Die Situation der Forschungsliteratur zum Mode-Begriff "Immersion" ist eine schnelllebige. Dies beweist aus der Perspektive des aktuellen Jahres 2020 dieser 2018 erschiene Band mit dem Titel Immersion – Design – Art: Revisited. Transmediale Formprinzipien neuzeitlicher Kunst und Technologie, der in Kooperation verschiedener Kunst- und Fachhochschulen in Kiel und Münster, basierend auf einer Tagung von 2016, erarbeitet wurde. Während nach der Veröffentlichung von Fabienne Liptays und Burcu Dogramacis Immersion in Visual Arts and Media im Jahr 2016[1] im medienwissenschaftlichen Bereich eine zweijährige Pause der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Immersion entstanden ist (die lediglich mit praktischen Zuwendungen wie etwa dem mehrjährigen Ausstellungsprojekt "Immersion" der Berliner Festspiele zu füllen wäre), erscheint 2018 etwa zeitgleich mit Rainer Mühlhoffs in der Philosophie angesiedelter Dissertation Immersive Macht hier noch eine weitere Publikation. Der Sammelband hat sich eine "eigenständige medientheoretische Perspektive" vorgenommen, "in der Medienkunst weder als einfacher Effekt der Medientechnologie erscheint, noch die gesellschaftliche Realität der Medien mit der künstlerischen Phantasie der Medienkünstler verwechselt wird" (S. 7). In dieser Dimension schlägt die hier vorgelegte Veröffentlichung der Herausgeber Lars C. Grabbe, Patrick Rupert-Kruse und Norbert Schmitz in eine verwandte Kerbe zu Mühlhoffs Buch, der als "immersive Macht" "den strategischen Machteffekt [begreift], der sich auf der makroskopischen Ebene affektiver Resonanz- und Interaktionsmuster"[2] manifestiert. Überdies bleibt der Sammelband anschlussfähig an die 2019 erschienene Ausgabe der Navigationen-Zeitschrift, die herausgegeben von Thiemo Breyer und Dawid Kasprowicz den Titel Immersion. Grenzen und Metaphorik des digitalen Subjekts trägt und betont, sie wolle "die reziproken Verhältnisse zwischen Subjekt und Objekt, Werk und Rezipient"[3] untersuchen. Und trotzdem liegt hier ein sich von diesen (medien-)philosophisch orientierten Schriften stark unterscheidendes Buch vor. So präsentiert sich der Sammelband im Vergleich zur 2016er-Tagung als wesentlich theoretischer; im Vergleich zu anderen aktuellen Texten des Diskurses aber praktischer orientiert. In der Einleitung wird bereits auf die unüberwindbare Utopie hingewiesen, die den Diskurs um immersive Erfahrungen und Medientechnologien durchzieht, seit mit Oliver Graus Buch Virtual Art. From Illusion to Immersion (2003)[4] das Schreiben einer Genealogie immersiver Medienformate als lineare und teleologische Steigerung medialer Mimesis begonnen wurde. Jener Steigerungslogik steht auf theoretischer Seite einerseits der Vorwurf der Negation zeitspezifischer Wahrnehmungskonfigurationen auf Nutzer*innenseite gegenüber, welche die Herausgeber im Verweis auf die veränderten Wahrnehmungsmodalitäten von digital natives thematisieren. Andererseits muss auch die oft formulierte Annahme eines Immersionsbedürfnisses als anthropologische Konstante mit Kritik insofern rechnen, als dass einem 'perfektionierten' Realitätseffekt von Repräsentationen mit der philosophischen Sicht auf die mediale Illudierung als willing suspension of disbelief längst eine dynamischere Konzeption entgegengestellt wurde. Dieser komplexen Konzeption des Immersionsdiskurses kommt der Sammelband differenziert nach, indem in verschiedenen Artikeln theoretische Binärkategorien wie Realität vs. Virtualität, Unmittelbarkeit vs. Hypermedialität[5], Kunst vs. Medialität, Ästhetik vs. Aisthesis sowie Immersion vs. Reflexion aufs Neue befragt und deren Dualismus zur Debatte gestellt wird. Gleichzeitig ist dem Buch sein Ursprungsort, das praktisch orientierte "Institut für immersive Medien" in Kiel, das auch einer der beiden Austragungsorte der Tagung war, weiterhin anzumerken. Randbemerkungen wie jene über einen "Fortschritt der Technologien" (S. 8) oder Aussagen wie "Diese Unterscheidung [zwischen einer Gleichzeitigkeit von der Wahrnehmung des Bildgegenstandes als einer außerbildlichen Referenz und dem Bewusstsein des Bildes als solchem] ist logischerweise bei vollständiger Immersion nicht mehr möglich." (S. 11) erweisen, dass das Anliegen des Buches in Wahrheit ein doppeltes ist: Einerseits den wahrnehmungstheoretischen Novitäten im Diskurs Rechnung zu tragen, gleichzeitig jedoch die technologische Komponente – die Frage nach den technischen Potenzialen sogenannter immersiver Medien – weiterhin aufrecht zu erhalten. Ein solches doppeltes Anliegen manifestiert sich auch in der inhaltlichen Zweiteilung des Buches in Teil 1 "Die Kunst der Immersion", der sich mit der "Spezifik des Künstlerischen gegenüber dem allgemein Medialen" (S. 8) auseinandersetzt, und Teil 2 "Zur Ästhetik der Immersion", der sich eine "systematische Bestimmung von Begriff und Phänomen hin zu gegenwärtigen und einschlägigen kulturellen Praxen" (S. 16) vorgenommen hat. Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass die Herausgeber entschieden haben, zwei ältere und etwas eingestaubt wirkende Texte – Oliver Graus Aufsatz zur Telepräsenz von 2001 und Lambert Wiesings Antrittsvorlesung zur Unterscheidbarkeit von Virtualität und Imagination von 2005 – wieder abzudrucken, zumal es die originären Autoren den Herausgebern sogar selbst überlassen haben, Abstracts für deren Texte zu formulieren. Auf den zweiten Blick lässt sich diese Entscheidung aber mit der in diesen Artikeln angesprochenen Technikgeschichte der Utopien und Mythen (Grau) sowie der Unterscheidung von "Kontinuitätstheoretikern" und "Diskontinuitätstheoretikern" (S. 140) als Ausgangspunkte der oben angesprochenen Diskurse begreifen, die auch in den anderen Beiträgen weitergeführt werden. Von diesen erscheinen vier insbesondere erwähnenswert: etwa jener von Norbert Schmitz, dessen provokante Frage, ob wir nicht grundlegend in Immersionen leben würden, wiederum zu einer komplexen Befragung der Funktion einer "Kunst der Immersion" führt. Schmitz formuliert als Fazit seines Textes klug: "Die 'Kunst der Immersion', ob nun als subversive Strategie innerhalb der Populärkultur oder innerhalb des Kunstsystems, bestände also darin, die ästhetische Differenz zwischen Objekt und seiner Abbildung wieder sichtbar zu machen, aber nicht im überkommenen Geist einer Dekonstruktion der Mimesis, sondern als Thematisierung der vollständigen Konstruiertheit unserer alltäglichen phänomenalen Wahrnehmung als unüberschreitbare Grenze und conditio humana" (S. 73) und schafft so die thematische Verbindung zu einem Artikel im zweiten Teil – jenem von Jonathan Lahey Dronsfield. Dieser befragt in seinem Text unter anderem den anthropologischen Wunsch nach "immediacy" neu und stellt dabei ganz ähnlich fest: "[W]hat is the desire for 'unified experience' in an immersive environment […]? Nothing other than the longing for subjectivity in the loss of self" (S. 189). Dass neben der technologischen Überwältigungsstrategie also auch das rezipierende Subjekt theoretisch befragt werden muss, zeigt ebenso der Text von Alberto Gabriele auf, der aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Relevanz eines interdisziplinären Blickwinkels andeutet, um spezifische Wahrnehmungskonfigurationen zu spezifischen Zeit-Punkten untersuchen zu können. Gabriele inspiziert dafür beispielhaft die Wechselwirkung zwischen dem "cartographic writing" (S. 193) und der Position, die ein*e Zuschauer*in während der Rezeption eines Panoramas einnimmt. Seine Schlussfolgerung, "[v]ision, therefore, becomes a self-induced normative rearrangement of the faculties of memory and perception" (S. 203) beschreibt so Immersion mit der nötigen Komplexität und Relationalität. Eine solche Komplexität klingt auch in Lars C. Grabbes Text an, wenngleich dieser über die von ihm sogenannte "Phänosemiose" (die "medieninduzierte Körper-Geist-Dynamik" (S. 155)) "die menschliche Wahrnehmung [als] abhängig von der jeweils kulturell realisierten medialen Technizität" (S. 158) beschreibt, jedoch die Frage nach einer möglichen Autonomie des Subjekts gänzlich außen vor lässt. Weitere Texte des Bandes sind Patrick Rupert-Kruses Beschäftigung mit verschiedenen Formen medialen Realismus' (im Spiegel von Ästhetik und Aisthesis), Diego Mantoans Generationenvergleich von Videokünstler*innen, der Videotechnologien auf ihre "aesthetic maturity" befragt, Carolina Fernández-Castrillos Rückblick auf die "desire of uniting art and life" (S. 127), die die Futurist*innen in ihren Manifesten vorgeschlagen hatten, und Christiane Heibachs Bericht von einem Versuch, Proband*innen in eine synästhetische Medienumgebung zu versetzen, während theoretisch auf Mark Weisers Konzept der Re-Naturierung von Technik, der Nahtlosigkeit zwischen Welt und Repräsentation zurückgegriffen wird. So verbleibt nach der Lektüre der hinsichtlich ihrer Aktualität, ihrer Diskursfreudigkeit und ihrer Verzahnung von Theorie und Praxis höchst heterogenen Texte vor allem ebendiese Verschiedenheit als erfreulicher Output: Indem das Buch praktische wie theoretische, disziplininterne wie interdisziplinäre, aktuellere wie ältere Perspektiven auf den medienkünstlerischen und -wissenschaftlichen Immersionsbegriff präsentiert, scheint zwar gelegentlich die Bezugnahme auf die aktuellen Publikationen im gleichen thematischen Feld – etwa zu Liptays und Dogramacis Herausgeber*innenschaft – aus dem Blick zu geraten. Insgesamt präsentiert sich das Buch jedoch als adäquates Nachschlagewerk, in dem sehr verschiedene Zugänge zur Immersion aufeinandertreffen. Um diese erfreuliche Heterogenität weiter voranzutreiben, wäre zwar auch das Hinzuziehen marginalisierter Perspektiven auf die vermeintlich anthropologische Konstante Immersion wichtig gewesen. Es bleibt jedoch darauf zu hoffen, dass eine solche – die bislang prominenten Diskurspfade verlassende – alternative Schreibweise einer politisch äußerst relevanten Geschichte immersiver Medien im nicht-westlichen Erfahrungsraum in künftige Publikationen stärker Einzug nehmen wird. Im hiesigen Sammelband sind zumindest einführend Gedanken für einen solche zeitgemäße Heterogenität zu finden. [1] Fabienne Liptay/Burcu Dogramaci (Hg.): Immersion in Visual Arts and Media. Leiden 2016. [2] Rainer Mühlhoff: Immersive Macht. Affekttheorie nach Spinoza und Foucault. Frankfurt/New York 2018, S. 22. [3] Dawid Kasprowicz/Thiemo Breyer (Hg.): Immersion. Grenzen und Metaphorik des digitalen Subjekts. Ausgabe von: Navigationen, Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaft 19/1, 2019, S. 8. [4] Oliver Grau: Virtual Art from Illusion to Immersion. Cambridge/London 2003. [5] Jay Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge 1999.
Rolf Schwendter, Liedermacher und Autor, Professor für Devianzforschung an der Gesamthochschule in Kassel, Mitbegründer und Funktionsträger vieler kultureller und sozialpolitischer informeller Gruppen und Initiativen, beschäftigt sich in dem vorliegenden Buch mit einer seiner zahlreichen Aktivitäten: dem Lesetheater (genauer: Erstes Wiener Lesetheater und Zweites Stegreiftheater). Für Schwendter, der die gesellschaftliche Devianz, also abweichendes Normverhalten, definiert, analysiert und dokumentiert (u.a. Theorie der Subkultur, 1971), ist die Aktivität für sein Lesetheater auch ein Teil der Erforschung sozialer Strukturen, zugleich aber auch aktiv-teilnehmendes, lustvoll-künstlerisches Agieren und bisweilen auch Agitieren. Nicht mit lautem Widerstand, Hohn und Aggressivität kämpft Schwendter gegen verlogene Gesellschaftsstrukturen und -inhalte. Seine Auftritte sind geprägt von Ideenreichtum, konzentrierter Beherrschung psychisch-physischer Verfaßtheit, Präsens und Sensibilität aller Sinne und vor allem auch gekennzeichnet durch kollektive kommunikative Begegnungen, die schon im Ausschreiben und Verteilen der einzelnen Rollen eine erstaunlich intuitive Einbeziehung von Persönlichkeitsbildern erkennen lassen. Anlaß für die Entstehung des nunmehr vorliegenden Buches war der 10. Jahrestag der Gründung des Ersten Wiener Lesetheaters und Zweiten Stegreiftheaters im September 1990. Ursprünglich als Jubiläums-Broschüre geplant, die das Lesetheater, das sich zu einer eigenständigen Form künstlerischen Schaffens zu entwickeln begonnen hatte, und seine Aktivisten dokumentieren sollte, stieß Schwendter bei der Materialsammlung auf eine thematische Leerstelle im Hinblick auf deutschsprachige Publikationen zum Lesetheater. Schwendters Lesetheater, gegründet von Manfred Chobot, Brigitte Gutenbrunner, Evelyn Holloway, Ottwald John, Hansjörg Liebscher, Günther Nenning und Rolf Schwendter, sollte daher auch in einem historischen und theaterrelevanten Rahmen diskutiert, die soziokulturellen Aspekte sollten aufgezeigt und andere, zeitgenössische Lesebühnen im deutschsprachigen Raum einbezogen werden. Das Wesen des Lesetheaters sieht Schwendter darin, daß Personen ein Stück vorschlagen, besetzen, ohne zeitintensive Probenarbeit vorbereiten, um es einander in der Gruppe sowie dem erschienenen Publikum vorzulesen. Die Entstehungsgeschichte des Lesetheaters setzt Schwendter zeitlich mit der römischen Kaiserzeit an und nennt als Begründer des Lesetheaters Seneca. Schränkt allerdings ein, "daß Lesedrama nicht umstandslos mit Lesetheater gleichzusetzen ist." Senecas Stücke sollten zwar gelesen, aber der Akt des Lesens selbst, das Verteilen der Rollen sollte nicht einbezogen und öffentlich, vor großem Publikum aufgeführt werden. Allein und daheim sollte das betreffende Theaterstück rezipiert werden. Leseaufführungen und auch Lesedramen sind fast zwei Jahrtausende lang nicht dokumentiert. Vor der Erfindung des Buchdrucks waren Lesen und Schreiben ausgesprochen mühselige und zeitaufwendige Angelegenheiten, die nur einem kleinen gebildeten Personenkreis vorbehalten waren. Erst die Einführung der allgemeinen Schulpflicht unter Maria Theresia verringerte die Zahl der analphabetischen Bevölkerung. Lesetheater fand zunächst nur in spezialisierten Teilkulturen statt: in Klöstern und Lateinschule, wobei die Einübung der griechischen und lateinischen Sprache im Vordergrund stand. Seneca, Plautus und Terenz wurden in den Lateinschulen des Spätmittelalters gelesen. Die pädagogische Zweckbestimmung, das Einüben und Kennenlernen guter Sitten, die Schulung der Deklamationstechnik standen dabei im Vordergrund. Der didaktische Impuls hat sich bis heute erhalten, denkt man etwa an das Lesen eines Theaterstücks mit verteilten Rollen im Deutschunterricht der Mittelschulen. Grenzfälle des Lesetheaters ortet Schwendter in den literarischen Salons, insbesondere im 18. und frühen 19. Jahrhundert, sowie in den adeligen und bürgerlichen Liebhabertheatern. Goethe, Zacharis Werner und Ludwig Tieck lasen für Freunde in einem humanistisch gepflegten Rahmen aus eigenen Stücken vor. Goethe unterschied dabei zwischen einer neutralen Rezitation und einer leidenschaftlichen-rollengemäßen Deklamation. Schlegel hingegen verwarf die Deklamation als gesellige Literaturvermittlung und zog das leidenschaftslose Lesen vor. Tieck und Holtei galten als berühmte lesende Interpreten der eigenen Werke, ihre Virtuosität war in ganz Deutschland bekannt. Eine andere Form des Lesetheaters war in der Hamburger Schauspielakademie üblich. "Gemeinsam lesen" hieß hier, daß eine Person, die nicht mit dem Autor identisch war, das gesamte Stück den anderen (Anwesenden) vorlas. In Hamburg war dies sehr oft der Schauspieler Ekhof, überdies gab es einen Kreis von Kunstenthusiasten (Gelehrte, Juristen, Kaufleute, Schauspieler), die Shakespeares Dramen (in der Übersetzung von Wieland und Eschenburg) auf ihre Aufführbarkeit überprüften. Die Sturm- und Drangdramen wurden zunächst gelesen und "begutachtet". Im Wiener Salon der Karoline Pichler fanden regelmäßig Leseaufführungen statt, die als Schutzraum vor Zensurmaßnahmen und Werkverstümmelungen dienten. Das Lesen mit verteilten Rollen bot überdies die Möglichkeiten kollektiver Textinterpretation. Ein weiterer Grenzfall von Lesetheater sieht Schwendter in der Programmatik von Dada. Das Prinzip des Cabaret Voltaire in Zürich waren dadaistische Orchestrierungen von Lesungen, Musikstücken, rhythmischen Performances und Tänzen. Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit Simultangedichten auf: ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen und die Ausdrucksstärke der Stimme exerzieren. Marinetti hielt 1908 in Triest futuristische Rezitationsabende ab. Dramatische Lesungen etwa von Karl Kraus oder der Schauspielerin Gertrud Eysoldt im öffentlichen Rahmen lösten schließlich im 20. Jahrhundert den Salon-Gedanken ab und stellen bis heute publikumswirksame Leseabende mit anlaßgebundener und gemischter Lyrik- und Stückauswahl von Schauspielern dar. Klaus Kinsky und Oskar Werner erreichten Kultstatus, Michael Heltau und Karl Heinz Hackl rufen zumindest Applausstürme hervor. Als legendäre Leseaufführung gilt Picassos surrealistisches Stück Wie man die Wünsche beim Schwanz packt in der Pariser Wohnung des Schriftstellers und Ethnographen Michel Leiris im März 1944. Albert Camus las die Zwischentexte, stellte die Rollen vor, beschrieb das Bühnenbild. Simone de Beauvoir beschreibt die Atmosphäre dieser Lesung als Mittelding zwischen Stegreiftheater und Art-Session. Schwendter unternimmt den mühevollen, bisweilen verschlungenen, durchaus aber verdienstvollen Weg, der 2500jährigen (europäischen) Theatergeschichte Details zum Lesedrama/theater abzutrotzen. Die letzten Kapitel des Buches sind internationalen Lesetheater-Unternehmungen gewidmet. So wird die Hamburger Lesebühne (1950-1953) dokumentiert. Rolf Italiaander überzeugte mit seiner Idee, für die zurückgesetzten westdeutschen Theaterautoren mit staatlicher Unterstützung etwas zu tun. Ida Ehre stellte die Hamburger Kammerspiele zur Verfügung, um nicht gespielte Autoren vorzustellen. Subkulturelle Aktivitäten setzte die Wiener Informelle Gruppe um Friedl Schindler, Heinz Zwerina, Gerhard Zehetgruber und Rolf Schwendter in den Jahren zwischen 1959 und 1967. In außergewöhnlichen Veranstaltungsorten, etwa Burgruinen, im Kobenzel-Bunker, in Lagerräumen, Kohlenkellern und Privatwohnungen, versammelten sich lesefreudige Aktivisten, um vor allem Büchner, Brecht, Sartre, Ionesco zu lesen, die obligatorische Sammelbüchse schepperte am Ende der Vorstellung. Im Kasseler Lesetheater im offenen Wohnzimmer, 1981 von Rolf Schwendter gegründet, gibt es im Gegensatz zum Wiener Lesetheater keine Subventionen und Honorare; so kann es durchaus vorkommen, daß der als Publikum gekommene Besucher unversehens einen Text in der Hand hält und Lesender geworden ist. Eine nicht zu übersehende Rolle spielt die Existenz der Gesamthochschule Kassel, die Hochschullehrenden und Studierenden stellen einen Großteil der Mitwirkenden und Verantwortlichen am Lesetheater dar (insbesondere das Umfeld des wissenschaftlichen Zentrums für Psychoanalyse, ebenso der Fachbereich Sozialwesen). Das Bremer-Lesetheater beginnt 1992 seine Aktivitäten unter Johannes Feest, das im Jänner 2001 eine Gedenklesung für H. C. Artmann veranstaltet. Das Hamburger Lesetheater existiert seit 1999 unter seinem Initiator Thomas Rau. Über einige andere deutschsprachige Lesetheater hinaus hat Schwendter ähnliche Aktivitäten u.a. in Los Angeles recherchiert. Auch zahlreiche Wettbewerbe, etwa das Oxforder Fest der gesprochenen Dichtung und die jährlich in Connecticut stattfindende National Playwriter's Conference finden Erwähnung. Das "Rehearsed theatre", wie die Leseaufführungen bei dieser Konferenz genannt werden, findet auf vier Bühnen statt. Jährlich gibt es ungefähr 1000 Einsendungen, zwölf bis sechzehn Stücke werden ausgewählt und von Off-Broadway-SchauspielerInnen gelesen. Lesemarathons beim Open Ohr Festival in Mainz 2000, die szenischen Lese-Aufführungen bei den Rauriser Kulturtagen, die Reihe "Dichter zu Gast" bei den Salzburger Festspielen und die Wagner-Leseaufführungen, u.a. von der Gesellschaft für Musiktheater veranstaltet, zeigen, daß diese zunächst so exotisch anmutende Gattung durchaus kein Schattendasein führt. Eine weitere Sparte, die in den letzten Jahren hinzukam, ist die der Drehbuchlesungen. Unveröffentlichte Drehbücher werden mit verteilten Rollen vor Publikum gelesen. So fand im Februar 2002 eine Drehbuchlesung im ausverkauften Filmcasino Wien statt, die auch im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Auch das Medium Internet beschäftigt sich mit dem Lesetheater. Im Zuge des Festivals Crosswaves im Frühling 1996 wurde an der Universität in Pennsylvania das Chat-Theater organisiert. 13 Akteure in zehn verschiedenen Städten in den USA und Kanada wirkten live und online an diesem Projekt mit, sie erhielten ein Manuskript mit festgelegten Sätzen und Raum zur Interpretation. Die letzten Kapitel widmet Schwendter wieder der Programmatik und den Weggefährten seines Ersten Wiener Lesetheaters und Zweiten Stegreiftheaters (zweites deshalb, weil Schwendter als Initiator des Ersten Stegreiftheaters Jakob Levy Moreno sieht). Kam zunächst die Leseaktivität im Hinblick auf die Zahl der Aktivisten und der Leseaufführungen nur stockend voran, ist die Beteiligung und die Zahl der Aufführungen in den letzten Jahren rasant angestiegen. Mittlerweile verfügt Schwendter über einen Pool von über 400 Aktivisten, die jederzeit einen Abend eigenverantwortlich gestalten können. Das leitende Dreiergremium kann wohl ein Veto einlegen, von diesem Recht wurde aber bisher noch nie Gebrauch gemacht. Schwendters seit 1990 genau geführte Statistiken informieren über die aufgeführten Stücke, über Mitwirkende und Verantwortliche und über die Schauplätze der Aufführungen. Schwendters detailreiches Buch beschreibt Geschichte und Gegenwart des Lesetheaters, vermittelt Einblick in seine jahrzehntelange Erfahrung mit diesem Genre. Überdies erweist sich Schwendter diskursbereit für theaterwissenschaftliche Fragestellungen.
