeinflusst werden. Unter anderem sind sie als Regierungspartei institutionellen Zwänge unterworfen, die ihr politisches Agieren limitieren. Aber auch die Notwendigkeit, die bestehenden Verfassungsorgane zu bewahren, veranlasst sie oft dazu, sich von ihren radikalsten Ansätzen im Bereich der Migrationspolitik zu distanzieren. Darüber hinaus stehen rechtspopulistische Parteien vor der Aufgabe, neben ihren eigenen Anhänger:innen auch breitere Gesellschaftsschichten und die Eliten für ihre Ziele zu gewinnen. Aus diesem Grund könnten sie ihre Migrationspolitik entsprechend umgestalten, um weitere wichtige Interessengruppen zu erreichen. Schließlich kann auch internationaler Druck zu einer Kursänderung rechtspopulistischer Parteien führen. Bei der italienischen Regierung betrifft dies vor allem die EU, die finanzielle Hilfe als Druckmittel zur politischen Einflussnahme nutzen kann (Angeli, 2023, S. 4). Das Thema Migration war für die FdI von Anfang an ein zentrales Wahlkampfthema. Allerdings ist diesem Thema nur einer von insgesamt 25 Abschnitten im Wahlprogramm von 2022 gewidmet. Dennoch sollte die Bedeutung dieses Abschnitts keineswegs unterschätzt werden. Die "Gefahr" der irregulären Migration hat der Partei zu politischer Sichtbarkeit verholfen, insbesondere aufgrund des gestiegenen Interesses der italienischen Öffentlichkeit am Thema Migration seit 2013. Der Umgang der Partei mit dem Thema spiegelt somit die Radikalisierungs- und Mäßigungstendenzen wider, welche sie während der letzten zehn Jahre erfahren hat (Angeli, 2023, S. 5f). In einem Artikel mit dem Titel " Das schwarze Jahr " kritisierte die Zeitung "La Repubblica" die Migrationspolitik von Giorgia Meloni als gescheitert. Meloni selbst gab in einem Interview mit der RAI zu, dass die erzielten Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen. Daraufhin kündigte sie erneut härtere Maßnahmen an, darunter die Verlängerung der möglichen Abschiebehaft auf die EU-Höchstdauer von 18 Monaten und den Bau weiterer Abschiebezentren. Sie forderte die Vereinten Nationen auf, den Menschenhändler:innen einen "globalen Krieg" zu erklären (ZEIT ONLINE, 2023).Wirtschafts- und SozialpolitikBesonders frauenpolitische Themen spielten eine wichtige Rolle in und für Melonis Partei. Es wird davon ausgegangen, dass die Parteivorsitzende Meloni eine wichtige Rolle für die weibliche Wählerschaft spielt. Sie setzt sich für einen Imagewandel der männerdominierten Partei ein und engagiert sich insbesondere für Frauen und Mütter, zumindest im Hinblick auf den Schutz vor potenziellen "Bedrohungen", wie dem Zuwachs an Migration, der Islamisierung und sozialer Unsicherheit, wie von der Kommilitonin Schmidt bereits beschrieben wurden (Feo & Lavizzari, 2021, S. 13). Zusätzlich engagiert sie sich entschlossen in der Verteidigung der Frauenrechte, wobei der Fokus jedoch auf anti-immigrationspolitischen Zielen liegt. In Bezug auf frauenrelevante Themen hat Giorgia Meloni niemals ihre anti-abtreibungsorientierten Überzeugungen verschleiert. Diese basieren auf ihrem katholischen Glauben sowie persönlichen Erfahrungen. In ihrer Biografie wird dargelegt, dass ihre Mutter in Erwägung zog, die Schwangerschaft abzubrechen (Meloni, 2021, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). Meloni strebt vor allem eine breite Unterstützung in katholischen Kreisen an, indem sie sich gegen Abtreibung und Leihmutterschaft aussprach. Nachdem sie dort jedoch auf erheblichen Widerstand stieß, versuchte sie ihre Position zu mildern, indem sie betonte, das Recht auf Abtreibung nicht abschaffen zu wollen. Im Unterschied dazu blieb sie gegenüber Homosexuellen und sexuellen Minderheiten unverändert kompromisslos (Feldbauer, 2023, S. 70)."Wir wollen eine Nation, in der es kein Skandal mehr ist, zu sagen, dass – unabhängig von legitimen Entscheidungen und Neigungen jedes einzelnen – wir alle geboren sind durch einen Mann und eine Frau. Eine Nation, in der es kein Tabu mehr gibt. Es heißt, dass es die Mutterschaft nicht zu kaufen gibt, dass die Gebärmutter nicht zu mieten ist, dass Kinder keine Produkte sind, die man aus dem Regal kauft, als wäre man im Supermarkt. Wir wollen neu beginnen beim Respekt der Würde." (Meloni, 2022, zit. nach Seisselberg, 2023)Wie aus dem Zitat hervorgeht, betont die Politikerin ausdrücklich ihre Unterstützung der sogenannten natürlichen Familie, um die traditionellen Werte zu bewahren. Mit der Verteidigung dieser Werte und dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Bild erfolgt eine Ablehnung der LGBTQ+-Gemeinschaft, die von Meloni als "LGBT-Lobby" bezeichnet wird (De Giorgi et. al, 2022). Die Ministerpräsidentin zeigt kein Interesse an einer feministischen Agenda, sondern strebt weiterhin ein traditionelles Familienmodell an (POP, 2023). Frauenrechte und Geschlechtergleichheit wurden von Meloni und ihrer Partei mehr für femonationalistische Argumente instrumentalisiert (De Giorgi et. al, 2022).In wirtschaftspolitischer Hinsicht herrscht in Italien eine Unzufriedenheit, da verschiedene Wahlversprechen nicht umgesetzt wurden. Dies ist auf das Schrumpfen der italienischen Wirtschaft im zweiten Quartal sowie der hohen Inflation zurückzuführen. Zudem wurde noch kein Mindestlohn eingeführt. Die Regierung unter Giorgia Meloni wurde auch dafür kritisiert, dass knapp 170.000 Menschen per SMS darüber informiert wurden, dass sie ab sofort keinen Anspruch mehr auf die Sozialleistung reddito di cittadinanza, auch Bürgergeld genannt, haben. Dies wurde von Gewerkschaften als "soziale Bombe" bezeichnet (ZEIT ONLINE, 2023). Es sei jedoch absehbar gewesen, dass die Umstrukturierung des Staatshaushalts wesentlich auf Kosten der ärmeren Bevölkerung erfolgen würde. Dennoch glaubten die meisten Menschen, dass die postfaschistische Regierung in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht so weit gehen würde, wie ihre Rhetorik des "Runter vom Sofa" suggerierte, mit der sie ihren Geldgebern in Industrie, Landwirtschaft und Tourismus billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollten (Seeßlen, 2023).EU und Außenpolitik Der Zuwachs an Migration wurde von Meloni vor allem dazu genutzt, um das Thema der irregulären Migration auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Sie war auch maßgeblich am Zustandekommen des Europäischen Migrationspaktes beteiligt, gegen den Widerstand ihrer einstigen Verbündeten aus Polen und Ungarn. Durch diese diplomatischen Bemühungen wird Meloni nun nicht mehr als internationale Außenseiterin in Bezug auf die europäische Migrationspolitik betrachtet. Im Gegensatz zu einigen früheren Verbündeten, wie Viktor Orbán, steht sie nicht mehr auf der Seite der Visegrád-Staaten (Angeli, 2023, S. 8f). Melonis Wandlung zu einer gemäßigten Politikerin findet nicht nur national, sondern auch im internationalen Kontext innerhalb und außerhalb der EU statt. Trotz ihrer Position als Präsidentin der EU-Parlamentsgruppe der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) hat Meloni ihre frühere euroskeptische Haltung zurückgefahren. Die Entscheidung, von der Leyen in Rom zu empfangen, wird als Versuch der Anbahnung einer Zusammenarbeit zwischen der ECR (unter Melonis Führung) und der Europäischen Volkspartei (EVP) bewertet. Die FdI hat einen moderaten Kurswechsel von radikalen Positionen gegenüber der EU hin zur Mitte vor den Wahlen 2022 vollzogen. Ziel dieses Kurswechsels sei der Aufbau eines guten Rufs im Ausland und die Sicherung vorteilhafter internationaler Abkommen (Griffini, 2023). Giorgia Meloni hat ihre gemäßigte politische Ausrichtung durch das Einhalten ihres Wahlversprechens im Hinblick auf Atlantizismus und Unterstützung für die Ukraine gegenüber dem russischen Eindringling weiter gestärkt. Ihre diplomatischen Beziehungen zur Ukraine und das Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew untermauern dies. Im Gegensatz zu Salvini, der im Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine uneindeutige Standpunkte vertrat, zeigte sich Meloni klar positioniert. Der Unterschied in ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine führte zu Spannungen innerhalb der Regierungskoalition und betonte Melonis gemäßigte Position in dieser Angelegenheit (ebd.). Manche sagten für Italien einen heißen Herbst voraus, aber nicht in Hinblick auf die außenpolitische Lage. Meloni verfolgte in diesem Bereich einen äußerst pragmatischen Ansatz. Der schrille Ton des Wahlkampfes, in dem sie die EU für fast alle Probleme verantwortlich gemacht hat, ist vorbei. Das hat auch mit der prekären Finanzlage des Staates zu tun, denn Italien braucht dringend die fast 200 Milliarden Euro, die ihr von der EU zur Bewältigung der Folgen des Coronavirus versprochen wurden (ZEIT ONLINE, 2023).Meloni in den Medien"Melonis Politik, anders als die einiger ihrer Vasallen, besteht auch darin, die innere Faschisierung nicht allzu sehr als ein internationales lesbares Bild zu präsentieren. Die Giorgia Meloni, die erscheint, wo man unter sich ist, und die Giorgia Meloni, die vor internationalen Kameras spricht, unterscheiden sich gewaltig" (Seeßlen, 2023).Durch die Stärkung des Kerns der Partei ist es Meloni gelungen, mit einem breiteren Publikum zu interagieren, wobei ihr geschickter Einsatz von Social-Media-Plattformen eine Schlüsselrolle spielte. Dies führte dazu, dass sie als das neue Gesicht der italienischen Politik wahrgenommen wird. Ihre einzigartige Position als erste weibliche Ministerpräsidentin in Italien hat zweifellos dazu beigetragen. Außerdem hat sie bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Herausforderungen zu meistern, mit denen populistische Politiker:innen konfrontiert sind (POP, 2023).Der Erfolg der FdI wäre ohne die entschlossene und konsequente Führungsperson, die dem Volk sehr nahe steht, unvorstellbar. Durch ihre Ansprachen an das Volk im römischen Dialekt kommt sie den Italiener:innen sehr nahe. Schon kurz nach der Gründung und dem Vorsitz der FdI war die charismatische Führerin ein gern gesehener Gast in den wichtigsten Talkshows. Sie zeichnete sich durch Jugend, Attraktivität, Selbstbewusstsein, außergewöhnliche Eloquenz und eine kompromisslose Haltung aus und scheute keine Konfrontation. Man kann behaupten, Meloni brachte frischen Wind ins Fernsehen und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit in diesem Medium (Ventura, 2022, S.6).Im Laufe der Zeit hat ihre Medienpräsenz stetig zugenommen, insbesondere in den letzten Jahren, als sie eine immer bedeutendere Funktion im Mitte-Rechts-Lager einnahm. Meloni macht ausgiebigen Gebrauch von sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram, in denen sie ihre politischen Inhalte darstellt und gleichzeitig ihr öffentliches Image zu pflegen versucht. Unter den italienischen Politiker:innen war sie Vorreiterin bei der Einrichtung eines Instagram-Profils. Darauf veröffentlichte sie in erster Linie Bilder, die Botschaften von Stärke und Entschlossenheit vermitteln und in der Popkultur verwurzelt sind. Parallel dazu zieht sie informative, institutionelle und ereignisbezogene Nachrichten vor (Moroni, 2019).Bis vor wenigen Jahren versuchte Meloni, ihr Privatleben aus der Öffentlichkeit weitestgehend herauszuhalten. Doch in letzter Zeit begann sie damit, ihr Privatleben zu inszenieren und sehr persönliche Einblicke zu gewähren, was auch als "intimate politics" beschrieben werden kann. Vor allem in ihrer 2021 erschienenen Autobiografie präsentiert sie sich als Tochter, Mutter und Partnerin. Diese Inszenierung wird von den Medien in zahlreichen Interviews und im Fernsehen aufgegriffen, wobei vor allem Infotainment- und Unterhaltungssendungen erneut die Aufmerksamkeit auf Melonis Pop- und Privatseite lenken. Dabei geraten viele der eigentlichen politischen Botschaften des Buches in den Hintergrund (Ventura, 2022, S. 6).Auf ihrem Popkanal präsentiert Giorgia Meloni ein attraktives Bild von sich selbst, das ihre kulturellen und politischen Ansichten in den Hintergrund drängt. Diese Ansichten spiegeln u.a. ein ambivalentes Verhältnis zum italienischen Faschismus und Postfaschismus wider. Laut Ventura (2022, S. 6) propagiert sie die Idee einer illiberalen und organisierten Gesellschaft, die auf einer reaktionären Auslegung der individuellen Rechte beruht, wobei das Individuum stets der Familie und der Gemeinschaft verpflichtet ist. Sie vertritt auch einen essentialistischen und ethnozentrischen Nationalismus und relativiert die Werte, die nach dem Sieg über den nationalsozialistischen Totalitarismus entstanden sind. Trotz ihres reaktionären Weltbildes, welches einen stark vereinfachenden Gegensatz zwischen Volk und Elite sowie eine verschwörungstheoretische Interpretation der Realität beinhaltet, kann ihre Kommunikation als erfolgreich bewertet werden (ebd.).Die laufende Legislaturperiode erstreckt sich über weitere vier Jahre, was normalerweise keine typische Amtszeit für italienische Regierungschefs ist. Diese Ausdauer wird der Rechtsnationalistin jedoch zugute gehalten. Berichte über die verschiedenen Angriffe der Regierung auf die Pressefreiheit zeigen auf, dass es Verleumdungsklagen und Versuche gibt, die öffentliche Rundfunkanstalt RAI auf Linie zu bringen, indem sie ihre eigenen Leute in der Leitung beruft und kritische Programme streicht (Braun, 2023). Sie habe den staatlichen Fernsehsender RAI weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Einige Leute würden bereits über "Tele-Meloni" spotten, allerdings stellen Privatsender keine große Bedrohung dar, da viele von ihnen der Familie von Silvio Berlusconi gehören (ZEIT ONLINE, 2023). Ein weiteres Beispiel dafür ist die Streichung des Programms des prominenten Anti-Mafia-Journalisten und Aktivisten Roberto Saviano (Braun, 2023).Melonis Umgestaltung hat für die Frage nach der Kontinuität, Mäßigung oder Radikalisierung der Partei in der Regierung eine doppelte Bedeutung. Einerseits zeigt Meloni ihre "Nähe zum Volk", was ein typisches Merkmal populistischer Parteien ist. Auf diese Weise betont sie ihre anti-elitäre und volkszentrierte Haltung, die seit der Gründung der FdI besteht. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihre Rhetorik durch eine bürgerliche Aura aus, die durch Werte wie den Respekt vor der EU, der Rechtsstaatlichkeit, der nationalen Sicherheit und den Rechten der Frauen unterstrichen wird. Diese Betonung von Gewöhnlichkeit und Bürgersinn verbirgt jedoch radikalere ideologische Aspekte der neuen Regierung unter Meloni. Es handelt sich um eine Strategie, die darauf abzielt, eine bürgerliche Fassade zu schaffen. Diese Strategie ist von radikalen populistischen Rechtsparteien in Europa als Versuch bekannt, Ideologie und Politik zu mäßigen und sich selbst in führende Machtpositionen zu bringen (Griffini, 2023).Deutlicher Rechtsruck?"Es hätte schlimmer kommen können" – so lautete nicht nur der Titel eines Beitrags im Deutschlandfunk Kultur über das erste Jahr von Giorgia Meloni als Regierungschefin in Italien. Dieser Tenor stand im Mittelpunkt vieler Analysen zu ihrem Jahrestag als Ministerpräsidentin. In zahlreichen Medien wurde bezeugt, dass sie sich in ihrem ersten Amtsjahr weitaus gemäßigter verhalten hat als erwartet. "Die gefährlichste Frau Europas" sei sie keinesfalls (Seisselberg & Kolar, 2023, zit. nach Galetti, 20230). Die Grundaussage war, dass die Faschisten nicht so besorgniserregend seien wie befürchtet. Es scheint, als hätte Giorgia Meloni den inneren Frieden in Italien bisher nicht gefährdet und als bleibe das Land eine "stabile" parlamentarische Demokratie mit intakten Institutionen. Insbesondere in grundlegenden Bereichen wie der Außenpolitik und der Wirtschaft wird betont, dass Melonis Regierung nicht als Bedrohung für die Europäische Union gesehen wird. Die bisherige Amtszeit Melonis wird als eher konventionelles Regieren bezeichnet (Reisin, 2023). Sie sei "gekommen, um zu bleiben" und innerhalb weniger Monate zu einer "festen Größe" geworden (ZEIT ONLINE, 2023).Andere Journalist:innen sind jedoch der Meinung, dass die Gefahr in den Details liege. Sie argumentieren, dass Meloni sehr geschickt agiere und es fraglich sei, ob sich ihre politische Haltung überhaupt geändert habe (Reisin, 2023). Seeßlen (2023) warnt davor, Italien als eine Demokratie mit einer rechten Regierung zu betrachten. Stattdessen beschreibt er das Land als einen Ort, an dem die Verbindung von neoliberaler Postdemokratie und funktionalem Postfaschismus exemplarisch erprobt werde. Die Gesamtheit dieser Transformation könnte übersehen werden, da es der Regierung unter Meloni noch gelingt, nicht alle Aspekte ihrer Machtübernahme deutlich erkennbar zu machen. Die Rhetorik von Populisten ist bekanntermaßen darauf ausgerichtet, extreme Positionen vor der allgemeinen Öffentlichkeit zu verbergen. Auch das kommunistische Online-Portal Contropiano (zit. nach Feldbauer, 2023, S. 81) hat vor der Gefahr gewarnt, Meloni zu unterschätzen, da sie ihr reaktionäres Weltbild mit rechtsextremen, nationalistischen, fremdenfeindlichen und homophoben Positionen gegenüber der EU mit der Inszenierung als vernünftige und verantwortungsbewusste Politikerin kaschiere. Die Frage nach einem möglichen Rechtsruck in Italien wird kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird der Wahlsieg Melonis als Teil einer allgemeinen europäischen Tendenz hin zum rechten Spektrum gedeutet. Auf der anderen Seite wird betont, dass die Regierung unter Meloni eine gewisse Kontinuität mit den politischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre in Italien aufweist und somit nicht als radikaler Neuanfang zu interpretieren ist. Melonis Erfolg wurde vor allem auch durch die Enttäuschung über etablierte politische Figuren begünstigt (Livi & Jansen, 2023).FazitAls Giorgia Meloni mit ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia die Wahlen gewann, stellte sich in ganz Europa die Frage, wie mit ihr umgegangen werden sollte. Ob diese Frage nun vollständig geklärt ist, erscheint ungewiss. Für viele macht Meloni bisher jedoch einen relativ gemäßigten Eindruck. Die Zusammenarbeit mit der EU wirkt jedoch eher zweckorientiert als von tiefer Überzeugung getragen. Obwohl Meloni eine pro-europäische Haltung einnimmt, kann man sie nicht uneingeschränkt als überzeugte Verfechterin der EU bezeichnen. Während sie eine gemäßigte Außenpolitik verfolgt, engt sie im Inneren die Freiheit der Medien ein, limitiert die Rechte von Minderheiten und stellt die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Eltern in Frage. Trotz der Befürchtungen über eine mögliche Radikalisierung der FdI deuten die gegenwärtigen Anhaltspunkte in eine andere Richtung. Angesichts dieser Erkenntnisse lässt sich ableiten, dass die FdI zweifellos als populistisch-radikale Rechtspartei agiert, die zur Mäßigung tendiert. Weite Teile zeigen die Kontinuität der Partei mit den Wahlaussagen von 2022, obwohl einige Schwankungen in Richtung Radikalisierung erkennbar sind. Es bleibt abzuwarten, ob sie diesen gemäßigten Ansatz in der Migrationsdebatte langfristig beibehalten wird, oder ob sie angesichts der steigenden Zahlen von Geflüchteten zu einer aggressiveren Rhetorik und Politik zurückkehrt. Obwohl eine Legislatur auf dem Papier fünf Jahre dauert, liegt die durchschnittliche Dauer italienischer Regierungen bei 18 Monaten (Siefert, 2023). Die Prognosen bezüglich Melonis politischer Zukunft sind vorsichtig optimistisch, wobei einige spekulieren, dass sie eine längere Amtszeit haben und sogar zur Galionsfigur der "neuen Rechten" in Europa werden könnte. