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Inhaltsanalyse ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Datenerhebungsverfahren. In einem der Standardwerke systematisiert und typologisiert Klaus Merten 35 verschiedene inhaltsanalytische Verfahren. Der Autor konstatiert zunächst, dass Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse nicht so trennscharf ist, wie es der Antagonismus (qualitativ vs. quantitativ) nahe legt. Es finden sich durchaus quantitative Inhaltsanalysen mit ausführlichen qualitativen Elementen wie auch umgekehrt (wenn aus deutlich seltener) qualitativ-interpretative Inhaltsanalysen mit quantitativen Elementen.Der Schwerpunkt des Beitrag liegt auf denjenigen Formen der Inhaltsanalyse, die im Forschungsfeld der politischen Kommunikation verwendet werden. Insofern konzentriert sich dieser Beitrag auf die inhaltsanalytischen Verfahren, die für die Analyse der politischen Fernseh- und Presseberichterstattung zur Anwendung kommen. Diese Beschränkung ist jedoch nicht gravierend, da sich die hier vorgestellten Verfahren im Wesentlichen auch auf die übrigen Variationen der Inhaltsanalyse übertragen lassen.Ein weiterer Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Darstellung der praktischen Durchführung einer Inhaltsanalyse und weniger auf der theoretisch-methodologischen Fundierung dieser Datenerhebungstechnik. (ICA2)

Bourdieus Werk hat wohl mehr als jedes andere im Verlauf des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen, die Kenntnis der Geschichte der Intellektuellen voranzubringen. Kein anderer Soziologe hat zudem so ausdrücklich sich selbst zur Aufgabe erhoben, über sein eigenes Denken und, allgemeiner, über seine spezifische Konzeption und Praxis intellektueller Arbeit Rechenschaft abzulegen. Er hat auf diese Weise präzisere und machtvollere Instrumente zur Analyse der intellektuellen Geschichte geschaffen und geklärt, wie die von dieser Geschichte gestellten zentralen Fragen anzugehen sind. Gestützt auf diese Instrumente sowie auf die von Bourdieu selbst unablässig geleistete Selbstanalyse rekonstruiert der Beitrag die Merkmale, die Bourdieu zum exemplarischen Fall einer für die Sozialgeschichte der Intellektuellen unumgehbaren Gestalt werden lassen, wie auch die Faktoren, die zur Erklärung seiner Position berücksichtigt werden müssen. Diese "doppelte Rekonstitution" erfordert einen vergleichende sozialgeschichtlichen Ansatz, der die Besonderheit der strukturellen und konjunkturellen Bedingungen hervorhebt, die die von Bourdieu praktizierten Formen des Engagements ermöglicht haben. (ICA2)

Der Autor umreißt anhand der drei Begriffe - Gouvernementalität, Biopolitik und Problematisierung - das späte und fragmentarisch gebliebene Werk von Michel Foucault. Denn dieses weist in der Geschichte und Kritik der politischen Vernunft von allen Unternehmungen Foucaults - angefangen von der historischen Epistemologie und Diskursanalyse der 1960er Jahre bis hin zur Genealogie und Machtanalyse der 1970er Jahre - die größte Nähe, aber auch eine weitreichende Provokation zur politischen Theorie- und Ideengeschichte auf. Der Autor geht mit Foucault von einer aktuellen Krise des Regierens aus, wobei ein weiterer, nicht-etatistischer Regierungsbegriff unterstellt wird. Er zeigt, dass Foucaults anfängliche Krisendiagnose an Konturen gewinnt, indem der Gouvernementalitätsansatz das Regierungswissen, das Regierungsziel und die Regierungspraktiken miteinander verbindet. Von hier aus wird das weitgespannte Projekt verfolgt, das von Foucault bis in Antike verlängert wurde, wobei erst in der frühen Neuzeit der Staat als Selbstzweck begriffen wurde. Der Autor kritisiert zwar, dass die gleichzeitige historische Darstellung (Archäologie) und Kritik (Genealogie) bei Foucault systematisch unzureichend miteinander verbunden sind, hält aber dessen Ausweg der "Problematisierung" insgesamt für überzeugend. (ICI2)