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Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume kritisiert die BAföG-Reform von BMBF-Chefin Stark-Watzinger, fordert eine Zeitenwende auch in der Wissenschaftspolitik – und sagt, warum die Hochschulen im Krisenfall zur Kooperation mit der Bundeswehr verpflichtet werden sollen.
Markus Blume, 49, ist studierter Politikwissenschaftler und war von 2018 bis 2022 CSU-Generalsekretär. Seit Februar 2022 ist er bayerischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst. Außerdem fungiert er als länderseitiger Vorsitzender der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern (GWK). Foto: Axel König.
Herr Blume, das Bundeskabinett beschließt heute den nächsten Schritt der BAföG-Reform von Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Damit sollen weitere strukturelle und finanzielle Verbesserungen "noch in diesem Jahr" erreicht werden, sagt das BMBF. Was sagen Sie?
Ich bin sehr enttäuscht von diesem Entwurf. Und ich bin mir sicher, dass Millionen von Studierenden in Deutschland auch enttäuscht sind. Denn dieser groß angekündigte Beschluss geht am Notwendigsten vorbei: der zwingend erforderlichen Anhebung der Bedarfssätze. Die Bundesregierung setzt hier die falschen Prioritäten. Auf der einen Seite beim Bürgergeld großzügig sein, aber den Studierenden mit einer Nullrunde kommen. Das passt nicht zusammen und verfehlt die Lebensrealität der Studierenden.
Ein wenig wohlfeil ist Ihre Entrüstung schon angesichts der Tatsache, dass die Bundesländer seit 2016 den Bund allein das BAföG finanzieren lassen, oder?
Dadurch wird die Kritik nicht weniger relevant, zumal der Bund auch die steigenden Mietkosten der Studierenden nicht berücksichtigt und die immerhin vorgesehene Erhöhung der Freibeträge viel zu gering ausfällt. Anstatt bei den bewährten Instrumenten für alle großzügiger zu sein, will die Koalition mit einem Teil des eingesparten Geldes ein neues Programm starten, die Studienstarthilfe. Die aber im Kern zunächst vor allem eines bedeutet: noch mehr Bürokratie bei der Antragstellung und Bewilligung. Mir fehlt hier die Sinnhaftigkeit. Wir wissen doch, unter welchem Druck die Studierenden und Auszubildenden heute stehen. Wenn wir gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels Interesse daran haben, unsere jungen Menschen hier im Land auszubilden, dann braucht es für unsere Talente die bestmögliche Startrampe. Diese wirksame Startrampe war über Jahrzehnte das BAföG. Daher klare Botschaft: die Bedarfssätze deutlich anheben, aber auf bürokratische Monster wie die Studienstarthilfe verzichten.
"Das macht mich zunehmend unruhig, und ich spüre dieselbe Unruhe bei meinen Ministerkolleginnen und -kollegen."
Ihre öffentliche Enttäuschung passt nicht zu dem Eindruck, dass zuletzt Tauwetter zwischen Bundesministerin Stark-Watzinger und ihren Länderkollegen herrschte. Das vertrauliche Kamingespräch vergangene Woche am Vorabend der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) soll fast schon harmonisch verlaufen sein.
Was nichts daran ändert, dass die entscheidende wissenschaftspolitische Frage noch unbeantwortet bleibt: Wann kommt die Zeitenwende, die der Bundeskanzler vor zwei Jahren ausgerufen hat, bei Wissenschaft und Forschung an? Das macht mich zunehmend unruhig, und ich spüre dieselbe Unruhe bei meinen Ministerkolleginnen und -kollegen aus den Ländern. Wir müssten viel mehr tun. Es braucht mehr Missionsorientierung – und zwar kooperativ gedacht, in der Gemeinschaft von Bund und Ländern. Eine Zeitenwende bedeutet ja nicht nur mehr Geld, sondern vor allem bedeutet sie mehr Fokus – und eine bessere Koordination zwischen Bund und Ländern und den unterschiedlichen beteiligten Ressorts. Bei den Schüsselmissionen für unsere Zukunft von der Künstlichen Intelligenz über das Quantenrechnen bis hin zu neuen Energieformen wie der Kernfusion geht es nur gemeinsam mit Bund und Ländern.
Bei der neuen Wissenschaftsministerkonferenz, auf die Sie und Ihre Kollegen sich gerade geeinigt haben, nehmen Sie den Bund auch nicht mit ins Boot.
Nochmal, das Gebot der Stunde ist: Fokus, Fokus, Fokus. Die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen sind in erkennbarer Weise endlich – im Bund und in den Ländern. Weshalb wir uns auch auf Länderseite besser konzentrieren und koordinieren müssen. Dazu brauchen wir einen geschützten Raum, wo wir uns austauschen können. Die WissenschaftsMK wird dieser Raum sein.
Wie passt die Gründung einer neuen Ministerkonferenz innerhalb der bestehenden Kultusministerkonferenz eigentlich zu der Kernkritik an der KMK, diese bestehe schon jetzt aus viel zu vielen und oft genug nur schlecht miteinander abgestimmten Gremien?
Die KMK hat schon einen Bereich Hochschule. Doch die aktuellen Strukturen sind nicht geeignet, um den Herausforderungen der Zeitenwende zu begegnen. Das ist das übereinstimmende Ergebnis aller Kommissionen und Gutachter. Insofern passt die neue WissenschaftsMK sehr wohl zu der gemeinsamen Grundüberzeugung von Schul- und Wissenschaftsministern, dass wir in der KMK schlanker, handlungsfähiger und agiler werden wollen – und müssen. Wir werden getrennt marschieren, trotzdem aber an den gemeinsamen Themen weiter gemeinsam arbeiten. Ich halte es für klug, dass sich die Wissenschaftsseite kraftvoll verselbständigt. Wissenschaft und Forschung sind kein Anhängsel, sondern eine Lebensader für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Es ist sinnvoll, dass jährlich eine Sitzung der WissenschaftsMK zusammen mit der Schulseite stattfinden soll. Unsere wichtigste Mission als Wissenschaftsminister wird aber sein, miteinander Strategien zu entwickeln, um im Wettrennen der Welt um die Zukunftstechnologien mithalten zu können – als Deutsche und als Europäer. Dazu müssen wir als Länder für die Verhandlungen mit dem Bund in der GWK gut abgestimmt sein. Und wir müssen im globalen Wettbewerb um die Talente die Weichen dafür stellen, dass wir unser wichtigstes Gut, die klügsten Köpfe, in Deutschland halten und nach Deutschland zurückbringen.
"Die Wissenschaft muss sich auf die neue Zeit einstellen und ihren Beitrag leisten können."
Neben dem internationalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe befinden wir uns mittlerweile auch in einem Wettbewerb der Systeme, der zunehmend aggressiv ausgetragen wird. Die bayerische Staatsregierung hat Ende Januar ein "Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern" beschlossen, das unter anderem Zivilklauseln an Hochschulen untersagen und "aus Gründen der nationalen Sicherheit" die Wissenschaft sogar zur Kooperation mit der Bundeswehr verpflichten soll. Verstoßen solche Regelungen nicht gegen die im Grundgesetz verankerte Wissenschaftsfreiheit?
Die Wissenschaftsfreiheit ist ein hohes Gut. Unsere Sicherheit aber auch. Eine freie Wissenschaft kann es nicht geben, wenn wir nicht in Freiheit leben. Deshalb müssen wir alles tun, um unsere nationale Sicherheit zu gewährleisten. Die Zeiten, in denen wir ohne eigene Anstrengungen die Friedensdividende einsammeln konnten, sind leider vorbei. Unsere Sicherheit als Gesellschaft, aber auch unsere militärische Stärke hängen ab von unserer Stärke in den Feldern von Technologie und Innovation. Deshalb wirken Zivilklauseln, die Forschung zu militärischen Zwecken verbieten, derart aus der Zeit gefallen. Nochmal: Wir erleben gerade eine Zeitenwende. In diesen Zeiten müssen wir auch Entwicklungen ins Auge sehen, die auf den ersten Blick unbequem erscheinen mögen.
Es gibt aber gar keine Zivilklauseln an einer bayerischen Hochschule.
Und das ist auch gut so! Wir müssen dort zusammenarbeiten, wo es die nationale Sicherheit erfordert. Die Wissenschaft muss sich auf die neue Zeit einstellen und ihren Beitrag leisten können. Es kann keine Sicherheit geben ohne technologische Stärke. Führend in Wissenschaft und Forschung zu sein, ist am Ende auch eine Souveränitätsfrage. Ich möchte, dass wir in Deutschland und Europa technologiepolitisch souverän bleiben.
Ein "Kooperationsgebot" mit der Wissenschaft, wann immer es die "nationale Sicherheit" erfordert: Sind nicht schon die Begrifflichkeiten viel zu schwammig, um einer Verfassungsklage standzuhalten?
Wir halten den Gesetzentwurf für verfassungsrechtlich gut abgewogen. Im Übrigen ist es doch so: In anderen Teilen der Welt, in den Vereinigten Staaten zum Beispiel, stehen Militärforschung und Dual Use wie selbstverständlich auf der Tagesordnung. Egal, welche wissenschaftliche Einrichtung ich bei meinem letzten Aufenthalt an der Ostküste besucht habe, überall waren das Department of Energy oder das Department of Defense massiv an der Forschungsförderung beteiligt. Das sind Mittel, die der Wissenschaft in Deutschland fehlen. Darum würde ich mir wünschen, dass sich die Forschungs- und Technologieförderung auch bei uns künftig nicht nur aus den Haushalten von BMBF und BMWK speist, sondern dass zusätzlich diejenigen Ministerien einen größeren Beitrag leisten, die von unserer technologischen Stärke sicherheits- und militärpolitisch profitieren.
Debatten über die Freiheit von Lehre und Forschung hat Ministerpräsident Markus Söder (CSU) auch durch seine Ankündigung ausgelöst, das Gendern in Schulen und Verwaltungen untersagen zu wollen. Sie selbst wollen zu diesem Zweck eine Klarstellung ins Bayerische Hochschulinnovationsgesetz einbauen. Was genau gilt es denn da klarzustellen?
Die generelle Leitplanke wird sein: Geschlechtersensible Sprache: Ja. Sprachliche Künstlichkeit und erzieherische Tendenzen: Nein. Man könnte auch sagen: Genderfreiheit statt Genderzwang. Mich erreichen immer wieder Zuschriften von Studierenden, die sich einem gefühlten Druck oder tatsächlichen Vorgaben ausgesetzt sehen, in einer Art und Weise zu formulieren, wie es von der amtlichen deutschen Rechtschreibung eben gerade nicht gedeckt ist.
"Forschende können formulieren, wie sie wollen. Wir werden aber klarstellen, dass keine Dinge von Studierenden gefordert oder bewertungsrelevant sein dürfen, die nicht der amtlichen deutschen Rechtschreibung entsprechen."
Mit Sonderzeichen wie dem Binnen-I oder dem Genderstern?
So ist es. Selbstverständlich kann jeder so reden und schreiben, wie er möchte. Zumal die deutsche Sprache reichlich Möglichkeiten bereithält, gendersensibel so zu formulieren – und zwar im Einklang mit den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung. Auch Forschende können in ihren Arbeiten formulieren, wie sie wollen. Wir werden aber klarstellen, dass keine Dinge von Studierenden gefordert oder bewertungsrelevant sein dürfen, die nicht der amtlichen deutschen Rechtschreibung entsprechen. Und dort, wo eine Hochschule als staatliche Einrichtung auftritt, bei amtlichen Bescheiden, Zeugnissen und Formularen etwa, werden wir festhalten, dass die amtlichen Vorgaben zur Rechtschreibung eingehalten werden müssen. Ansonsten beschränken wir uns darauf, die Studierenden vor Übergriffigkeit zu schützen. Vielen geht dieser gefühlte Zwang auf die Nerven.
Kritiker werfen Ihnen vor, aus politischem Kalkül ein Problem aufzublasen, das keines sei. "Uns haben als Studierendenvertretungen noch nie Beschwerden zu einem "Genderzwang" erreicht, auch zu schlechteren Bewertungen durch ein "Nicht-Gendern" ist an allen Hochschulen, die an diesem Schreiben beteiligt sind, kein Fall bekannt", steht in einer Erklärung der Studierendenvertretungen unter anderem der Universitäten Erlangen-Nürnberg und Würzburg, der Ludwig-Maximilians-Universität und der TU München.
Wir führen keine Statistiken über solche Fälle, und die meisten Konflikte werden schon an den Hochschulen gelöst. Aber ich kann Ihnen gern konkrete Beispiele nennen, die bei uns aufschlagen und inzwischen gelöst sind. Jüngst meldete sich die Promovendin, der die Verleihung des Doktorgrades verwehrt wurde, solange sie sich weigerte, auf dem Titelblatt das Gendersternchen zu verwenden. Was sogar in der Promotionsordnung so vorgeschrieben ist. Das ist ein klarer Fall von sprachlicher Übergriffigkeit.
Wissenschaftsfreiheit erfordert zudem eine auskömmliche Hochschulfinanzierung. Angesichts von Inflation und Wirtschaftsflaute sorgen sich allerdings auch bayerische Hochschulen um ihr Auskommen. Neulich sagte zum Beispiel die Pressesprecherin der Universität Erlangen-Nürnberg bei Forschung & Lehre, an ihrer Hochschule gehe man von einem stabilen Haushalt aus, erwarte aber keine wesentlichen Steigerungen. Weiter erklärte die Sprecherin: "Selbstverständlich betrachten auch wir Inflation und Tarifsteigerungen mit Sorge, besonders auch die massiven Steigerungen bei den Energie- und Bewirtschaftungskosten" und, speziell in Erlangen-Nürnberg, den steigenden Sanierungsstau bei den in die Jahre gekommenen Unigebäuden. Regiert an Bayerns Hochschulen künftig der Schmalhans, Herr Blume?
Wir befinden uns gerade in der Aufstellung für den Doppelhaushalt 2024/25, und ich kann nur sagen: Er wird ein echter Gegenentwurf zum Bund. Auch in schwierigen Zeiten sparen wir nicht an Forschung und Wissenschaft – ganz im Gegenteil. Wir legen noch eine deutliche Schippe drauf, allein 2024 einen dreistelligen Millionenbetrag, und werden über sieben Milliarden Euro pro Jahr ausgeben. Über die vergangenen Jahre haben wir über unser Aufbauprogramm, die Hightech Agenda Bayern, mehr als 1000 neue Professuren geschaffen und verstetigt und die Rahmendaten der Hochschulfinanzierung schon bis 2027 vereinbart. Wir geben Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Bei Wissenschaft und Forschung wird in Bayern nicht gespart, sondern weiter investiert.
Mehr Professoren bedeuten auch mehr Kostensteigerungen, wenn die Gehälter angehoben werden.
Aber nicht für die Hochschulen, weil der Großteil des Personals der Hochschulen direkt vom Freistaat bezahlt wird. Wenn also überhaupt, dann können sich die Sorgen über Preis- und Tarifsteigerungen nur auf jene Personalstellen beziehen, die bislang aus staatlichen Programm-Mitteln finanziert worden sind, und zwar ohne Inflationsausgleich. Da lautet meine Botschaft an die Hochschulen: Wir sehen die Entwicklung und werden auch das lösen durch eine Umsetzung dieser Stellen bis zum Jahr 2026.
Änderung am 11. März: Auf Bitten des Wissenschaftsministeriums wurde die Antwort von Markus Blume zu Konflikten um die Verwendung des Gendersternchens um den Satzteil "und inzwischen gelöst sind" ergänzt.
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Berlins Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra über die neuen Berliner Hochschulverträge und den altbekannten Sanierungsstau, die Chancen des Exzellenzverbundes BUA – und wie es mit der Postdoc-Entfristung weitergeht.
Berlins Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra. Fotos: Nils Bornemann.