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass sich solche Vorhersagen als irreführend erweisen können (ZEIT ONLINE, 2023).Insgesamt scheint es, als fehle es in Italien an Diskursen und Ideen sowie Kraft für Widerstand. Die italienische Gesellschaft, die aus widersprüchlichen Lagern der Linken und der katholischen Gemeinschaft sowie aus den nördlichen, mittleren und südlichen Teilen besteht, ist zersplittert. Von der Opposition kommt wenig Kritik an der aktuellen Regierung und es scheint, als ob ihr die Herausforderungen, vor denen Italien steht, noch weniger zugetraut werden. Bei vielen sozialen Fortschritten der letzten Jahre, einschließlich der Errungenschaften im Kampf gegen die Mafia, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder auch Maßnahmen gegen Verfall von Bildung und Infrastruktur deutet sich ein Rückschritt an. Der Weg in Richtung einer offenen und toleranten Gesellschaft wird unter Melonis Führung stark gehemmt. Mit der Postfaschistin an der Macht wird in Italien eine rückwärtsgerichtete Umkehr angestrebt, ganz im Sinne eines reaktionären Katholizismus. Literatur Angeli, O. 2023: Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung, MIDEM-Policy Paper 2023-4, Dresden. Baker, K. & Palmieri, S. (2023). Können weibliche Politiker die gesellschaftlichen Normen der politischen Führung stören? Eine vorgeschlagene Typologie des normativen Wandels. International Political Science Review, 44(1), 122–136. https://doi.org/10.1177/01925121211048298 Brandl, L. & Ritter, A. (2022). Wenn Italien wackelt, schwankt die EU: Darum ist Giorgia Meloni die gefährlichste Frau Europas. https://www.stern.de/politik/ausland/wahlen-in-italien--ist-giorgia-meloni-die-gefaehrlichste-frau-europas--32742572.html De Giorgi, E., Cavalieri, A. & Feo, F. (2023). Vom Oppositionsführer zum Premierminister: Giorgia Meloni und Frauenfragen in der italienischen radikalen Rechten. Politik und Governance, 11(1). https://doi.org/10.17645/pag.v11i1.6042 Feo, F. & Lavizzari, A. (2021): Fallstudie Italien; in: Triumph der Frauen? Das weibliche Antlitz des Rechtspopulismus und -extremismus in ausgewählten Ländern, Heft 06, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) - Forum Politik und Gesellschaft, online unter: https://www.fes.de/themenportal-gender-jugend-senioren/ gender-matters/artikelseite/fallstudie-italien. Finchelstein, F. (2017). Populismus als Postfaschismus – Essay. BPB.de. https://www.bpb.de /shop/zeitschriften/apuz/257672/populismus-als-postfaschismus-essay/ Griffini, M. (2023). Auf dem Grat zwischen Mäßigung und Radikalisierung: Die ersten 100 Tage der Meloni-Regierung. Quaderni dell Osservatorio elettorale QOE - IJES. https://doi.org/10.36253/qoe-14413 Latza Nadeau, B. (2018): Femme Fascista: Wie Giorgia Meloni zum Star der extremen Rechten Italiens wurde, in: World Policy Journal, 35, 2, 2018. Livi, M. & Jansen, C. (2023). Giorgia Meloni und der Rechtsruck in Italien: Eine Analyse fünf Monate nach der Wahl. Leviathan, 51(2), 169–185. https://doi.org/10.5771 /0340-0425-2023-2-169 Lutz, Philip (2021): Neubewertung der Gap-Hypothese: Hartes Reden und schwaches Handeln in der Migrationspolitik? In: Party Politics, 27(1), S. 174–186. Verfügbar unter: https://doi. org/10.1177/1354068819840776Moroni, C. (2019): La politica si fa immagine: la narrazione visual del Leader politico, in: H-ermes. Zeitschrift für Kommunikation, 15. 2019.Oliviero, A. (2023). Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung (MIDEM-Policy Paper 2023-4). https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2023/10 /TUD_MIDEM_PolicyPaper_2023-4_Giorgia-Meloni-und-Migrationsfrage.pdf (POP) Politisches Observatorium für Populismus. (2023). Brüder und Schwestern Italiens: Von den faschistischen Wurzeln zur Normalisierung – ein Doppelinterview. https://populismobserver.com/2023/07/11/brothers-and-sisters-of-italy-a-double-interview/ Reisin, A. (2023). Italien.Medien schreiben sich das erste Amtsjahr von Giorgia Meloni schön. https://uebermedien.de/89003/wie-sich-medien-das-erste-amtsjahr-von-giorgia-meloni-schoenschreiben/ Roio, C. (2020). Prefazione. La grande trasformazione dell'ultradestra, in: C. Mudde: Ultradestra. Rom: Luiss University Press. Schütz, D. (2022). Begriff "Postfaschismus". Italienischer Sonderweg. TAZ.de. https://taz.de/Begriff-Postfaschismus/!5880112/ Seeßlen, G. (2023, 17. August). Giorgia Melonis Kürzung der Sozialhilfe als faschistischer Krieg gegen die Armen Italiens. Gesellschaft als Beute Italien: Ein Lehrstück der Faschisierung in Europa. Jungle.World, Hintergrund (2023/33). Seisselberg, J. (2023). Ein Jahr Meloni in Italien – Neue Schale, rechter Kern (04.10.2023; NDR Info Hintergrund). https://www.ndr.de/nachrichten/info/epg/Ein-Jahr-Meloni-neue-Schale-rechter-Kern,sendung1384714.html Siefert, A. (2023). Italien. Meloni und ihre "Mutter aller Reformen". https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/italien-giorgia-meloni-verfassungsreform Tagesschau. (2022). Porträt. Giorgia Meloni. "Zuallererst Italienerin". Tagesschau.de https://www.tagesschau.de/ausland/italien-meloni-107.html ZEIT ONLINE. (2023, 25. September). Gekommen um zu bleiben: Ein Jahr Giorgia Meloni. https://www.zeit.de/news/2023-09/25/gekommen-um-zu-bleiben-ein-jahr-giorgia-meloni
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Exakt 20 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kündigte der derzeit amtierende US-Präsident Joe Biden den Abzug aller amerikanischen Truppen aus Afghanistan an. "Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden" (Böhm 2021, 92). Bereits vor dem Einmarsch amerikanischer und britischer Truppen am 7. Oktober 2001, bekannt als die Operation "Enduring Freedom", hatte Amerika Stützpunkte der in Afghanistan ansässigen Terrorgruppe Al-Qaida attackiert. Der Grund hierfür waren die durch Mitglieder der Gruppe geplanten und durchgeführten Anschläge auf amerikanische Botschaften in Tansania und Kenia im Jahr 1998. "Aber die Schwelle der Kriegserklärung gegen Terroristen wurde nicht überschritten, auch um Letztere politisch nicht aufzuwerten" (Böhm 2021, 94).Als Wendepunkt gilt der 11. September 2001. Neunzehn Terroristen der Terrorgruppe Al Qaida entführten vier Passagierflugzeuge. Zwei dieser Flugzeuge wurden in die Twin Towers des World Trade Centers gesteuert. Ein weiteres zerstörte den westlichen Teil des Pentagons in Washington. Das vierte stürzte in einem Feld in New Jersey ab. Insgesamt starben durch diese vier Flugzeuge fast 3000 Menschen aus 80 verschiedenen Ländern (vgl. Hoffmann 2006, 47).Die Anschläge veränderten die Wahrnehmung der durch den Terrorismus bestehenden Bedrohung. Bereits wenige Tage nach den Anschlägen verkündete der damalige US-Präsident George W. Bush den "Global War on Terror" (Böhm 2021, 92), eine Kriegserklärung an den Terrorismus. Damit definierte er die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus als Krieg.Neben dieser Auslegung gilt auch die Interpretation des Verhältnisses zwischen terroristischen Gruppierungen und Amerika feindlich gesinnten Staaten als entscheidend. Unmittelbar nach den Anschlägen wurde zunächst nur die Bekämpfung der Terrorgruppe Al-Qaida und des Taliban-Regimes in Afghanistan priorisiert. In den darauffolgenden Monaten wurden neben diesen auch den Terrorismus unterstützende, autoritäre Staaten und Staaten mit Zugang oder Beschaffungsmöglichkeiten von Massenvernichtungswaffen zu möglichen Zielen von Militäraktionen zur Bekämpfung des Terrorismus (vgl. Böhm 2021, 92; Kahl 2011, 19).Durch die Anschläge am 11. September 2001 wurde neben der "seit längerem bekannte Dimension der internationalen Kooperation von terroristischen Gruppen […] die neue Dimension der transnationalen Kooperation, Durchführung, Logistik und Finanzierung terroristischer Gewalt deutlich" (Behr 2017, 147).Im Rahmen dieses Beitrags wird der Terrorismus als eine Herausforderung für die Vereinten Nationen vor und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 thematisiert. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese die Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen beeinflusst haben. In einem ersten Schritt wird eine Klärung des Begriffs Terrorismus vorgenommen. Im Anschluss daran wird auf die Strategien der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus vor dem 11. September 2001 eingegangen. Darauf folgt eine Darstellung der direkten Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft auf die Anschläge. In einem letzten Schritt werden die daraus resultierenden Folgen für die internationale Sicherheitspolitik näher beleuchtet.BegriffsklärungIn einem ersten Schritt gilt es nun, den Begriff des Terrorismus näher zu definieren. Der Begriff leitet sich von dem lateinischen Wort terror ab, das als Schrecken oder Furcht übersetzt werden kann (vgl. Pfahl-Traughber 2016, 10). Nach dem Terrorismusexperten Bruce Hoffmann wird unter dem Begriff des Terrorismus die "bewusste Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer Veränderung" (Hoffmann 2006, 80) verstanden.Dementsprechend ist eine terroristische Tat zunächst einmal gekennzeichnet durch die Androhung oder die Ausübung von Gewalt. Im Hinblick auf die Intensität der ausgeübten Gewalt wird deutlich, dass keine humanitären Konventionen respektiert werden und terroristische Anschläge sich oft durch "besondere Willkür, Unmenschlichkeit und Brutalität" (Waldmann 2005, 14) auszeichnen."Die Gewalttat hat primär einen symbolischen Stellenwert, ist Träger einer Botschaft, die in etwa lautet, ein ähnliches Schicksal kann jeden treffen, insbesondere diejenigen, die den Terroristen bei ihren Plänen im Wege stehen" (Waldmann 2005, 15). Basierend auf dieser Tatsache bezeichnet der Soziologe Peter Waldmann den Terrorismus "primär [als] eine Kommunikationsstrategie" (Waldmann 2005, 15).Auf der psychologischen Ebene verfolgt der Terrorismus das Ziel, über die unmittelbaren Ziele und Opfer hinaus bei einer bestimmten Gruppe Furcht hervorzurufen, um für deren Einschüchterung zu sorgen. Als Zielgruppe kommt neben Staaten, Regierungen und einzelnen religiösen oder ethnischen Gruppen auch die allgemeine öffentliche Meinung in Frage (vgl. Hoffmann 2006, 80).Davon ausgehend verfolgt der Terrorismus mit der Erzeugung von Furcht und Schrecken auf der politischen Ebene das Ziel, das Vertrauen in eine bestehende politische Ordnung zu erschüttern (vgl. Waldmann 2005, 16). Im Hinblick auf die politische Dimension des Terrorismus grenzt Waldmann diesen bewusst vom Staatsterrorismus ab. Nach Waldmann kennzeichnen terroristische Anschläge ihre planmäßige Vorbereitung und ihre Aktivität aus dem Untergrund heraus.Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Staatsterrorismus um ein Terrorregime, errichtet durch staatliche Machteliten. Von Seiten des Staates kann zwar Terror gegenüber seinen Bürgern ausgeübt werden, er ist jedoch nicht in der Lage, die genannten Strategien gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen (vgl. Pfahl-Traughber 2016, 17; Waldmann 2005, 12).Bei den Akteuren handelt es sich um einen Zusammenschluss von Handlungswilligen, die sich in annähernd bürokratischen Strukturen organisieren, wobei Hierarchien und informelle Abhängigkeiten entstehen. In den meisten Fällen verfügen diese Gruppierungen über eine "geringe quantitative Dimension […] handelt es sich doch überwiegend um kleinere Personenzusammenschlüsse von wenigen Aktivisten" (Pfahl Traughber 2016, 12).Diese agieren im Untergrund, da sie weder über den erforderlichen Rückhalt innerhalb einer Bevölkerung noch über die erforderliche Kampfstärke verfügen. Am Beispiel von Al-Qaida in Afghanistan wird deutlich, dass ein Hervortreten aus dem Untergrund, beispielsweise durch die Errichtung von Lagern, das Risiko impliziert "angegriffen und vernichtet zu werden" (Waldmann 2006, 13).Hinsichtlich der Bezeichnung werden im Sprachgebrauch zwei Arten von Terrorismus, der internationale und der transnationale Terrorismus, unterschieden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das Phänomen des Terrorismus eher als international oder transnational zu bezeichnen ist. Nach Steinberg zeigt sich aus historischer Sicht ein fließender Übergang von dem internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus.Der internationale Terrorismus zeichnet sich in erster Linie durch "zahlreiche grenzüberschreitende Aktionen [aus], bei denen häufig vollkommen unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger fremder Staaten zu Schaden kamen." (Steinberg 2015). Ferner ist für den internationalen Terrorismus charakteristisch, dass die terroristischen Aktivitäten durch Staaten unterstützt werden. Zu den Unterstützerstaaten in der Vergangenheit zählten insbesondere Verbündete der ehemaligen Sowjetunion wie beispielsweise Syrien oder Libyen.Als historisches Beispiel für den internationalen Terrorismus gelten die Attentate auf israelische Sportler*innen während der Olympischen Spielen in München 1972 durch palästinensische Terroristen. Mit dem Fall der UdSSR verloren diese Staaten ihren Schutz vor Sanktionen westlicher Nationen. Damit endete nach und nach auch die Unterstützung terroristischer Gruppierungen. Es folgte ein fließender Übergang vom internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus.Der Unterschied besteht darin, dass die terroristischen Aktivitäten nicht mehr durch einen Staat unterstützt werden. Die Gruppierungen werden privat mit Geld und Waffen unterstützt oder bauen eigene, substaatliche Logistik- und Finanzierungsnetzwerke auf. Der Terrorismus gilt zudem als transnational, "weil sich die terroristischen Gruppen auf substaatlicher Ebene länderübergreifend miteinander vernetzen und sich dementsprechend aus den Angehörigen verschiedener Nationalitäten zusammensetzen" (Steinberg 2015).Basierend auf diesen Erkenntnissen ist ab den 1990er Jahren nicht mehr von internationalem Terrorismus, sondern vielmehr von transnationalem Terrorismus zu sprechen (vgl. Steinberg 2015). Dies hat auch Auswirkungen auf die Organisationsstrukturen terroristischer Gruppierungen. Sie zeichnen sich durch "Dezentralisierung, Entterritorialisierung und durch Überlagerung und Fragmentierung zwischen wechselnden, funktional orientierten Akteuren aus" (Behr 2017, 150).Ein Beispiel für den Übergang von einer internationalen Organisation hin zu einem transnationalen Netzwerk stellt die im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 stehende Terrorgruppe Al-Qaida dar. Vor den Anschlägen galt sie als eine internationale Organisation, die über ein "recht einheitliches Gebilde" (Hoffmann 2006, 425) verfügt. In Folge der Reaktionen auf die Anschläge entwickelte sie sich als eine transnationale Bewegung "mit gleich gesinnten Vertretern an vielen Orten, die über ein ideologisches und motivierendes Zentrum locker miteinander verbunden sind, aber die Ziele dieses noch verbleibenden Zentrums gleichzeitig und unabhängig voneinander verfolgen" (Hoffmann 2006, 425).Nach Vasilache ist "der gebräuchliche Terminus des internationalen Terrorismus irreführend, da er keine gängige Strategie eines Staates gegen einen anderen, sondern ein transnationales Phänomen ist, das vor Staatsgrenzen nicht halt macht" (Vasilache 2006, 151). Als Begründung führt er an, dass terroristische Anschläge oftmals von einzelnen Gruppierungen ausgehen, wobei auf die unterschiedlichen Motive in einem nächsten Schritt eingegangen wird. Weiterhin begründet er seine Aussage mit der Tatsache, dass das Ziel von staatlich initiiertem Terrorismus nicht direkt ein anderer Staat ist, sondern vielmehr zivile Ziele verdeckt attackiert werden (vgl. Vasilache 2006, 151).Anders als Steinberg spricht Vasilache also nicht von einer historischen Veränderung vom internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus, sondern bezeichnet das Phänomen Terrorismus generell als transnational. Da beide in der Ansicht übereinstimmen, zum Zeitpunkt der Anschläge am 11. September 2001 handele es sich um die transnationale Form des Terrorismus, wird im weiteren Verlauf von transnationalem Terrorismus gesprochen.Im Hinblick auf die Motive terroristischer Gruppierungen können im Wesentlichen vier Motive benannt werden, die sich überschneiden oder einander angleichen können. In diesem Zusammenhang wird von der Tatsache ausgegangen, dass terroristische Gruppierungen mit ihren Zielen und ideologischen Rechtfertigungen nicht zufällig entstehen, "sondern einen bestimmten gesellschaftlich-historischen Hintergrund widerspiegelt, der seinerseits wieder durch ihr Vorgehen eine spezifische Aktivierung erfährt" (Waldmann 2005, 100).Der sozialrevolutionäre Terrorismus möchte die politischen und gesellschaftlichen Strukturen nach der Ideologie von Karl Marx verändern (vgl. Waldmann 2005, 99). Ein Beispiel hierfür stellt die Rote Armee Fraktion (kurz: RAF) dar, die in den 1970er Jahren in Deutschland terroristische Anschläge verübte.Wenn unterdrückte Völker oder Minderheiten das Ziel von mehr politischer Autonomie oder staatlicher Eigenständigkeit mit terroristischen Strategien verfolgen, handelt es sich um ethnisch-nationalistischen Terrorismus. Als Exempel hierfür kommt die baskische ETA infrage, die aus einer Studierendenorganisation heraus entstanden ist und sich in den 1960er Jahren zunehmend radikalisierte (vgl. Waldmann 2005, 103f.).Unter die dritte Form des Terrorismus, "der militante Rechtsradikalismus" (Waldmann 2005, 115), fallen unterschiedliche Gruppen wie beispielsweise die Ku-Klux-Klan-Bewegung in Amerika. Trotz der unterschiedlichen Ausprägungen können bei all diesen Gruppen im Wesentlichen zwei Merkmale ausgemacht werden: zunächst einmal kämpfen sie für den Erhalt bestehender Strukturen und wollen keine strukturellen Veränderungen hervorrufen. Zudem richtet sich diese Form des Terrorismus in erster Linie nicht gegen das politische System, sondern vielmehr gegen einzelne Gruppen der Gesellschaft (vgl. ebd., 115). Ferner kennzeichnet den rechtsradikalen Terrorismus auch eine andere Strategie und eine andere Erscheinungsform. Bei den Aktivisten handelt es sich um "Teilzeitterroristen" (ebd., 117), die typischerweise in ihrer Freizeit agieren. Ihre Aktivitäten sind nicht im Untergrund, sondern werden vielmehr offen durchgeführt. Hinzu kommt, dass die Anschläge teils geplant und teils spontan erfolgen, mit dem Ziel, die Opfer zum Verlassen des Ortes oder Landes zu bewegen (vgl. ebd., 117f.).Bei der vierten Form des Terrorismus handelt es sich um religiös motivierten Terrorismus. Beispiel hierfür ist die bereits mehrfach angesprochene Terrorgruppe Al-Qaida. Sie entstand als Reaktion auf den Angriff der Sowjetunion auf Afghanistan Ende der 1970er Jahre. Die Brutalität der Invasion sorgte für eine große Solidarität innerhalb der islamischen Welt und führte zu einem Zuzug von zahlreichen islamischen Glaubenskämpfer*innen aus anderen Ländern, darunter auch Osama Bin Laden. Dieser gewann im Laufe der 1980er Jahre immer mehr an Einfluss und gründete mit dem Abzug der Sowjets Ende des Jahrzehnts Al Qaida mit dem Ziel, an einer anderen Front weiterzukämpfen. Es erfolgte ein Strategiewechsel "des Djihads nach innen, gegen verräterische Herrscher in den islamischen Staaten, auf die Strategie eines Djihads nach außen, gegen den Westen" (ebd., 152).Ein definitorisches Problem von Terrorismus ergibt sich aus der Tatsache, dass auf der internationalen Ebene bislang keine einheitliche Definition gefunden wurde. Im Rahmen der Resolution 1566 aus dem Jahr 2004 definierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Begriff Terrorismus wie folgt als "Straftaten […], die mit dem Ziel begangen werden, die ganze Bevölkerung, eine Gruppe von Personen oder einzelne Personen in Angst und Schrecken zu versetzten, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen […]" (UN-Resolution1566 2004).Neben dieser existieren weitere nationale und internationale Definitionen, wie unter anderem die der Europäischen Union oder die Definitionen einzelner amerikanischer Behörden. Auf der politischen Ebene können die Schwierigkeiten hinsichtlich einer einheitlichen Definition anhand folgender Punkte näher beleuchtet werden: zunächst einmal werden Handlungen von unterschiedlichen Staaten unterschiedlich eingestuft. Für die einen handelt es sich um gewalttätige terroristische Angriffe; andere stufen die Aktivitäten als politisch legitimierte Handlungen in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts während eines nationalen Befreiungskampfes ein.Ferner herrscht Uneinigkeit darüber, ob eine Definition auch den Staatsterrorismus umfassen sollte oder ob sie lediglich die motivationalen Hintergründe der Täter umfasst. Anhand der genannten Schwierigkeiten wird deutlich, dass die Einschätzung, ob es sich bei der Bedrohung um eine terroristische Bedrohung handelt und ob es sich bei der Organisation um eine terroristische Organisation handelt, dem nationalen Verständnis oder dem Verständnis der jeweiligen Institution unterliegt. Folglich könnte die Klassifizierung missbraucht werden, um ungewünschte innerstaatliche Gruppierungen oder andere mit dem Begriff zu stigmatisieren und deren Verfolgung zu rechtfertigen (vgl. Finke/Wandscher 2001, 168; Kaim 2011, 6).Abschließend gilt es noch zu klären, ob terroristische Aktivitäten als Kriegshandlungen bezeichnet werden können oder ob vielmehr eine Trennung der beiden Begriffe erforderlich ist. Als unmittelbare Reaktion auf die Anschläge des 11. Septembers bekundete Amerika immer wieder seinen Krieg gegen den Terror. Neben Präsident Bushs "global war on terror" sprach auch der amerikanische Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld im Zuge der Anschläge von einer neuen Kriegsart, "die sich vor allem neuer Technologien bedienen, asymetrisch verfahren und deswegen auch nicht leicht zu erkennen sein würde" (Czempiel 2003, 113).Diese Verwendung des Kriegsbegriffes in Verbindung mit terroristischen Anschlägen offenbart einen strategischen Zug der US-Regierung. "Dehnt man den Kriegsbegriff auf terroristische Akte aus, legitimiert dies den Angegriffenen auch zu Kriegshandlungen" (Geis 2006, 12). Der Regierung ist es infolgedessen möglich, über rechtsstaatliche Mittel hinaus Maßnahmen zu ergreifen und sie kann zudem von einer breiten Unterstützung innerhalb der eigenen Bevölkerung ausgehen (vgl. Geis 2006, 12). Bei der Frage, ob der transnationale Terrorismus als eine Form des Krieges bezeichnet werden kann, offenbart sich aus politikwissenschaftlicher Sicht eine erhebliche Kontroverse.Neben der Kategorisierung zwischen den alten und neuen Kriegen existiert auch die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Kriegen. Diese "basiert auf der Art der Vergesellschaftungsform der Kriegführenden" (Geis 2006, 21). Im Fall