Die Autorin geht davon aus, dass das "Gefühl Europa", das "We in Europe" die Basis für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit bildet. Diese ist dann jedoch anders fundiert als viele Öffentlichkeitstheorien nahe legen: Öffentlichkeit ist weder eine vor allem politische noch eine ausschließlich massenmediale Öffentlichkeit. Die Ausführungen zeigen erstens, dass es bereits vielfältige europäische Öffentlichkeiten gibt. Dafür wird auf ein von der Autorin entwickeltes 3-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit zurückgegriffen. Zweitens wird reflektiert, warum eine europäische Öffentlichkeit sich nicht ohne weiteres in das 3-Ebenen-Modell integrieren lässt. In dem Zusammenhang werden die Begriffe des medialen Identitätsraumes und der cultural citizenship eingeführt, deren Berücksichtigung für die Betrachtung von zugleich lokal-regionalen, nationalstaatlichen, und europäischen Öffentlichkeiten essentiell ist. Drittens wird untersucht, ob die vorliegenden Öffentlichkeitstheorien geeignet sind, eine europäische Öffentlichkeit zu denken. Insgesamt geht es der Autorin darum, sich genauer die Konstruktionsprozesse der der Öffentlichkeit zugrunde liegenden, medialen Identitätsräume anzusehen. Dass die Vorstellung einer europäischen Öffentlichkeit nach wie vor so prekär ist, hängt mit dem Demokratiedefizit auf europäischer Ebene zusammen, aber daneben auch mit Theorien, die dazu keine Alternativen bieten, weil sie Ansätze europäischer Öffentlichkeit jenseits der etablierten politischen Institutionen und der Massenmedien ignorieren. (ICA2)

Die Dringlichkeit der zunehmenden Durchsetzung der Menschenrechte weltweit steht für das westliche Normen- und Wertegefüge außer Frage. Aber die Menschenrechtsverstöße in allen Teilen der Welt - auch in Europa und Amerika - zeigen, dass staatliche und internationale Institutionen oft nur sehr wenig zum Schutz der Menschenrechte zu unternehmen gewillt sind. Nicht selten ist sogar das Gegenteil der Fall, wie sich anhand von Folterungen, Verschleppungen und Übergriffen durch Militär- und Polizeikräfte belegen lässt. Der vorliegende Beitrag argumentiert für die These, dass die Übernahme von Verantwortung im Hinblick auf die Schaffung und Einhaltung menschenrechtlicher Standards auf absehbare Zeit keinen besseren Anwalt als eine sich internationalisierende Zivilgesellschaft haben wird. Außerordentlich wichtig ist dabei, dass die Menschenrechte aufgrund ihres naturrechtlichen Charakters eine besonders wirkungsmächtige Beziehung mit einer vorsorgenden und Gerechtigkeit stiftenden Verantwortung eingegangen sind. Menschenrechts- und Verantwortungsnormen gehen insgesamt dem positiven Recht voraus und übersteigen es zugleich. Sie bilden gemeinsam eine "Kultur der Herausforderung" und der normativen Weiterentwicklung staatlichen und transstaatlichen Rechts. (ICA2)

Die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Raum und Zeit unterliegt - so die These des Autors - einer Pendelbewegung. Lange wurde dem Raum wenig Beachtung geschenkt, die Zeit stand im Vordergrund. Das gilt auch für die kritisch-marxistischen Sozialwissenschaften, nicht zuletzt für das Werk von Karl Marx und Friedrich Engels selbst. Der Autor stellt - mit Poulantzas - heraus, dass kapitalistische Staatlichkeit keinen "undimensionierten" Charakter hat, sondern nur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Formierung von Raum und Zeit thematisierbar ist. Der Autor würdigt in seinen Erörterungen zu Zeit, Raum und Nation in der "Staatstheorie" Poulantzas' Überlegungen als "bahnbrechend" in Hinblick auf ihre Herausarbeitung der Beziehung zwischen Nation und kapitalistischer Produktionsweise. Kritisch angemerkt wird, dass dieser unzulässigerweise spezifische Charakteristika des Fordismus zu Charakteristika des Kapitalismus im Allgemeinen verallgemeinert hat. Die "Pendelbewegung" zwischen Zeit und Raum in den Sozialwissenschaften macht eine Beschäftigung mit Poulantzas lohnenswert. Dieser hat schon in den siebziger Jahren beiden Kategorien gleichermaßen Beachtung geschenkt. Seine Ausführungen zu Raum und Zeit finden sich im Kapitel der "Staatstheorie" über die Nation. Ihr Ziel ist es, die Spezifika der kapitalistischen Zeit und des kapitalistischen Raums herauszuarbeiten. (ICA2)