Frau Czyborra, am Dienstag hat der Berliner Senat die neuen Hochschulverträge beschlossen. Was drinsteht, war seit der Ihrer Einigung mit den Hochschulen im August im Wesentlichen bekannt. Vor allem, dass es bis 2028 jedes Jahr fünf Prozent mehr Landesgeld gibt und dass die Zahl der Lehramts-Studienplätze aufgestockt wird. Was ist aus Ihrer Sicht sonst noch bemerkenswert?
Ich bin sehr zufrieden mit dem Erreichten. Wir geben nicht einfach mehr Geld, wir haben auch die überkomplexe Systematik reformiert, nach der das Geldbislang verteilt wurde. Konkret: Wir haben die Zahl der Leistungsindikatoren für die Hochschulen verringert und dafür gesorgt, dass sich die gesetzten Anreize nicht mehr gegenseitig aufheben. Wichtig ist auch, dass Minderleistungen in einem Bereich nicht mehr durch Mehrleistungen an anderer Stelle ausgeglichen werden können. Es kann also zu Abzügen kommen.
Wie stark können die werden?
Theoretisch bis zu 30 Prozent. Aber da muss eine Hochschule schon alles falsch machen. Realistisch gehe ich von maximal fünf Prozent aus. Aber die können schon richtig wehtun.
Weil das meiste Budget in Personalkosten gebunden ist und jedes Minus voll auf die wenigen beweglichen Gelder durchschlägt. Und das ist eine gute Nachricht für die Hochschulen?
Die gute Nachricht ist, dass wir Leistung tatsächlich belohnen. Die Abzüge gehen ja nicht zurück in den Landeshaushalt, sondern fließen in den Topf der Qualitätsoffensive für die Lehre – aus dem wir dann wieder gezielte Maßnahmen in den Hochschulen finanzieren können, und zwar genau dort, wo eine besondere Innovationsdynamik herrscht. Das hilft auch den Präsidien. Beispiel Gleichstellung: Wenn eine Fakultät da nicht mitzieht, können die Hochschulleitungen die resultierenden Mittelabzüge direkt dorthin durchreichen, wo die Verantwortlichen sitzen. Allerdings, das gebe ich zu, hat unsere Indikatorik noch Schwächen.
Ina Czyborra, 57, ist promovierte Archäologin und stellvertretende SPD-Landesvorsitzende in Berlin. Über viele Jahre war sie wissenschaftspolitische Sprecherin ihrer Fraktion im Abgeordnetenhaus. Im April 2023 übernahm sie das Amt der Berliner Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege.
Welche meinen Sie?
Die dritte große Aufgabe der Hochschulen neben Lehre und Forschung ist der Transfer, da brauchen wir dringend mehr Output in Form technologischer und sozialer Innovationen, aber auch anderen Formen von Wissenstransfer. Dafür müssen wir aber erstmal wissen, wie wir erfolgreichen Transfer sinnvoll messen. Wir können ja nicht nach Bauchgefühl gehen. Unsere Aufgabe ist, diese harten Indikatoren jetzt zu entwickeln, damit wir sie in der nächsten Phase der Hochschulverträge einbauen können.
Keine Lösung präsentiert haben Sie darüber hinaus für die jetzt schon sechs Millionen Euro pro Jahr, die die Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) für das Studienangebot für künftige Polizeikräfte ausgibt. Zugunsten der Senatsverwaltung des Innern – aber die zahlt nicht.
Das ist nicht die Verantwortung der Innenverwaltung, sondern Folge der Eigenheit der Finanzverwaltung, Sonderprogramme außerhalb der normalen Haushaltssystematik zu produzieren, die dann alle zwei Jahre erneuert werden müssen, was bei einem Studiengang von drei oder vier Jahren absolut keinen Sinn ergibt. In der Wissenschaftsverwaltung waren wir da aber vielleicht auch etwas blauäugig.
Inwiefern?
Weil uns die Finanzverwaltung immer wieder signalisiert hatte, dass sie die Polizei-Thematik in den Hochschulverträgen berücksichtigen wolle, worauf wir uns verlassen haben. Wenn es jetzt heißt, dafür gebe es ja die fünf Prozent für alle Hochschulen oben drauf, daraus müssten auch die Polizei-Studienplätze finanziert werden, dann muss uns die Finanzverwaltung die Frage beantworten, an welcher anderen Stelle die Hochschulen das nötige Geld einsparen sollen. Etwa bei der Byzantinistik oder der Altphilologie? Bei der Elektrotechnik oder dem Maschinenbau, weil es da gerade weniger Bewerber gibt? Sollen Kürzungen wirklich die Antwort sein?
"Das sind die Debatten, die ich mit den Hochschulen führen möchte"
Wie lautet denn Ihre Antwort?
Wir sollten diese Studiengänge nicht kaputtsparen, sondern gemeinsam mit den Hochschulen darüber reden, wie wir sie attraktiver machen. Das sind die Debatten, die ich unterhalb der Hochschulverträge in den nächsten Jahren mit den Hochschulen führen möchte. Gleichzeitig hoffe ich, dass wir irgendwann mit der Finanzverwaltung und anderen Ressorts zu einem klaren Verständnis kommen, was die Stadt eigentlich an Studienangeboten braucht und erwartet. Im Augenblick höre ich nur Klagen, die Hochschulen erhielten so viel Geld, doch die nötigen Fachkräfte seien trotzdem nicht da. Meine Gegenfrage an die anderen Ressorts lautet: Welche Personalbedarfe habt ihr denn? Definiert die bitte für die nächsten zehn, 15 Jahren – von der Zahl der Pflegekräfte über die Verwaltung bis hin zu Radweg- und Verkehrsplanern. Dann kann ich mit den Hochschulen besprechen, wie wir die Bedarfe decken, in Einklang mit der Wissenschaftsfreiheit, versteht sich. Doch bislang bekomme ich keine Antwort.
Unstrittig ist der Bedarf an zusätzlichen Lehrkräften.
Erfreulicherweise sieht es so aus, als sei die Zahl der Bewerber um einen Studienplatz gestiegen. Ob daraus mehr Immatrikulationen werden, wissen wir noch nicht.
Sie haben in den Hochschulverträgen verabredet, dass bis 2028 die Zahl der Lehramts-Studienplätze auf 2500 aufgestockt werden soll. Wird das reichen, um die Zahl der Studiengänge mit Zugangsbeschränkungen zu senken? Derzeit kann man die Signale an die Bewerber nur als widersprüchlich bezeichnen: Die Politik beklagt den Lehrermangel, gleichzeitig lässt sie viele Lehramts-NCs zu.
Das ist ein Schein-Widerspruch. Da, wo der Bedarf an Lehrkräften hoch ist, in Mathe, Chemie oder Physik etwa, haben wir keinerlei NCs. Wenn aber viele junge Menschen Politologie oder Geschichte auf Lehramt studieren wollen, obwohl es gar nicht so viel Personalbedarf für das Fach gibt, dann ist es legitim, wenn wir vergleichsweise wenig Studienplätze zur Verfügung stellen. Hinzu kommt ein Phänomen, über das nicht so gern geredet wird. Wenn Sie in Berlin Grundschullehramt studieren, müssen Sie Mathe belegen. Es sei denn, Sie wählen alternativ Sonderpädagogik. Wenn es da dann plötzlich 1000 Bewerber gibt und einen extremen NC, handelt es sich ganz offenbar um eine Fehlsteuerung.
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Mehr Lehrkräfte würde die Stadt auch dadurch bekommen, dass die hohen Schwundquoten im Studium runtergehen.
Diese behaupteten Schwundquoten gibt es doch in der Form bei uns gar nicht. Wir haben zum Beispiel einen Bachelor mit Lehramts-Option. Wenn sich Studierende dagegen entscheiden, fertig auf Lehramt zu studieren, ist das so im System angelegt und kein Studienabbruch, nur weil sie vielleicht nicht im Master of Education auftauchen. Aus der Humboldt-Universität höre ich, dass sie tatsächlich im Grundschullehramt signifikant niedrigere Abbrecherquoten als anderswo haben.
Man hört viel und weiß wenig, weil die exakten Zahlen nicht erhoben werden?
Natürlich würden wir gern mehr wissen, was aus den Studienanfängern wird. Natürlich stützen wir uns zu oft auf anekdotische Evidenz und hätten gern mehr Verbleibstudien. Aber die Auskunftsfreude derjenigen, die sich exmatrikulieren, ist gering, der Rücklauf von Fragebögen entsprechend überschaubar. Persönlich würde ich gern selbst mal eine der Mathe-Klausuren schreiben, die im Grundschullehramt obligatorisch sind. Von den Studierenden vernehme ich da die schlimmsten Geschichten, während mir etwa die Freie Universität mitteilt, der abgefragte Stoff gehe über den Satz des Pythagoras nicht hinaus. Zumindest dessen Beherrschung erwarte ich dann schon von jeder Grundschul-Lehrkraft. Sonst kommen wir in Deutschland nie raus aus dem verqueren Verhältnis, was viele Menschen zur Mathematik haben.
Ende des Jahres legt die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz ihre Empfehlungen zur Reform der Lehrkräftebildung vor. Wie groß wird danach der Reformeifer in Berlin ausfallen?
Ich beobachte mit einer gewissen Faszination, wie an vielen Orten in Deutschland schon jetzt kräftig herumreformiert wird. Vieles davon erscheint mir wenig systematisch. Genau diese Systematik erhoffe ich mir aber vom SWK-Gutachten. Sehr hilfreich fand ich bereits das Papier des Wissenschaftsrats zur Lehramtsausbildung im Fach Mathematik. In Berlin haben wir zusammen mit der Bildungsverwaltung einige Runde Tische mit Experten vor uns. Als nächstes möchte ich mit den Universitäten in eine offene und zugleich zielgerichtete Debatte einsteigen. Mein Ziel ist, dass wir im ersten Halbjahr 2024 Eckpunkte zur Reform der Lehrerbildung in Berlin vorlegen. Persönlich bin ich ein großer Fan von Ein-Fach-Lehramtsstudiengängen, die flexible Einstiege ermöglichen und doch qualitativ hochwertig sind. Was ich für keine gute Idee halte: Im Rahmen eines dualen Studiums die Studienanfänger ohne jeden Abstand zur eigenen Schullaufbahn am ersten Tag vor eine Schulklasse zu stellen. Das geht auf Kosten der Unterrichtsqualität und der Studierenden.
"Es gab die richtige und hehre Absicht, aber nie einen zu Ende gedachten Plan, wie sich der Sanierungsstau in sinnvollen Schritten abarbeiten ließe"
Zurück zu den Hochschulverträgen: Die Freude an den Hochschulen ist stark getrübt, weil sich parallel der enorme Sanierungsstau immer handfester bemerkbar macht. Die Technische Universität Berlin musste mehrere Gebäude kurzfristig schließen, TU-Präsidentin Geraldine Rauch warnt vor dramatischen Konsequenzen für die Hochschullehre.
Ich habe die Wortmeldungen von Frau Rauch zur Kenntnis genommen, auch ihre Mahnungen, die Baumisere gefährde Berlins Chancen in der Exzellenzstrategie. Dazu noch ihre Forderung, verschiedene Gebäude in die Sanierungsplanung aufzunehmen. Als nächstes wünsche ich mir konkrete Vorschläge, wie wir mit den kurzfristigen Problemen umgehen. Weder werden Frau Rauchs Exzellenz-Warnungen auf Begeisterung bei den anderen Universitäten stoßen noch wird das Setzen auf irgendwelche Sanierungslisten etwas ausrichten gegen einen Wasserschaden in der Chemie oder die mutwillige Sabotage in der Mathematik. Zumal das neue Mathematik-Gebäude ja längst im Werden und 2025 fertig ist. Aber was machen wir bis dahin? Wo will die TU Container hinstellen, um die akute Platznot zu beheben und den Betrieb zu stabilisieren? Die Studierenden haben ein Anrecht auf baldige Antworten. Mit Frau Rauch stehen wir zu all diesen Fragen in einem engen Austausch. Ich freue mich, dass seit der vergangenen Woche zumindest Teile beider Gebäude wieder genutzt werden können.
Aber Frau Rauch hat doch einen Punkt! Der damalige Regierende Bürgermeister Michael Müller und sein Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach hatten den Hochschulen schon vor Jahren bis 2036 jährlich 250 Millionen Euro für die Hochschulbau und -sanierung versprochen, doch diesen Aufbruch sieht man den Berliner Hochschulen nicht an.
Weil es zwar die richtige und hehre Absicht gab, aber nie einen zu Ende gedachten Plan, wie sich der Sanierungsstau über diesen langen Zeitraum in sinnvollen Schritten abarbeiten ließe. Hinzu kommt, dass sich die finanzielle Situation geändert hat. 2018 hatte wir steigende Steuereinnahmen, jetzt haben wir es mit enormen Baukostensteigerungen zu tun. Außerdem seit Jahren mit einem Fachkräfteproblem, auch in den Bauabteilungen der Hochschulen. Dann war da die Pandemie, die uns über Jahre im Griff hatte.
Und schließlich wurde viel Geld in Leuchtturmprojekte gesteckt.
Klar spielt das da rein, wenn wir, was ich für richtig und unabdingbar halte, für das Herzzentrum eine halbe Milliarde Euro ausgeben. Oder für das Museum für Naturkunde 330 Millionen. Beim Campus Tegel sind wir mittlerweile bei 365 Millionen angekommen, und die Planungen für die Charité, immerhin das siebtbeste Universitätskrankenhaus der Welt, schlagen ebenfalls zu Buche. Da sind Schwerpunkte gesetzt worden.
Und nun?
Was auf jeden Fall gilt: Wir müssen schneller werden, wegkommen von der Kameralistik und den ewigen Planungsprozessen zwischen drei Behörden und den Hochschulen. Es kann nicht sein, dass zwischen Beschluss und Fertigstellung eines Gebäudes zehn Jahre vergehen. Ich kann mir vorstellen, dass wir eine Hochschulbau-Gesellschaft gründen, die alles aus einer Hand macht. Aber die Hochschulen sollten sich auch an die eigene Nase fassen. Die TU hat in den vergangenen Jahren nur ein Drittel ihres Budgets für den Bauunterhalt ausgegeben und den Rest in die Rücklage gepackt. Wir alle müssen flexibler im Denken werden.
"Wir sollten als Land Berlin handeln und eine Gesellschaft für den Hochschulbau gründen."
Das heißt?
Da Studiengebühren ja kein Weg sind, sollten wir über neue Modelle der Baufinanzierung und -durchführung sprechen, wie sie zum Beispiel Österreich entwickelt hat. Dort gibt es die Bundesimmobilien-Gesellschaft, die den Schul- und Hochschulbau auf grundsätzlich neue, wirtschaftlich tragfähige Füße gestellt hat. Da wir Derartiges von unserem Bund nicht zu erwarten haben, finde ich, dass wir als Land Berlin handeln und eine Gesellschaft für den Hochschulbau gründen sollten. In die bringen wir bebaubare Grundstücke ein, das nötige Eigenkapital, und dann generieren wir über die Investitionsbank Berlin Brandenburg die nötige Restfinanzierung. Das würde auch planerisch große Synergien schaffen, darum möchte ich die Idee mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gern vorantreiben.
Vorantreiben wollten Sie und Ihre Mitstreiter:innen im Abgeordnetenhaus einst auch die Entfristung von Postdocs ins Berlin. Als Sie kurz vor der Abgeordnetenhauswahl 2021 den umstrittenen Paragraph 110, Absatz 6 ins neue Berliner Hochschulgesetz bugsierten, haben Sie und ihre Parlamentskolleg:innen von den Grünen und der Linken anschließend eine Flasche Sekt aufgemacht und sich beim Anstoßen ablichten lassen. War die Sektlaune verfrüht?
Der Wortlaut der Bestimmung war nicht wirklich zu Ende gedacht. Das war dem hohen Zeitdruck geschuldet, unter dem er entstand – und der wenig seriösen Zuarbeit aus der damaligen Wissenschaftsverwaltung…
…die die Regelung nicht wollte…
Aber es hat sich ja alles geklärt seitdem. Berlin kann sich auf die Fahnen schreiben, dass wir mutig vorangeschritten sind und die "#IchbinHanna"-Debatte massiv beflügelt haben. Das war nicht nur für die noch immer nicht abgeschlossene Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) auf Bundesebene wichtig, sondern hat die Berliner Hochschulen motiviert, spannende Personalkonzepte zu entwickeln.
Die wurden im Herbst 2022 bei der Senatsverwaltung eingereicht. Seitdem ist nichts passiert. Im Gegenteil: Der neue Senat von CDU und SPD hat die geplante Entfristung der Postdocs bis 2025 ausgesetzt.
Die Hochschulen haben versprochen, trotz der Aussetzung an den Konzepten festzuhalten. Nachdem wir die Hochschulverträge unter Dach und Fach haben, können wir uns jetzt die unterschiedlichen Ideen genauer anschauen. In den meisten Fällen läuft es auf "2+4"-Modelle hinaus: also zwei Jahre einfache Befristung nach der Promotion, die anschließende Befristung für weitere vier Jahre ist dann mit einer Anschlusszusage verbunden, natürlich abhängig von der Erfüllung vereinbarter Leistungskriterien. Es gibt weitere spannende Ideen, etwa den Plan des Instituts für Philosophie der Humboldt-Universität, die Personalmittel der Mehrheit der Professoren in fünf neue Tenure-Track-Stellen für Postdocs umzuwandeln.
Wo aber ist die politische Initiative?
Wir werten aus, was die Schwarmintelligenz der Berliner Hochschulen an Konzepten hervorgebracht hat, wir warten das Ergebnis der WissZeitVG-Reform ab, und dann passen wir den Paragraphen 110 entsprechend an. Es kann gut sein, dass wir durch die WissZeitVG-Reform und mögliche Öffnungsklauseln sogar mehr Regelungskompetenz auf Länderebene bekommen. Die werden wir nutzen.
"Es ist völlig unklar, wann die Richter sich äußern, das kann zehn Jahre dauern. Deshalb machen wir uns davon unabhängig."
Und irgendwann wird sich das Bundesverfassungsgericht zum Paragraph 110 äußern. Ende 2021 hatte die Humboldt-Universität Verfassungsbeschwerde eingereicht, im Frühjahr 2022 folgte die damals oppositionelle CDU-Fraktion mit einer Normenkontrollklage.
Es ist völlig unklar, wann die Richter sich äußern, das kann zehn Jahre dauern. Die Prioritäten des Gerichts liegen – vorsichtig formuliert – woanders. Eine Verfassungsklage gegen das Thüringer Hochschulgesetz harrt seit 2019 der Dinge. Deshalb machen wir uns davon unabhängig. In der Vereinbarung von CDU und SPD ist klar geregelt, dass wir auf die Reform im Bund warten, dass die Neuregelung dann aber zum 1. April 2025 in Kraft tritt.
TU-Präsidentin Rauch warnt vor Folgen des Sanierungsstaus für die Exzellenzchancen. Sie sagen, das werde den anderen Universitäten der Berlin University Alliance (BUA) nicht gefallen. Ist die Stimmung in der BUA so schlecht?
Die BUA hatte einen schwierigen Start. Das hatte mit Corona zu tun und mit einem Selbstfindungsprozess zwischen den Universitäten, der nicht einfach war. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass die Vorstellungen über den nächsten Antrag des Verbundes in der Exzellenzstrategie sehr klar sind.
Es gibt Stimmen, die sagen: Auf die Qualität des Antrags kommt es gar nicht an, die BUA ist ohnehin too big to fail.
Darauf würde ich mich nicht verlassen. Die BUA muss mehr sein als die Summe ihrer Teile, das hat auch etwas mit einem Gemeinschaftsgeist zu tun, der sich entwickeln muss. Dazu muss die BUA unter anderem das Verhältnis der einzelnen Cluster zueinander und zu ihrer Gesamtstrategie klären. Genau da haben wir noch einige Debatten vor uns.
Ein bisschen rosig gemalt, oder?