des großen Krieges sind die Akteure in gleichem Maß vergesellschaftet, ein Staat kämpft gegen einen anderen Staat. Im Falle eines kleinen Krieges besteht eine "asymetrische Konfliktstruktur zwischen ungleich vergesellschaftlichen Akteuren: Staatliche Kombattanten treffen auf nichtstaatliche Kämpfer" (Geis 2006, 21).Ob unter die kleinen Kriege auch der Terrorismus zu subsumieren ist, ist jedoch umstritten. Zunächst einmal wird dagegen angeführt, dass der Preis auf normativer Ebene zu hoch sei. Eine Unterscheidung beider bedeutet einen Fortschritt des Völkerrechts, da die Trennung immer eine Unterscheidung zwischen politisch legitimierter Gewalt im Zuge einer Kriegshandlung und illegitimer Gewalt, ausgeübt im Zuge eines Verbrechens, ermöglicht.Hinzu kommen Bedenken "bezüglich der Folgen eines ungehegten Counterterrorismus der angegriffenen Staaten" (Geis 2006, 22). In einem permanenten Kriegszustand hätten demokratische Staaten die Möglichkeit, die Erweiterung des Sicherheitsapparates und Bürgerrechtseinschränkungen zu legitimieren (vgl. ebd., 21f.). Als weiteres Argument wird angeführt, dass eine Trennung beider Begriffe aus analytischer Sicht sinnvoll sei, da es sich beim Terrorismus primär um eine Kommunikationsstrategie handele. Dieser fehlen neben der territorialen Dimension auch die wechselseitig beständige Gewaltanwendung und das Charakteristikum eines Massenkonflikts (vgl. ebd., 23).Für eine Subsumierung des Terrorismus unter den Kriegsbegriff spricht insbesonders die Sichtweise der Vereinten Nationen, die im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 den Vereinigten Staaten von Amerika das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta zugesprochen hat (vgl. Resolution 1373 2001). Auf diese Tatsache wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eingegangen. Anschließend wird der Sichtweise der Vereinten Nationen gefolgt und folglich der Terrorismus unter den Begriff des Krieges subsumiert.Reaktionen der Vereinten Nationen auf Terrorismus vor dem 11. September 2001In einem nächsten Schritt gilt es, auf die Reaktionen der Vereinten Nationen auf das Phänomen des Terrorismus vor dem 11. September 2001 einzugehen. Hierbei wird zunächst auf das unterschiedliche Verständnis in Bezug auf den Sicherheitsbegriff näher eingegangen. Seit den 1970er Jahren gilt nicht mehr nur die politische Souveränität und die territoriale Integrität der einzelnen Staaten als das zu schützende Objekt der Sicherheitspolitik.Neben der zu schützenden staatlichen Sicherheit geriet auch die Gesellschaft, definiert als ein "Zusammenschluss von Individuen" (Kaim 2011, 3), in den Mittelpunkt sicherheitspolitischen Handelns. In den 1990er Jahren erfolgte die Aufnahme einer weiteren Dimension in Gestalt der menschlichen Sicherheit in den Diskurs rund um den Sicherheitsbegriff und die damit verbundenen Aufgaben. Nach diesem Verständnis ist die Sicherheit, die Freiheit und der Wohlstand des Individuums zu schützen. Es zeigt sich jedoch, dass die Dimensionen in der politischen Praxis nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Der Schutz des Individuums umfasst ebenso die Gesellschaft, in der es lebt, und letzlich auch den Staat (vgl. Kaim 2011, 3f.).Aus sicherheitspolitischer Perspektive gilt der "Terrorismus als entterritorialisiertes Sicherheitsrisiko" (Behr 2017, 151), das zu drei Konsequenzen führt. Zunächst einmal sind terroristische Aktivitäten nicht voraussagbar. Es besteht das Risiko, dass sie sich zu jeder Zeit an jedem Ort ereignen können. Hinzu kommt, dass die Akteure anders als Staaten keine politische Einheit darstellen. Vielmehr ereignen sich einzelne, verstreut zusammenhängende Handlungen ohne einen genau ausmachbaren Anfang oder Ende. Folglich kann auf das sicherheitspolitische Risiko Terrorismus nur reagiert werden, wenn die Maßnahmen "Handlungs- und Organisationslogiken transnationaler Politik erfassen und übernehmen" (Behr 2017, 151).Die Problematik des transnationalen Terrorismus als Herausforderung für die Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen führte zu einer Reihe von Abkommen mit der Intention der Beseitigung und Bekämpfung der Problematik. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich ein pragmatischer Ansatz heraus. "[B]esonders häufig auftretende terroristische Aktivitäten [wurden] zum Gegenstand spezifischer Konventionen gemacht" (Finke/Wandscher 2001, 169).Nahezu alle von der Generalversammlung und den Sonderorganisationen verabschiedeten Abkommen können aufgrund bestimmter Kernelemente als Antiterrorkonventionen bezeichnet werden. Zu den besagten Kernelementen gehört zunächst einmal die Verpflichtung der Vertragsstaaten, die in dem jeweiligen Abkommen genannte strafbare Handlung in das jeweilige innerstaatliche Recht aufzunehmen und angemessen zu bestrafen.Hinzu kommt, dass verdächtige Personen entweder durch den Staat selbst zu verfolgen sind oder an einen anderen, verfolgungswilligen Staat ausgeliefert werden müssen. Eine Auslieferung kann nur dann verweigert werden, wenn das Auslieferungsgesuch aufgrund religiöser, ethischer, nationaler, rassistischer oder politischer Gründe erfolgt ist. Ferner sind die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, untereinander zu kooperieren und sich gegenseitig Rechtshilfe zu gewähren (vgl. Finke/Wandscher 2001, 169).Das erste derartige Übereinkommen stellt das Haager Abkommen von 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen dar. Darauf folgte das Montrealer Abkommen von 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt (vgl. ebd., 169). Die besagten Abkommen ordnen bestimmten Aktivitäten zwar das Adjektiv terroristisch zu, stufen diese jedoch nicht als Bedrohung des Weltfriedens ein oder führen zu der Anordnung von Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta durch den Sicherheitsrat.Dies änderte sich mit der Explosion einer Bombe an Bord des Pan-American-Flugs 103 über der schottischen Ortschaft Lockerbie im Jahr 1988. Hier wurden zwei Staatsangehörige Libyens für die Anschläge verantwortlich gemacht, und das Land von den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu deren Auslieferung aufgefordert. Der libysche Staat verweigerte das. Als Reaktion darauf wurde der Terrorakt im Rahmen der Resolution 731 durch den Sicherheitsrat als Bedrohung des Weltfriedens gemäß Kapitel V Artikel 24 eingestuft.Durch Resolution 748, ebenfalls 1992 verabschiedet, wurde die Nichtauslieferung durch Libyen als "eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (Finke/Wandscher 2001, 171) bezeichnet und Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII UN-Charta gegen das Land erlassen (vgl. Behr 2017, 147; Finke/Wandscher 2001, 170f.).Der Einsatz von Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta erwies sich als wirksames Mittel der Terrorismusbekämpfung im Hinblick auf die Durchsetzung bestimmter Maßnahmen. Hierunter fallen insbesonders Maßnahmen, die zwar Gegenstand geltender Antiterrorkonventionen sind, diese durch die betreffenden Staaten jedoch nicht ratifiziert wurden oder die Konvention selbst noch nicht in Kraft getreten ist (vgl. Finke/Wandscher 2001, 171).Diese Strategie des Sicherheitsrates etablierte sich insbesonders hinsichtlich der Situation in Afghanistan. In Folge der Anschläge auf amerikanische Botschaften in Nairobi und Daressalam erließ der Sicherheitsrat mit der Resolution 1267 Individualsanktionen gegen die afghanischen Taliban. Der Grund hierfür war die Tatsache, dass diese den Verantwortlichen für die Anschläge, der Terrorgruppe Al-Qaida und ihrem Anführer Osama bin Laden, Unterstützung gewährte.Insbesonders durch das Einfrieren der finanziellen Mittel, aber auch durch ein Waffenembargo und ein Reiseverbot, sollten diese zur Auslieferung Bin Ladens gezwungen werden. Um die Umsetzung dieser Maßnahmen zu gewährleisten, setzte die Resolution zudem einen Unterausschuss des Sicherheitsrates ein (vgl. Kreuder-Sonnen 2017, 159).Direkte Reaktionen der Staatengemeinschaft auf den 11. September 2001Als erste Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001 wurde vom Sicherheitsrat bereits am Tag nach den Anschlägen die Resolution 1368 erlassen. In dieser wurde der Terrorismus einstimmig als "Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (UN-Resolution 1368 2001) im Sinne von Art. 39 UN-Charta bezeichnet. Zugleich wurde auf das Recht zur individuellen und zur kollektiven Selbstverteidigung verwiesen (vgl. UN-Resolution 1368 2001).Noch im gleichen Monat, am 28 September 2001, wurde das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung mit Resolution 1373 bekräftigt und die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, "durch terroristische Handlungen verursachte Bedrohungen […] mit allen Mitteln im Einklang mit der Charta zu bekämpfen" (Resolution 1373 2001).Neben dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen reagierte auch der Nordatlantikrat umgehend. Am 12. September erklärte der damalige Generalsekretär George Robertson die Anschläge zum kollektiven Verteidigungsfall, wodurch Artikel 5 des NATO-Vertrages in Kraft trat. Nach diesem ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, mit von ihm ausgewählten Mitteln zu helfen (vgl. Robertson 2001).Aus amerikanischer Sicht dienten die Anschläge nicht nur dem Zweck der Tötung von amerikanischen Zivilisten, "Bush sah darin die gesamte westliche Zivilisation herausgefordert" (Czempiel 2003, 114). In seiner Rede am 20. September 2001 warnte der amerikanische Präsident alle Staaten hinsichtlich der Unterstützung und der Beherbergung von Terroristen. Innerhalb der Regierung wurde hinsichtlich der Bekämpfungsstrategie "offen von Präemption gesprochen" (Czempiel 2003, 115).Als Adressaten der amerikanischen Drohung kamen insgesamt 60 Länder mit aktiven terroristischen Organisationen in Frage (vgl. ebd., 114). Auch wenn die meisten Attentäter der Anschläge ursprünglich aus Saudi-Arabien stammten, erhärtete sich zunehmend der Verdacht, dass ihre Aktivitäten von Afghanistan aus gelenkt wurden. Im Zuge dessen wurde das Land als "Prototyp" (ebd., 115) für die Terrorismusbekämpfung ausgewählt. Mit der Operation "Enduring Freedom" starteten amerikanische und britische Truppen am 7. Oktober 2001 Angriffe auf Talibanstützpunkte wie etwa auf Regierungsgebäude in Kandahar und Kabul (vgl. Bruha/ Bortfeld 2001, 162; Czempiel 2003, 115).Der Umstand, dass sich am Tag nach den Anschlägen der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit diesen befasste "ist ein erstaunlicher Beweis für die politische Klugheit der USA" (Tomuschat 2002, 20) hinsichtlich der Legitimation der Reaktion auf diese. In diesem Zusammenhang gilt es sich jedoch zu fragen, ob die genannten Resolutionen das Land tatsächlich zu einem Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 UN-Charta legitimieren.In Resolution 1368 findet sich in Bezug darauf ein entscheidender Widerspruch, welcher die rechtlich bedeutsamen Aussagen schwer greifbar macht. Dieser bekräftigt das Recht auf individuelle und kollektive Sicherheit im Sinne der Charta, bezeichnet die Angriffe jedoch lediglich als eine Bedrohung des globalen Friedens und der Sicherheit. Die bekundete Entschlossenheit, die Bedrohung "mit allen Mitteln zu bekämpfen" (UN 2001, 315), kann nicht als eine Ermächtigung für einzelne Staaten aufgefasst werden, sondern steht für die grundsätzliche Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft.Anders als Resolution 1368 enthält Resolution 1373 mehr rechtlich eindeutige Aussagen. Bereits in der Präambel wird auf die Anwendung der Maßnahmen gemäß Kapitel VII UN-Charta verwiesen. Zudem bestätigt sie die Zulässigkeit des Einsatzes "aller Mittel" durch die Opfer von terroristischen Anschlägen (vgl. UN 2001, 316f.). Es zeigt sich also, dass eine Berechtigung zu der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gemäß Art. 51 UN-Charta durch die Vereinigten Staaten im Rahmen der genannten Resolution durchaus vorliegt (vgl. Tomuschat 2002, 20f.).Nun stellt sich die Frage, ob die Verbindungen zwischen den Anschlägen und dem Taliban-Regime derart offensichtlich waren, dass die militärischen Aktionen gegen die Taliban in Afghanistan unter die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts fallen. In diesem Zusammenhang kann man sich nicht auf die genannten Resolutionen berufen, da diese nicht aufzeigen, "gegen wen Gegenwehr zulässig sein soll" (Tomuschat 2002, 21). Folglich gilt es, die Reaktionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung näher zu betrachten.Es zeigt sich, dass beide Institutionen die amerikanisch-britische Militärintervention nicht verurteilten. Vielmehr verabschiedete der Sicherheitsrat am 12. November 2001 einstimmig Resolution 1377. In dieser wurde der Terrorismus als "eine der schwerwiegendsten Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im 21. Jahrhundert" (UN-Resolution 1377 2001) bezeichnet. Mit dieser Qualifikation wurde implizit der Einsatz von äußersten Mitteln gestattet, da die Resolution keine "Grenzen und Schranken von Gegenmaßnahmen enthält" (Tomuschat 2002, 21). Letztendlich kann man also davon ausgehen, dass die Vereinten Nationen die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gemäß Art. 51 UN-Charta durch die USA als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 zumindest implizit gebilligt haben (vgl. Tomuschat 2002, 21f.).Als Reaktion auf die Anschläge wurden die bislang geltenden Individualsanktionen gegen die afghanischen Taliban und das Terrornetzwerk Al-Qaida mithilfe der Resolution 1390 zu allgemeinen, dauerhaft geltenden Maßnahmen gegen den transnationalen Terrorismus umgewandelt. Damit wurde nicht nur der Adressatenkreis erweitert, es wurde zusätzlich auch die räumliche und die zeitliche Begrenzung aufgehoben.Jede Person, die von einem Staat als Terrorverdächtiger genannt wurde, bekam ab diesem Zeitpunkt die Sanktionen im Hinblick auf das Privatleben, das private Eigentum, auf den Sozialstatus und das Unterhalten von geschäftlichen Beziehungen zu spüren. Fundierte Beweise für eine Aufnahme in die sogenannte "Schwarze Liste" (Kreuder-Sonnen 2017, 160) durch die Staaten waren ebenso wenig notwendig wie eine Begründung gegenüber dem Individuum (vgl. Kreuder- Sonnen 2017, 160).Folgen für die SicherheitspolitikAngesichts der aufgezeigten Gegenmaßnahmen als direkte Reaktion auf die Anschlage des 11. Septembers 2001 wird deutlich, dass man "bezüglich der Reaktion auf den Terrorismus von einer neuen Ära" (Waldmann 2005, 229) ausgehen muss. Es zeigt sich, dass sowohl bei diesen Anschlägen als auch bei terroristischen Anschlägen in den Folgejahren "die durchschnittliche Zahl der Opfer pro Anschlag […] kontinuierlich ansteigt" (Waldmann 2005. 16).Infolgedessen spricht auch Waldmann im Kontext von terroristischen Anschlägen von Kriegshandlungen. Seiner Ansicht nach hat das zunehmende Ausmaß der Anschläge dazu geführt, dass diese nicht mehr als `low intensity´ war, sondern vielmehr als `high intensitiy´ war eingestuft werden müssen. Der Grund hierfür ist seiner Ansicht nach die Tatsache, dass der Begriff des low intensity war neben dem fehlenden Einsatz von konventionellem Kriegsgerät und größeren Truppenverbänden auch einen begrenzten Personen- und Sachschaden impliziert (vgl. Waldmann 2005, 16f.).Auf der internationalen Ebene spiegelten sich die Reaktionen auf das zunehmende Ausmaß der Anschläge vor allem in den zahlreich erlassenen Konventionen und Resolutionen wieder. Hinzu kommt die Tatsache, dass terroristische Anschläge erstmals zu militärischen Interventionen in Länder geführt haben, die sich in erheblicher Entfernung von dem betroffenen Land befinden. Zumindest im Fall von der militärischen Intervention in Afghanistan herrschte eine seltene Einigkeit zwischen den Großmächten im Sicherheitsrat.Ferner führten die Ereignisse zu einem erheblichen Medieninteresse (vgl. Waldmann 2005, 229). Anhand dessen lässt sich "[d]ie neue Einschätzung des gewaltigen, vor allem dem internationalen Terrorismus zugeschriebenen Drohpotentials" (ebd., 230) feststellen. Diese führte zu drei als signifikant zu bezeichnenden Veränderungen im Hinblick auf die Politik und die Einstellung in Bezug auf den Terrorismus (vgl. ebd., 230).Zunächst einmal bewirkte der transnationale Terrorismus in den westlichen Nationen nicht nur einen "politischen Rechtsruck" (ebd., 230) aller regierenden Parteien. Er wirkte sich auch auf alle Ebenen der Gesellschaft aus. Dieser Wandel auf der nationalen Ebene wirkte sich auch auf die Entscheidungen internationaler Gremien aus. Die bislang vorhandene Balance zwischen der individuellen und kollektiven Sicherheit auf der einen Seite und den Grund- und Freiheitsrechten auf der anderen Seite hat sich zunehmend zugunsten des Sicherheitsaspektes verschoben (vgl. ebd., 230).Insbesonders um den Informationsaustausch zwischen den Staaten gewährleisten zu können und damit ein gemeinsames Vorgehen gegen die Bedrohung zu ermöglichen, wurden internationale Instanzen zur Koordinierung geschaffen (vgl. Behr 2017, 151; Waldmann 2005, 231). Ferner erfolgte eine erhöhte Aufmerksamkeit und Ressourcenbereitstellung für national und international agierende Behörden hinsichtlich terroristischer Aktivitäten und damit verbunden eine Reihe neuer, zu diesem Zweck erlassener Gesetze.Neben dem Informationsaustausch wurden auch die Möglichkeiten der Polizei und anderer Instanzen erweitert, um Anschläge bereits im Planungs- und Vorbereitungsstadium erkennen und verhindern zu können. Hierzu gehören beispielsweise Einreiseverbote für Mitglieder islamistischer Gruppierungen. Neben den erweiterten präventiven Maßnahmen wurden auch Notfallszenarien entwickelt, die im Fall eines Anschlags in Kraft treten (vgl. Waldmann 2005, 232).Im Hinblick auf die dargestellten Veränderungen stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, inwiefern weitere Maßnahmen aus der Sicht der Vereinten Nationen erforderlich sein könnten. Nach dem Terrorismusexperten Peter Waldmann "wird keine Unterscheidung zwischen Maßnahmen auf der nationalen und der internationalen Ebene getroffen, weil beide längst immer enger ineinander greifen und in die gleiche Richtung zielen" (Waldmann 2005, 239).Als zentrale Handlungsmaxime benennt Waldmann in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Strategien gegenüber terroristischen Netzwerken beziehungsweise dem Terrorismus im Allgemeinen "klar, konsistent und glaubhaft" (Waldmann 2005, 239) sein sollen. Hinsichtlich des Umgangs mit dem islamistischen Terrorismus besteht die größte Problematik darin, dass westliche Nationen ihre Glaubhaftigkeit bezüglich ihrer Leitlinien teilweise verlieren. Insbesonders den Vereinigten Staaten von Amerika wird vorgeworfen, dass sie ihren Prinzipien der Demokratie, des Grundrechtsschutz und der Rechtsstaatlichkeit zugunsten von politischen und wirtschaftlichen Interessen teilweise nicht treu sind (vgl. ebd., 240)."Dass sie aus machtpolitischen Erwägungen jederzeit dazu bereit sind, mit Diktaturen Bündnisse zu schließen, und hinter ihrem quasi messianischen Diskurs, es gelte in der ganzen Welt demokratische Verhältnisse herzustellen, nun allzu deutlich das dringende Bestreben durchscheint, der eigenen Wirtschaft lukrative neue Erdölfelder zu erschließen." (Waldmann 2005, 240).Hinsichtlich der Maßnahmen auf der internationalen Ebene gilt es zunächst auf die Transnationalität näher einzugehen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei terroristischen Gruppen in den meisten Fällen nicht um eine Gruppe aus einem Land, sondern um Angehörige unterschiedlicher Länder, die sich länderübergreifend miteinander vernetzt haben. Um dem begegnen zu können, erscheint es unabdingbar, dass auch Staaten grenzübergreifend miteinander kooperieren. Dies würde eine erhebliche Bereitschaft der Teilnehmenden zu einem Teilverzicht auf ihre staatlichen Souveränitätsräume und ihrer Souveränitätsrechte bedeuten.Hinsichtlich der nationalen und internationalen Rechtsordnungen im Allgemeinen verlangen transnationale Rechtsverstöße auch eine entsprechende Weiterentwicklung des Rechts auf internationaler Ebene. Transnationale Verbrechen können nicht durch an nationale Grenzen gebundenes Recht bekämpft werden, da aufgrund der unterschiedlichen Verfassungen rechtsfreie Sphären auf globaler Ebene entstehen. Folglich ist eine Ausweitung des transnationalen Rechts erforderlich. Hierfür müsste das Völkerrecht, bislang mit dem Staat als Rechtsperson und einer rechtlichen Bindung auf dem staatlichen Territorium, entterritorialisiert werden (vgl. Behr 2017, 151; Schmalenbach 2004, 266).Neben der Kooperation von Staaten und der Erweiterung des internationalen Rechts spricht Ernst-Otto Czempiel von einer "dreigeteilte[n] Strategie" (Czempiel 2003, 57) hinsichtlich der Verhinderung weiterer terroristischer Anschläge. Kurzfristig ist es die Aufgabe der Staaten, weitere Anschläge zu verhindern. In diesem Zusammenhang offenbart sich jedoch eine in demokratischen Staaten schwierige Güterabwägung hinsichtlich des Schutzes der kollektiven Sicherheit und der individuellen Freiheitsrechte (vgl. Czempiel 2003, 57).Die bürgerliche Freiheit stellt in demokratischen Staaten ein hohes Gut dar. Auf der anderen Seite würde der fortschreitende Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparates eine "allmähliche Aushöhlung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte um des Schutzes angeblich höherwertiger Güter willen" (Waldmann 2005, 242) bedeuten. Die Folge wäre eine Entwicklung des Rechtsstaates hin zu einem "präventiven Sicherheitsstaat" (Waldmann 2005, 242) mit einer teilweisen Abkehr von demokratischen Grundsätzen (vgl. Hofmann 2006, 446; Waldmann 2005, 242).Infolgedessen gilt es mittelfristig, sich mit dem Hintergrund der Akteure auseinanderzusetzen. "Als besonders fruchtbare Brutstätte gelten die zahlreichen `failing states´, also die gescheiterten oder zerfallenen Staaten" (Czempiel 2003, 58). Am Beispiel Afghanistans wird deutlich, dass der Westen einen erheblichen Anteil an dem Scheitern des Landes und an der Entstehung der dort ansässigen Terrorgruppe hatte.Im Zuge des Konflikts mit der Sowjetunion hatte Amerika die Kämpfer unterstützt. Mit dem sowjetischen Abzug endete auch die amerikanische Unterstützung, und das zerstörte Land wurde ebenso wie die von Amerika ausgebildeten Kämpfer sich selbst überlassen. Es gründete sich die Terrorgruppe Al Qaida mit dem neuen Feind in Gestalt der USA. Die Entwicklungen in Afghanistan haben gezeigt, dass bei jeder Einmischung von außen neben den kurzfristigen auch die langfristigen Konsequenzen zu bedenken sind und dass "das Objekt der Einmischung auch politisch und wirtschaftlich davon profitiert" (Czempiel 2003, 58).Aus langfristiger Sicht gilt es, die "Quellen des Terrorismus auszutrocknen" (ebd., 58) und eine Veränderung des Kontextes zu erwirken. In diesem Zusammenhang ist die Stabilisierung der "failing states" von entscheidender Bedeutung. Czempiel spricht von einer Neuordnung der Welt, "die immer mehr als ein Quasi-Binnenraum begriffen und mit entsprechender Strategie bearbeitet werden muss" (ebd., 59). Neben der Verringerung der Dominanz des Westens ist eine Änderung der Werteverteilung und ein Lösen der großen Konflikte erforderlich (vgl. ebd., 59).FazitDie Anschläge in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001 wirkten sich nicht nur traumatisch auf das "Selbst- und Machtbewusstsein der USA" (Czempiel 2003, 40) aus, sie versetzten auch den Rest der Welt in "Angst und Schrecken" (Czempiel 2003, 40). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschien eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten unwahrscheinlich. Vielmehr stellte der Terrorismus als eine "neue Bedrohung von innen durch gesellschaftliche Akteure" (ebd., 57) das größte sicherheitspolitische Risiko insbesonders für westliche Industriestaaten dar. (vgl. ebd., 57). "Der Terror soll Angst und Schrecken verbreiten, ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit erzeugen und offene Panik auslösen" (Hofmann 2006, 445). Hinzu kommt, dass mit dieser Form der psychologischen Kriegsführung das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft in die politische Führung und in den Staat im Allgemeinen zerstört werden soll.Aus historischer Sicht existiert das Phänomen des Terrorismus seit mehr als 2000 Jahren. "Er hat überlebt, weil es ihm gelungen ist, sich immer wieder an die veränderten Bedingungen und Gegenmaßnahmen anzupassen und die verwundbaren Stellen seines Gegners ausfindig zu machen, um sie für seine Zwecke zu nutzen" (Hofmann 2006, 446). Entsprechend muss bei Gegenmaßnahmen "das gesamte Spektrum der verfügbaren Mitteln […], psychologische und physische, diplomatische und militärische, ökonomische und moralische" (ebd., 445) eingesetzt werden.Es gilt nun abschließend eine Antwort auf die Frage zu finden, inwiefern die Anschläge im Herbst 2001 die Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen verändert haben. Kurzfristig führten diese zu einer seltenen Einigkeit der ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat, was sich in den zahlreichen erlassenen Resolutionen wiederspiegelt. Darunter fällt auch die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft die Militärintervention in Afghanistan nicht verurteilte, sondern vielmehr den Vereinigten Staaten ihr Recht auf Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta einstimmig zugestand.Es erwies sich jedoch hinsichtlich der internationalen Zusammenarbeit als problematisch, dass keine einheitliche Definition des Begriffs Terrorismus besteht. Das könnte dazu führen, dass wirtschaftliche Sanktionen oder militärische Aktionen zur Durchsetzung eigener Interessen fälschlicherweise als Terrorismusbekämpfung etikettiert werden.Generell zeigt sich, dass die Anschläge einen erheblichen innenpolitischen Rechtsruck bewirkten, der sich auch auf die Entscheidungen internationaler Gremien auswirkte. Das wurde durch erweiterte Befugnisse für die Polizei und andere Exekutivorgane in Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit sichtbar.Mit der Resolution 70/291 stellte der amtierende UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 22. Februar 2017 strategische Handlungsoptionen für die Terrorismusbekämpfung vor. Zunächst einmal soll die Effizienz der Vereinten Nationen im Bereich der Terrorbekämpfung allgemein gestärkt werden. Zudem soll die Qualität der Vereinten Nationen hinsichtlich der Unterstützung der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der UN-Terrorismusbekämpfungsstrategien hinterfragt werden. Hinzu kommt der Anstoß zu einer Debatte hinsichtlich der regionalen und internationalen Zusammenarbeit von Staaten und UN-Sonderorganisationen.Außerdem wurde Wladimir Iwanowitsch Woronkow auf Vorschlag von Guterres zur Umsetzung und Koordinierung der Vorschläge am 21. Juni 2017 als Untergeneralsekretär eingesetzt. Diese strategische Neuausrichtung wird als eine strategische Aufwertung der Terrorismusbekämpfung im Rahmen der Vereinten Nationen verstanden (vgl. Behr 2017, 152).Zusammenfassend zeigt sich also, dass sich die internationale Gemeinschaft der Tatsache bewusst ist, dass eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung des transnationalen Phänomens erforderlich ist. "Wenn wir den Terrorismus erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir ebenso unermüdlich, innovativ und dynamisch vorgehen wie unsere Gegner" (Hoffmann 2006, 446).LiteraturBehr, H. (2017): Die Antiterrorismuspolitik der UN seit dem Jahr 2001. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. [Hrsg.]: Terrorismusbekämpfung und die Vereinten Nationen. S. 147-151.Böhm, A. (2021): Die Gesetzte des Dschungels. In: ZEIT Geschichte 4/21. S 92-97.Czempiel, E.-O. (2003): Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen. München: Verlag C.H.Beck oHG.Finke, J./ Wadscher, C. (2001): Terrorismusbekämpfung jenseits militärischer Gewalt. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. 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Russlands Küche gilt nicht. Sie ist im allgemeinen westlichen Bewusstsein nicht präsent. Mit Polen assoziiert man vage Pierogi, ähnliche Pielmieni mit der Ukraine, ähnlich wie der in Ostdeutschland früher echt populärer Soljanka-Eintopf. Aber Russland?Witold Szabłowski, polnischer Journalist mit Koch-Erfahrung in Skandinavien, schaut den Russen in die Töpfe. Dabei zeichnet er russische, sowjetische und wieder russische Geschichte in zwölf Topf-Geschichten, die Personen, Regionen oder Ereignissen zugeordnet werden. Er beschränkt sich aber nicht etwa auf übliche Gastro-Literaturtipps, ganz im Gegenteil, die angegebenen Rezepte sind nicht immer "zum Probieren" gedacht, vielmehr geht es um die Geschichten hinter den Töpfen oder vor den Herdplatten. Und wer steht dort? Natürlich Köche und andere Kreml-Vertraute oder die man dafür hält, die ihre Lebensgeschichten erzählen.Eine übliche Rezepte-Sammlung zum Nachahmen oder um sie als Geschenk-Kochbuch herauszugeben wäre nur im ersten Fall der Zarenküche lohnend, denn viele könnte es heute noch interessieren, wie die Speisen am damaligen Zarenhof schmeckten. Klar hatte der Zar einen Hofstaat zu ernähren, in der Küche des Winterpalasts arbeiteten immerhin mehr als 150 Angestellte, davon haben zehn nur für den Zaren gearbeitet, seine Familie und die Privatgäste. Vier Köche waren mit dem Backen und Braten beschäftigt, vier weitere mit Suppen. Darüber hinaus gab es eine Menge "Praktikanten", die alle Bereiche durchlaufen mussten. An einem gewöhnlichen Tag aß die Familie zum Frühstück z.B. eine Spargelsuppe, einen Hummer, Gänsefleisch, Selleriesalat und Kaffee. Zu Mittag tischte man Graupensuppe (mit Sauergurken, Möhren und Erbsen) auf, dazu Kartoffelpuffer mit Lachspaste, Roastbeef, gebratene Hähnchenbrust, Birnen in Sherry und Kuchen mit Preiselbeeren und Zuckerguss. So gesehen aß die Zarenfamilie zwar ausgesucht, aber insgesamt eher bescheiden. Das alles wissen wir von Alexandra L., der Urenkelin eines Angestellten des letzten Zarenkochs, die die Geschichte Ivan Charitonows hütet und dem polnischen Journalisten Witold Szabłowski zum ersten Mal verrät. Charitonow war der erste und der letzte Russe als Zarenkoch und dies auch zum Schluss der Zarenära, nachdem der letzte Franzose den Petersburger Hof in den Wirren des Weltkriegs und der Revolution verließ. Von da an ging es mit dem imperialen Menü eher abwärts, die Familie musste zwar nicht hungern, bis es in Jekaterinburg, wohin die Bolschewiki sie verbannt hatten, dann so schlecht war, dass Charitonow auf der Straße um Nahrungsmittel für den Zaren betteln musste. Nach Aussagen aus der Umgebung des Zaren hat ihn die Oktoberrevolution ziemlich wenig interessiert, erbost war Nikolaus II. nur wegen der Plünderung und Zerstörung der Kellervorräte an Wein und ausgesuchten Alkoholika. Der Koch und der Butler gehörten zum Zaren wie die engsten Familienmitglieder, das erkannten die Bolschewiki auch so an und ließen die beiden gleich nach dem Zaren töten, erst danach die Zarin, ihre Zofe und die Kinder. Nachdem die Leichname übereinander in eine Grube geworfen wurden, war es nach der Exhumierung (erst 1990, nach dem Fall der UdSSR) unmöglich, die Gebeine Nikolaus II. und die seines Kochs Charitonows eindeutig zu identifizieren. "So liegt der Koch mit dem Zaren in einem Sarg, symbolisch, nicht wahr?", fragt Alexandra Z.Die russische Küche hatte es von nun an unter den Kommunisten schwer. Bis zum Fall der Sowjetunion hatte das beinahe 200 Millionen Menschen zählende "Volk" immer mit einem Ernährungsproblem zu kämpfen, die verstaatlichten Betriebe (Kolchosen und Sowcosen) fielen in der Produktivität so rasant zurück, dass Geschäfte eigentlich zu keiner Zeit genügend Ware angeboten, um den Menschen einen Essgenuss zu bieten. Von nun an durften nur einige Wenige über üppige Tische verfügen – im ganzen Land wurde die Ernährungssituation zum Politikum. Schuld daran waren die politischen Vorgaben – die rücksichtslose Kollektivierung, die Wegnahme des Saatguts, die Verbannung der Bauern aus der Ukraine nach Sibirien, die Veruntreuung in den staatlichen Betrieben, die räuberische Naturausbeutung und die politisch bedingte Verteilungspolitik, genauso wie z. B. der Getreideexport zu Hungerszeiten.Dabei aßen die kommunistischen Revolutionäre wenig, wie Lenin zum Beispiel, der sein Leben lang über Magen- und Verdauungsprobleme klagte. Auch Stalin war kein Gourmet, ihm reichten schon einfache Speisen wie Graupen mit Buttermilch. Erst mit der Zeit holte er Köche aus seiner georgischen Heimat in den Kreml samt den südländischen Sorten von Obst und Gemüse, wie in Russland bis dahin eher unbekannte Zucchini, Tomaten, Auberginen oder Paprika. Bei Lenin soll das Weißbrot an seiner gesundheitlichen Misere schuld gewesen sein. Die Uljanows, so die Erzählung, folgten der bürgerlichen Weißbrot-Mode, die im Schwarzbrot enthaltenen Mineralien und Ballaststoffe hatten sie aber kaum durch andere Speisen ergänzt und so waren Magenprobleme vorprogrammiert. Lenins Mutter, eine Wolga-Deutsche, achtete dabei auf Sauberkeit und vor allem auf Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit bei der Ernährung. So soll Wladimir Ilitsch ärgerlich geworden sein, wenn Gäste sich verspäteten und dadurch feste Mahlzeiten verschoben werden mussten. Er war kein Snob, aß, was man ihm auftischte, es ist nicht überliefert, was und ob ihm irgendetwas mal besonders schmeckte. Nach der Revolution wohnte Lenin in Gorki bei Moskau, um seine Gesundheit aufzubessern. Dort hatte er eine eigene Köchin mit Namen Schura. In der Sowjetunion durfte man nicht davon sprechen, dass Lenin eine Köchin hatte, offiziell kochten seine Schwester oder seine Frau Nadeschda Krupska.Auch Stalin hatte zunächst kein Händchen für die Küche. Auch fürs Aufräumen nicht. Als er, vom Zaren wegen revolutionärer Umtriebe nach Sibirien verbannt, eine Hütte mit Swerdlow und Kamenew teilte, zeigte sich schnell, dass er nicht vorhatte, etwa wie alle anderen im Wechsel zu kochen, geschweige denn zu spülen. Nur für die Jagd konnte er sich erwärmen. Später in Moskau, schon als Funktionär und Parteisekretär, aß er tagein tagaus in der Kreml-Mensa. Aber es sollte anders kommen, was Szabłowski in Stalins Heimat Gori von Iwan Aliachnow, dem Nachkommen einer georgischen Gastronomenfamilie erfährt. Iwans Stiefvater Alexander Egnataschwilli war ein umtriebiger Unternehmer in der kurzen wirtschaftsliberalen Zeit der 1920er Jahre gewesen (der sogenannten NEP-Ära). Er führte in Tiflis mehrere Restaurants und eine Weingroßhandlung. Den wirtschaftlichen Erfolg legte er seiner aus Thüringen stammenden Nachbarin Liliana zu Füßen, die er aber erst nach dem Tod ihres Mannes ehelichen konnte. Alex kannte auch "Keke", Stalins Mutter, die in jungen Jahren bei seinem Vater als Köchin aushalf. Iwan beteuert, dass Alexanders Leben nicht spannender hätte sein können - im guten wie im schlechten Sinne. Nach der neuen Parteidevise nach dem Ende der NEP-Politik sollten alle Privatunternehmer durch Steuern drangsaliert werden. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Alex kam wegen Steuerschulden ins Gefängnis, von wo er von "Keke" gerettet wurde. Kurze Zeit danach ging er mit Liliana nach Moskau. Stalin empfing ihn freundlich und gab ihm eine Anstellung als Chef eines Partei-Erholungsheimes auf der Krim. Später übertrug er ihm die Leitung seiner Datscha in Kunzewo bei Moskau, wo Alex auch für ihn kocht. Stalin aß damals einfach, zu seinem 50. Geburtstag tischte er z.B. "nur" eine rustikale Sauerkrautsuppe mit Kalbsfleisch auf. Irgendwann fragte er Stalin, ob ihm die georgische Küche nicht fehlen würde. Szabłowski schreibt: "Der Wechsel der Küche brachte Stalin viel Freude". So kamen Farbe und Vitamine auf dem Tisch des Diktators.Aber der Parteichef hatte seine tagtäglichen Marotten und Phobien. Eine davon war die Angst, vergiftet zu werden. So wurde Alex, der selber zwar immer weniger kochte, zum "Versuchskaninchen", der Stalins Mahlzeiten kostete. Alle Nahrungsmittel wurden vor Ort, d.h. in Kunzewo angebaut, ebenfalls wurden dort alle zum Verzehr bestimmten Nutztiere gezüchtet, Fische kamen aus dem eigenem Teich. Iwan Alichanow erzählte Szabłowski noch die Geschichte seiner unglücklichen Mutter Liliana, die um nichts in der Welt Alex und die Sowjetunion verlassen wollte, als dieser sie vor dem deutsch-sowjetischen Krieg warnte und sie nach Deutschland schicken wollte. Liliana geriet als Deutsche in den Sog "antifaschistischer" Propaganda und einer allgemeinen Anti-Spion-Psychose. Und selbst Alex, Stalins Koch und Vertrauter, konnte ihr nicht helfen… eine dramatische, tragische Geschichte.An Dramatik sind jedoch einige weitere Fragmente, welche die Zeit des Hungertodes in der Ukraine und des Zweiten Weltkriegs behandeln, nicht zu übertreffen. Nicht erst seit dem aktuellen Getreideabkommen mit der Ukraine weiß man, was es bedeutet, wenn Russland der Welt mit Hunger droht. Schon früher wurde dort nämlich mit Nahrungsmitteln Politik gemacht. Die Welt merkte davon wenig oder wollte sich damit nicht befassen. Linke Intellektuelle besuchten die Sowjetunion in den 1930er Jahren, die Allermeisten davon waren von den schnellen Errungenschaften der jungen Sowjetmacht begeistert. Die andere Seite der Medaille – dass es sich bei den Erfolgen um Sklavenarbeit im Gulag-System handelte, wollten diese Menschen nicht wissen. So gehören die Kapitel über Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine, die zum Raub der Lebensmittelreserven und Saatgut und zur Verbannung der "Kulaken" nach Sibirien führte, zu den dramatischen Momenten der in der Regel verschwiegenen Geschichte des Sowjetstaates. Über den "Holodomor" durfte man in der Sowjetunion nicht sprechen und auch der Westen war nicht interessiert, brauchte dieser Stalins UdSSR doch zunächst als Verbündeten im Kampf gegen Hitler-Deutschland. Damals starben Millionen Ukrainer auf den ertragsreichsten landwirtschaftlichen Gebieten der Welt. Der Hungertod war auch im Zweiten Weltkrieg im Osten Europas allgegenwärtig. Ohne die Nahrungsmittelhilfe der verbündeten Amerikaner ist der schnelle Vormarsch der Roten Armee 1944 wohl nicht denkbar… Und dennoch mussten viele Städte im Krieg hungern, über die Versorgung der Flüchtlinge und der nach Sibirien Vertriebenen machte sich die Sowjetmacht nur allzu wenig Gedanken, wie an anderer Stelle, etwa bei Wiktor Krawtschenko, einem sowjetischen Dissidenten, nachzulesen ist. Und über den Hunger in der Ukraine erzählt der Film von Agnieszka Holland "Mr. Jones", der allerdings in Deutschland kaum Erfolg hatte.Und was geschah nach dem Krieg? Auch da blieb die sowjetische Landwirtschaft hinter den Erwartungen der Gesellschaft, aber auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern zurück. Für die festlich hergerichteten Tafeln im Kreml hatte das keine allzu große Bedeutung, wie Viktor Belajew, einer der erfahrensten Chef-Köche im Kreml berichtet. Er kochte für Breschnew, Gorbatschow, Jelzin und Putin, dabei kannte er die Geheimnisse der Kreml-Küchen wie kein anderer. Belajew teilt die dortigen Köche in "allgemeine" und "personengebundene". So hatten die hohen Persönlichkeiten in Staat und Partei ihren eigenen Koch, der vom KGB abgeordnet war. Mit dem Ableben "seines" Prinzipals oder im Falle dessen politischen Karriereknicks waren sie ebenfalls verpflichtet zu gehen. Viktor war ein "allgemeiner" Koch, der bei großen Empfängen in der Breschnew-Ära tätig war, auch für den polnischen Parteiführer Edward Gierek. In Moskau gab es damals keine exotischen Früchte oder Gemüse, viele ausländische Gäste brachten eigene Köche und Vorräte mit. "Das Einzige, was die Polen mitbrachten, das waren die Würste, solche hatten wir in der Sowjetunion nicht!", so Viktor im Gespräch mit Szabłowski. Mit Wehmut erinnert er sich an die üppig ausstaffierten Tafelrunden bei Breschnew: "Die Kreml-Tische – das ist eine Geschichte für sich, es gab eine ganze Dekor-Philosophie, damit waren auch -zig Leute beschäftigt. Das Wissen, das sich seit der Zarenzeit mehrte, hatte damals seinen Zenit erreicht. Auf den Tischen standen hübsch dekorierte Störe, versilberte Schüsseln mit schwarzem und rotem Kaviar, Krabbensalat, alle Arten von Fleisch und Fisch", so Belajew. Merkwürdig dabei war irgendwie doch die Anknüpfung an die "Dekadenz" der Zarenzeit, da doch die Parteifunktionäre Chruschtschow und Breschnew aus kleinen ukrainischen Dörfern bzw. Kleinstädten stammten. Nach offiziellen Anlässen wurden sie dann noch von ihren "persönlichen" Köchen bekocht und nicht selten mit einfachen Stampfkartoffeln mit Buttermilch beglückt.Szabłowski geht noch weiter – über die Ära Gorbatschow, der die übertriebene Üppigkeit Kremlscher Ess- und Trink-Rituale wieder abschaffte, über den alkoholkranken Jelzin bis hin zu Putin und dessen Großvater Spiridon, der Koch in einem Sanatorium gewesen sein soll. Dieser hätte sein Fach noch zu Zarenzeiten absolviert, so Putin in einem Zeitungsgespräch in den 1990er Jahren, kurz bevor er zum ersten Mal für das Amt des Präsidenten kandidierte. Später soll sein Großvater bei Lenin in Gorki und in einer Stalin-Datscha gekocht haben, aber beweisen lässt sich das nicht. Szabłowski merkt, dass das Thema schwierig ist und bekommt als Antwort von einem seiner Gesprächspartner: "Wenn der Präsident sagte, dass sein Großvater hier arbeitete, dann bin ich sicher, dass solche Nachweise bald ans Tageslicht kommen", sagte er, der anonym bleiben will. Anonym bleiben? Ja, in Putins Russland gilt nach wie vor die Devise, dass man lieber zu wenig als zu viel sagt.Und dennoch liest sich das Buch prächtig, da der Autor ein Meister seines Fachs ist und bleibt. Es gelingt ihm auch noch, Frauen zu finden, die nach der Katastrophe von Tschernobyl dort für die Rettungsmannschaft kochten, oder Frauen, die in Afghanistan in der Armee-Mensa tätig waren.Kaluzas Pflichtlektüren befassen sich meistens mit polnischen Büchern, die ich gerne auf Deutsch sehen würde, bei diesem Buch ist es anders, es ist soeben übersetzt worden und es wird gerade gedruckt! Das spannende (Koch)-Buch erscheint zur Frankfurter Buchmesse im Katapult Verlag, die Übersetzung besorgte Paulina Schulz-Gruner, ich wünsche dem Buch viel Erfolg!