Eliten haben in der Gesellschaft eine Integrationsfunktion. Sie sorgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie geraten allenfalls dann in Verzug mit der Erfüllung dieser Funktion, wenn es misslingt, sie ihrerseits in die Gesellschaft zu integrieren bzw. wenn sie sich ihrerseits in einem Ausmaß differenzieren, dass die Eliten sich multiplizieren und untereinander den Kontakt und damit auch den Blick auf ihre Funktion verlieren. Der Einsatzpunkt einer soziologischen Theorie der Elite liegt im Faktum der gesellschaftlichen Kontrolle der Integration der Gesellschaft durch zirkulierende Eliten. Eliten dürfen sich keinen Moment sicher fühlen, nur dann können sie ihre Funktion erfüllen. Eliten erfüllen ihre Integrationsfunktion auf der Ebene jenes umfassenden und besonderen sozialen Systems der Gesellschaft, in dem -stellvertretend für alle anderen sozialen Systeme- nichts anderes zur Diskussion steht als Erwartungen der Fortsetzung von Kommunikation schlechthin. (GB)

In der wissenschaftlichen und in der öffentlichen Diskussion hat sich der Begriff der Wissensgesellschaft als Charakterisierung der emergenten modernen Gesellschaft in den vergangenen Jahren insbesondere gegenüber konkurrierenden Bezeichnungen wie der postindustriellen Gesellschaft oder der Risiko- und Informationsgesellschaft durchsetzen können. Dies liegt daran, dass der Begriff der Wissensgesellschaft nicht nur auf die Besonderheiten der Gesamtgesellschaft, sondern auch auf die Probleme aller großen modernen gesellschaftlichen Institutionen wie Staat, Wirtschaft, Kirche, Familie und Wissenschaft anwendet werden kann. Der vorliegende Beitrag über das "magische Dreieck" von Bildung, Arbeit und Wirtschaft führt die Entstehung der "wissensbasierten Ökonomie" anders als gewohnt nicht auf veränderte Qualifikationsanforderungen des Beschäftigungssystems zurück, sondern auf das säkulare Wachstum des Angebots an gut ausgebildeten Arbeitskräften, an "Wissensarbeitern". Lernen und die Produktion von Wissen sind heute (möglicherweise) die entscheidenden Triebkräfte der heutigen Gesellschaften, und die (Bildungs-)Politik muss dieser Entwicklung Rechnung tragen. (ICA2)

"Due to advances in economic integration especially in Europe, labour markets need to be more flexible to ensure a smooth transmission of shocks. A higher degree of flexibility might cause a shift in labour demand. For example, a rise in the output and real wage elasticities in absolute value would indicate a stronger response to the changing economic environment. Whether or not aggregated labour demand has become increasingly unstable in recent years, is explored in this paper. Several interesting conclusions are derived. Cointegration can be established between the variables entering a standard labour demand function. The long run vector is in line with economic theory and similar across EU countries. The error correction models are broadly robust to a wide range of specification tests. There is no reliable evidence that globalization indicators such as trade openness has affected the cointegration parameters. Hence, the presumption that aggregated labour demand has become more fragile in the course of globalization is not supported by the data." (author's abstract)