Die Wissenschaftslandschaft funktioniert nach ihren eigenen Gesetzen. Wer die heile Welt sucht, ist da falsch. Das gilt übrigens, sage ich als Gesundheitssenatorin, im Gesundheitswesen genauso. Hier wie da gibt es massive Einzelinteressen, daraus entsteht eine Vielstimmigkeit, die manchmal an Kakophonie grenzt. Das kann man nicht schönreden und ja, das erfordert mehr Commitment von allen BUA-Partnern.
Oder die Schlussfolgerung, dass es ein Fehler war, die Universitäten in die BUA zu drängen? Das Problem ist ja nicht die Zusammenarbeit in den einzelnen Clustern. Das Problem ist, dass die Hochschulleitungen ihre Entscheidungen zuallererst am Wohl der eigenen Institution ausrichten – auch wenn das auf Kosten der Partnerschaft geht.
Die Universitäten haben sich freiwillig zur BUA bekannt, und bei allem Einzelkämpfertum wissen sie, dass sie im Kampf um die wissenschaftlichen Fleischtöpfe dieser Welt nur in Kooperation bestehen können.
Hat die Exzellenzstrategie als Wettbewerb ihren Zenit überschritten? Fast alle Wissenschaftsminister:innen, die sie 2016 als Fortsetzung der Exzellenzinitiative auf den Weg gebracht haben, sind außer Dienst. Ihre Nachfolger finden andere Themen wie den Wissens- und Technologietransfer offenbar viel spannender. Die Politikerreden von "Exzellenz" weichen mehr und mehr den Forderungen nach Anwendungsnähe.
Ich glaube, dass der Exzellenz-Begriff falsch verstanden wird. Anders als oft behauptet geht es nicht um Elitenbildung, sondern Exzellenz bedeutet Relevanz, Transfer, Kooperation, das Arbeiten an den großen gesellschaftlichen Fragestellungen, den Grand Challenges. Übrigens bin ich überzeugt, dass auch Edelgard Bulmahn…
…die Bundesforschungsministerin, die die erste Exzellenzinitiative 2005 auf den Weg gebracht hat…
…Exzellenz genauso gemeint hat. Wenn ich die BUA-Cluster besuche, erlebe ich all das: transdisziplinäre Zusammenarbeit, die Suche nach Lösungen für die großen Probleme, die wir heute und in Zukunft haben. Die Cluster führen Menschen zusammen, die vorher nicht zusammengearbeitet haben, aus den verschiedensten Wissenschaften und Institutionen. In ihrem Miteinander, ihrer Vernetzung und an den Grenzflächen wird das wirklich Neue geschaffen.
" Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich nur eine einzige Wissenschaftlerin davon abschrecken lässt, dass es in Berlin nicht so leicht ist, einen Arzttermin zu bekommen."
Und während Sie über die großartigen Bedingungen der Spitzenforschung in Berlin schwärmen, berichten Forschende, dass sie keine Kita-Plätze für ihre Kinder bekommen, dass die Mieten unbezahlbar werden und sie ganze Nachmittage auf dem Einwohnermeldeamt verbringen.
Die Hürden in der Forschung haben Sie noch gar nicht erwähnt. Zum Beispiel, dass es viel zu lange dauert, bis Tierversuche genehmigt werden. Klar müssen wir bei all dem besser werden. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht vorstellen, dass sich nur eine einzige Wissenschaftlerin davon abschrecken lässt, dass es in Berlin nicht so leicht ist, einen Arzttermin zu bekommen – wenn umgekehrt ein für sie einzigartiges Forschungsumfeld lockt.
Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) sagte neulich hier im Blog, man solle beim Vergleich der Metropolen auch über das Funktionieren der Bürokratie reden, und was das Fünf-Prozent-Plus in den Berliner Hochschulverträgen angeht, sagte sie: "Ich schaue mir die Zahlen immer gern sehr genau an und stelle dann fest: Fünf Prozent auf dem Papier sind am Ende nicht immer fünf Prozent, die bei den Hochschulen ankommen."
Und ich sage immer: Berlin und Hamburg sind neidische Schwestern. Wir streiten uns, aber irgendwie haben wir uns dann doch lieb. In Sachen Verwaltung könnten wir in der Tat einiges von Hamburg lernen. Wir versuchen das auch seit Jahrzehnten. Nur ist das mit der Umsetzung in Berlin immer eine besondere Herausforderung, das hat mit der Zerrissenheit der Stadt zu tun. Genau diese Zerrissenheit, diese manchmal chaotische Vielfalt ist es aber auch wiederum, die die Leute in die Stadt zieht. Ich erinnere mich an eine Islamwissenschaftlerin aus Yale, die dort irre viel Forschungsgeld und wenig Lehrverpflichtung hatte und doch nach Berlin kam, wegen der Stadt, wegen der Leute, wegen der wissenschaftlichen Dynamik.
Viele andere Landeswissenschaftsminister waren in den vergangenen Jahren zunehmend genervt von Berlin, das eine Bundesförderung nach der anderen einheimste. Bestes Beispiel: die Eingliederung des bundesfinanzierten Berliner Instituts für Gesundheitsforschung (BIG) in die Charité, ein zu dem Zeitpunkt bundespolitisch einzigartiger Vorgang. Verstehen Sie, wenn Ihre Kollegen sagen: Jetzt reicht es aber mal?
Ich kann das nachvollziehen. Wir sind ein föderaler Staat, wir haben viele Zentren. Wenn Misstrauen gegenüber einer großen und weiter wachsenden Hauptstadt entsteht, begleitet von der Angst, abgehängt zu werden, müssen wir das ernstnehmen. Hier gilt tatsächlich dieser Begriff "too big to fail": Alle wollen nach Berlin, die Studierenden, die Wissenschaftler:innen, viele neue außeruniversitäre Forschungsinstitute sind bei uns entstanden. Wenn die staatlichen Gelder knapper werden, fällt es anderen noch schwerer, mit uns im Streit um die besten Köpfe mitzuhalten.
Mit Verlaub: Oft war es weniger die wissenschaftliche Qualität, sondern das schon legendäre Verhandlungsgeschick von Müller und Krach.
Wir hatten aber auch die Flächen, wir konnten sagen: Kommt nach Berlin, wir stellen euch ein neues Gebäude mitten in die Stadt. Jetzt ist der Platz knapper, die Preise sind zu hoch, wir können nicht mehr alle und jeden zentral unterbringen. Wir können auch nicht immer noch mehr Kofinanzierung für vom Bund mitfinanzierte Einrichtungen leisten. Jetzt geht es mehr ums Konsolidieren und Qualität als Wachstum um jeden Preis, wir müssen die Ansiedlungen, die wir erreicht haben, langfristig finanziell absichern. Und ansonsten wählerisch sein und uns fragen: Was fehlt uns wirklich noch in der Berliner Wissenschaft?
"Wenn der Bund über die grundsätzliche Finanzarchitektur zwischen Bund und Ländern reden will: aber gern. Dann sollten wir aber überall da anfangen, wo die Bundesregierung Beschlüsse zulasten Dritter, von uns Ländern, macht"
Gerade jetzt fordert der Bund von den Ländern sogar noch mehr Kofinanzierung, wenn sie bestehende Bund-Länder-Programme fortgesetzt sehen wollen. Aktuell steht unter anderem die Verlängerung der Forschungsförderung an Hochschulen für angewandte Wissenschaften an. Bisher zahlen die Länder da keinen Euro dazu. Der Bund will künftig immer und überall mindestens 50 Prozent Länderanteil. Haben Sie dafür Verständnis?
Nein, habe ich nicht. Wenn der Bund seine Kooperation nur noch zu Bedingungen anbieten will, die sich kein Land leisten kann, wenn er sich dann als Konsequenz aus der Forschungsförderung zurückziehen würde oder aus dem Ausbau digitaler Bildungsangebote an Schulen und Hochschulen, dann frage ich: Worin sonst besteht die originäre Aufgabe eines Bundesministeriums für Bildung und Forschung, wenn nicht im Setzen solcher zusätzlichen Impulse? Die Kofinanzierung von uns Ländern ist die um ein Vielfaches teurere Grundfinanzierung, die wir jeden Tag leisten. Wenn der Bund über die grundsätzliche Finanzarchitektur zwischen Bund und Ländern reden will: aber gern. Dann sollten wir aber überall da anfangen, wo die Bundesregierung Beschlüsse zulasten Dritter, von uns Ländern, macht. Wenn ein FDP-Bundesfinanzminister die Umsatzsteuer für die Gastronomie dauerhaft auf sieben Prozent senken möchte, kostet das allein Berlin 90 Millionen pro Jahr. Das ist anderthalbmal so viel, wie der Bund insgesamt für die Förderung von Forschung an HAWs in allen 16 Ländern ausgibt.
Was antwortet Ihnen Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger auf solche Argumente?
Es gibt ja leider nicht so viel Austausch mit ihr. Vergangene Woche war sie eine Stunde bei der Kultusministerkonferenz dabei. Eigentlich müssten wir Ministerinnen und Minister uns open end zusammensetzen und miteinander klären, wie wir die anstehenden Zukunftsaufgaben stemmen wollen: vom Klimaschutz über die Digitalisierung und die Gebäudesanierung bis hin zu Investitionen in neue Forschungsprogramme. Das Fingerzeigen aufeinander können wir uns nicht mehr leisten.
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Der IQB-Bildungstrend zeigt: Innerhalb von sieben Jahren ist die Deutschkompetenz von Neuntklässlern auf den Stand abgerutscht, den 2015 Siebt- und Achtklässler hatten. Dafür gibt es viel mehr Jugendliche, die richtig gut Englisch können – trotz der Corona-Schulschließungen. IQB-Direktorin Petra Stanat über die Suche nach den Ursachen – und die Gestaltungsaufgaben der Bildungspolitik.
Petra Stanat ist Psychologin, Bildungsforscherin und seit 2010 Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Foto: IQB Berlin.
Frau Stanat, nach 2009 und 2015 hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zum dritten Mal im Auftrag der Kultusminister die sprachlichen Kompetenzen der Neuntklässler in Deutschland überprüft. Jetzt liegen sie vor, die Ergebnisse des "IQB-Bildungstrends 2022". Sind irgendwelche Überraschungen dabei?
Für mich persönlich zum Teil schon. Ich hatte zwar erwartet, dass es wie im vergangenen Jahr im IQB-Bildungstrend für die Grundschulen auch in der neunten Jahrgangsstufe einen Rückgang in den erreichten Kompetenzen geben würde, allein schon wegen des Ausfalls von Präsenzunterricht und anderen Einschränkungen während der Corona-Zeit. In Deutsch mussten wir diesen
Rückgang jetzt tatsächlich auch feststellen, und zwar in allen drei untersuchten Kompetenzbereichen Lesen, Orthografie und Zuhören. Womit ich aber nicht gerechnet hatte: dass er in Deutsch derart heftig ausfällt. Und was mich noch mehr überrascht hat: dass die Schülerinnen und Schüler fast spiegelbildlich in Englisch so stark zulegen würden, sogar ebenso stark wie zwischen 2009 und 2015, als wir keine Pandemie hatten. Das ist ein bemerkenswerter Befund.
"Ein Lernrückstand zwischen einem und zwei Schuljahren im Vergleich zu 2015."
Wie heftig ging es denn runter in Deutsch und wie kräftig nach oben in Englisch?
In Deutsch beträgt der Rückgang zwischen den Jahren 2015 und 2022 im Lesen 25 Kompetenzpunkte, in der Orthografie 31 Punkte und im Zuhören sogar 44 Punkte. Wenn man das in Unterrichtzeit umrechnet, was allerdings in der Sekundarstufe schwierig ist, entspricht das je nach Kompetenzbereich einem Lernrückstand zwischen einem und zwei Schuljahren im Vergleich zu 2015.
Nur zur Klärung: Das heißt, heutige Neuntklässler sind in Deutsch auf dem Stand, den 2015 Siebt- oder Achtklässler hatten?
Wie gesagt: Diese Umrechnung ist aus verschiedenen Gründen nicht exakt, deshalb sollte man sie nicht allzu wörtlich nehmen, aber richtig ist in jedem Fall: Wir sprechen von einer massiven Verschlechterung der Ergebnisse in Deutsch. Umgekehrt erreichten die Schülerinnen und Schüler in Englisch im Leseverstehen im Schnitt 22 Punkte und im Hörverstehen 23 Punkte mehr, was wiederum etwa der Lernzeit von einem halben Schuljahr gleichkommt. Auch das ist erstaunlich viel. >>>
Stichproben, Risikogruppen und Länder-Unterschiede: die IQB-Ergebnisse in der Zusammenfassung
Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends basieren auf repräsentativen Stichproben in allen 16 Bundesländern, die insgesamt mehr als 35.000 Neuntklässler umfassten. Untersucht wurden 2022 die Kompetenzen in Deutsch, Englisch und (in einzelnen Bundesländern) Französisch, die Testaufgaben orientierten sich an den KMK-Bildungsstandards.
In Deutsch verfehlten im Kompetenzbereich Lesen fast 33 Prozent aller Schüler den Mindeststandard, der als Untergrenze für den Mittleren Schulabschluss (MSA) angesetzt wird, im Zuhören 34 Prozent und in der Rechtschreibung 22 Prozent, jeweils ein massiver Anstieg gegenüber der letzten Messung von 2015. Auch die durchschnittlichen Kompetenzen aller Neuntklässler rutschten ab, je nach Bereich um 25 bis 44 Punkte, was laut IQB-Direktorin Stanat grob dem Stoff von ein bis zwei Schuljahren entspricht. Der Rückgang betraf in unterschiedlicher Stärke fast durchgängig alle Bundesländer.
Genau umgekehrt verlief die Entwicklung in Englisch. Im Leseverstehen ging es im Vergleich zu 2015 um 22, im Hörverstehen um 23 Kompetenzpunkte hoch, wobei fast alle Länder einen positiven Trend verzeichneten. Damit setzt sich die seit 2009 beobachtete Aufwärtsbewegung fort.
Allerdings wurde die Risikogruppe derjenigen Schüler, die die Mindeststandards verfehlen, nicht in gleichem Maß kleiner, was laut IQB darauf hinweist, dass die Kompetenzsteigerung besonders bei den mittelguten und den leistungsstarken Schülern stattgefunden hat. Immer noch liegen 24 Prozent der Neuntklässler unterhalb der MSA-Mindestanforderungen für Englisch im Leseverstehen und 14 Prozent im
Hörverstehen. Immerhin: Legt man die geringeren Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss (ESA, früher Hauptschulabschluss) an, verfehlen diese beim Lesen weniger als neun und beim Hörverstehen weniger als zwei Prozent aller Schüler.
Am besten fielen die Deutsch-Ergebnisse erneut in Bayern und Sachsen aus, die Risikogruppen waren auch in Sachsen-Anhalt sowie teilweise in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen vergleichsweise klein. Besonders schwach schnitten laut IQB nahezu durchgängig Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen ab. Erfreulich: In Englisch gelingt es den meisten Ländern, den Anteil der Schüler unterhalb der ESA-Mindeststandards auf dem deutschen Durchschnittsniveau zu halten. Im Schnitt besonders gute Ergebnisse erreichen die Neuntklässler in Bayern und Hamburg sowie in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Auffällig ist, dass in Englisch wie schon 2015 die ostdeutschen Bundesländer gegenüber dem Westen schlechter da stehen als der Westen.
In der Gesamtbetrachtung beider Fächer liegen neben Bayern die Länder Baden-Württemberg und Hamburg jeweils in mehreren Kompetenzbereichen statistisch signifikant über dem Bundesdurchschnitt.
Eine gute Nachricht noch am Ende: Angesichts der aktuell sehr negativ geprägten Diskussion über den Lehrerberuf, sagt IQB-Direktorin Stanat, "hat mich der Befund erfreut, dass mehr als 70 Prozent der Lehrkräfte sagen, dass sie sehr zufrieden mit ihrer Berufswahl sind." Politik, Gesellschaft und gerade auch die Lehrerverbände müssten aufpassen, dass sie den Beruf nicht systematisch schlecht redeten, warnt Stanat.
>>> Sie geben beim Bildungstrend zusätzlich den Anteil der Schülerinnen und Schüler an, die die Mindeststandards verfehlen. Was genau bedeutet das?
Die Kultusministerkonferenz hat auf Grundlage der Bildungsstandards auch festgelegt, was Kinder und Jugendliche in bestimmten Klassenstufen mindestens können sollten in Deutsch, Englisch und anderen Fächern. Also im Sinne einer Untergrenze, die von allen erreicht werden sollte, um erfolgreiches Weiterlernen und Teilhabe zu ermöglichen. Dabei wird nach dem angestrebten Schulabschluss unterschieden. Das absolute Minimum ist der Mindeststandard für den früheren Hauptschulabschluss, der heute als Erster Schulabschluss bezeichnet wird. Den sollten wirklich alle erreichen.
Wer diesen Mindeststandard nicht beherrscht, kann nicht richtig lesen, rechnen oder schreiben?
Vereinfacht kann man das so sagen. Zumindest wird ohne das Beherrschen der Mindeststandards ein erfolgreicher Übergang in eine Berufsausbildung und gesellschaftliche Teilhabe deutlich erschwert sein. Und wir sehen, dass je nach Kompetenzbereich in Deutsch acht bis 18 Prozent der Jugendlichen dieses Minimum nicht mehr erreichen. Legen wir die höheren, aber immer noch sehr moderaten Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss an, verfehlen diese im Lesen und Zuhören inzwischen ein Drittel der Neuntklässler in Deutschland. In der Orthografie ist es gut ein Fünftel. Da inzwischen sehr viele Berufe den mittleren Schulabschluss erfordern, ist auch diese Gruppe zu groß und im Vergleich zu 2015 stark gewachsen: je nach Kompetenzbereich und Abschlussart um vier bis 16 Prozentpunkte – wobei die Leistungen im Zuhören besonders kräftig abgefallen sind, das war schon im Bildungstrend für die Grundschule der Fall.
"Deutlich mehr Jugendliche,
die richtig gut Englisch können."
Geben Sie bitte ein konkretes Beispiel für eine Aufgabe, die ich richtig beantworten muss, um den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss zu erfüllen.
Zum Beispiel lesen die Jugendlichen einen 70 Wörter umfassenden Text über die Seidenstraße, in dem wörtlich steht, dass es sich um die wichtigste Handelsroute zwischen Asien und Europa handelte. Dennoch wird zur Frage, "Was war die Seidenstraße laut Text?" nicht mit hoher Sicherheit die Antwortalternative "ein Handelsweg zwischen Asien und Europa" angekreuzt. Oder bei einer Korrekturaufgabe zur Orthografie wird in dem Satz "Das rote Auto hate das Kennzeichen MM-NB 612" nicht mit hoher Sicherheit das Wort "hate" korrigiert.
Sehen wir wenigstens umgekehrt, dass die Risikogruppen in Englisch kleiner geworden sind?
Sie sind zumindest nicht größer geworden. Die Kompetenzverbesserungen, die wir insgesamt beobachten, sind vor allem im mittleren und oberen Leistungsbereich festzustellen. Diejenigen Jugendlichen, die den Mittleren Abschluss anstreben, erreichen zu deutlich höheren Anteilen die Regelstandards und sogar die sogenannten Optimalstandards, hier sehen wir einen Anstieg in den Prozentwerten um zehn bis 14 Prozentpunkte. Anders formuliert: Im Vergleich zu 2015 gibt es heute deutlich mehr Jugendliche, die richtig gut Englisch können.
"Der Trend in Deutsch zeigt auch bei den nicht zugewanderten Jugendlichen nach unten. Es ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig, das festzuhalten."
So erfreulich die Entwicklung in Englisch ist: Die Bildungsdebatte der nächsten Tage wird sich vermutlich um die dramatisch schlechteren Ergebnisse in Deutsch drehen. Die Kultusminister könnten sagen, schuld sei nicht die Bildungspolitik, sondern verantwortlich seien die Corona-Schulschließungen und die Flüchtlingsströme seit 2015.