Der 'Avantgardefilm' – ein vielfach gebrauchter Begriff um innovative Kunstströmungen zu verorten, die ihrer Zeit voraus sind. Der 'Avantgardefilm'– ein vielfach missbrauchter Begriff um bestimmte Kunstwerke zu nobilitieren und von anderen Werken abzuheben. Dieses theoretische Korsett bricht Gabriele Jutz mit ihrer nun veröffentlichten Habilitationsschrift Cinéma brut. Eine alternative Genealogie der Filmavantgarde auf und kreiert mit äußerster Präzision einen neuartigen Blickwinkel im verhärteten 'Avantgardefilm-Diskurs'. Zum Einstieg rekapituliert Jutz die bis dato dominanten Avantgardetheorien des "Purismus", deren Programm es ist die 'Reinheit' des Mediums Film in Abgrenzung zu anderen Künsten als wichtigstes Kriterium zu etablieren. Angefangen bei den historischen Filmavantgarden der 1920er Jahre, wie dem anti-literarischen 'cinéma pur' und dem auf Abstraktion ausgerichteten 'absoluten Film', die sich radikal von der damals im Film vorherrschenden literarisch-theatralen Tradition abgrenzten, verfolgt sie den Diskurs weiter über die US-amerikanische Avantgarde nach 1945 bis in die Gegenwart. Hierbei liegt ein besonderes Augenmerk auf dem in den 1960er von P. Adam Sitney propagierten 'structural film'. In diesem, auf die Prinzipien der von Clement Greenberg formulierten, modernistischen Malerei zurückgreifenden Begriff, wird die 'Essenz' eines Films – und damit dessen avantgardistisches Potential – anhand der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den materiellen und apparativen Voraussetzungen des Mediums gemessen. Jutz kritisiert am puristischen Diskurs – zurecht – folgende Punkte: Zum einen zeigt sie auf, dass die zum structural film gezählten Filme der 1960er und 1970er wie Film in Which There Appear (1965-66) von George Landow oder Arnulf Rainer (1960) von Peter Kubelka nie dem von der Theorie konstatierten Grad des Purismus entsprechen, zum anderen thematisiert sie "die erstaunliche Selbstverständlichkeit, mit der so offensichtlich 'unreine' Filmpraktiken wie das 'expanded-cinema' oder der 'found-footage-Film' in das Schema einer puristisch-modernistischen Lektüre gepresst werden" (S. 35). Wie schon der Titel des Buches verrät, begnügt sich die Autorin aber nicht damit, den vorgegebenen tradierten Purismus-Diskurs in Frage zu stellen und zu erweitern. Sie entwickelt eine alternative, "brutistische" Betrachtungsweise – 'brut' im Sinne von roh, primitiv, unbearbeitet unverfälscht und natürlich –, die darauf abzielt "die Geschichte der Filmavantgarde von einem entgegengesetzten Blickwinkel neu aufzurollen: nicht als Endlosschleife eines 'cinéma pur', sondern als Geschichte eines 'cinéma brut'." (S. 12) Ihr Ansatz legitimiert sich durch eine subtile Methodologie, mit deren Hilfe sie drei spezifisch dem puristischem Avantgardefilm zugeordnete "Praktiken" (Jutz) unter neuen Gesichtspunkten untersucht: Arbeiten des 'direct films', eine Animationstechnik bei der direkt auf dem Filmstreifen gearbeitet wird – nicht zu verwechseln mit der Dokumentarfilmform 'direct cinema' –, der 'expanded-cinema-Aktion', in welcher die Grenzen des kinematographischen Apparats wie Kinosaal, Leinwand, Filmstreifen etc. radikal ausgelotet und erweitert werden, sowie des 'found-footage-Films', bei dem FilmkünstlerInnen 'gefundenes' Filmmaterial auf verschiedenste Weise in neue Arbeiten transformieren, erfahren einen Kurzschluss mit unterschiedlichsten Theorien und Praxisfeldern aus Kunst-, Film- und Medientheorie. Jutz bewegt sich dabei konsequent fernab romantisierter Vorstellungen, die brutistische Kunstpraktiken "jenseits der Zeichen" (S. 43) bzw. frei von kulturellen Konventionen ansiedeln. Verweisend auf die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce und deren Unterscheidung von Ikon, Symbol und Index sowie auf das "photographische Paradigma" von Rosalind Krauss verortet sie die drei genannten Praktiken des cinéma brut in der Nähe des traditionellerweise als 'primitiv' rezipierten Index. Als 'roh' wird das cinéma brut von Jutz auch wegen seiner Vorliebe für obsolete – also nicht mehr gebräuchliche – Techniken und Materialien bezeichnet. Sie bricht dabei bewusst mit dem in vielen Avantgardetheorien gesetzten, verabsolutierten Fokus "auf das Neue, den Bruch mit Traditionen" (S. 55) beziehungsweise auf die Verwendung von neuen künstlerischen Werkzeugen und Techniken. Der Argumentation von Bernd Hüppauf und Vivian Laska folgend, sollten Avantgarden vielmehr in einer generellen Opposition zu ihrer Gegenwart stehen und der "Begriff des Unzeitgemäßen in beide zeitliche Richtungen – Zukunft und Vergangenheit – gedacht werden" (S. 55). Die Autorin öffnet damit generell den Raum für viele innovative, bis dato nicht dem Avantgardefilm zugeordnete Filmwerke, deren Status in weiterer Folge neu bewertet werden sollte. Bezogen auf die Praktiken des cinéma brut bedeutet dies zum einen eine "technische Obsoleszenz", denn weder direct film, noch expanded-cinema-Aktion und in gewisser Weise auch der found-footage-Film bedürfen zwingend einer Kamera. Sie unterschreiten damit bewusst die technischen Möglichkeiten der filmischen Apparatur. Einen zweiten Punkt stellt die "materielle Obsoleszenz" dar, unter der einerseits eine vorsätzliche Materialbeeinträchtigung bzw. Materialzerstörung im direct film, andererseits der prekäre Zustand von vorgefundenem Filmmaterial im found-footage-Film zu verstehen ist. Als dritten Aspekt des "Obsoleten" bezeichnet Jutz in Anlehnung an Walter Benjamins Passagenwerk "Das utopische Potential des Unzeitgemäßen", welches besagt, dass neuartige Materialien und Technologien immer Sehnsüchte und kollektive Phantasien von Gesellschaften wecken, diese aber im Laufe der Zeit verloren gehen. Erst wenn im Zuge weiterer technischer Neuerungen Dinge wertlos geworden sind, besteht die Möglichkeit, verloren gegangenen Utopien in neuer Form wiederzuerwecken. Positiv hervorzuheben ist außerdem, dass Jutz in ihrer Annäherungsweise das Naheverhältnis des Avantgardefilms zur bildenden Kunst im Auge behält. So beschreibt die Autorin im Rahmen ihrer Verhandlung des filmtheoretischen Materialitätsbegriffs zunächst das Verständnis von Materialität in Malerei und Skulptur, bevor sie sich zentralen Positionen der Filmwissenschaft zuwendet und stellt – wieder zurecht – die Frage, warum die Theorie der Filmavantgarde immer noch so krampfhaft am Diskurs des structural films und damit am Purismus festhält, während die bildende Kunst und in Folge die Kunstwissenschaft sich schon längst einem postmodernen Diskurs zugewandt hat. Auf semiotischer Ebene bezieht sich Jutz unter anderem auf Theorien von Peter Wollen, der zwei Strömungen der Avantgardetheorie isoliert: eine "formale", selbstreflexive Strömung, die ihr Augenmerk auf den Signifikanten legt, und eine "literatisch-politische" Avantgarde, dessen zentrale Forderung es war "in gleichem Ausmaß ideologiekritische Inhalte zu transportieren wie bürgerliche Repräsentationsweisen zu brechen" (S. 95). Laut Wollen stellt diese Spaltung der Avantgarde das größte Hindernis für eine revolutionäre Filmpraxis dar. Jutz präzisiert Wollens Ausführungen dahingehend, dass der Film – ungleich der Malerei und der Literatur – nicht nur aus einer, sondern fünf Ausdruckssubstanzen (Bild, Ton, Bewegung, Licht, Montage) besteht. Eine Disjunktion ist daher nicht nur zwischen Signifikat und Signifikant, sondern auch zwischen den verschiedenen Kanälen des Mediums Film möglich. Weitere zentrale Anknüpfungspunkte der sehr ausführlichen allgemeinen theoretischen Verortung des cinéma brut sind unter anderem Roland Barthes' Die Rauheit der Stimme und John L. Austins Theorie des Sprechaktes, George Batailles Entwurf des "informe" sowie Michel Foucaults Dispositiv-Begriff. Nach der übergreifenden Neu-Kontextualisierung widmet sich Gabriele Jutz schließlich noch einmal den einzelnen Praktiken ihres filmtheoretischen Paradigmas: Wie zuvor erwähnt, verortet die Autorin das cinéma brut in der "Logik des Index", auf dem, wie Rosalind Krauss' in den 1970er Jahren provokant formulierte These verlautete, "die innovativsten Tendenzen in der modernen Kunst" basieren. (S. 154) Der direct film ist an den "Index als Spur" gekoppelt. Dabei unterscheidet die Autorin in weiterer Folge zwischen 'handmade' Filmen wie Su Friedrichs Gently Down the Stream (1981), die durch ein vorapparatives, Kratzen, Schaben, Stanzen, Bemalen, Ritzen oder Sich-Abdrücken manuell entstehen und 'autogenerativen' Filmen wie Stadt in Flammen (1984) des Künstler-Kollektivs Schmelzdahin, bei denen die Autorinstanz von äußeren Einflüssen wie der Witterung, Chemikalien oder Hitze getragen wird. Erwähnt sei auch die Nähe des direct film zu den von Nelson Goodman als "autographisch" klassifizierten Künsten wie Malerei, Druck oder Bildhauerei, bei der einerseits die Hand des/der KünstlerIn notwendig ist und andererseits Kategorien wie Original und Fälschung eine Rolle spielen. Im Rahmen der expanded-cinema-Aktion hingegen fungiert der "Index als Geste". Losgelöst aus der Klammer des strukturellen Films streicht Jutz die ursprüngliche Definition des expanded-cinemas hervor: "Mit seinen Wurzeln im künstlerischen Underground war das expanded-cinema ursprünglich Ausdruck einer Haltung, die vergleichbar mit jener der klassischen Avantgarden, eine Synthese von Kunst und Leben, von ästhetischer und politischer Fortschrittlichkeit anstrebte." (S. 162) Die Autorin begnügt sich nicht damit, die Erweiterung des Kinos in Richtung Theater zu beschreiben, sondern arbeitet die oppositionelle Stellung der expanded-cinema-Aktion zu textbasierten, theatralen Inszenierungen heraus. Wie am Beispiel von Nam Jun Paiks Zen for Film (1962-64) gezeigt wird, tritt die 'performative' Funktion, also der Vollzug der Handlung gegenüber der 'referentiellen' Funktion, also die Darstellung von Figuren, Handlungen etc., in den Vordergrund. Eine weitere Abgrenzung erfolgt gegenüber der kinematographischen Installation. Merkmale, die die expanded-cinema-Aktion als Praktik des cinéma brut erkennen lassen, werden unter anderem an Batailles Konzept der "Antiökonomie" festgemacht. Ein weiteres Kriterium ist die "Flüchtigkeit des performativen Aktes, seine Unwiederbringlichkeit" (S. 165), die Jutz als Zeichen der Obsoleszenz deutet. Wichtig ist zudem die Referenz auf vorhergehende (filmische) Diskurse und Praktiken, wie am Beispiel von VALIE EXPORTs TAPP und TASTKINO (1968) veranschaulicht wird, und die Hervorhebung "deiktischer" Gesten. Den found-footage-Film setzt Gabriele Jutz schließlich mit dem "Index als Relikt" in Beziehung. Kriterien für einen solchen sind einerseits, dass das Ursprungsmaterial nicht von den FilmemacherInnen selbst belichtet wurde, andererseits spielt – anders als beim Archivfilm oder beim Kompilationsfilm – die "niedere Herkunft des Materials" (S. 175) eine Rolle. Dieses wird durch eine künstlerische Verwendung aufgewertet. Die Indexikalität des found-footage-Films verweist auf die zeitliche Distanz zwischen dem Akt der Belichtung und der Verwendung des Materials. Gleich einem Relikt oder einer Ruine sind im Filmmaterial die Spuren historischer Differenz eingeschrieben. Der zitierende, resignifizierende Akt dieser brutistischen Praktik sprengt zudem das Material aus seinem ursprünglichen Kontext und eröffnet kritische Blickwinkel auf (massen)kulturelle Artefakte. "Dieses destabilisierende, entropische Potential, das der Wiederholung grundsätzlich innewohnt, manifestiert sich im 'found-footage-Film' einerseits durch eine Wuchern von Bedeutung, zum anderen durch die Vervielfachung von Autorpositionen." (S. 181) Gabriele Jutz setzt in ihrem Buch einen längst überfälligen Impuls in der Avantgardefilmtheorie. Ausgezeichnet recherchiert, erarbeitet sie ihre Genealogie einerseits eng an filmischen Gegenständen, andererseits durch ihre souveräne Zusammenführung klassischer film-, medien- und kunsttheoretischer Begrifflichkeiten. Stilistisch auf höchstem Niveau formuliert, sind die Grundzüge des cinéma brut leicht nachvollziehbar. Bei der detaillierten Argumentation erweisen sich gewisse Grundkenntnisse von Avantgardetheorien und Semiotik aber mit Sicherheit als Vorteil. Die ausführlichen Exkurse in verschiedenste Theorie- und Praxisfelder mögen vielleicht an manchen Stellen des Buches als Ablenkung vom eigentlichen Forschungsgegenstand erscheinen, zeigen jedoch die Anschlussfähigkeit der von Jutz entworfenen, alternativen Avantgardefilmtheorie. Die Autorin erstellt zudem bewusst keinen abgeschlossenen Kanon an 'brutistischen' Filmwerken, sondern gibt Einblick in die Reichweite ihrer Theorien, indem sie im zweiten Teil des Buches den Blick auf exemplarisch ausgewählte Arbeiten wirft. Beispiele wie Vita Futurista (1916), Len Lyes A Colour Box (1935), Isidore Isous Traité de bave et d´éternité (1951), Su Friedrichs Gently Down the Stream (1981) oder Peter Tescherkasskys Dream Work (2001) bilden einen Querschnitt der europäischen und US-amerikanischen Filmavantgarde vom frühen Film bis zur Gegenwart. Nicht eine lineare Skizzierung einer neuen Avantgardefilmtradition ist das Ziel. Es "soll anhand signifikanter Bespiele ein Feld abgesteckt werden, das ermöglicht, das Verwandte im scheinbar Unterschiedlichen hervortreten zu lassen." (S. 22) Grund genug im Anschluss an dieses Buch weitere Filme mit den Praktiken des cinéma bruts zu analysieren und in dessen Kontext zu bringen.