Die Frage der Anerkennung ist für feministische Zugänge seit Anbeginn zentral, fußen doch die modernen Geschlechterverhältnisse auf der Betonung der Geschlechterdifferenz. Diese legitimiert(e) sowohl hierarchische Arbeitsteilungen und kulturelle Zuschreibungen. Das Berufen auf die Geschlechterdifferenz war und ist zudem mit hohen Anerkennungschancen für die männliche und starken Aberkennungserfahrungen für die weibliche Genusgruppe verknüpft. Zwar sind die Unterscheidungen heute feiner, widersprüchlicher, in sich differenziert und weniger offen benachteiligend, aber zentrale gesellschaftliche Bereiche wie z. B. jener von Care und Haushaltung sind nach wie vor weiblich belegt, damit "vergeschlechtlicht" und systematisch abgewertet, eben kaum anerkannt. Vor diesem Hintergrund diskutiert die Autorin das (herrschaftskritische) Potenzial des "Anerkennungskonzepts". Aus feministischer Perspektive werden drei Fragen erörtert: (1) Wie ist "Anerkennung" aus ihrer Verankerung in den gesellschaftlichen Hierarchien zu lösen? (2) Inwieweit ist das Verleihen von Anerkennung aus einer unterlegenen Akteurs-Position möglich? (3) Ist die Anerkennung von Differenz(en) jenseits von Festschreibungen möglich? (ICA2)

Die Wahrnehmung der politischen Theorie von Thomas Hobbes und seines "Leviathan" wird im deutschen Diskurs nach Einschätzung des Autors immer noch durch die Hobbes-Rezeption Carl Schmitts verstellt, die sich wiederum als eine doppelte bzw. widersprüchliche Rezeption erweist - je nachdem, ob sie sich am ursprünglichen Traktat über den "Leviathan" von 1938 oder am Rezensionsaufsatz "Die vollendete Reformation" von 1965 orientiert. Der Autor entwickelt zu dieser Unterscheidung zwischen dem "Leviathan" von Hobbes und der "Leviathan"-Rezeption durch Carl Schmitt folgende drei Thesen, die er jeweils mit knappen Erläuterungen zur Diskussion stellt: (1) Carl Schmitts Interesse am "Leviathan" von Hobbes ist ein letztlich mythologisches Interesse. Thomas Hobbes ist jedoch ein Denker der Ent-Mythologisierung. (2) Thomas Hobbes hat versucht, die Alternative zwischen der Stärke des Rechts und dem Recht des Stärkeren nach einem Superlativ hin aufzulösen, nämlich zugunsten des Rechts des Stärksten. Carl Schmitt ist hingegen allein an der Macht bzw. am Kult des Stärksten interessiert. (3) Über die Staatstheorie von Thomas Hobbes lässt sich trefflich streiten - für die Beziehung zwischen Staaten ist daraus allerdings nichts zu gewinnen. (ICI2)

Der Beitrag geht der Frage nach, wie das im vorliegenden Sammelband entwickelte Modell zum "europäischen Gemeinwohl" (EGW) auf die Rolle und den Interaktionszusammenhang der Europäischen Kommission (EK) als supranationaler Akteur anzuwenden ist. Die Triade von "Idee, Handlung und Wirkung" setzt die Idee des EGW voraus. Die Anwendung des Modells auf die Europäische Kommission (EK) zielt auf die methodische Ermittlung von Determinanten, Indikatoren und Parametern zur Beantwortung dreier Grundfragen: die nach der Gemeinwohlberechtigung, der GW-Befähigung und der GW-Wirkung der EK. Sie bilden die kategorialen Rahmen für die Anwendung des GW-Modells auf die EK. In vier Tabellen werden die methodischen Determinanten für ein operationales Untersuchungsdesign zur empirischen Ermittlung der Problemstellung rekonstruiert. Methodologisch sind drei operationale Schritte erforderlich: einerseits die Rekonstruktion der Kommission als supranationaler Akteur, zweitens ihre Verortung in dem heuristischen Modell des EGW als methodische Basis eines Forschungskonzeptes und schließlich seine Ausdifferenzierung durch die Ermittlung der relevanten Kategorien, Dimensionen und Indikatoren, die ihren Handlungsraum und Wirkungsgrad bestimmen. (ICA2)