Da ist ja bestimmt auch etwas dran, nur wissen wir nicht, welchen Einfluss genau Corona hatte, das können wir nicht messen. Dafür, dass die Pandemie eine erhebliche Rolle gespielt hat, spricht jedoch, dass wir in praktisch allen Bundesländern unabhängig von ihrer Ausgangslage eine deutlich negative Entwicklung beobachten. Gleichzeitig erzielten neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler erneut signifikant schwächere Ergebnisse als der Durchschnitt, und der Anteil dieser Schülerinnen an der Gesamtschülerschaft in Deutschland ist seit 2015 um fünf Prozentpunkte auf insgesamt neun Prozent gestiegen. Wahr ist aber auch: Selbst wenn wir statistisch so tun, als hätte sich die Zusammensetzung der Schülerschaft seit damals nicht verändert, zeigt der Trend trotzdem eindeutig nach unten. Und auch bei den Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sehen wir in Deutsch einen Kompetenzrückgang, wenn auch weniger stark. Es ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig, das festzuhalten.
Wirkt sich hier der vielerorts extreme Lehrkräftemangel aus?
Das können wir anhand unserer Daten nicht untersuchen. Eigentlich wollten wir uns ansehen, ob Schülerinnen und Schüler, die von nicht traditionell ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden, weniger gute Ergebnisse erzielen. Aber diese Auswertung ist daran gescheitert, dass die Gruppe der Quer- und Seiteneinsteigenden in den sprachlichen Fächern immer noch vergleichsweise klein ist: Von den etwa 1250 befragten Lehrkräften in unserer Studie betrifft das nur 40 Deutsch- und 59 Englischlehrkräfte. Der Anteil der Berufsanfänger, die ohne reguläres Lehramtsstudium unterrichten, steigt zwar, aber auf die Ergebnisse des Bildungstrends 2022 dürfte sich das kaum ausgewirkt haben.
Eben sagten Sie, die durchschnittlichen Kompetenzen seien in praktisch allen Bundesländern gesunken, aber es gibt schon noch deutliche Unterschiede, oder?
In der Tat kann man einige Länder herausheben. Hamburg zum Beispiel, das sich in den vergangenen 13 Jahren sukzessive hochgearbeitet hat, 2009 noch zu den Schlusslichtern zählte und jetzt in Deutsch im Mittelfeld liegt, in Englisch teilweise mit an der Spitze. Und das bei einem sehr hohen Anteil an Einwandererkindern wohlgemerkt. Erstaunlich finde ich auch, dass in Baden-Württemberg in mehreren Kompetenzbereichen wieder etwas bessere Ergebnisse erzielt werden als in Deutschland insgesamt. Auf die enttäuschenden Ergebnisse früherer Bildungstrends hat dieses Land strategisch reagiert, und vielleicht zeichnet sich hier schon eine Trendwende ab. Das lässt sich jetzt aber noch nicht mit Sicherheit sagen.
"Die Dynamik in Baden-Württemberg hat mich beeindruckt. Sogar der Ministerpräsident hat sich intensiv mit den Ergebnissen beschäftigt."
Baden-Württembergs damalige Kultusministerin Susanne Eisenmann hatte die Losung ausgegeben, von Hamburg lernen zu wollen.
Eine genaue Ursache-Wirkungs-Analyse kann ich Ihnen leider nicht bieten, nur einen Eindruck: Nach Veröffentlichung des Bildungstrends 2015 bin ich sehr oft nach Baden-Württemberg eingeladen worden, und es fanden dort viele bildungspolitische Diskussionen statt, unter Beteiligung von Politik, Administration, Schulpraxis, Bildungsforschung und Verbänden. Sogar der Ministerpräsident hat sich intensiv mit den Ergebnissen beschäftigt. Man war sich einig, dass etwas passieren muss. Diese Dynamik, die unter anderem in der Gründung von zwei Instituten mündete, die Bildungsprozesse wissenschaftlich fundiert unterstützen sollen und sehr überzeugende Arbeit leisten, hat mich beeindruckt.
Beeindruckend ist allerdings auch, wie sich Länder wie Bayern oder Sachsen von Mal zu Mal weit vorn halten. Wie ist das zu erklären?
Diese Frage stellt sich bei jedem Bildungstrend, und ehrlich gestanden habe ich darauf immer noch keine guten Antworten. Ein Faktor ist sicher, dass der Anteil zugewanderter Schülerinnen und Schüler in diesen Ländern geringer ist als in vielen der anderen Länder, vor allem in Sachsen. Das sieht man ansatzweise in Analysen, in denen wir statistisch so tun als wäre die Schülerschaft in allen Ländern so zusammengesetzt wie in Deutschland insgesamt, bezogen auf den sozioökonomischen und den zuwanderungsbezogenen Hintergrund. Dann schrumpft der Vorsprung in den erreichten Kompetenzen für Sachsen und Bayern etwas, er verschwindet aber keineswegs. Es müssen also weitere Faktoren eine Rolle spielen. Vielleicht ein besonders ausgeprägter Konsens darüber, dass Lernerfolg in grundlegenden Kompetenzbereichen wirklich zentral ist und auf sich abzeichnende Probleme reagiert werden muss. Und in Bayern hatte ich immer wieder den Eindruck, dass einmal getroffene bildungspolitische Entscheidungen von einer gut funktionierenden Bildungsverwaltung umgesetzt werden und in der Praxis auch ankommen. Wenn die bildungspolitischen Entscheidungen fundiert und zielführend sind, ist das natürlich von Vorteil. Aber das sind wirklich nur Spekulationen, die auf subjektiven Eindrücken und Gesprächen basieren.
Sie haben den Einfluss der Corona-Pandemie auf den Schulbetrieb erwähnt, den teilweise viele Wochen langen Distanzunterricht zum Beispiel. Wie kann es sein, dass der in Deutsch offenbar zum Absturz beigetragen hat – in Englisch die Leistungen aber hochgegangen sind, als sei nichts passiert?
Der Anstieg der Kompetenzen war im Zeitraum von 2015 bis 2022, in dem die Corona-Pandemie lag, sogar genauso groß wie von 2009 bis 2015. Auch hier kann ich im Moment nur spekulieren, weil wir uns in Ruhe anschauen müssen, wie sich die Sprachnutzung bei außerschulischen Aktivitäten verändert hat. Denn die Annahme liegt ja nahe, dass die Schülerinnen und Schüler auf Englisch Videos und Serien anschauen, Computerspiele spielen und im Internet unterwegs sind. Und genau diese Aktivitäten dürften während der Pandemie zugenommen haben. Das könnte mit dazu beigetragen haben, dass die Schülerinnen und Schüler in diesem Zeitraum ihre englischsprachigen Kompetenzen weiter gesteigert haben.
"Guter Englischunterricht schafft die Voraussetzungen, dass die Schülerinnen und Schüler von ihrer Internetnutzung profitieren können."
Das klingt so, als sei die Zeit mit Videogucken oder Daddeln besser angelegt gewesen als mit Schulunterricht?
Das wäre sicher übertrieben. Denn natürlich braucht man einen guten Englischunterricht, der die Grundlagen dafür schafft, dass Schülerinnen und Schüler von der Internetnutzung und anderen Aktivitäten auf Englisch profitieren können. Der Englischunterricht ist heute viel kompetenzorientierter als früher. Übrigens zeigt sich in einer unserer Analysen, dass Unterricht, der fachfremd, also nicht von einer Englischlehrkraft erteilt wird, mit einem niedrigeren Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler einhergeht. Ein weiteres Indiz dafür, dass guter Englischunterricht wichtig ist.
Aber auch nach Ihrer Ehrenrettung des schulischen Englischunterrichts bleibt festzuhalten: Die Behauptung, viel Zeit online wirke sich automatisch negativ auf die Schulnoten aus, ist vermutlich falsch.
Eine Fremdsprache lernt man durch ihre Nutzung – so, wie man Lesen durch Lesen lernt. Und weil die Schülerinnen und Schüler unter anderem online erleben, wie wichtig gute Englischkenntnisse sind, wie viele neue Inhalte sie sich mit Englisch erschließen können, dürfte das ihre Motivation gewaltig steigern. Hierin liegt ein weiterer großer Unterschied zum Deutschunterricht, für den wir eine vergleichsweise niedrige Lernmotivation bei den Neuntklässlern finden – das Fach kann offenbar nur wenige Jugendliche für sich begeistern. Das Interesse am Englischunterricht ist viel höher ausgeprägt.
Vorhin haben Sie darauf hingewiesen, dass eingewanderte Kinder deutlich schwächere Kompetenzen erreichen als der Durchschnitt. Deutschland gilt insgesamt als ein Land, in dem die soziale Herkunft stark über den Bildungserfolg entscheidet. Spiegelt sich das auch im IQB-Bildungstrend 2022 wider?
Leider ja. Die Disparitäten haben weiter zugenommen. Die negative Entwicklung im Fach Deutsch ist bei sozioökonomisch benachteiligten Jugendlichen im Schnitt stärker ausgefallen, auch der Rückstand der neu eingewanderten Schülerinnen und Schüler hat sich vergrößert. In Englisch wiederum haben Jugendliche aus sozioökonomisch besser gestellten Elternhäusern besonders stark zugelegt, die soziale Schere geht also auch hier weiter auf. Aber ein erfreuliches Ergebnis möchte ich noch erwähnen: Jugendliche, die zu Hause nicht immer Deutsch sprechen, haben zwar Nachteile in Deutsch, aber Vorteile in Englisch. Dies bestätigt, dass sich Mehrsprachigkeit auf den Erwerb weiterer Sprachen positiv auswirken kann – der Zusammenhang hat sich auch schon in früheren Studien gezeigt.
Insgesamt aber gilt: Deutschland entfernt sich weiter vom Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen – obwohl die Bildungspolitik seit vielen Jahren das Gegenteil beschwört?
So ist es.
"Besteht tatsächlich bei allen Akteuren
Einigkeit darüber, dass es brennt?"
Bildungspolitik und Öffentlichkeit werden angesichts der Ergebnisse natürlich wissen wollen, was zu tun ist. Wie lautet Ihre Antwort?
Zunächst müssen sich alle Akteure im Bildungssystem darüber einig sein, dass diese grundlegenden Kompetenzen wirklich grundlegend sind und dass wir alles dafür tun müssen, damit die Mindeststandards erreicht und gesichert werden.
Haben wir den Konsens nicht längst?
Einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Lesen, Schreiben, Mathematik wichtig sind, haben wir schon, denke ich. Auch die alten Debatten, in denen die Förderung dieser Kompetenzen und die Entwicklung sozialer Kompetenzen als Gegensatz darstellt wurden, haben wir zum Glück weitgehend hinter uns gelassen. Genauso wie die Stimmen, die Kompetenzmessungen und Sicherung von Standards als überzogenen Leistungsdruck betrachtet haben. Aber besteht tatsächlich bei allen Akteuren Einigkeit darüber, dass es brennt und wir trotz schwieriger Rahmenbedingungen dringend dafür sorgen müssen, dass wirklich alle Kinder und Jugendlichen die grundlegenden Kompetenzen erwerben, die sie benötigen, um sich gut weiterentwickeln zu können? Da bin ich mir nicht sicher.
Wie erreichen wir diese Einigkeit?
Dazu ist es unter anderem erforderlich, dass regelmäßig geschaut wird, wie sich die Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen entwickeln, inwieweit sie besondere Förderung benötigen und ob die Förderung gegriffen hat. Stichwort "Kultur des Hinschauens" durch datengestützte Unterrichtsentwicklung, die selbstverständlicher Bestandteil von Professionalität werden muss. Das hat ein Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK jüngst für die Grundschule beschrieben. Oder nehmen Sie die frühkindliche Sprachförderung, die schon so lange Thema ist. Hier hat sich zwar schon einiges getan, aber von einer systematischen Umsetzung in der Fläche sind wir noch weit entfernt. Und wir müssen uns dringend mit der Frage beschäftigen, wie die Sprachförderung für Kinder und Jugendliche zu gestalten ist, die mit geringen Deutschkenntnissen ins System kommen. Hier ist in den vergangenen Jahren nach den großen Fluchtbewegungen ad hoc viel geleistet worden, aber wir werden ja weiter Zuwanderung haben und müssen diese Förderung jetzt systematischer aufsetzen und begleiten. Alles anspruchsvolle Entwicklungen, die natürlich Zeit brauchen. Aber die Ergebnisse des Bildungstrends zeigen erneut, dass wir dringend vorankommen müssen.
Bund und Länder werden auf das geplante "Startchancen"-Programm verweisen als ihren Beitrag zur Lösung der Probleme.
Das "Startchancen"-Programm ist dann eine Chance, wenn es wirklich fokussiert wird auf die evidenzbasierte Förderung grundlegender Kompetenzen in Deutsch und Mathematik. Dafür müssen Bund und Länder bei ihrer Ankündigung bleiben, die "Startchancen" wissenschaftlich begleiten und evaluieren zu lassen. Denn eines darf nicht passieren: dass das Programm in Maßnahmen zerfasert, für die es keinen soliden Grund zur Annahme gibt, dass sie wirken.
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Es ist ein wichtiger Tag für die deutschen Schulen: Bund und Länder sagen Ja zum Startchancen-Programm. Jetzt gilt es, schnell die Formalitäten und offenen Verfahrensfragen zu klären. Die zähen Verhandlungen verlagern sich währenddessen auf ein anderes Programm.
Foto: Anne, Flickr, CC BY-NC-ND 2.0.
ES WAR EIN FOTO-FINISH für die Startchancen. Noch am Mittwochabend wagte in den 16 Kultusministerien kaum jemand die Prognose, ob ihre Chefs am Freitag tatsächlich den finalen Haken setzen würden unter den Vertrag mit dem BMBF über dieses Milliardenprogramm zur Förderung benachteiligter Schüler. Obwohl alle wussten: Wenn es jetzt nichts wird, wäre die Blamage maximal. Für Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), die bildungspolitisch seit langem fast alles auf die "Startchancen" setzte. Aber auch für die Kultusminister und den Bildungsföderalismus, der aktuell wieder einmal besonders unbeliebt ist.
Seit 2022 hatten die Länder untereinander und mit dem Bund verhandelt, ein beständiges Stop-And-Go, ein Vor und Zurück zwischen dem Feilschen um die großen Verteilungsmechanismen und die kleinen Details. Begleitet von Phasen, in denen es zwischen Bund und Ländern eher darum ging, sich gegenseitig mit Vorwürfen mangelnder Ernsthaftigkeit zu überziehen.
Den Termin zur digitalen Sondersitzung der Kultusministerkonferenz (KMK) am Freitagmorgen hatte man vor Wochen bereits vorsorglich gemacht, dazu den Auftritt gemeinsam mit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am Freitagnachmittag in der Bundespressekonferenz eingefädelt. Aber immer, und das trotz maximalen öffentlichen Erwartungsdrucks, unter Vorbehalt.
"Substanzielle Fortschritte" beim Digitalpakt als Voraussetzung?
Zuletzt hing die Entscheidung vor allem an einigen wenigen Ländern mit Unionsregierung, die zusätzliche Garantien forderten. Dafür, dass der Bund nach der Startchancen-Besiegelung noch genug Wille und Geld hat, um die Fortsetzung eines anderen Milliardenprogramms durchzuziehen: des Digitalpakts. Der aus Sicht aller Kultusminister genauso wichtig ist wie die Startchancen, nach Meinung etlicher sogar noch wichtiger. Wiederholte Bekenntnisse Stark-Watzingers in den vergangenen Monaten, sie setze sich mit Nachdruck für diesen Digitalpunkt 2.0 ein, hatten zumindest Bayern und Sachsen bis diese Woche nicht gereicht.
Am Mittwoch saß die Digitalpakt-Verhandlungsgruppe erneut zusammen. "Substanzielle Fortschritte" hatten die Länder vorab verlangt, und einige Unionsminister ließen diese auf den Digitalpakt bezogene Forderung immer noch wie eine Bedingung für die Startchancen klingen. Bis am Donnerstag im Anschluss an verschiedene Schaltkonferenzen auf Länderseite durchsickerte: Alle 16 Kultusminister machen mit. Auch Bayern und Sachsen.
Die Zustimmung der Länder sei letztlich auch deshalb möglich geworden, weil der Bund ein deutliches politisches Zeichen für den Digitalpakt 2.0 gegeben habe und auch hier substanzielle Fortschritte hätten erzielt werden können, sagte die neue Koordinatorin der CDU-Bildungspolitik in den Ländern, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, nach der Startchancen-Besiegelung am Freitag. Von einem "klaren Bekenntnis" zur Digitalpakt-Forsetzung, das die Länder vom BMBF bekommen hätten, sprach auch KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot.
Unklar war allerdings zunächst, worin genau dieses deutliche politische Zeichen und Bekenntnis bestanden hatte. Zumal nicht alle von Priens und Streichert-Clivots Kollegen offenbar ein solches gesehen haben. So kritisierte Armin Schwarz, der neue CDU-Bildungsminister von Hessen, am Freitag, es werde ein neues Projekt aufgesetzt, ohne die Fortführung eines für die Zukunft entscheidenden Programmes geklärt zu haben: des Digitalpakts. Hier benötigten die Länder und die kommunalen Schulträger langfristige Planungssicherheit. "Dies wäre eine wirkliche, effektive Unterstützung, die ohne neue bürokratische Hürden umgesetzt werden könnte." Doch habe ausgerechnet "die selbsternannte Digitalpartei FDP beim Digitalpakt bisher alles blockiert".
Woraus man umgekehrt folgern könnte, dass Stark-Watzinger diesen Teil der politischen Geduldspiels mit den Ländern für sich hat entscheiden könnten. Zumindest ging sie am Freitagnachmittag auch in der gemeinsamen Pressemitteilung von BMBF und KMK mit keinem Wort auf die Digitalpakt-Fortsetzung ein, sondern hob allein die Bedeutung des Startchancen-Programms hervor, "das größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland". In der Pressekonferenz sagte Stark-Watzinger laut Bildung.Table, sie wolle beim Digitalpakt zunächst über das Konzept sprechen, während Streichert-Clivot sagte, dessen Finanzierungsvolumen sei "noch offen".
Wobei das BMBF in internen Gesprächen gesagt haben soll, dass der neue Pakt mindestens das gleiche Volumen – eine Milliarde pro Jahr – haben soll wie bisher. Nur eben nach Vorstellung des Bundes mit einer anderen Kostenbeteiligung der Länder (50 statt zehn Prozent), was mit ein Knackpunkt bei den Verhandlungen ist. Doch gilt schon die BMBF-Aussage übers Volumen unter den meisten Ländern als das, was sie als "substanziellen Fortschritt" sehen, ebenso die Verabredung eines festen Zeitplans mit einer nächsten Klausurtagung im März und der Fertigstellung der Bund-Länder-Vereinbarung bis Mitte Mai – also genau dann, wenn der Digitalpakt 1.0 offiziell ausläuft.
"Wir brauchen eine bildungspolitische Trendwende", sagt BMBF-Chefin Stark-Watzinger
Zurück zur Startchancen-Einigung. Noch nie sei der Handlungsdruck so groß wie jetzt gewesen, sagte Stark-Watzinger. "Wir brauchen eine bildungspolitische Trendwende, und sie muss bei den Grundkompetenzen beginnen. Mit der Verständigung auf das Startchancen-Programm werden Bund und Länder den großen Hebel ansetzen: 20 Milliarden Euro in zehn Jahren für etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler."
60 Prozent der geförderten Kinder sollen an Grundschulen sein. Der Fokus des liegt auf einer Stärkung der Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen und der Entwicklung der Schulen als Lernort. Der Bund zahlt eine Milliarde pro Jahr, die Länder beteiligen sich in gleichem Umfang – wobei ein Teil der komplizierten Verhandlungen sich zuletzt genau darum drehte: Was genau können die Länder als ihren Anteil einbringen?
Auch KMK-Präsidentin Streichert-Clivot, im Hauptberuf SPD-Bildungsministerin im Saarland, sagte, Bund und Länder unterstützten mit den "Startchancen" die Schulen im Transformationsprozess. "Mutig und mit vereinten Kräften können wir Schule verändern – mit wissenschaftlicher Begleitung, einem veränderten Ressourcen-Ansatz und multiprofessionellen Teams." Im Zentrum stünden dabei die Belange von Kindern und Jugendlichen. "Sie fordern zu Recht, dass wir stärker auf ihre Bedürfnisse eingehen und uns nicht in Kompetenzgerangel verlieren. Deshalb ist es unsere gemeinsame Verantwortung, diesen Bedürfnissen mit gezielter und individueller Unterstützung gerecht zu werden."