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Im März 2023 fand ich das Buch in der Post. Der Herausgeber schrieb, dass es zum 80. Jahrestag des Warschauer Gettoaufstands von 1943 erscheint, eine Auftragsarbeit aus gegebenem Anlass vielleicht? Das Buch war dick und schwer, der Klappentext sprach von einer "geheimnisvollen und schwer zu fassenden" Persönlichkeit. Ich legte das Buch zunächst auf meinen "zum Erledigen"-Stapel, denn die 500 Seiten schluckt man nicht an einem Nachmittag. An diesem Text habe ich also lange geschrieben, das Buch immer wieder angelesen, weggelegt, dann wieder vom Neuen angefangen. Marek Edelman, einer der Befehlshaber beim Gettoaufstand, wird im Motto des Buches zitiert – die Biografie der Protagonistin sei "Stoff genug für einen Sensationsroman". Und tatsächlich bestätigt das Buch die geläufige Wahrheit, dass die besten Geschichten das Leben selbst schreibt, denn auch Hollywood würde dieses Drehbuch nicht spannender, widersprüchlicher, tragischer erdenken können. Drei Leben bescheinigt der renommierte Autor Remigiusz Grzela der sich als italienische Lyrikerin ausgebenden Irena Conti di Mauro, die er jahrelang persönlich kannte und als Autorin schätzte. Erst später erfuhr er von der Mystifikation, die nur wenigen Eingeweihten bekannt war, die aber Irenas Entscheidung, die Vergangenheit radikal hinter sich zu lassen, respektierten. Denn sie setzte alles daran, ihrer jüdischen Familie, den Verwandten und Bekannten zu entsagen und baute neue Identitäten auf. Grzela stellt uns die drei Gesichter von Irena vor – als jüdische Kämpferin Irena Gelblum, als polnische Journalistin Irena Waniewicz und als italienische Lyrikerin Irena Conti di Mauro. Die im Buch zu Sprache kommenden Stimmen von Irenas Freunden und Wegbegleitern vermitteln den Eindruck, dass es möglicherweise noch weitere Identitäten gab.Entmystifizierung einer HeldinRemigiusz Grzela, Autor mehrerer Biografien, Lyriker, Publizist und literarischer Leiter am Jüdischen Theater in Warschau, publizierte bereits 2014 die Biografie "Irenas Wahl" (Wybór Ireny), die aber wegen eines gegen seinen Verlag angestrengten Prozesses nicht erscheinen bzw. nicht verkauft werden durfte. Der Grund waren einige dort veröffentlichen Briefe, deren Absender Simcha Rotem (Kazik) mit ihrer Publikation nicht einverstanden war. Auch das vorliegende Buch, so Grzela, sei eine Gratwanderung, denn es entlarvt Irenas zahlreiche und langjährige Versuche, über ihre Vergangenheit zu schweigen, alten Bekannten zu entsagen, ja allem zu widersprechen, was sie mit dem Krieg und mit ihrer jüdischen Herkunft in Verbindung gebracht hätte. Nur ganz wenige Freunde wussten, wer sie wirklich war. Und Grzela ist nicht der erste, der es wagte, davon öffentlich zu sprechen. Während sein Buch nicht verkauft werden durfte, erschien 2014 in einer Beilage zur "Gazeta Wyborcza" ein Gespräch mit Marek Edelman, der die wahre Identität der damals als polnisch-italienischen Poetin wahrgenommenen Irena Conti di Mauro als jüdische Heldin enttarnte. Aber welche Identität war wirklich "wahr"? Durfte Edelmann, eine Galionsfigur des jüdischen Widerstandes, der Solidarność-Bewegung und landesweit anerkannte Autorität das tun? Auch Grzela fragt sich, ob er das Recht habe, an der Dekonstruktion von Irenas Mystifikationsversuchen mitzuwirken. Er tut es, nicht nur um zu verstehen, warum sie wann welche Entscheidungen traf, sondern um eine tragische Persönlichkeit zu porträtieren, die es verdient, nicht vergessen zu werden. Übrigens: 2019 wurde im Zentrum Warschaus eine Wandmalerei mit neun jüdischen Kämpferinnen am Eingang zu einer Metrostation angebracht, eine von ihnen ist Irena.Es ist keine einfache Aufgabe, den roten Faden im Buch nicht zu verlieren – weder für den Leser noch für den Autor, bleibt die Protagonistin dieses Buches doch immer in Bewegung, mal in die eine, mal in die andere Richtung, mal verschwindet sie ganz, stellt sich stumm. Grzela wagt nun ein riskantes Unterfangen mit den Lebensstationen der Protagonistin. Seine Annahmen, Thesen, Rechtfertigungen untermauert er durch Aussagen von Freunden und Bekannten Irenas, manch einen Strang, der zufällig erscheinen mag, führt er gekonnt fort, vertieft, um den Kontext von Irenas Entscheidungen zu erklären. Denn über allem schwebt der Wille zum Verdrängen, zum Vergessen, zur Nichtexistenz. Nach dem Krieg bestritt Irena, die jüdische Kämpferin gewesen zu sein, die alle kannten: Mitstreiter in Getto wie Marek Edelman, Kazik Ratajzer, Cywia Lubetkin, Antek Cukierman. Sie mied Kontakte mit jedem, der sie mit Juden oder mit dem Getto in Verbindung bringen konnte. Sie ließ alles ändern, den Namen, das Geburtsjahr, die Nationalität, selbst die Stimme. Wie in einem Sensationsroman entfaltet der Autor die immer wieder neuen Bilder ihrer Identität.Verbindungsfrau im UntergrundRemigiusz Grzela: "Der Biograf kann nur Ärger verspüren, wenn er jahrelang keine Spuren finden kann. Ich weiß nicht, was mit Irena los war, außer, dass sie mit Eltern und Bruder ins Getto kam. Sie erscheint 1943 als eine der Jungen und Mutigen, die (…) beschlossen haben, in den Untergrund zu gehen und Widerstand zu leisten" (91). Wer Irena vorher war – das weiß der Autor nicht genau, er kann niemand mehr fragen. Das Geburtsdatum ist nicht sicher, wahrscheinlich 1923 (in vielen Dokumenten machte sie sich jünger und gab 1925, 1931 ja sogar 1939 an!). Verbürgt ist ihre bürgerliche Herkunft, ihr Großvater Wolf Kronenberg war Kaufmann und Landbesitzer, dem u.a. ein bekanntes Mietshaus in der Złota-Str. in Warschau gehörte ("Pekin" genannt, heute "Kamienica Wolfa Kronenberga"). Grzela fragt zunächst nach der Motivation der jungen Menschen, die sich für den Kampf entschlossen haben. Er findet Irena auf einem Foto aus den späten 1930er Jahren, wo sie Ferien in einem jüdischen Sanatorium bei Warschau verbringt. Auf dem Bild ist auch der junge Marek Edelman zu sehen, es handelt sich wahrscheinlich um ein Ferienlager der sozialistischen BUND-Jugend. Viele der späteren Angehörigen der Jüdischen Kampforganisation (Żydowska Organizacja Bojowa, ŻOB) waren vor dem Krieg in linken jüdischen Jugendorganisationen sozialisiert. Es kann sein, dass diese Kontakte für Irenas Entscheidung, in den Widerstand zu gehen, daher rührten. Sie kam 1943 aus dem Getto heraus, um der ŻOB auf der anderen Mauerseite zu dienen: Geld beschaffen, Verstecke organisieren, Kontakte pflegen, Nachrichten überbringen. Edelman nannte sie "Irre Irka" wegen ihres Mutes und wegen ihres irren Glücks bei den zahlreichen Aktionen. Kazik, ihr damaliger Freund: "Nach dem Getto-Aufstand hatten wir wenig Menschen zur Verfügung (…) Eine Frau konnte sich einfacher bewegen als ein Mann. Zu Frauen pflegte man einen anderen Umgang. Selbstverständlich zu Polinnen, darunter auch zu Jüdinnen, die sich als Polinnen ausgaben" (103). Im November 1943 erfährt Irena vom Tod ihrer Eltern und ihres Bruders Władek, ihre Welt bricht zusammen. Auf einem Foto von Władek steht ein Datum, ein möglicher Todestag, aber es gibt keine gesicherten Daten, nicht einmal, dass Irena einen Bruder hatte. Handschrift auf der Rückseite: "Ich liebe nur euch und niemand mehr. Und wenn ich sage, dass ich zu jemand anderem Gefühle hege, lüge ich". (181) Irena ist von nun an bereit, sich aktiv am Widerstand zu beteiligen, ja sich zu rächen.Was bedeutete eigentlich "Verbindungsfrau"? Das Wort beinhaltete "Gefahrgut"-Transporte von illegalen Waffen, Menschen, Dokumenten. Edelman nannte sie irre. Im Zugteil "Nur für Deutsche" gab sie sich mehrmals als Deutsche aus, einmal schlief an einem Offiziersarm ein. Sie ging über die grüne Grenze nach Będzin, damals im Deutschen Reich, befreite dort nach einer abenteuerlichen Aktion eine Mitstreiterin aus einem Arbeitslager. Sie hielt Kontakt zu Widerständlern in Krakau, Lublin, Tschenstochau. Im Warschauer Aufstand (1944) entkam sie um Haaresbereite dem Tod, als sie in einem Himmelfahrtskommando das Organisationsarchiv aus einem von der ŻOB aufgegebenem Versteck holen sollte. War das "irre" genug? Aber das sind Aussagen von anderen, denn Irena spricht nicht, verdrängt, streitet ab. Grzela sagt, dass Biografien dieser Generation sich "wie Schlingen winden". Einzelne Aussagen klären nicht auf, vielmehr verdunkeln sie das Bild, verknoten, verwirren. Irena löschte ihre eigenen Spuren. Die Zeit lief zu ihren Gunsten, als die Kriegsereignisse zurücktraten, viele Verfasser sich nur lückenhaft erinnerten und Zeugen langsam verschwanden.NachkriegsturbulenzenNach dem Krieg nähern sich Irena und Kazik zeitweise den Ansichten Aba Kowners (Partisan aus Wilna) an, des Anführers der jüdischen "Rächer", einer Geheimorganisation, die plante, Millionen Deutsche nach dem Krieg zu vergiften. Beide wurden 1945 in Bukarest geschult, Rache an Deutschen zu üben. Kurz darauf verlassen sie jedoch Europa und begeben sich auf der "Norsyd" von Marseille nach Haifa. Die Welt kennt die Geschichte der "Exodus" von Uri Orlev, aber kaum jemand kennt die Geschichte der "Bria", eines türkischen Kohlefrachters, der von verzweifelten Juden auf hoher See gekidnappt wurde. Irena war keine Zionistin, es gibt keinen Bericht, der erklärt, warum Irena die Reise auf sich nimmt und in einem Internierungslager landet. Später lebt sie in einem Pionierhaus für unverheiratete Frauen in Haifa, Kazik findet eine Bleibe in Tel Aviv. Aber da waren sie nicht mehr zusammen, Irena verliebte sich mehrere Male, noch mehr "Kandidaten" verliebten sich in sie. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, in der viele Familien in Palästina, später Israel, gegründet werden. Irena kann sich nicht entscheiden, 1946 geht sie überraschenderweise nach Polen zurück.Nach der Rückkehr geht es ihr schlecht. Der englische Offizier, der ihr angeblich folgen sollte, meldet sich nicht, sie selbst wird von körperlichen Schwächen und psychischen Depressionen geplagt, gleichzeitig studiert sie Medizin und arbeitet als Stewardess. Bald darauf lernt sie Ignacy Weinberg kennen, einen Mann, der den Krieg im sowjetischen Mittelasien überlebte und der sich nun als linientreuer Journalist am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beteiligt. Er sah gut aus und vermochte es, Irena zeitweise aus ihren Traumata herauszuziehen. 1950 heiraten sie, aber bevor sie es tun, rät Irena Ignacy, den Nachnamen zu wechseln. Aus Vorsicht, als Schutz vor Antisemitismus? Sie selbst trägt nach der Rückkehr den gefälschten Geburtsnamen "Conti", auch ihr Geburtsdatum lässt sie ändern, die Warschauer Standesamtsakten sind vernichtet, keiner kann das nachprüfen.Nach der Heirat heißt sie Irena Waniewicz, ein Jahr später kommt ihre Tochter Janka zur Welt. Es war keine Liebesheirat, aber Irena und Ignacy sind lange ein Paar und bleiben es auch nach Scheidung und Emigration in Kontakt. Irena leidet oft an Depressionen (bleibt tagelang in stillen und dunklen Zimmern), ihre gesamte Familie bis auf eine Tante und zwei Kusinen war tot, sie pflegt mit ihnen wenig Kontakt. Sie trug in sich nicht nur die Kriegsereignisse und -traumata, auch der Palästina-Aufenthalt blieb eine Belastung, nun kam ein Leben im entbehrungsreichen stalinistischen Polen dazu. Anders als ihr Mann war Irena keine Kommunistin, sie bricht das Medizinstudium ab und arbeitet als Journalistin in der Redaktion von "Nowa Wieś" ("Das neue Dorf"), wo ihre beste Freundin Irena Rybczyńska-Holland Chefredakteurin ist. In dieser Zeit hat Irena viele Liebschaften, darf nach dem "Tauwetter" nach Italien und Frankreich reisen, von wo sie leidenschaftlich für die polnische Presse berichtet und ersehnte Modeartikel nach Warschau bringt.Sie arbeitet gewissenhaft an ihrem Image – hochgewachsen, elegant und eloquent (sie spricht mehrere Sprachen), von Kollegen und Mitarbeitern geschätzt, wirkt sie aber auch oft auf sich bezogen, kühl, unnahbar. Selten gibt sie etwas von sich preis und das niemals öffentlich. Nur einmal spricht sie ungezwungen im Rundfunkstudio von ihrer Tätigkeit als Verbindungsfrau, als ihre "Verwandlung" noch nicht vollständig vollzogen war. Sie weiß bei dem Gespräch nichts von einem heimlichen Mitschnitt, die Sendung wird nicht gesendet. In dieser Zeit erscheinen Memoiren von Irenas Mitstreitern wie Marek Edelman, Władka Meed, Basia Bermanowa-Temkin, Helena Balicka-Kozłowska, aber sie distanziert sich immer mehr von diesem Milieu, nimmt nicht an ihren Treffen teil, unterhält keine Beziehungen mit Ausnahme Marek Edelmans und Kaziks. Für Tochter Janka hat sie nur wenig Zeit und Aufmerksamkeit, oft schickt sie sie zu Nachbarn und Freunden, ihre Identität verrät sie ihr spät und nicht freiwillig. Im Jahr 1968, als in Polen eine antisemitische Hetze losbricht, verliert sie ihren Job, ihr geschiedener Mann Ignacy emigriert nach Frankreich, dann nach Kanada. Viele ihrer Bekannten verlassen das Land, es herrscht Pogromstimmung. Irena hat wie so oft einen anderen Plan: Sie heiratet einen italienischen Korrespondenten Namens Antonio di Mauro und geht mit polnischem Pass nach Italien, während die meisten "März"-Emigranten rücksichtslos aus der polnischen Staatsbürgerschaft entlassen werden. Dabei verliebt sie sich kurz vor ihrer Abreise in einen polnischen Passbeamten, mit dem sie ein neues Leben plant. Das ermöglichen ihr die schnelle Scheidung vom untröstlichen Antonio und den polnischen Vorzugs-Pass, der es ihr erlaubt, Warschau regelmäßig zu besuchen. Stefan R., der Passbeamte, bleibt die nächsten 40 Jahre ihre wichtigste, aber nicht die einzige Beziehung. Auch er wagte es nicht, seine Frau und Kinder für Irena aufzugeben.Doppelleben zwischen Sizilien und WarschauIrena baut sich parallel – in Italien und in Warschau – eine Doppelexistenz im Bereich der Literatur auf: zunächst als italienisch-polnische Lyrikerin, dann auch als Übersetzerin und Beraterin italienischer Verlage und Politik. Für ihre Arbeit erhält sie Preise, sie lernt Schriftsteller wie Jarosław Iwaszkiewicz, Tadeusz Różewicz oder Pater Jan Twardowski kennen, deren Lyrik sie übersetzt und die sie auf Italien-Reisen begleitet, persönlich fühlt sie sich zu Sizilien hingezogen. In Polen gibt sie eigene Lyrikbände heraus und hat Erfolg, reist zu Lesungen und genießt ihren Ruhm in der polnischen Provinz. Vom vorherigen Leben keine Spur, jetzt ist sie eine "in Polen lebende italienische Lyrikerin", bisweilen auch eine italienische "Comtesse", mit der Zeit hält sie sich für eine waschechte Sizilianerin. Im Warschauer Nobelviertel Konstancin baut sie eine Villa, dabei übernimmt sie sich finanziell, was auf Kosten ihrer Gesundheit geht.Grzela verliert im Laufe seiner Erzählung den Glauben, Irena fassen zu können, immer wieder trifft er auf Menschen, die Irena kannten, deren Aussagen aber wenig Licht auf die Motive werfen, die eine solche innere Verwandlung rechtfertigen würden. Tochter Janka meint, sie habe Irenas persönlichen Entscheidungen nie folgen können. Das Verhältnis zur Mutter war durch Scheidung, Emigration und "Abschiebung" ins Internat belastet, später durch Irenas Eifersucht und Besitzergreifung. In der Folge mied Janka ihre Mutter und deren Liebhaber. Zygmunt Warman, Irenas Wegbegleiter aus dem Getto: "Kein einziges Mal begegnete ich jemandem, der seiner Geschichte vollkommen entsagte, diese verheimlichte oder seine Herkunft ganz leugnete. Niemand außer Irena. Hatte sie Angst nach dem Krieg?" (478). Viele konnten nicht verstehen, warum Irena aus Palästina nach Polen zurückkehrte. Ihre Familie war tot, Überlebende gingen in die andere Richtung, wollten in Polen nach dem Krieg und dem Kielce-Pogrom nicht bleiben. Vielleicht ereignete sich damals etwas, wovor sie aus Palästina fliehen wollte oder gar musste?Agnieszka Holland, Filmregisseurin und Tochter von Irena Rybczyńska-Holland: "Wollte ich einen Film über sie drehen, wäre das eine Geschichte über die Flucht vor der Wirklichkeit, die nicht zu ertragen ist. In 'Hitlerjunge Salomon' passt sich der Held den Gegebenheiten an. Immer wieder neue Masken anzuziehen, das wirkt anziehend. Das ist die Geschichte eines der vielen Chamäleons im Krieg. Allerdings war Irena ganz anders, sie bewegte sich konträr zur Wirklichkeit, war mit ihr nicht einverstanden, wollte sie aufheben, um die Kontrolle über sie nicht zu verlieren. So rannte sie gegen die Wand" (495). Hollands Schwester Magdalena Łazarkiewicz: "Sie hatte einen Mut an der Grenze zur Selbstaufgabe. Ich weiß, dass sie dazu ihre Weiblichkeit benutzte. Für mich ist es klar, dass man für so etwas den höchsten Preis zahlt. Sie zahlte es mit späteren Identitäten, das verstehe ich sogar. Aber ich verstehe nicht, warum sie einer solch rühmlichen Karte entsagte" (498). Stefan R., der Passbeamte im Ruhestand, sagt dem Autor vor einiger Zeit, er habe Irena nie gefragt, weder nach dem Alter noch nach ihrer Herkunft, von dem Namen Gelblum erfuhr er nach ihrem Tode: "Für mich war Irena fest da, die Umstände um sie herum waren es nicht." (516).Das Buch verdient es, in andere Sprachen übersetzt zu werden, gerne würde ich es in deutscher Übersetzung sehen, denn Irenas Leben entzieht sich überkommenen Lebenserzählungen vom Krieg, Okkupation und Widerstand. Ein ähnliches Schicksal von "einer Protagonistin, die die Nichtexistenz" wählte, so der Untertitel des Buches, kenne ich nicht. Grzela hat recht: Auch wenn Irena nicht erinnern wollte, ist sie es wert, in Erinnerung zu bleiben.Remigiusz Grzela, Trzy życia Ireny Gelblum. Mit einer Einführung von Norman Davies, Warszawa 2023, 540 S., zahlreiche Abb., siehe auch: https://www.bellona.pl/tytul/trzy-zycia-ireny-gelblum
Gegenstand der Datenkompilation: "Die Geschichte Deutschlands ist nicht erst seit Beginn der Bundesrepublik durch Zu- und Abwanderungen als Massenbewegung geprägt. Migration hat in Deutschland eine lange Tradition. Die Gründe hierfür sind seit Jahrhunderten im Wesentlichen die Gleichen: Das Streben nach einem besseren Leben für sich selbst oder für die Nachkommen, die Furcht vor politisch, ethnisch oder religiös motivierter Verfolgung oder die gewaltsame Vertreibung. Hinzu traten vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts millionenfache Zwangswanderungen während und im Gefolge der beiden Weltkriege." (Sächsisches Staatsministerium für Soziales, www.soziales.sachsen.de/open). Die Einwanderung hat unter demografischen Gesichtspunkten zunächst für Deutschland keine besondere Rolle gespielt. So stellt M. Hubert fest, dass noch im Jahr 1871 die ausländische Bevölkerung im Deutschen Reich 0,5% der Gesamtbevölkerung ausmachte. "Vierzig Jahre später sind es 1.259.873, d.h. das Sechsfache, knapp 2% der deutschen Bevölkerung". (M. Hubert (1998): Deutschland im Wandel. Stuttgart, S. 202)
Das Thema Einwanderung nach Deutschland kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zum einen interessiert der Stand der ausländischen Bevölkerung sowie Herkunft und geografische Verteilung der Einwanderer in Deutschland. Einbürgerungsverfahren sowie Ausweisungen können ein Gradmesser für den Integrationserfolg sein. Die Einreise von Übersee in das Deutsche Reich – nicht zu verwechseln mit der tatsächlichen Immigration – gibt einen ersten Hinweis auf die Anziehungskraft Deutschlands. Ein besonderes Kapitel bildet der Bereich der ausländischen Arbeiterschaft im Deutschen Reich, ihre Vermittlung und die Vergabe von Legitimationen durch die Deutsche Arbeiterzentrale, Daten, die im Zusammenhang zu sehen sind mit der Behandlung ausländischer Arbeiter bzw. mit dem Versuch, einen dauerhaften Aufenthalt ausländischer Arbeiter im Deutschen Reich zu erschweren oder sogar zu verhindern.