Der Autor schildert einen Ansatz zur analytischen Erfassung der Weltgesellschaft, in dessen Rahmen die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühnen der Weltgesellschaft, zwischen formellen und informellen Strukturen von zentraler Bedeutung ist. Ihm zufolge rückt die Analyse informaler Strukturen, die sich jenseits der Homogenität globaler Formalstrukturen eröffnen, ins Blickfeld einer Soziologie der Weltgesellschaft. Der Verfasser argumentiert, dass in vielen nicht-westlichen, peripheren Regionen nicht in gleichem Maße vorauszusetzen ist, dass informale Strukturen schon aufgrund ihres eingeschränkten Geltungsbereichs eine nachrangige Stellung gegenüber den Formalstrukturen einnehmen. Die Informalität erweist sich oft als der nachhaltiger institutionalisierte Erwartungskomplex. Wenn vergleichende Forschung sich auf die Formalstrukturen der Weltgesellschaft konzentriert, bleibt sie dadurch einseitig und ist schlecht vorbereitet auf die zusätzlichen Freiheitsgrade, die in der Entkopplung von formalen Normen und informalen Institutionen liegen. Insofern sich Zonen der Informalität in einer funktional differenzierten Weltgesellschaft regional stabilisieren, so die Kernthese des Beitrags, wäre dann bis auf weiteres auszugehen von einer Weltgesellschaft mit zwei Gesichtern: dem der offiziellen, globalen Beobachtern zugänglichen formalen Strukturen und dem der inoffiziellen, in regionalen Netzwerken abgestützten Informalität. (ICG)

Der Beitrag analysiert das kulturelle Gedächtnis Europas und fragt, inwiefern es zur europäischen Identität beitragen kann. Das kulturelle Gedächtnis scheint zunächst verbindlich an eine Nation bzw. ein Menschenkollektiv gebunden zu sein und nicht nur an eine gedachte Ordnung wie Europa. Dennoch ist der Autor zuversichtlich, dass das wachsende europäische Selbstbewusstsein, von ihm als "Eurozentrik" im Gegensatz zu Eurozentrismus bezeichnet, die Sichtbarkeit Europas erhöhen und in der Folge auch die europäische Identität stärken wird. Die Überlegungen verknüpfen insgesamt zwei Diskurse der Gegenwart, einen älteren und einen jüngeren: den Diskurs über europäische Identität und den Diskurs über das kulturelle Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis Europas gibt es jedoch ebenso wenig wie die kulturelle Identität Europas. Beide sind nur als gedankliche Konstrukte konzipierbar, die auf eine vielschichtige, komplexe Realität verweisen; sie sind insbesondere nicht ablösbar von den schwierigen europäischen Debatten über die darauf bezogenen Werte und Wertentscheidungen. (ICA2)

Die Debatten um "europäische Werte" der vergangenen Jahre sind zentral um das Projekt einer europäischen "Verfassung" gruppiert bzw. von diesem angetrieben. Mit dem Begriff einer "europäischen Verfassung" und den beiden Konventen von 1999 und 2002/2003 erreichte dieses Projekt seinen symbolischen Höhepunkt. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass die jüngste Krise des "Verfassungsprojekts" auf eine tiefere Problematik des Missverhältnisses von europäischen Realitäten und politischen Formen bzw. Leitbildern hindeutet. Jenes etatistische Paradigma, dem der EU-europäische Diskurs seine Gemeinplätze und Pathosformeln entlehnt, entspricht den Realitäten vor allem des erweiterten Europa nicht. Die geweckten Erwartungen von mehr Demokratie, mehr Rechten, mehr Wohlstand können nicht eingelöst werden. Vielmehr verlagern sich die Aktivitäten zusehends in den Bereich des Scheins, der Rhetorik, der Inszenierungen: Verfassungsvertrag und Grundrechtscharta erscheinen dabei besonders deutlich als bloßes Mimikry einer Form bzw. eines Genres, wo Fragen der Substanz in den Hintergrund treten. So wundert den Autor Folgendes nicht: Während die Kommission in Umfragen wiederholt Zustimmungsraten zu einer "europäischen Verfassung" bis zu 70 Prozent in allen alten und neuen Mitgliedsstaaten erhob, zeigt der Ratifikationsprozess entweder Apathie oder Ablehnung. Der Begriff bzw. das Genre "Verfassung" genießt also hohen Kredit - dessen einfache Übertragung auf Europa kann hingegen nicht überzeugen. (ICA2)