Karin Prien wiederum sprach von einem guten für gerechtere Bildung in Deutschland, "auch wenn es ein sehr langer und beschwerlicher Weg gewesen ist". Das Programm, das auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und guten Erfahrungen in einigen Ländern aufbaue, könne für die im Ergebnis aufwachsend 4000 Schulen "als ein Element" dafür sorgen, mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland umzusetzen. "Ein Wermutstropfen ist auch in diesem Fall wieder die bürokratische Belastung, die Schulträgern und Schulen durch das Programm droht." Bevor Prien wieder einen Schlenker zum Digitalpakt 2.0 machte: Bei dem "müssen wir sehr darauf achten, die bürokratischen Hürden abzubauen und Verfahren zu vereinfachen." Und Prien forderte: Der zweite Digitalpakt dürfe sowohl vom Volumen als auch von der Aufteilung der finanziellen Belastungen nicht hinter dem ersten Digitalpakt zurückstehen.
"Jetzt fängt die Arbeit richtig an", sagt SPD-Bildungsministerin Hubig
Priens Konterpart Stefanie Hubig, Koordinatorin der SPD-Bildungspolitik in den Ländern, formulierte etwas überschwänglicher. Bund und Länder stärkten die Bildungsgerechtigkeit und Bildungsqualität in Deutschland und zeigten, dass sie gemeinsam handeln könnten. "Wir schnüren ein großes Paket für jene Kinder und Jugendliche, die unter schwierigen Bedingungen ins Leben starten." Noch immer hänge der Bildungserfolg zu sehr vom Geldbeutel oder vom Status der Eltern ab. "Mit Hilfe des Startchancen-Programms werden Schulen zu besseren Lern- und Lebensorten. Sie fügte hinzu: "Und jetzt fängt die Arbeit richtig an!“
In der Tat. Zumal das Startchancen-Vertragspaket formal noch längst nicht unterschrieben ist. Jetzt startet erst einmal der Ratifizierungsprozess in Bund und Ländern, im Frühjahr wollen Stark-Watzinger und Kultusminister dann zur rechtsverbindlichen Unterschrift antreten. Vielleicht ist ja genau das der Grund, warum Bayern und Sachsen sich am Donnerstag doch einen Ruck geben konnten? Schon in der Vergangenheit hatten CDU-Minister wiederholt darauf hingewiesen: Wirklich besiegelt ist das Programm erst, wenn alle 16 Länder rechtskräftig ratifiziert haben. Dient diese vermeintliche Formalie so als letztes im Hintergrund gehaltenes Druckmittel, bis der Digitalpakt 2.0 von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) im Haushaltsentwurf für 2025 verankert ist? Umgekehrt hat der Bund womöglich das noch bessere Druckmittel: den Lockruf des Geldes. Erst wenn alle 16 Länder unterschrieben haben, kann Lindner die laut Vertrag vorgesehene Änderung des Finanzausgleichsgesetzes für die Umsatzsteuerpunkte-Umverteilung (siehe unten) angehen.
Offiziell tun Bund und Länder jetzt ohnehin so (und müssen es), als sei das Programm auch formaljuristisch unter Dach und Fach, denn zum 1. August 2024 soll es starten. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, was Prien in ihrem Statement andeutet: Auch wenn im Endausbau rund 4.000 Schulen in herausfordernder Lage und damit rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland unterstützt werden sollen, fängt es erstmal in kleinerem Rahmen an. Darauf haben sich Bund und Länder zuletzt verständigt. Ganz einfach, weil es nicht möglich sein wird, gleich zum Schuljahresanfang alle 4000 Schulen ausgewählt zu haben, und so kurzfristig überall das nötige zusätzliche Personal dafür eingestellt zu haben. Darum sollen es nun zunächst mindestens 1.000 Schulen im ersten Programmjahr sein, bis zum Schuljahr 2026/27 sollen dann alle 4.000 Schulen feststehen.
Das Besondere ist, dass die Höhe der Fördermittel, die ein Land erhält, auch die dortigen sozialen Rahmenbedingungen berücksichtigt, konkret den Anteil der Kinder und Jugendlichen aus armutsgefährdeten Familien und mit Migrationsgeschichte, darüber hinaus in geringerem Umfang die Wirtschaftsleistung pro Kopf der Bevölkerung. Der einst erhoffte ganz große Paradigmenwechsel in der Bildungsfinanzierung weg von der Gießkanne ist es aber nicht geworden, weil ein Großteil des Geldes doch nach üblichen Verteilungsmechanismen (Umsatzsteuerpunkte) in die Länder fließen soll.
Bildungspolitische Seltenheiten und zeitliche Herausforderungen
Weil die Länder das Geld wiederum an diejenigen Schulen verteilen sollen, die es besonders brauchen, müssen sie dafür laut Vereinbarung geeignete, wissenschaftsgeleitete Kriterien anlegen. Für die gute Hälfte der Länder, die bereits sogenannte Schul-Sozialindizes einsetzt, gut machbar. Solche Sozialindizes bilden den sozialen Hintergrund der Schülerschaft aller Schulen im jeweiligen Bundesland ab. Für die Kultusministerien, die Vergleichbares (noch) nicht haben, eine weitere zeitliche Herausforderung.
40 Prozent des Startchancen-Geldes gehen in die sogenannte Säule eins, bauliche Investitionen in eine bessere und damit lernförderlichere Infrastruktur und Ausstattung der Startchancen-Schulen. 30 Prozent können die Schulleitungen frei verfügbare "Chancenbudgets" in vor Ort passende Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung stecken (Säule zwei), etwa in die gezielte Lernförderung in den Kernfächern Deutsch und Mathematik. Die übrigen 30 Prozent dienen zur personellen Verstärkung der Schulsozialarbeit und mulitprofessioneller Teams (Säule drei), rein rechnerisch lässt sich laut BMBF und KMK allein mit den Bundesmittel eine volle zusätzliche Stelle pro Startchancen-Schule finanzieren.
In dieser Form immer noch eine bildungspolitische Seltenheit ist auch, dass die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation als integrale Bestandteile des Programms vorgesehen sind, ebenso der Transfer der gewonnenen Erkenntnisse über die geförderten Schulen hinaus. Allerdings soll es jetzt auch bei der wissenschaftlichen Begleitung erst später losgehen.
"Reicht nicht, ein Elterncafé oder eine Bibliothek zu bauen"
Der bildungspolitische Sprecher der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Jarzombek, sagte, es sei ein gutes Signal, dass sich der Bund nicht vollständig aus bildungspolitischen Fragen herausziehen werde. Doch löse das "Startchancen-Programm von Frau Stark-Watzinger" die drängenden Probleme der Schulen nicht. "Wenn die Kinder in die Schule kommen und kein Deutsch können, dann reicht es nicht, ein Elterncafé oder eine Bibliothek zu bauen." Dringend notwendig sei ein verpflichtendes, vorschulisches Programm für Kinder mit Förderbedarf im fünften Lebensjahr. "Stattdessen investiert die Bundesbildungsministerin vor allem in Baumaßnahmen und erhöht die Berichtspflichten für Schulleitungen und Lehrkräfte." Die Gelder für Baumaßnahmen würden vermutlich über Jahre nicht abfließen. "Und die weiteren Mittel vergibt der Bund nach Umsatzsteuerpunkten, ohne ihre Verwendung tatsächlich steuern zu können."
Stark-Watzinger habe sehr lange gebraucht, um ein verhandlungsfähiges Konzept für ihr "Prestige-Projekt" vorzulegen. Ab jetzt beginne für Länder und Kommunen ein sehr sportlicher Umsetzungszeitplan, fügte Jarzombek hinzu. "Das setzt nun alle Akteure unter erheblichen Druck, insbesondere die Kommunen, die wesentliche Elemente in kurzer Zeit umsetzen müssen und bis heute noch nicht darauf vorbereitet wurden."
Eine parlamentarische Anfrage der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion hatte ergeben, dass es bislang nur ein einziges Gespräch des BMBF mit den kommunalen Spitzenverbänden hatte, und zwar auf Staatssekretärsebene. "Die Ministerin hat sich selbst überhaupt nicht eingebracht", kritisierte Jarzombek. Auch in den Verhandlungen zum Digitalpakt 2.0 brauche es jetzt einen echten Durchbruch und wieder mehr Planungssicherheit für Kommunen, Schulen und Lehrkräfte.
Von einem guten Tag für die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland sprachen die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Katharina Dröge, und Nina Stahr, die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion. Das Programm werde besonders Schüle aus einkommensschwachen Familien erreichen. "Dies ist dringend notwendig, denn die jüngsten alarmierenden PISA-Ergebnisse belegen zum wiederholten Male, dass der Bildungserfolg in Deutschland viel zu sehr mit der sozio-ökonomischen Herkunft zusammenhängt". Über das Startchancen-Programm hinaus brauche es aber endlich auch eine gemeinsame bildungspolitische Strategie von Bund, Ländern und Kommunen mit gesamtstaatlichen Bildungszielen. "Als Gesellschaft und auch als Volkswirtschaft können wir es uns nicht leisten, weiter an der Bildung zu sparen. Deswegen erwarten wir auch eine zeitnahe Einigung beim Digitalpakt 2.0, dem zweiten großen bildungspolitischen Leuchtturmprojekt unserer Koalition."
Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Gyde Jensen nannte das Startchancen-Programm einen lange ersehnten "Paradigmenwechsel in der
Bildungsfinanzierung". Mit dem Ja zu dieser Kooperation bewiesen die Bundesländer Verantwortungsbewusstsein und den Mut, "endlich neue Wege in der Bildungspolitik zu wagen, um Bildungschancen von der Herkunft zu entkoppeln. Die großen Herausforderungen des Bildungsstandorts Deutschland werden endlich als gemeinsame Aufgabe erkannt." Die monatelangen Verhandlungen seien nicht immer einfach gewesen, doch zähle das Ergebnis. "Auf diesem Fundament der Zukunft unserer Kinder müssen Bund und Länder jetzt weiter gemeinsam und zielorientiert aufbauen."
Der Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, Markus Warnke, mahnte, mit der Einigung seien nun alle 16 Bundesländer in der Pflicht, die Schulen im Brennpunkt in ihrem Land zu identifizieren "und bis Sommer ein Programm zu entwickeln, das ihnen wirklich hilft. Das ist ein großer Erfolg für mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland." Das Ziel, den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in den Fächern Mathematik und Deutsch nicht erreichen, innerhalb von zehn Jahren zu halbieren, sei ambitioniert", sagte Warnke. "Der Weg ist anspruchsvoll, das Ziel mit einer Kennziffer klar formuliert. Das ist für die deutsche Bildungspolitik ungewöhnlich und mutig."
Von den drei Programmsäulen aus Schulbau und -ausstattung, Chancenbudget sowie Personal für multiprofessionelle Teams sei das Chancenbudget wohl mit größten Erwartungen verbunden. "Hier haben sich die Länder einen großen Gestaltungsspielraum ausgehandelt", gab Warnke zu denken: "Eine noch deutlichere Fokussierung auf die Stärkung der Basiskompetenzen wäre wünschenswert gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass das primäre Ziel des Programms auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler die Richtschnur sein wird."
Die linke Bildungspolitikerin Nicole Gohlke sagte: "Den Enthusiasmus vieler eines angeblich bevorstehenden 'Paradigmenswechsels' in allen Ehren, aber dieses Startchancen-Programm ist angesichts der immensen Herausforderungen im Bildungssystem völlig unterdimensioniert und von einer Trendwende sind wir weit entfernt." Allein der Sanierungsstau der Schulen belaufe sich auf 50 Milliarden Euro. Das sei umso dramatischer, als dass das Startchancen-Programm durch keinerlei weitere Maßnahmen flankiert werde. Die Bundesregierung habe ebenfalls keine Strategie, woher die benötigten Fachkräfte kommen sollten. "Das hat heute Morgen auch die SPD-Parteivorsitzende eingesehen, die in der letzten Minute auf die Idee kommt, das Ganze müsse doch größer sein."
Am Freitagmorgen hatte Saskia Esken ihre Forderung aus dem November wiederholt, die Startchancen-Mittel zu verfünffachen. "Es wäre notwendig, das Programm auf zumindest die Hälfte der Schulen auszuweiten", sagte die SPD-Chefin dem Handelsblatt. Das seien zehn Milliarden Euro pro Jahr.
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Die Verwirrung um die WissZeitVG-Novelle setzt sich fort, noch bevor der Entwurf das Kabinett passiert hat. Ein Vorgeschmack auf das, was als nächstes im Parlament bevorsteht?
AM 10. MÄRZ bestätigte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) offiziell gegenüber der Presse, "dass wir uns jetzt innerhalb der Bundesregierung auf einen Reformvorschlag für das Wissenschaftszeitvertragsgesetz verständigt haben" – und fügte hinzu, dass der Entwurf zeitnah im Bundeskabinett beschlossen werden könne. Die Kabinettszeitplanung war noch konkreter: Für den 27. März steht der "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Befristungsrechts für die Wissenschaft" auf der Sitzungsagenda.
Wie aber passt dazu, dass das BMBF jetzt in seiner – auf den 12. März, also zwei Tage später datierten – Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion mitteilte, die Ressortabstimmung dauere an, der Entwurf werde zeitnah "nach Abschluss der Ressortabstimmung im Bundeskabinett beschlossen werden"? Was denn nun? Der bildungs- und forschungspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Thomas Jarzombek spricht jedenfalls von einer "Einigung, die gar keine zu sein scheint". Er finde es "respektlos, dass das Parlament und die Öffentlichkeit über einen so langen Zeitraum und bei einem so zentralen Thema für Wissenschaft und Forschung im Dunkeln gehalten werden".
Der Weg zum Kabinettsbeschluss ist noch nicht zu Ende
Ist Stark-Watzinger zu früh an die Öffentlichkeit gegangen? Ja – und nein. Tatsächlich gibt es, wie die Ministerin betonte, eine Einigung mit denjenigen Ressorts, die gegen den BMBF-Referentenentwurf einen Widerspruch ("Leitungsvorbehalt") eingelegt hatten: das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) und das Arbeitsministerium von Hubertus Heil (SPD). Über den Inhalt der sich abzeichnenden Übereinkunft hatte ich bereits Mitte Februar berichtet.
Wobei es sich, worauf die Wissenschaftspolitikerinnen Laura Kraft (Grüne) und Carolin Wagner (SPD) am Sonntag umgehend hier im Blog hinwiesen, nicht um eine inhaltliche Einigung beim zentralen Streitpunkt, der Postdoc-Befristungshöchstdauer handele, sondern lediglich um eine Einigung, das Gesetz ins Parlament weiterzuschieben. Mit einem Prüfauftrag, dort eine Lösung für den weiter ungelösten Konflikt zu finden.
Konfliktlösung ins Parlament verschoben?
BMBF, BMWK und BMAS haben sich geeinigt, dass die Novelle des WissZeitVG im Wesentlichen in der Form des im Juni 2023 vorgelegten BMBF-Referentenenwurfs ins Kabinett eingebracht werden soll.
Vor allem soll es bei der von SPD und Grünen abgelehnten Befristungshöchstdauer nach der Promotion (vier Jahre plus zwei weitere Jahre mit Anschlusszusage) bleiben, davon könnte auch per Tarifvertrag nicht abgewichen werden.
Im sogenannten Zuleitungsschreiben, mit dem der Gesetzentwurf ins Kabinett geht, soll stattdessen stehen, dass im weiteren Gesetzgebungsverfahren eine Erweiterung der Tarifklausel im WissZeitVG in der Postdoc-Phase geprüft werden solle, und zwar um die Aspekte Höchstbefristungsdauer und Zeitpunkt der Anschlusszusage. Ziel dabei sei, so die Formulierung im Zuleitungsschreiben, "einen angemessen Zeitraum zur Qualifizierung zu gewährleisten und eine frühere Perspektive auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu eröffnen".
Doch ist der Weg bis zum Kabinettsbeschluss damit eben noch nicht zu Ende: Jetzt haben die übrigen Ministerien, inklusive Kanzleramt, noch einmal die Gelegenheit, auf den zwischen den zwischen BMBF, BMWK und BMAS vereinbarten Entwurf zu schauen, ebenso die Spitzen der Ampel-Koalition. Und an der Stelle könnte es erneut interessant werden: Denn eine Schlussfolgerung der Ampel aus ihrem Kommunikationsfiasko um das Gebäudeenergiegesetz hatte eigentlich darin bestanden, inhaltlich nicht geeinte Gesetze nicht mehr in den Bundestag zu schicken. Dass der Koalition dort beim WissZeitVG neben dem eigenen Streit ein medial wenig schmeichelhafter Überbietungswettbewerb durch die Opposition droht, ist absehbar.
Wackelt insofern der 27. März? Gut möglich. Heißt das, es kommt zu einer weiteren substanziellen Verzögerung, bis das Gesetz im Parlament aufschlägt? Schwer zu sagen. In der Obleute-Runde des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung zeigten sich die Koalitionsvertreter am Mittwochmorgen optimistisch, dass es, wenn nicht der 27. März, dann der 10. April werde. In der Woche dazwischen fällt die Kabinettssitzung osterbedingt aus.
"Verschärft die Probleme, die durch eine Reform eigentlich behoben werden sollten"
Aber was ist schon sicher in dem WissZeitVG-Gesetzverfahren? In einer am Mittwoch veröffentlichten Stellungnahme von "#profsfuerhanna", einer schon vergangenes Jahr aktiven Adhoc-Initiative von Hochschullehrenden, heißt es, die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes führe vor, "wie Gesetzgebung nicht laufen sollte". Die Unterzeichner, darunter die Soziologinnen Paula-Irene Villa Braslavsky (München) und Tilman Reitz (Jena), der Philosoph Tobias Rosefeldt (Berlin) und die Historikerin Martina Winkler (Kiel), rekapitulieren: "Nachdem das zuständige Ministerium (BMBF)eine Evaluation beauftragt, zahlreiche Gespräche mit Beteiligten und Betroffenen geführt, einen vor einem Jahr lancierten Änderungsansatz nach Protesten wieder zurückgezogen und dann in einem notdürftig veränderten Referentenentwurf überführt hat, wurde nun die Kabinettsvorlage angekündigt."
Das Ergebnis sei mehr als enttäuschend: "Das Ministerium nimmt von der Vielzahl geäußerter Einsichten, Vorschläge und Argumente zur Reform oder Obsoletheit des WissZeitVG also schlechthin nichts auf und hält weiter an einem Plan fest, der die Situation für befristet Beschäftigte in der Wissenschaft sogar verschärft." Und weiter: "Eine bloße Verkürzung der Postdoc-Phase ohne begleitende Maßnahmen, die Verbindlichkeit schaffen und Prekariat abbauen, verschärft die Probleme, die durch eine Reform eigentlich behoben werden sollten."
Ähnlich hatte sich vorher schon die "#IchbinHanna"-Mitinitatorin Kristin Eichhorn geäußert. "Mit der Einigung innerhalb der Koalition hätte sich das BMBF unter dem Strich mit einem Entwurf durchgesetzt, mit dem für niemanden etwas gewonnen ist: Der Entwurf hätte Nachteile für Beschäftigte, Professor_innen, Studierende, wissenschaftliche Arbeitgeber; würde er Gesetz, würde das Lehre und Forschung massiv schädigen." Faire Arbeitsbedingungen als Teil eines zukunftsfähigen Wissenschaftssystems sähen anders aus, fügt Eichhorn im Newsletter der ebenfalls durch ihr "#IchbinHanna"-Engagement bekannt gewordenen Amrei Bahr hinzu. "Alle Kritikpunkte unserer Stellungnahme aus dem Juli 2023 könnten wir heute genauso wieder schreiben." Eine der vielen Stellungnahmen, die im Gesetzgebungsverfahren abgegeben worden waren.