Zeit und Ort der Datenkompilation: Aufgrund der verfügbaren Quellen beginnt die Datenkompilation 1871 mit dem Bestehen einer einheitlichen Amtlichen Statistik für das Deutsche Reich. Im Deutschen Kaiserreich fanden Volkszählungen 1871 und von 1875 bis 1910 alle fünf Jahre statt, in denen unter anderem der Stand der Bevölkerung inkl. der Ausländer erfasst wurde. Einige Datentabellen beginnen später aufgrund der entsprechenden Datenlage der verfügbaren gedruckten Quellen. So können die Einbürgerungsverfahren nur für die Zeit von 1873-1885, mitunter nur für 1881-1885 wiedergegeben werden, da in den Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich nur für kurze Zeiträume die Fälle erfaßt wurden. Längere Reihen könnten aus gedruckten Quellen erhoben werden. So bieten zum Beispiel die Ausgaben der Zeitschrift des königlich preußischen Statistischen Büreaus, Jg. 14 (1874) bis Jg. 29 (1887) sowie Urkunden des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (I. HA, Rep.77, Tit. 227, Nr. 4, Beihefte 1-28 für 1892-1918) Nachweise zu den Einbürgerungen in Preußen. Aufgrund der zur Verfügung stehenden begrenzten Zeit musste auf die Beschaffung dieser Quellen bzw. auf die Einsicht in diese Quellen vor Ort verzichtet werden. Die Kollektion der Daten endet 1932, vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Das geografische Gebiet der Datenkompilation ist das Deutsche Reich und seine Einzelstaaten in den jeweiligen Grenzen, das bedeutet, dass Gebietsänderungen in dem Berichtszeitraum zu berücksichtigen sind. Dieser Sachverhalt gewinnt insbesondere im Zusammenhang der ausländischen Wanderarbeiter und deren Vermittlung bzw. Aufenthalt nach Gebieten im Deutschen Reich an Bedeutung. So wird die Anzahl der ausländischen Arbeiter nach Gebieten im Deutschen Reich nicht nur nach den politischen Grenzen der Deutschen Länder und Provinzen, sondern auch nach den Bezirksgrenzen der Arbeitsamtsbezirke berichtet. Darüber hinaus haben die Provinzen Westpreußen und Posen durch den Großpolnischen Aufstand von 1918 bis 1919 große Gebietsverluste hinnehmen müssen, so dass aus den verbliebenen Resten der beiden Provinzen die preußische Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen gebildet wurde. Die Grenzmark bestand im Verband des Deutschen Reiches von 1922 bis 1938.
Unterthemen der Datenkompilation: Die Datenkompilation gliedert sich in 5 Bereiche auf.
A. Bevölkerung insgesamt Die Bevölkerung zur Zeit des Deutschen Reichs erlebte bis 1870 die erste Phase der demographischen Transformation, gekennzeichnet durch eine Verdoppelung der deutschen Bevölkerung in der Zeit von 1815 bis 1870. Wie M. Hubert (1998, Deutschland im Wandel, S. 30) feststellt, führten die langfristig stabilen und parallel verlaufenden Geburten- und Sterbeziffern zu einer Bevölkerungszunahme durch Geburtenüberschuss. Bis 1870 stellte die Einwanderung für Deutschland eine untergeordnete Rolle, was sich für die Jahre danach grundlegend änderte, denn es setzt eine deutliche Zunahme der ausländischen Bevölkerung bis kurz vor dem 1. Weltkrieg ein. "Preußen-Deutschland entwickelte sich in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg weltweit zum zweitwichtigsten Zuwanderungsland nach den USA." (Oltmer, J. (2013), Migration im 19. und 20. Jahrhundert, S. 32) Mit dem Ergebnis der Volkszählung von 1900 wird eine starke Zunahme der ausländischen Bevölkerung insgesamt deutlich. Die Daten in dieser Kompilation zu Abschnitt A beziehen sich auf den Bevölkerungsstand des Deutschen Reichs ab 1871 und stammen aus den durchgeführten Volkszählungen. Weiterhin wurde für die Wiedergabe der Entwicklung der Bevölkerungszahl in Deutschland auf die Studie von Michael Huber (1998) sowie auf das Statistische Jahrbuch für Preußen zurückgegriffen.
B. Ausländische Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit und nach deutschen Staaten Aus den Werten zur ausländischen Bevölkerung kann davon ausgegangen werden, dass es sich um einen Immigrationsstrom handelt (M. Huber, S. 202). Dabei ist es interessant, in welchen Regionen Deutschlands sich die ausländische Bevölkerung angesiedelt hat als auch, aus welchen Gebieten die Menschen nach Deutschland gekommen sind. Die Angaben zu Herkunftsländern als auch zu den Aufenthaltsgebieten (deutsche Länder) der ausländischen Bevölkerung sind aus den verschiedenen Ausgaben des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich entnommen worden und basieren auf den Ergebnissen der Volkszählungen.
C. Einbürgerungen und Aufgabe der deutschen Staatsbürgerschaft "Einbürgerungsfragen hatten gegen Ende der Weimarer Republik einen hohen politischen Stellenwert. Auch zur Zeit des Deutschen Kaiserreiches waren Fragen der Einbürgerung bei den höchsten politischen Instanzen angesiedelt und noch heute ist Einbürgerung eines der konfliktträchtigsten innenpolitischen Themen. Um die heutigen Auseinandersetzungen und deren Ursachen über Einbürgerungsfragen in ihrer ganzen Komplexität verstehen zu können, ist es unerlässlich, das Phänomen als ein historisches zu betrachten." (Trevisiol, O. (2004): Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871-1945. Seite 3. Dissertation. KOPS – Das institutionelle Repositorium der Universität Konstanz, Suche im Bestand 'Geschichte und Soziologie', WEB: http://d-nb.info/974206237/34 ) Die Institution der Staatsangehörigkeit entstand mit der Entwicklung des modernen Staats zu Beginn des 19. Jahrhunderts (vergl. Gosewinkel, D. (2001): Einbürgern und Ausschließen; Trevisiol, O. (2004): Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871-1945). Die Staatsangehörigkeit kennzeichnet den Übergang vom Territorialstaat zum Personenverbandsstaat. Die Zuweisung von Rechten und Pflichten ist jetzt an die Staatsangehörigkeit gebunden und nicht mehr an den Ort der Niederlassung. Neben der allgemeinen Wehrpflicht sind bürgerliche Rechte inkl. Wahlrecht oder Ansprüche auf Unterstützung in Notlagen mit der Staatsangehörigkeit verknüpft. Einbürgerung muss immer auch im Zusammenhang mit der Integration von Migranten gesehen werden. "Der Umgang mit Einbürgerungsgesuchen lässt immer auch eine Aussage über den Offenheitsgrad der Mehrheitsgesellschaft zu". (Trevisiol (2004), Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 5, d-nb.info/974206237/34). Die in der vorliegenden Datenkompilation zusammengetragenen Daten entstammen aus den verschiedenen Ausgaben des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich. In dieser Quelle wurde dem Thema der Einbürgerung eine untergeordnete Rolle zugewiesen, das heißt, dass die Nachweise nur für einen relativ kurzen Zeitraum (1873-1885, mit Angabe des Aufnahmegrundes sogar nur 1881-1885) in den Jahrbüchern wiedergegeben wurden. Dennoch wurden die Angaben hier aufgenommen und sollen als Anreiz für weitergehende Datenerhebungen verstanden werden. Die Studie von Oliver Trevisiol gibt wertvolle Hinweise zu Datenquellen, in denen Statistiken zu Einbürgerungen für die einzelnen Provinzen und Länder des Deutschen Reichs enthalten sind.
D. Einreise von Übersee in das Deutsche Reich Zur Zeit des Deutschen Reichs wurde eine Einwanderungsstatistik nicht geführt. Daher liegen für diesen Sachverhalt keine Werte vor. Erste Nachweisungen über Einreisende (zu unterscheiden von tatsächlichen Einwanderern) in das Deutsche Reich wurden erst seit 1904 durch die Reedereien, die sich mit Passagierbeförderung von Übersee her nach Bremen, Hamburg und Emden befassten, geführt. Diese Nachweise dokumentieren die von den Gesellschaften nach Deutschland beförderten Personen, die in Kajüten- und Zwischendeckpassagiere unterteilt wurden. Ab 1924 wurden auch Alter, Geschlecht und endgültiges Reiseziel ermittelt. In den Fällen, in denen das Reiseziel nicht festgestellt werden konnte, wurde die Staatsangehörigkeit der Reisenden für eine Unterscheidung der Reisenden als maßgeblich herangezogen. Vor 1924 existierten sehr unterschiedliche Altersklassifizierungen, die ab 1924 vereinheitlicht werden sollten mit der Klassifizierung: unter 1 Jahr, 1 – unter 6 Jahre, 6 – u. 14 Jahre, 14 – u. 15 Jahre, 15 – u. 18 Jahre, 18 – u. 21 Jahre, 21 – u. 25 Jahre, 25 – u. 30 Jahre, 30 – u. 40 Jahre, 40 – u. 50 Jahre, 50 – u. 55 Jahre, 55 – u. 60 Jahre, 60 Jahre und älter. Allerdings stellten sich Schwierigkeiten bei der Durchführung der Erhebung ein. Bremen hat für die aus Süd-Amerika kommenden Einreisenden Reiseziel und Staatsangehörigkeit nicht feststellen können und wich darüber hinaus von der allgemeinen Altersklassifizierung ab. Auch für Hamburg sind Schwierigkeiten bei der Erfassung des Reiseziels, der Staatsangehörigkeit und des Alters berichtet worden. Daher wurde entschieden, ab 1. Januar 1930 die Erhebung der Einreisestatistik nur noch in folgendem Umfang durchzuführen: - Zahl der Einreisenden, gegliedert nach Geschlecht und Schiffsklassen - Zahl der Einreisenden, gegliedert nach Altersklassen, und zwar: unter 1 Jahr, 1 bis unter 10 Jahre, über 10 Jahre - Herkunftsländer in der Gliederung: aus europäischen Häfen; aus Nordamerika; aus Mittelamerika; aus Südamerika; aus Afrika; aus Asien; aus Australien und Neuseeland - Staatsangehörigkeit in der Gliederung: Deutsches Reich; Großbritannien; übriges Europa; Britisch-Nordamerika; Vereinigte Staaten von Amerika; Mexiko; Mittelamerika und Westindien zusammen; Argentinien und Brasilien zusammen; andere Südamerikanische Staaten zusammen; Afrika; Asien und Australien zusammen; Staatenlose und ohne Angaben zusammen. (Statistik des Deutschen Reichs, Band 393, Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1928 und 1929, S. 103, Statistik des Deutschen Reichs, Band 441, S. 76) Die in der vorliegenden Datenkompilation wiedergegebenen Datentabellen zu den von Übersee Einreisenden nach Deutschland sind aus verschiedenen Ausgaben der Statistik des Deutschen Reichs entnommen worden. Entsprechend den Erfassungsproblemen der damaligen Zeit können diese Statistiken in ihrem Detaillierungsgrad nicht in die Tiefe gehen. Die ausführlichsten Angaben hinsichtlich der Altersgruppen sind von Hamburg erfasst worden, allerdings nur für einen kurzen Zeitraum (1925-1929). Weiterhin hat Hamburg für die Zeit von 1925 bis 1929 die über Hamburg rückwandernden (einreisenden) deutschen Reichsangehörigen nach Alter und Geschlecht erfasst. Allgemein gehaltene Angaben zur Zahl der Einreisenden, differenziert nach Einreisehafen und Schiffsklasse, reichen von 1904 bis 1932. Selbst die sehr allgemeine Unterteilung in Einreisende deutscher Nationalität und einreisende Ausländer insgesamt reicht nur für den Zeitraum von 1927-1932.
E. Ausländische Arbeiter im Deutschen Reich Seit den 1880er Jahren wuchs der Bedarf an Arbeitskräften im Deutschen Reich immens an. Der massive Industrialisierungsprozess führte zu einem Bedarf an Arbeitern, der durch die Arbeitskräfte in der einheimischen Bevölkerung sowie über die Zuwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte nicht gedeckt werden konnte. Noch vor dem ersten Weltkrieg befanden sich in Deutschland weit über eine Millionen ausländische Wanderarbeiter. "In der Hochkonjunkturperiode seit den 1890er Jahren stieg die Zahl der in der deutschen Wirtschaft beschäftigten Ausländer sehr stark an und erreichte am Vorabend des Ersten Weltkrieges rund 1,2 Mio. Die wichtigsten Gruppen stellten in Preußen die in der Landwirtschaft beschäftigten Polen sowie Italiener, die besonders in Ziegeleibetrieben und im Tiefbau, aber auch im Bergbau und in der industriellen Produktion Beschäftigung fanden. Im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte in Preußen von rund 605000 auf 901000 stark zu, in der Landwirtschaft arbeiteten 40%, in der Industrie 60%." (Oltmer, J. (2013), Migration im 19. und 20. Jahrhundert, S. 32) Der Ausländeranteil ist zunächst in den Industrieregionen besonders hoch (Königreich Sachsen und Rheinland). In allen Regionen, in denen durch eine starke Expansion der Industrie ein erhöhter Bedarf an ungelernten Arbeitskräften entstand, gewann die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte an Bedeutung. Auf der anderen Seite ist ein bedeutender Ausländeranteil in stark landwirtschaftlich geprägten Regionen auszumachen. "Im ostelbischen Preußen lagen die wichtigsten landwirtschaftlichen Arbeitsbereiche der Polen im durch starke saisonale Arbeitsspitzen gekennzeichneten Hackfruchtbau. (…) Daneben war die Getreideernte bis zur
Einführung arbeitssparender Mäh- und Dreschmaschinen auch im preußischen Osten vor dem ersten Weltkrieg ein weiterer (…) Beschäftigungsbereich." (Oltmer, J. (2013, S. 33) Betrachtet man die geografische Herkunft der Migranten, so sind vier Länder besonders stark vertreten. Die aus Österreich-Ungarn stammenden Ausländer stellen den größten Anteil aller im Deutschen Reich lebenden Ausländer dar, wobei darauf hingewiesen werden muß, dass die aus Österreich-Ungarn stammenden Personen unterschiedlichen Nationalitäten angehören (Deutsche, Tschechen, Ungarn sowie Polen aus ehemals polnischen Gebieten, die 1795 und 1815 an die österreichische Krone fielen). Die Niederlande stellte einen weiteren bedeutenden Anteil der Einwanderer in das Deutsche Reich sowie aus Russland kommende Personen. Aus Russland kommende Einwanderer sind – wie im Fall Österreich-Ungarns – durch unterschiedliche Staatsangehörigkeit gekennzeichnet. Viele Polen stammen aus Russland, da sie in ehemals polnischen Gebieten leben, die seit dem Wiener Kongreß unter russischer Verwaltung stehen. Eine weitere bedeutende Gruppe unter den Einwanderern stellen die Italiener dar, die sich im Süden und Westen Deutschlands verstärkt niedergelassen haben. Der Wermutstropfen für die Wanderarbeiter bestand jedoch in der rigorosen Kontrolle durch die Deutsche Arbeiterzentrale, die mit dem Ziel gegründet wurde, eine dauerhafte Einwanderung zu erschweren. "Die Deutsche Arbeiterzentrale (DAZ) war eine Organisation zur Vermittlung von landwirtschaftlichen Saisonarbeitskräften. Sie hatte lange Zeit eine Monopolstellung inne. Die Organisation bestand von 1905 bis in die 1930er Jahre. Die Anregung zur Gründung der DAZ ging vom preußischen Landwirtschaftsministerium aus, um kommerzielle Anwerber zu verdrängen. Die DAZ erhielt 1907 das Monopol auf die Anheuerung polnischer Saisonarbeiter. Die Arbeitskräfte erhielten gegen eine Gebühr eine Arbeiterlegitimationskarte mit ihrem Namen und dem Namen des Arbeitgebers. An den Arbeitgeber waren die Beschäftigten für die Saison gebunden. Im Jahr 1922 erließ die Reichsarbeitsverwaltung die "Verordnung über die Anwerbung und Vermittlung ausländischer Landarbeiter." Diese Verordnung stärkte weiterhin das Monopol der DAZ." (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Arbeiterzentrale) Die zu diesem Themenpunkt zusammengestellten Datenreihen entstammen zum einen aus den verschiedenen Ausgaben des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich. Zum anderen wurden Daten aus folgenden wissenschaftlichen Publikationen entnommen: Elsner/Lehmann (1988): Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus, 1900 bis 1985. Berlin: Dietz Verlag. Oltmer, Jochen (2005): Migration und Politik in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht.
Datentabellen in HISTAT (Thema: Bevölkerung):
A. Bevölkerung insgesamt
A.01 Bevölkerung insgesamt und ausländische Bevölkerung im deutschen Reich, 1871-1933.