"Spielball der fliegenden Kräfte im Parlament"
Unions-Wissenschaftspolitiker Jarzombek kommentiert: "Keiner in der Koalition kann überzeugend darlegen, warum den Regierungsfraktionen jetzt im Parlament gelingen sollte, was sie in der von ihr getragenen Bundesregierung in den letzten zweieinhalb Jahren nicht zustande bekommen haben." Sein Kollege Lars Rohwer, Berichterstatter der CDU/CSU für das WissZeitVG, sagt, das Gesetz werde durch das Vorgehen der Regierungskoalition "zu einem Spielball der fliegenden Kräfte im Parlament".
Genau das könnte freilich die Neigung der Ampelfraktionen, sich bald zu einigen, erhöhen. Denn weder SPD und Grüne noch FDP haben ein Interesse daran, sich dauerhaft bei dem Thema vorführen zu lassen, den Gesetzentwurf komplett scheitern zu lassen – oder ihn im Vorfeld der nächsten Bundestagswahl immer noch auf dem Tisch zu haben. Was das für den Postdoc-Streit bedeutet – kaum vorherzusagen. Der forschungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Stephan Seiter, hatte am Sonntag das Verhandlungsergebnis von BMBF, BMWK und BMAS begrüßt und zugleich zu Protokoll gegeben, Prüfaufträge halte er "im Rahmen evidenzbasierter Politik für sinnvoll". Unterdessen kündigte der GEW-Vizevorsitzende Andreas Keller laut Research.Table neue Protestaktionen gegen die Gesetzespläne an. "Wir werden den Protest aus dem digitalen Raum auch auf die Straße bringen müssen."
Lesenswert an der BMBF-Antwort auf die parlamentarische Anfrage der Union sind übrigens noch die Ausführungen, wie Bettina Stark-Watzinger sich persönlich in Sachen WissZeitVG-Novellerierung engagiert habe: Die Ministerin habe seit September 2023 "persönlich zehn Gespräche mit ausdrücklichem und unmittelbarem Bezug zum Thema WissZeitVG geführt". Dies hätten insbesondere Besprechungen innerhalb des BMBF umfasst "sowie Gespräche im Rahmen der Abstimmung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Befristungsrechts für die Wissenschaft zwischen den Ressorts". Darüber hinaus habe die Ministerin das Thema in verschiedenen Kontexten angesprochen beziehungsweise sei darauf angesprochen worden. "Solche von der Bundesministerin geführten Gespräche – etwa am Rande von Veranstaltungen – werden nicht protokolliert und können daher nicht einzeln aufgeführt werden."
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100-Milliardenfonds und Bildungsgipfel: Die Initiatoren von "Bildungswende JETZT" planen für den geforderten Neuanfang des Bildungssystems die Bundesregierung in einer tragenden Rolle ein. Warum das eine Fehleinschätzung sein dürfte.
Ausschnitt aus dem Appell "Bildungswende JETZT".
VIELES VON DEM, was die schon am Donnerstag über 90 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften, Vertretungen und Initiativen in ihrem Appell "Bildungswende JETZT" geschrieben haben, kann man nur unterstützen. Geschickt am Weltkindertag platziert, hat er die mediale Aufmerksamkeit erhalten, die ihm zusteht. Dabei kann man durchaus geteilter Meinung sein, ob Formulierungen wie "eine der schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik" erstens historisch zutreffen und zweitens die zuständigen Politiker eher zum Handeln als in eine Abwehrhaltung hinein treiben.
Die Aufzählung der Problemlagen in dem dreiseitigen Aufruf aber beschreibt in jedem Fall die Realität: von den hunderttausenden fehlenden Kitaplätzen, Erziehern und Lehrkräften über den wachsenden Teil von Schülern, die nur schlecht lesen, schreiben und rechnen können, bis hin zu 50.000, die jedes Jahr die Schulen ohne Abschluss verlassen. Auch die Kennzeichnung unseres Bildungssystems als veraltet, segregiert und sozial ungerecht trifft – leider – vielerorts den Kern. Wie, fragen die Unterzeichner zu Recht, soll ein solches System die jungen Generationen auf die Umwälzungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten?
Wo sich bei mir ernsthafte Zweifel meldeten, waren indes diejenigen Passagen des Bildungsappells, in denen die Unterzeichner dem Bund eine wichtige Rolle bei der Krisenrettung zugestehen.
Ja, es ist populär derzeit, auf den Bund zu setzen. Etwa durch das in Forderung 1 enthaltene Plädoyer für ein Sondervermögen für Bildung in Höhe von 100 Milliarden Euro für Kitas und Schulen, das schließlich auch die Bundeswehr erhalten hat. Da die Länder sich gar nicht so verschulden könnten, müsste das ja vom Bund kommen. Träumen von vielen Extra-Bundesbildungsmilliarden sollte man sogar, auch ich habe es zu Ostern getan.
Aber dann muss man sich wieder den Realitäten stellen, zu denen gehört, dass sich die Ampel schon für eine einzige zusätzliche Bildungsmilliarde jährlich rühmt, deren Auszahlung noch nicht einmal geplant wurde bislang. Wem in Hinblick auf die nötige Bildungswende insofern als erstes ein bundespolitischer Finanz-Großakt einfällt, leistet zwar einen ansehnlichen Beitrag zur Debattengalerie – könnte aber beim Warten auf den Bund die Chance zum Aufbruch verpassen.
Das Gleiche gilt für die Forderung 4 nach einem "echten Bildungsgipfel", einberufen vom Bundeskanzler "in Absprache mit den Regierungschef*innen der Länder" und unter Einbeziehung von "Zivilgesellschaft und Bildungspraxis" (interessanterweise wird die im Papier für ihre "dysfunktionalen Vorschläge" gescholtene Bildungsforschung hier ausgespart). Abgesehen davon, dass an anderer Stelle zu Recht darauf hingewiesen wird, dass ein wesentliches Ziel des letzten echten (Dresdner) Bildungsgipfels von 2008 noch immer nicht erreicht wurde, kann man eine auch nur teilweise konzeptionelle Neusortierung des Bildungssystems von einem solchen Format nicht erwarten. So, wie der Bund die 100 Milliarden nicht springen lassen wird, werden die Länder sich nicht per Gipfel und unter Zutun des Bundes ihre Macht in der Kultuspolitik einhegen lassen. Weil sie hieraus ganz wesentlich ihre Daseinsberechtigung herleiten.
Den Bildungsföderalismus als unkaputtbar anerkennen und trotzdem an den Wandel glauben
Wer will, kann dem Autor dieser Zeilen angesichts solcher Einwände Ambitions- oder Fantasielosigkeit vorwerfen. Ich behaupte, es ist genau umgekehrt: Anzuerkennen, dass der Bildungsföderalismus in all seiner täglich erlebten Unzulänglichkeit realpolitisch gesehen unkaputtbar ist. Und trotzdem an den Wandel zu glauben, wie er in den Appell-Forderungen 2 ("Ausbildungsoffensive für Lehrer*innen und Erzieher*innen") und 3 ("Schule zukunftsfähig und inklusiv machen") ausbuchstabiert wird, das ist gedanklich anspruchsvoll. Das erfordert Mut, weil eine solche Argumentation das Heil in den Ländern und damit zwangsläufig ausgerechnet in jener Kultusministerkonferenz (KMK) sehen muss, die vielen oft als so heillos erscheint.
Mir selbst ja auch – wie oft habe ich meine gelegentlich an einen Föderalismus-Abgesang grenzenden Zweifel auch hier im Blog formuliert. So scheint denn auch in dem unter anderem von Lehrergewerkschaften unterstützten Aufruf vor allem eine tiefe Enttäuschung mit den Kultusministern durch – etwa an deren Entscheidung, mancherorts mit Mehrarbeit (wie von der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission empfohlen) begegnen zu wollen. In dessen rigoroser Ablehnung durch die Unterzeichner könnte man übrigens, das nur nebenbei gesagt, einen logischen Bruch zu ihrer Warnung vor einer der schwersten Bildungskrisen in der Geschichte vermuten – die dann ja wohl angesichts der dramatischen Lehrkräfte-Not auch für alle Beteiligten unbequeme Maßnahmen rechtfertigen sollte.
Egal, ich bin jedenfalls davon überzeugt: Nur die Länder müssen und nur die Länder können es richten, angefangen mit den Finanzen. Sie sind für zwei Drittel der staatlichen Bildungs- und Wissenschaftsausgaben verantwortlich. Womit der Hebel für mehr – etwa dauerhaft zehn Prozent der Wirtschaftsleistung für Bildung und Forschung, siehe Forderung 1 – ebenfalls vor allem bei ihnen liegt. Umso stärker, da sich die Verteilung des Steueraufkommens in den vergangenen Jahren derart zu ihren Gunsten gewandelt hat, dass sie als Gemeinschaft (nicht zwangsläufig jedes Land einzeln) haushaltspolitisch besser dastehen als der Bund.
Woraus folgt: Die Bundesregierung kann und soll Akzente und Impulse für neue Entwicklungen in der Bildung setzen (Beispiel: Startchancen-Programm, um vom Gießkannen-Prinzip in der Schulfinanzierung wegzukommen), aber das Bildungssystem als Ganzes entwickeln können nur die Länder. Weil sie die Zuständigkeit und auch das Geld haben. Am Ende lautet sogar die Frage, ob der – durch den Ampel-Koalitionsvertrag genährte und auch von uns Journalisten oft ausgeübte – Erwartungsdruck dem Bund gegenüber nicht sogar kontraproduktiv wirkt, weil er die Länder aus dem Scheinwerferlicht entfernt.
Die Unfähigkeit der Kultusministerkonferenz ist kein Naturgesetz
Die Länder können und müssen es richten, und das geht nur über die Reform ihrer Zusammenarbeit in der Kultusministerkonferenz. Anstatt deren Unfähigkeit implizit zum Naturgesetz zu erklären, indem man nach dem Bund ruft, sollte die ganze Bildungsrepublik Anteil an den laufenden KMK-Reformdebatten nehmen. Ja, die gibt es, sie sind fragil und doch im günstigen Fall so umfassend wie lange nicht (um nicht zu sagen: wie selten seit Gründung der Bundesrepublik).
Kann ihre gemeinsame Verwaltung, das KMK-Sekretariat, neu und schlagkräftig aufgestellt werden? Können die Länder ihre übergreifenden Entscheidungsprozesse zu Bildungsreformen beschleunigen und dabei den Konsens durch im Einzelfall unbequeme Mehrheitsentscheidungen ersetzen? Schafft es die KMK, in der Öffentlichkeit die Rolle als föderale Bildungsagentur einzunehmen? Derzeit ist es doch so, dass auch die meisten Journalisten im Zweifel im Bundesbildungsministerium anrufen, weil die Macht in unserem Bildungssystem zwar bei den Ländern liegen mag, sie aber gleichzeitig so irritierend undurchsichtig funktioniert.
Das Dramatische ist, dass es diese vor vielen verborgenen Reformbemühungen sind, die über die "Bildungswende" entscheiden werden. Weshalb ein wirklich wirksamer Appell den direkten Erwartungsdruck in Hinblick auf die Selbst-Reform der KMK maximal erhöhen sollte – und es Aufgabe des Journalismus wäre, neben plakativen Essays über 10- oder 100-Milliarden-Bildungsfonds Transparenz in dieses verschachtelt-verborgene Gezerre um die Zukunft des Bildungsföderalismus zu bringen.
Tatsächlich jedoch erwähnt "Bildungswende JETZT" die Kultusminister als allerletzte ihrer vier Adressatengruppen – und den Bund vor den Ländern. Als erwarte der Appell von ihnen am allerwenigsten.
Mit einer Verve, die allen Klischees zu widersprechen schien
Dass dies womöglich eine Fehlwahrnehmung des Faktischen ist, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Corona-Zeit. Solange der Bund über Einschränkungen des Präsenzunterrichts mitentschied, wurden die Bildungsinteressen der Kinder meist dem gesellschaftlichen Gesamtwohl untergeordnet, was die soziale Schieflage beim Lernerfolg nur noch verschärft hat. Es waren die Länder und die Kultusminister übrigens noch deutlich stärker als die Ministerpräsidenten, die sich überwiegend für offene Schulen eingesetzt haben. Und das mit einer Verve, einer Geschlossenheit und gelegentlich auch mit einer Trotzigkeit, die allen landläufigen Klischees zu widersprechen schien.
Böse Zungen behaupten, sie hätten das nur getan, weil sie wussten, wie schlecht sie ihre Schulen auf die Ausnahmesituation vorbereitet hatten. Doch bei allem vermuteten oder tatsächlichen Mangel an Kompetenz und Weitsichtigkeit: Vielleicht identifizierten sich viele Kultusminister einfach mit der von ihnen übernommenen Aufgabe, für Bildung zu sorgen? Vielleicht ist das Einzige, worauf es wirklich ankommt, das Ende ihrer immer wiederkehrenden Selbstblockaden in der KMK?
Wie wäre es dann, wenn wir für einen Moment, wirklich nur für einen Moment annähmen, dass die Lösung der Krise des Bildungsföderalismus bei denjenigen liegt, die im Föderalismus für die Bildung zuständig sind? Und dass wir die Energie, die wir bislang für die so formschönen wie realitätsfremden Träume von einer Rettung durch den Bund aufgewendet haben, in Debatten über deren strukturelle Ertüchtigung steckten? Womöglich wären wir der "Bildungswende jetzt" dann ein Stück näher.
Der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 war, wenngleich das hierzulande mitunter übersehen wird, ein bedeutsames historisches Zwischenspiel, dessen Implikationen und Konsequenzen weit über die Landesgrenzen Spaniens hinausreichten. In ihrer Dissertationsschrift spürt die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Daniela Kuschel der Aufarbeitung des Bürgerkrieges in populärkulturellen Produkten nach. Eines vorweg: Dieses Buch beruht auf einer Dissertationsschrift. Es ist sinnvoll, auf diesen Umstand hinzuweisen, da derartige Publikationen die Charakteristika wissenschaftlicher Qualifikationsschriften recht deutlich umsetzen. Das betrifft in diesem Fall nicht lediglich Aufbau und Struktur der Arbeit (mit einer Unterteilung zwischen theoretischer Aufarbeitung der jeweiligen Themenbereiche, gefolgt von ausführlichen Analyseteilen), sondern etwa auch den Umstand, dass die zahlreichen Zitate ausschließlich in Spanischer Sprache gebracht werden. Ein Umstand, der auch gleich etwas über die Stoßrichtung des Buches verrät: Die Autorin wendet sich explizit an eine Leser*innenschaft, die ein spezielles Interesse für das verhandelte Thema mitbringt. In Anbetracht der hohen Komplexität des Spanischen Bürgerkriegs ist das nicht die schlechteste Strategie. Wäre das nicht so, müsste man wohl einen weit umfangreicheren Einleitungsteil voranstellen. Kuschel springt stattdessen direkt ins Feld. Ihre Einleitung gilt demnach nicht dem Kriegsverlauf oder dessen Vorbedingungen, sondern dem für ihre Analyse wesentlichen Bereich der Aufarbeitung und der Erinnerungskultur. Hier liegt dann auch gleich eine Stärke dieser Arbeit. Ziemlich genau das erste Drittel des Buches lässt sich als solides Arbeitsbuch verstehen. In atemberaubendem Tempo jongliert Kuschel die maßgebende Referenzliteratur, stellt Entwicklungslinien dar, streicht Tendenzen und Moden heraus. Dabei nimmt sie oft auch Bezug auf Analysen anderer Ereignisse mit traumatischer Qualität, allen voran des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Ein Vergleich, der einerseits der Quellenlage geschuldet ist, andererseits dabei hilft, das eigentliche Thema der Arbeit, das im deutschsprachigen Raum keine herausragende Aufmerksamkeit erfährt, besser zu verorten.Nach dieser profunden und gekonnten Abhandlung, widmet sich die Autorin ihrem zu untersuchenden Material. Für die Gattung der erzählenden Literatur sind dies zwei Werke: Soldados de Salamina (2001) von Javier Cercas undLa comedia salvaje (2009) von José Ovejero. Ersterer Roman ist bereits so etwas wie ein Referenzwerk jener spanischen Bürgerkriegsliteratur, deren Autor*innen der Nachgeborenengeneration angehören. Cercas, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler ist Jahrgang 1962, war also zum Ende der Franco-Diktatur (1975) gerade einmal dem Kindesalter entwachsen. Wichtig ist das deshalb, weil mit diesem Generationswechsel eine Diskussion über einen Wandel der Erzählweisen in der Bürgerkriegsliteratur einhergeht, für den Cercas Roman als beispielhaft gilt.Man muss hierfür kurz ausholen: Soldados de Salamina beruht auf einer formalen Dreiteilung des Textes in Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte. Das Herzstück bildet dabei eine Episode um den Schriftsteller und Falange-Mitbegründer Rafael Sánchez Mazas, der in den letzten Tagen des Bürgerkriegs seiner Erschießung entkommen kann und dessen Leben in Folge von einem republikanischen Soldaten geschont wird. Die Vorgeschichte ist die des fiktiven (!) Cercas, der sich des Themas annimmt, die Nachgeschichte die des republikanischen Soldaten, dem Sánchez Mazas sein Leben zu verdanken hat, und den der (abermals fiktive) Cercas ausfindig zu machen versucht. Das Buch wurde ein riesiger Erfolg. Nicht zuletzt, weil – wie Kuschel für alle von ihr verhandelten Werke präzise ausführt – Spanien zu dieser Zeit inmitten einer leidenschaftlich geführten Diskussion um die Erinnerungskultur an den Bürgerkrieg steckte (und im Grunde noch immer steckt). Die Beschäftigung eines als politisch links verorteten Autors mit dem rechten Ideologen Sánchez Mazas, dessen Charakterisierung noch dazu nicht ausschließlich negativ ausfiel, war ein beachtliches Wagnis. Wer es guthieß, sprach von einer historischen und notwendigen Versöhnung der beiden Lager, wer nicht, von Verrat. Sicher scheint dabei vor allem eines: Die Polemik hat der Popularität des Romans nicht geschadet. Die bereits erörterte Erzählperspektive, die Cercas geschickt anwendet, um die unvermeidliche Fiktionalisierung eines weit zurückliegenden Ereignisses im Text selbst erfahrbar zu machen, fand große Zustimmung und machte das Buch rasch zu einem Referenzwerk. So weit, so bekannt. Kuschel referiert all diese Stationen ausführlich. So gut die Autorin es auch vermag, bekannte Stimmen zusammenzufassen, so wenig versteht sie es, eigenes hinzuzufügen oder gar zu widersprechen. Ordentlich reiht sie Beleg an Beleg, bemüht Literaturwissenschaft und -kritik. Was gelobt wurde, lobt auch sie, was kritisiert wurde, streicht auch sie negativ hervor. Dabei wäre eine derart affirmative Haltung gar nicht notwendig, ist zu diesem Roman doch noch lange nicht alles gesagt. Und auch nicht alles, was gesagt wurde, muss widerspruchslos hingenommen werden. So ließe sich etwa die durchwegs als positiv gewertete Erzählstrategie auch kritisch hinterfragen. Wenn der reale Javier Cercas einen fiktiven Javier Cercas einführt, um durch dieses selbstreflexive, die Fiktion entzaubernde Manöver einer vermittelnden Instanz Rechnung zu tragen – und seinen Text von der Masse der Bürgerkriegsromane abzuheben – ist dies, so ließe sich argumentieren, nichts anderes als der Versuch, den sprichwörtlichen Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben: Eine Fiktion soll eine andere retten. Alles andere wäre nämlich kein Roman mehr. Spätestens an dieser Stelle wäre dann die Brücke zu Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie (1972) zu schlagen. Ein bis heute weit herausragendes Werk, das – auf Interviews beruhend und