A.02 Mittlere Bevölkerung, Eheschließungen, Geburten und Gestorbene (Anzahl und Ziffern) für das Deutsche Reich und für Preußen, 1817-1933
B. Ausländische Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit und nach deutschen Staaten
B.01 Ausländische Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit und nach deutschen Staaten: Zusammenfassende Übersicht, 1871-1939
B.02 Ausländische Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit und nach Geschlecht: differenzierte Darstellung nach dem Statistischen Jahrbuch, 1871-1939
B.03 Ausländische Bevölkerung im deutschen Reich nach Gebieten im Deutschen Reich,1875-1939
C. Einbürgerungen und Aufgabe der deutschen Staatsbürgerschaft
C.01 Einbürgerungen nach Herkunftsländer der Eingebürgerten im Deutschen Reich, 1873-1885
C.02 Aus dem Ausland aufgenommene Personen in das Deutschen Reich nach Aufnahmegrund, 1881-1885
C.03 In das Ausland entlassene Deutsche nach Bestimmungsländer (Aufgabe der Staatsbürgerschaft) im Deutschen Reich, 1873-1885
C.04 In das Ausland entlassene oder ausgewiesene Personen aus dem Deutschen Reich nach Grund, 1881-1885
C.05 Preußen: Erwerb und Verlust der preußischen Staatsangehörigkeit von Personen aus anderen deutschen Staaten und aus dem Ausland, 1874-1887
D. Einreise von Übersee in das Deutsche Reich
D.01a Überseeische Einreisende über Hamburg und Bremen nach Schiffsklasse, 1904-1932
D.01b Überseeische Einreisende über Hamburg und Bremen nach Schiffsklasse und differenziert nach Deutschen und Ausländern, 1927-1932
D.02 Verteilung des Einreiseverkehrs auf Hamburg und Bremen, 1913, 1921-1932
D.03 Überseeische Einreisende über Hamburg nach Altersgruppe, 1925-1932
D.04 Über Hamburg rückwandernde (einreisende) deutsche Reichsangehörige nach Alter und Geschlecht,1925-1929
E. Ausländische Arbeiter im Deutschen Reich
E.01 Ausländische Arbeiter in Preußen nach Staatsangehörigkeit, 1906-1914
E.02 Ausländische Arbeiter in Preußen nach preußischen Provinzen, 1906-1914
E.03 Ausländische Arbeiter in Preußen in Landwirtschaft und Industrie nach Staatsangehörigkeit und Nationalität, 1906-1914
E.04 Ausländische Arbeiter in den preußischen Provinzen in Landwirtschaft und Industrie, 1906-1914
E.05 Ausländische Arbeiter im Deutschen Reich nach Angaben der Deutschen Arbeiterzentrale, 1908-1932
E.06 Zugelassene ausländische Arbeiter im Deutschen Reich nach Staatsangehörigkeit, 1910-1938
E.07 Aufenthaltsgebiete und Beschäftigungsbereich der ausländischen Arbeiter im Deutschen Reich nach Landesarbeitsamtsbezirken, 1922-1933
E.08 Vermittlung ausländischer Arbeiter im Deutschen Reich durch die Deutsche Arbeiterzentrale, 1919-1931
E.09a-01 Vermittlung ausländischer landwirtschaftlicher Arbeiter in die Staaten des Deutschen Reichs nach Geschlecht, 1910-1931
E.09a-02 Herkunftsland und Geschlecht der im Deutschen Reich vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09b Herkunftsland und Geschlecht der nach Ostpreußen vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09c Herkunftsland und Geschlecht der nach Westpreußen vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09d Herkunftsland und Geschlecht der nach Brandenburg vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09e Herkunftsland und Geschlecht der nach Pommern vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09f Herkunftsland und Geschlecht der nach Posen vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09g Herkunftsland und Geschlecht der nach Schlesien vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09h Herkunftsland und Geschlecht der in die Provinz Sachsen-Anhalt vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1927
E.09i Herkunftsland und Geschlecht der nach Niedersachsen (zuvor: Königr. Hannover, Herzogt. Braunschweig, Großherzogt. Oldenburg, Lippe, Bremen) vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09j-01 Herkunftsland und Geschlecht der nach Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Schwerin, Meck.-Strelitz, Hamburg und Lübeck sowie nach Nordmark vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
E.09j-02 Herkunftsland und Geschlecht der in den Bezirk Nordmark vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1928-1931
E.09k-01 Herkunftsland und Geschlecht der nach Westfalen vermittelten Arbeiter, 1910-1931
E.09k-02 Herkunftsland und Geschlecht der in das Rheinland vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1921-1931
E.09k-03 Herkunftsland und Geschlecht der nach Hessen (Hessen und Hessen-Nassau zusammen) vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1921-1931
E.09l Herkunftsland und Geschlecht der in das Königreich Sachsen und Thüringen vermittelten Arbeiter, 1910-1931
E.09m Herkunftsland und Geschlecht der nach Bayern, Württemberg, Baden, Hessen und Elsaß-Lothringen bzw. nach Südwestdeutschland vermittelten Arbeiter, 1910-1931
E.09n Herkunftsland und Geschlecht der nach Mitteldeutschland (Sachsen-Anhalt und Thüringen) vermittelten landwirtschaftlichen Arbeiter, 1910-1931
Coal seam gas (CSG) is an unconventional natural gas (UNG) that is extracted from wells via coal seams, and reserves are found in Australia, the USA and the UK. Other UNG include shale and tight gas, which are sourced from different geological formations and utilise similar processes to CSG mining, and are extracted in Canada, Europe, Asia, the Middle East and Australia. In recent decades, UNG extraction has grown exponentially, with hydraulic fracturing or 'fracking' occurring across regional and rural landscapes and in close proximity to communities. Whilst major development projects can facilitate employment and other opportunities in surrounding communities through population growth and increased demand for services, there is evidence that negative impacts on health and wellbeing can outweigh any benefits. Commonly referred to as the 'resource curse', when the costs of extraction and exporting natural resources outweigh the economic benefits, the expansion of CSG activity was often met with trepidation from local communities and the broader public. There was uncertainty around the impacts and consequences of rapid development, particularly in the USA and Australia, stemming from a lack of prior experience, mixed messages in the media, perceived lack of governmental support, and little empirical evidence. Presented with the opportunity to address the gap in the literature, this research explores the broader implications of mining activity on surrounding communities, with a focus on CSG and the social determinants of health and wellbeing. The level of community interaction throughout a project lifecycle is greater in CSG mine settings compared to traditional mining methods (like coal, for example) because of their proximity to communities, and so there is a greater expectation of the mining company to monitor and mitigate impacts on the communities in which they operate. There is emerging evidence that the extractives industry may play a more diverse role in regional communities than previously expected, but the pathways in which they do this in the health sector are not clear. Integral to the provision of health services in regional areas is the integration of services and partnerships – it is common for stakeholders external to the health sector, like transport, police or environmental departments to be involved in the planning and availability of health services. There is a dearth of scientific evidence of the ways in which the extractives industry interacts with the health system in the communities in which they operate; what the costs and benefits of this interaction might be and how the relationship might be optimized to enable long-lasting health improvements. This is particularly important in mining communities, where health outcomes could fluctuate with the various stages of mining activity, and more so in communities where mining activity is soon to cease, leading to uncertainty and economic downturn. Objectives This research was conducted in order to inform the regional and rural health sector, extractives industry, and communities who are undergoing a period of uncertainty with little peer reviewed evidence to provide objective direction. The research aims to: respond to the demand in understanding broader public health and wellbeing outcomes of mining beyond direct, physical and biological outcomes; contribute to the growing evidence base around CSG development and potential community-level impacts; and to comment on the interaction between stakeholders in the health system and the extractives industry at a local level. Methods This thesis has been organised in to three parts to meet the stated objectives: 1. Two systematic reviews to synthesise the evidence for broader, indirect health and wellbeing implications at community level associated with mining activity in low, middle and high income countries in order to provide a comprehensive account of how communities may be affected by mining; 2. Synthesis of qualitative data collected via a Health Needs Assessment (HNA) in Queensland, Australia to explore the determinants of health and wellbeing in communities living in proximity to CSG developments in order to strengthen understanding of how community and health services can prepare for fluctuations that might come with a mining boom or bust; and 3. Critically review regional health systems and the interaction between the extractives industry and key stakeholders at a local level in order to compile a set of recommendations that optimise health outcomes for local communities. Results Sixteen publications were included in the systematic review of high-income countries, and included studies that took place in the USA, Australia and Canada. Products mined included coal and mountain-top mining. There was evidence that mining activity can affect the social, physical and economic environment in which communities live, and these factors can in turn have adverse effects on health and wellbeing if not adequately measured and mitigated. Specific examples of self-reported health implications included increased risk of chronic disease and poor overall health, relationship breakdown, lack of social connectedness, and decreased access to health services. Twelve publications were included in the systematic review of low and middle-income countries, and included studies that took place in Ghana, Namibia, South Africa Tanzania, India, Brazil, Guatemala and French Guiana. Products mined included gold and silver, iron ore and platinum. Mining was perceived to influence health behaviours, employment conditions, livelihoods and socio-political factors, which were linked to poorer health outcomes. Family relationships, mental health and community cohesion were negatively associated with mining activity. High-risk health behaviours, population growth and changes in vector ecology from environmental modification was associated with increased infectious disease prevalence. The HNA was implemented in four towns in regional Queensland situated in proximity to CSG development. Eleven focus group discussions, nine in-depth interviews, and forty-five key informant interviews (KIIs) with health and community service providers and community members were conducted. Framework analysis was conducted following a recurrent theme that emerged from the qualitative data around health and wellbeing implications of the CSG industry. CSG mining was deemed a rapid development in the otherwise predominantly agricultural, rural communities. With this rapid development came fluctuations in the local economy, population, social structure and environmental conditions. There were perceived direct and indirect effects of CSG activity at an individual and community level, including impacts on alcohol and drug use; family relationships; social capital and mental health; and social connectedness, civic engagement and trust. Before examining the interaction between the health system and mining sector, it was important to describe the rural health system and its complementary parts. Systems theory underpinned analysis of qualitative data from KIIs to assist in describing the characteristics of the health system and unique influences on its functionality. Results showed that communities are closely interconnected with the health system, and that the rural health systems in the case study were defined by geography, climate and economic fluctuations. Understanding unique system pressures is important for recognising the impact that policy decisions may have on rural health. Decentralisation of decision making, greater flexibility and predictability of programs will assist in health system strengthening in rural areas. Another key theme emerged from the HNA: the mining sector played a diverse role in health and community service planning and delivery. Key informant transcripts were analysed again using phenomenology theory. Of these, 23 mentioned the presence of CSG or mining activity at least once during the interview without any specific reference to the extractives industry. Mining activity was perceived to influence the ability of service providers to meet demand, recruit and retain staff, and effectively plan and maintain programs. The level of interaction between mining companies with service providers and regulatory bodies varied and was commented on extensively. Several key informants identified pathways for the mining sector to engage with services more effectively, which included strengthening multi-sectoral engagement and enabling transparent, public consultation and evidence-based funding initiatives. Conclusion Unconventional natural gas extraction and the implications of mining activity on nearby communities is a subject of major concern internationally. Through the application of core public health theories and methodologies, including the Social Determinants of Health model, complex adaptive systems theory and health needs assessments; this thesis has significantly contributed to the discourse and demonstrated a significant association between mining activity and health. This thesis sought to strengthen the evidence base of the association between the extractives industry and the social determinants of health of surrounding communities, with a focus on the potential impacts of CSG developments. The hypothesis that there may be broader, direct and indirect impacts on health and wellbeing at an individual or community-level was tested and proven. The secondary aim was to examine the relationship of stakeholders in the local health system with the mining sector, with the intention to develop recommendations that improve measurement, monitoring and response to potential impacts of mining in surrounding communities. This research established that there are both common and unique health and wellbeing issues experienced by communities living in proximity to mining internationally. Our understanding of the ways in which CSG mining activity can influence the social determinants of health has been significantly strengthened. This thesis argues the importance of first examining how local health systems operate in order to maximise engagement with the mining sector - a potentially significant funding source – and sustain health services. There are pathways and opportunities for the mining sector to contribute to community development, and this requires engagement with the community and local service providers. This also highlights key characteristics of communities that might influence the magnitude of perceived CSG mining impacts, which serve to inform development of indicators and tools to strengthen measurement and response. It is beyond the scope of this thesis to present a comprehensive framework with standardised approach for monitoring broader health and wellbeing implications of UNG development, as this relies on first establishing multidisciplinary approach and considering the regulatory frameworks that shape corporate social responsibility and mining investments. However, this thesis presented a set of key recommendations and criteria that should be considered in the design of a standardised monitoring framework. Formalising, publicising and regulating this process is the next step along the road to mending and preventing fractured communities from the potential impacts of mining. ; Kohleflözgas (CSG) ist ein unkonventionelles Erdgas (UNG), das über Kohleflöze aus Bohrlöchern gefördert wird. Reserven befinden sich in Australien, den USA und Großbritannien. Andere UNG umfassen Schiefer und Gas, die aus verschiedenen geologischen Formationen stammen und ähnliche Verfahren wie der CSG-Abbau nutzen, und die in Kanada, Europa, Asien, dem Nahen Osten und Australien gefördert werden. In den letzten Jahrzehnten hat die UNG-Förderung exponentiell zugenommen, wobei hydraulisches Fracking in regionalen und ländlichen Gebieten und in unmittelbarer Nachbarschaft zu Gemeinden stattgefunden hat. Während grössere Entwicklungsprojekte durch Bevölkerungswachstum und erhöhte Nachfrage nach Dienstleistungen Beschäftigung und andere positive wirtschaftliche Folgen in den umliegenden Gemeinden ermöglichen können, gibt es Hinweise darauf, dass negative Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden diese Vorteile überwiegen können. In Situationen in denen die Kosten für die Gewinnung und den Export natürlicher Ressourcen die wirtschaftlichen Vorteile überwiegen, der sogenannte "Ressourcenfluch", stieß die Ausweitung der CSG-Aktivitäten auf örtliche Gemeinden und die breite Öffentlichkeit. Die Auswirkungen und Folgen dieser rasanten Entwicklung, insbesondere in den USA und in Australien, waren nicht ausreichend bekannt. Dies lag zum einen an der mangelnden Vorerfahrung, zum anderen an gemischten Botschaften in den Medien, mangelnder staatlicher Unterstützung und wenig empirischen Beweisen über negative Auswirkungen dieser neuen Verfahren. Das vorliegende Forschungsprojekt bot die Gelegenheit, eine Lücke in der wissenschaftlichen Literatur zu schließen, und untersucht die umfassenderen Auswirkungen der Bergbautätigkeit auf die umliegenden Gemeinden, wobei der Schwerpunkt auf CSG und den sozialen Determinanten von Gesundheit und Wohlbefinden liegt. Die Interaktion der Gesellschaft während des gesamten Projektlebenszyklus ist in CSG-Minen-Umgebungen im Vergleich zu herkömmlichen Bergbaumethoden (wie z. B. Kohle) aufgrund ihrer Nähe zu den Gemeinden größer. Daher besteht eine höhere Erwartung des Bergwerks, die Auswirkungen auf die Gemeinden in denen sie tätig sind zu überwachen und zu mindern. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Bergbauindustrie in den regionalen Gemeinden eine vielfältigere Rolle spielen könnte als bisher erwartet, aber die Wege, auf denen sie dies im Gesundheitssektor tun, sind noch unklar. Für die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten in regionalen Gebieten ist die Integration von Diensten und Partnerschaften von grundlegender Bedeutung. Es ist üblich, dass Gesundheitswesen-externe Akteure wie Verkehr, Polizei oder Umweltabteilungen an der Planung und Verfügbarkeit von Gesundheitsdiensten beteiligt sind. Es gibt kaum wissenschaftliche Belege dafür, wie die Bergbauindustrie mit dem Gesundheitssystem in den Gemeinden, in denen sie tätig sind, interagiert. Wie können Kosten und Nutzen dieser Interaktion aussehen und wie können diese Beziehungen optimiert werden, um dauerhafte Verbesserungen der Gesundheit der lokalen Bevölkerung zu ermöglichen. Dies ist besonders wichtig in Bergbaugemeinden, in denen die Gesundheitsergebnisse mit den verschiedenen Stadien der Bergbaubetriebsaktivität schwanken könnten, insbesondere in Gemeinden, in denen die Bergbaubetriebstätigkeit bald eingestellt wird, was zu Unsicherheit und einem wirtschaftlichen Abschwung führt. Ziele Dieses Forschungsprojekt wurde durchgeführt, um den regionalen und ländlichen Gesundheitssektor, die Bergbauindustrie und Gemeinden zu informieren, die sich gegenwärtig in einer Phase der Unsicherheit befinden. Das Projekt zielt darauf ab, auf die Forderung nach einem besseren Verständnis der Auswirkungen des Bergbaus auf die öffentliche Gesundheit und das Wohlergehen über direkte, physische und biologische Ergebnisse zu reagieren; zur wachsenden Beweisgrundlage für die CSG-Entwicklung und potenziellen Auswirkungen auf Gemeinschaftsebene beizutragen; und auf lokaler Ebene die Interaktion zwischen den Akteuren des Gesundheitssystems und der Bergbauindustrie zu charakterisieren und beschreiben Methoden Diese Arbeit wurde in drei Teile gegliedert, um die angegebenen Ziele zu erreichen: 1. Zwei systematische Übersichtsarbeiten, um die Nachweise für umfassendere, indirekte Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen auf Gemeindeebene in Verbindung mit Bergbautätigkeiten in Ländern mit niedrigem, mittlerem und hohem Einkommen zusammenzufassen, mit dem Ziel einen umfassenden Bericht darüber zu liefern, wie Gemeinden durch den Bergbau beeinflusst werden können; 2. Eine Synthese von qualitativen Daten, die im Rahmen eines Gesundheitsberichts (Health Needs Assessment (HNA)) in Queensland, Australien, gesammelt wurden, um die Determinanten von Gesundheit und Wohlbefinden in Gemeinden, die sich in der Nähe von CSG-Entwicklungen befinden, zu erforschen und dadurch das Verständnis dafür zu verbessern, wie sich Gemeinde- und Gesundheitsdienste auf Schwankungen vorbereiten können die mit einem Bergbauboom oder -schwund einhergehen; und 3. Eine kritische Überprüfung der regionalen Gesundheitssysteme und der Interaktion zwischen der Bergbauindustrie und den wichtigsten Interessengruppen auf lokaler Ebene, um eine Reihe von Empfehlungen zu erarbeiten, die die Gesundheitsergebnisse für die lokale Bevölkerung optimieren. Ergebnisse 16 Publikationen wurden in die systematische Übersicht in Ländern mit hohem Einkommen aufgenommen, darunter Studien, die in den USA, Australien und Kanada durchgeführt wurden. Diese stammten überwiegend aus dem Kohlebergbau. Es gibt Belege dafür, dass die Bergbautätigkeit das soziale, physische und wirtschaftliche Umfeld der betroffenen Gemeinden beeinflussen kann. Diese Faktoren können wiederum negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben, wenn sie nicht angemessen gemessen und abgeschwächt werden. Spezifische Beispiele für selbst berichtete Auswirkungen auf die Gesundheit waren ein erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten und schlechte allgemeine Gesundheit, ein Zusammenbruch der Beziehungen, ein Mangel an sozialer Verbundenheit und ein verminderter Zugang zu Gesundheitsdiensten. Zwölf Publikationen wurden in die systematische Übersicht über Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen einbezogen, darunter Studien, die in Ghana, Namibia, Südafrika, Tansania, Indien, Brasilien, Guatemala und Französisch-Guayana durchgeführt wurden. Zu den gewonnenen Bergbauprodukten gehörten Gold und Silber, Eisenerz und Platin. Es schien, dass Bergbau das Gesundheitsverhalten, die Beschäftigungsbedingungen, den Lebensunterhalt und sozio-politische Faktoren beeinflusst, die mit einem schlechteren Gesundheitsergebnis zusammenhängen. Familienbeziehungen, psychische Gesundheit und sozialer Zusammenhalt waren negativ mit der Bergbautätigkeit verbunden. Gesundheitsgefahren mit hohem Risiko, Bevölkerungswachstum und Veränderungen in der Vektorökologie aufgrund von Umweltveränderungen waren mit einer erhöhten Prävalenz von Infektionskrankheiten verbunden. Der Gesundheitsbericht wurde in vier Städten im ländlichen Queensland in der Nähe der CSG-Bergbau durchgeführt. Es wurden elf Fokusgruppendiskussionen, neun ausführliche Interviews und fünfundvierzig wichtige Informanteninterviews (KIIs) mit Gesundheits- und Gemeindedienstleistern und Gemeindemitgliedern durchgeführt. Die Rahmenanalyse wurde nach einem wiederkehrenden Thema durchgeführt, das sich aus den qualitativen Daten zu den Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der CSG-Industrie ergab. Der CSG-Bergbau wurde in den sonst überwiegend landwirtschaftlich geprägten ländlichen Gemeinden als eine rasche Entwicklung betrachtet. Mit dieser rasanten Entwicklung kam es zu Schwankungen in der lokalen Wirtschaft, der Bevölkerung, der Sozialstruktur und den Umweltbedingungen. Es gab direkte und indirekte Auswirkungen der CSG-Aktivität auf Einzel- und Gemeinschaftsebene, einschließlich der Auswirkungen auf Alkohol- und Drogenkonsum. Familienbeziehungen; soziales Kapital und psychische Gesundheit; und soziale Verbundenheit, bürgerliches Engagement und Vertrauen. Bevor die Wechselwirkung zwischen dem Gesundheitssystem und dem Bergbausektor untersucht wurde, war es wichtig, das ländliche Gesundheitssystem und seine ergänzenden Teile zu beschreiben. Die Systemtheorie untermauerte die Analyse qualitativer Daten aus KII, um die Charakteristika des Gesundheitssystems und die einzigartigen Einflüsse auf seine Funktionalität zu beschreiben. Die Ergebnisse zeigten, dass die Gemeinden eng mit dem Gesundheitssystem verbunden sind und dass die ländlichen Gesundheitssysteme in der Fallstudie durch Geografie, Klima und wirtschaftliche Schwankungen definiert wurden. Das Verständnis des einzigartigen Systemdrucks ist wichtig, um die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Gesundheit in ländlichen Gebieten zu erkennen. Die Dezentralisierung der Entscheidungsfindung, größere Flexibilität und Vorhersehbarkeit der Programme werden zur Stärkung des Gesundheitssystems in ländlichen Gebieten beitragen. Ein weiteres Schlüsselthema wurde aus dem HNA herausgearbeitet: Der Bergbausektor spielte eine vielfältige Rolle bei der Planung und Bereitstellung von Gesundheits- und Sozialdiensten. Wichtige Informantentranskripte wurden erneut mit der Theorie der Phänomenologie analysiert. Von diesen erwähnten 23 das Vorhandensein von CSG- oder Bergbautätigkeit während des Interviews mindestens einmal ohne besonderen Hinweis auf die Bergbauindustrie. Es wurde angenommen, dass Bergbautätigkeit die Fähigkeit der Dienstanbieter beeinflusst, die Nachfrage zu befriedigen, Personal einzustellen und zu binden sowie Programme effektiv zu planen und zu verwalten. Die Wechselwirkungen zwischen Bergbaugesellschaften mit Dienstleistern und Aufsichtsbehörden waren unterschiedlich und wurden ausführlich kommentiert. Mehrere wichtige Informanten identifizierten Wege, wie der Bergbausektor effektiver mit Dienstleistungen zusammenarbeiten könnte. Dazu gehörten die Stärkung des sektorübergreifenden Engagements und die Ermöglichung transparenter, öffentlicher Konsultationen und faktengestützter Finanzierungsinitiativen. Fazit Die unkonventionelle Erdgasförderung und die Auswirkungen der Bergbautätigkeit auf die umliegenden Gemeinden sind international ein großes Problem. Durch die Anwendung der wichtigsten Theorien und Methoden des öffentlichen Gesundheitswesens, einschließlich des Modells für soziale Determinanten von Gesundheit, der Theorie komplexer adaptiver Systeme und der Bewertung der Gesundheitsbedürfnisse; Diese Arbeit hat wesentlich zum Diskurs beigetragen und signifikante Zusammenhänge zwischen Bergbautätigkeit und Gesundheit in betroffenen Gemeinden gezeigt. Diese Dissertation versuchte die Evidenzbasis der Verbindung zwischen der Bergbauindustrie und den sozialen Determinanten der Gesundheit der umliegenden Gemeinden zu stärken, wobei die potenziellen Auswirkungen der CSG-Entwicklungen im Mittelpunkt standen. Die Hypothese, dass umfassendere, direkte und indirekte Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden auf Einzel- oder Gemeinschaftsebene bestehen können, wurde getestet und nachgewiesen. Das sekundäre Ziel bestand darin, die Beziehung der Stakeholder untereinander zu untersuchen und zu beschreiben.