eben doch auch als Roman ausgewiesen – das Verhältnis zwischen Fiktion und authentischem Zeugnis am Beispiel der Biographie des berühmten Anarchisten Buenaventura Durruti genau von der entgegengesetzten Richtung her befragt. Dass weder dieses Werk, noch andere vergleichbare Referenztexte (etwa von George Orwell oder Franz Borkenau) Erwähnung finden, mag verwundern, kann aber kein Zufall sein. Stattdessen lässt sich die Autorin gleich zweimal dazu hinreißen, einer Kritik am "emotionalen Ende" von Soldados de Salamina stattzugeben (S. 70 und 82). Hier scheint – einmal mehr – ein Missverständnis zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft zu bestehen. Ganz so, als ob es die Aufgabe Letzterer wäre, zu entscheiden, wann ein Autor/eine Autorin "emotional" – ohne zu belegen, was das überhaupt sein soll – schreiben dürfe, und wann nicht. Dabei gäbe es an Cercas Roman auch konkret Belegbares zu kritisieren: das nachgerade erschreckende Frauenbild etwa, das dieses sonst so bemerkenswerte Buch begleitet. Doch darüber kein Wort. Fraglich bleibt bei all dem also das Warum. Alles was man hier liest, ist bereits bestens bekannt, zähltSoldados de Salamina doch seit bald zwanzig Jahren zu den am eifrigsten verhandelten Beiträgen der Bürgerkriegsliteratur. Ganz anders beim zweiten Beispiel zeitgenössischer Literatur. Allein die Wahl des WerksLa comedia salvaje ist ein guter Griff, ist der Roman des im deutschen Sprachraum wenig bekannten Autors José Ovejero von der Literaturwissenschaft bisher doch kaum beachtet worden. Das holt Kuschel nun nach. Gründlich beleuchtet sie dieses mit Querverweisen, Referenzen und Zitaten gespickte – vielleicht auch überladene – Werk, das von der Frage nach der Bedeutung von Geschichten und deren Wahrheitsgehalt durchzogen wird. Nicht umsonst lautet der erste Satz des Buches "¡Todo es mentira!, Alles ist Lüge!", um im nächsten Moment eine ausladende, bildsprachlich überhöhte Eröffnungsszene folgen zu lassen, in der Blut, Staub, Schmutz, schlechter Atem, würgende Griffe, eingeschlafene und abgerissene Extremitäten und schließlich gar Gottes Abwesenheit bemüht werden, um die Gräuel eines Krieges sprachlich zu fassen. Eine implizite und weniger offensichtliche Form – gleichzeitig ein Kontrapunkt zur betont nüchternen Sprache eines Javier Cercas – die für erzählende Literatur notwendige Fiktionalisierung zu thematisieren. Kuschel analysiert diesen Ansatz anhand ausgewählter Szenen und kann dabei das einlösen, was sie bei Cercas Roman verfehlt hat. Gleichzeitig leistet sie Pionierarbeit. Zumindest in Bezug auf diesen Abschnitt der Arbeit geht allerdings ihr Titel fehl: Ovejero und Cercas mögen vieles sein, Vertreter einer Populärkultur sind sie nicht. (Ein Off-topic Hinweis sei an dieser Stelle erlaubt: Ovejeros fesselnder Wirtschaftskrimi Las vidas ajenas (2005) ist ein Meisterwerk der multiperspektivischen Erzählkunst und ein guter Einstieg in das Oeuvre des Autors.) Sehr wohl aus dem Bereich der Populärkultur stammen hingegen die in Folge untersuchten filmischen Arbeiten. Kuschel hat hierfür drei Beispiele gewählt. Einerseits La espinaza del diablo (2001) undEl laberinto del fauno (2006) des aus Mexiko stammenden, mittlerweile mit einem Oscar bedachten Regisseurs Guillermo del Toro, undLa balada triste de la trompeta (2010) des spanischen Kult-Regisseurs Alex de la Iglesia. Die drei Arbeiten eint, dass sie den Spanischen Bürgerkrieg nicht explizit adressieren, sondern als Hintergrund für andere Erzählungen verhandeln. Aus Kuschels Analyse spricht dann eine ähnliche Ambivalenz, wie sie schon in Hinblick auf die Romanbeispiele bemerkbar wurde: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Autorin ihr Feld überblickt und ihre Materialien genauestens kennt. Ihre Einführung, in der sie relevante Literatur und die daran anknüpfenden Diskurse beleuchtet, ist vorbildlich, die eigentliche Analyse fällt dann trotzdem zwiespältig aus. Umfangreich recherchierte biografische und filmische Daten reihen sich an seminararbeitsähnliche Inhaltsangaben und genrespezifische Ergänzungen – im Falle von de la Iglesia etwa Betrachtungen zur Bedeutung der Groteske in Literatur, Theater und Malerei. Auch werden die Filme gründlich auf ihre Anschlussfähigkeit in Bezug auf die einleitend diskutierten Fragestellungen einer aktuellen Erinnerungskultur überprüft. Und dennoch: Nach mehr als sechzig Seiten, die die Autorin diesem Abschnitt widmet, fragt man sich, was denn nun die Erkenntnis dieser Analyse, was denn nun das Besondere an den so umfangreich untersuchten Filmen sein soll. Vergleichsweise präzise fällt ein Kapitel über den Comic aus. Nach einer Einführung in das Thema unter besonderer Beachtung der spanischen Tradition als auch der thematischen Orientierung an Werken, die Kriege thematisieren, wobei Art Spiegelmans bekannter Comic über die Shoah (MAUS, 1989) als Referenzpunkt dient, wendet sich Kuschel dem Comic1936 – La batalla de Madrid zu. Dass sie in diesem Fall bei einem einzigen Werk bleibt, erweist sich als Vorteil. Kuschel macht den 2014 erschienen Comic, in dem der in Bedrängnis geratenen Republik eine Einheit von Superhelden zur Hilfe eilt, als Werk begreifbar, das seine genretypische, offensichtliche Vermittlungsstruktur nutzt, um dem Postulat des Historisch-Authentischen erzählerische Freiheiten abzutrotzen und tradierte Mythen zu hinterfragen. Nun kann man die hier wirksamen Genrespezifika der Superheldencomics US-amerikanischer Prägung mögen oder nicht, die Analyse macht jedenfalls Neugierig auf das untersuchte Werk und beweist, dass mitunter auch eine Fallstudie reichen kann, um ein ganzes Genre zu umreißen. (Hinweis: Michel Matlys OpusEl cómic sobre la guerra Civil wäre das Gegenprogramm dazu.) Nicht zufällig widmet sich das letzte Kapitel des Buches der Welt des Videospiels. Hieraus sei nur ein Gedanke hervorgehoben, der in seiner Dimension jedoch noch einmal all das umfasst, was dieses Buch sich zu untersuchen vorgenommen hat: "Tú decides la historia, Du entscheidest die Geschichte", der Marketingslogan des ComputerspielsSombras de Guerra bringt das Missverhältnis zwischen Spiel (das per Definition einen offenen Ausgang haben muss) und historischer Authentizität deutlich auf den Punkt. Eben diesen Widerspruch problematisiert die Autorin am Schluss ihrer Arbeit. Derartige Computerspiele erscheinen ihr dabei als Antwort auf sich verändernde Bedürfnisse in Hinblick auf eine kollektive Identitätsbildung und Erinnerungskultur, wobei einer damit eihergehenden Offenheit von Geschichte Tendenzen der Banalisierung und Enttabuisierung entgegengehalten werden. Wie eingangs angemerkt, beruht Kuschels Buch auf einer Dissertationsschrift. Das ist in diesem Fall auch ein bisschen eine vergebene Chance. Etwas abgespeckt, dem bemüht akademischen Duktus enthoben und gründlich lektoriert, hätte so ein Standardwerk für den untersuchten Gegenstandsbereich entstehen können. Was bleibt, ist ein solides Arbeitsbuch, das vor allem durch seine Einführungen in die untersuchten Genres und die Aufarbeitung eines aktuellen Forschungsstandes besticht. Literatur: Borkenau, Franz: Kampfplatz Spanien. Politische und soziale Konflikte im Spanischen Bürgerkrieg, Stuttgart: Klett-Cotta 1986 [orig. 1937]. Cercas, Javier: Soldados de Salamina, Barcelona: Tusquets 2008. Enzensberger, Hans Magnus: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. Jiménez, Rafael/Sollero, José Antonio: 1936 La batalla de Madrid, Córdoba: Almuzara 2014. Orwell, George: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, Zürich: Diogenes 1975 [orig. 1938]. Malty, Michel: El cómic sobre la guerra civil, Madrid: Cátedra 2018. Ovejero, José: La comedia salvaje, Madrid: Alfaguara 2009. Ovejero, José: Las vidas ajenas, Madrid: Espasa 2005.
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Die Kultusminister beschließen diese Woche, wie es mit den Startchancen-Verhandlungen weitergeht. Alle wissen: Bis Dezember muss das Programm endgültig stehen. Weitere KMK-Themen: IQB-Bildungstrend, Lehrerbildung, Ganztag – und das Verhältnis zur Konferenz der Familienminister.
Hier treffen sich die Kultusminister: In der Taubenstraße in Berlin-Mitte befindet sich das Sekretariat der KMK im einstigen Verwaltungsgebäude einer Brauerei. Foto: Jörg Zägel, CC BY-SA 3.0.
AM ABEND VORHER hatten sich die Verhandlungsführer von Bund und Ländern endlich auf Eckpunkte zum Startchancen-Programm verständigt, doch die Hakeleien waren am Morgen des 21. Septembers nicht vorbei. Denn jetzt gab es Unmut bei einigen der zwölf Kultusministerien, die nicht zu der Verhandlungsgruppe gehört hatten. Sie fühlten sich überrumpelt, dass die Eckpunkte-Einigung schon Stunden später von BMBF und Kultusministerkonferenz per Pressekonferenz öffentlich gemacht werden sollte. Sie hätten noch gar nicht ausreichend Zeit gehabt, sich mit den Ergebnissen vertraut zu machen, so lautete die Kritik, darüber hinaus sehe man an verschiedenen Stellen der Eckpunkte durchaus noch Klärungsbedarf.
So ging es hin und her, die geplante Pressekonferenz verschob sich nach hinten, man stritt sich über den Wortlaut der Einladung. Mit Verspätung wurde diese dann doch noch versandt, die verbleibende Vorwarnzeit bis zum angekündigten Beginn: 54 Minuten.
Was einigen Beobachtern in der Eile nicht auffiel: Im Einladungstext stand dann gar nichts von einer Einigung von Bund und Ländern. Sondern, dass "die gemeinsame Verhandlungsgruppe aus Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und Ländern" sich "nach intensiven Verhandlungen über das Startchancen-Programm auf entscheidende Eckpunkte geeinigt" habe. Eine Formulierung, die kein Zufall war. Sondern die Beschreibung des Ist-Zustands: Es gab gar keine Einigung aller Länder mit dem Bund über die Eckpunkte. Sondern nur der Verhandlungsgruppe.
Die Skeptiker dimmen die Bedeutung der Eckpunkte herunter
Wortklauberei oder von Bedeutung? So genau wussten das die Kultusminister vor der 383. Sitzung der Kultusministerkonferenz (KMK) diese Woche selbst nicht. Denn dafür müsste man sich erst einmal einig darüber sein, wie wichtig die Eckpunkte überhaupt sind. Buchstabieren sie das Programm nahezu umfänglich und bis in Details aus? So sehen das viele Minister – und verweisen auf immerhin 13 eng beschriebene Seiten. Zum Vergleich: Die fertige Verwaltungsvereinbarung von Bund und Ländern zum Fünf-Milliarden-Digitalpakt war ohne Anhänge nur zwei Seiten länger.
Doch die Skeptiker, die im Lager von Union und Freien Wählern anzusiedeln sind, dimmen die Bedeutung der Eckpunkte herunter. Es sind zugleich die Länder, die sich von Beginn an besonders schwer getan hatten mit einer auch nur teilweisen Abweichung vom vertrauten Königsteiner Schlüssel zur Verteilung der Bundesgelder – weil sie durch das Anlegen von Sozialkriterien weniger als sonst bekommen. Allerdings: Sie bekommen trotzdem immer noch viele Millionen pro Jahr vom Bund.
So hieß es Anfang der Woche auf Anfrage aus dem Ministerium von Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU), viel entscheidender als die Eckpunkte werde eine Verwaltungsvereinbarung sein, "die dann konkrete Festlegungen trifft. Es braucht Absprachen, wie die mit einem erheblichen Finanzvolumen ausgestatteten Landesprogramme, die sich ebenfalls an Schulen in herausfordernden Lagen richten, bei der Erbringung des Eigenanteils zur Gegenfinanzierung des Bundesprogramms einbezogen werden können. Auch muss sich der bürokratische Aufwand für die Schulen in Grenzen halten."
Während ein Sprecher von Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) betont, zum jetzigen Zeitpunkt lägen "lediglich" Eckpunkte vor. Insgesamt seien im gesamten Verfahren noch einige Punkte offen und unklar, "insbesondere die Finanzierung ist noch nicht abschließend geklärt." Die weiteren Verhandlungen und Ausgestaltungen im Detail seien noch abzuwarten.
Weitgehend unverbindliches Bekenntnis
Aber was heißt das jetzt? Gilt all das, was in den Eckpunkten vereinbart wurde? Wird es nur noch ergänzt und "kleingearbeitet", wie Hessens Kultusminister Alexander Lorz, Koordinator der CDU-Bildungsministerien, am 21. September in der Pressekonferenz formulierte? Oder könnten einige der in der AG vereinbarten Eckpunkte gar noch wieder aufgeschnürt werden?
Kaum vorstellbar. Auch wenn das formale Bekenntnis zu den Eckpunkten, auf das sich die Kultusminister laut KMK-Sitzungsvorlage diese Woche verständigen sollen, so unverbindlich gestaltet ist, dass dafür nicht einmal das bei allen wichtigen (soll heißen: haushaltsrelevanten) KMK-Entscheidungen vorgesehene Einstimmigkeitsprinzip angewandt wird.
Wörtlich heißt es in dem Beschlussvorschlag, die KMK nehme das Eckpunktepapier "zur Kenntnis". Und sie bitte die auf Länderseite federführenden Staatssekretäre aus Hamburg (Rainer Schulz), Nordrhein-Westfalen (Urban Mauer), Rheinland-Pfalz (Bettina Brück) und Schleswig-Holstein (Dorit Stenke), die weiteren Verhandlungen mit dem Bund (sprich BMBF-Staatssekretärin Sabine Döring) "auf der Grundlage des Eckpunktepapiers" aufzunehmen und zu führen.
Wieder zum Vergleich: Zu den Digitalpakt-Eckpunkten hatten sich die Kultusminister 2017 als "ausverhandelt" bekannt, mit ihnen liege "die Voraussetzung" für die Umsetzung des Programms vor. Allerdings sollten die Länder damals auch nur zehn Prozent oben drauflegen, nicht 50 Prozent des Gesamtvolumens bestreiten.
Die Startchancen-Uhr tickt unerbittlich weiter
Zug in den "Startchancen"-Beschluss kommt allerdings durch den weiteren Zeitplan hinein: Die Staatssekretäre sollen laut Textentwurf den Auftrag, die ausgearbeiteten Rechtsgrundlagen – Rahmenvereinbarung mit Verwaltungsvereinbarung" – zur KMK-Sitzung am 8. Dezember vorzulegen.
Womit klar ist: Jetzt gilt es, alle verbliebenen Vorbehalte schnell abzuarbeiten. Bis dahin bleibt ein Stück Rest-Unsicherheit, während die Uhr bis zum geplanten Startchancen-Beginn im August 2024 unerbittlich weitertickt. Klappt es im Dezember nicht, das wissen alle Beteiligten, wäre der August kaum noch zu halten angesichts all der gesetzlichen und organisatorischen Vorarbeiten – inklusive der nötigen Änderung des Umsatzsteuergesetzes, der geplanten Einzelvereinbarungen aller 16 Länder mit dem Bund und der Auswahl zumindest der ersten 1000 Schulen.
Ihr Kommen zur Sitzung der Kultusminister am Donnerstag angekündigt hat unterdessen auch BMBF-Chefin Bettina Stark-Watzinger. Eine Stunde ist für das Gespräch angesetzt, es könnte aber auch mehr werden – denn es gibt viel zu besprechen. Etwa den Stand der Verhandlungen um den Digitalpakt 2.0, die vielen Kultusministern zufolge so schleppend vor sich gehen, dass es an ein Zeitspiel des Bundes grenze. CDU-Politikerinnen wie Schleswig-Holsteins einflussreiche Bildungsministerin Karin Prien hatten sogar mehr oder minder explizit damit gedroht, den formalen Abschluss der Startchancen-Verhandlungen von einer Finanzzusage des Bundes für den Digitalpakt abhängig zu machen.
Zwar hatte Stark-Watzinger zuletzt mehrfach demonstrativ und öffentlich versprochen, sich "mit Nachdruck" für eine Umsetzung des Digitalpakts einzusetzen. Wichtiger aus Sicht der Länder ist wohl aber das Treffen der Staatskanzleichefs von Bund und Ländern am 18. Oktober, bei dem auch der die Digitalpakt-Fortsetzung besprochen werden soll – als Vorbereitung auf die Konferenz der Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler am 6. November. Gebe es da keine Einigung, könne sich das auch auf die Startchancen auswirken, heißt es im Hintergrund. In der Gemengelage hilft sicherlich, dass Stark-Watzinger bei der KMK-Sitzung dabei ist, hatte doch etwa Karin Prien genau ein solches Spitzengespräch von Stark-Watzinger gefordert: Nur dann ließen sich die offenen Punkte verlässlich abräumen – und die Irritationen beim Digitalpakt überwinden.
IQB-Bildungstrend, Lehrerbildung und Ganztagsqualität
Gemeinsame Themen haben die Kultusminister und ihre Kollegin aus dem Bund freilich noch mehr: Sie müssen Schlussfolgerungen ziehen aus den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends, die am Freitag veröffentlicht werden. Wie haben sich die Kompetenzen der Neunklässler in Deutsch und Englisch seit 2015 entwickelt? Bei der Testung der Viertklässler im November 2022 waren die Ergebnisse jedenfalls ernüchternd ausgefallen: Die Grundschüler konnten deutlich schlechter lesen, schreiben und rechnen als vor fünf Jahren, die soziale Schere ging weiter auf.
Außerdem ist das Jahrestreffen mit den Forschern der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK geplant, die kurz vor Fertigstellung ihrer mit Spannung erwarteten Empfehlungen zur Zukunft Lehrkräftebildung stehen und den Kultusministern erste Anhaltspunkte geben dürften. Sobald die SWK-Empfehlungen – voraussichtlich Ende des Jahres – fertig sind, beginnt die heiße Reformphase, einige Länder haben sich mit neuen Studienmodellen längst warmgelaufen.
Und dann sind da zwölf Empfehlungen zur "Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität der Ganztagsschule und weiterer ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter", die die Kultusminister diese Woche beschließen wollen und über deren Entwurf heute Bildung.Table vorab berichtet. Die Weiterentwicklung der pädagogischen Ganztagsqualität ist das Thema der Berliner KMK-Präsidentschaft, schon vor Verabschiedung will KMK-Präsident und Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) am Mittwoch in einer Berliner Grundschule eine Preview geben.
Wie hältst du es mit der JFMK?
Klar ist aber auch: Beim Thema Ganztag geht wenig ohne die Jugend- und Familienminister, und so ist es nur folgerichtig, dass Familien- und Kultusministerkonferenz sich am Freitag erstmals zu einer gemeinsamen Sitzung in Berlin treffen. Warum erst jetzt?, will man freilich fragen, zumal es mehrere personelle Überschneidungen zwischen den Ressorts gibt. So ist der aktuelle JFMK-Vorsitzende, der Brandenburger Steffen Freiberg (SPD) zugleich Bildungsminister.
Allerdings war in den vergangenen Monaten auf Arbeitsebene viel von Friktionen zwischen Kultus- und Familienseite zu hören mit gegenseitigem Verantwortlichmachen für die atmosphärischen Probleme. Was fast schon absurd ist, denn haben Bildungs- und Jugend-/Familienpolitik, vom Fachkräftemangel über den Einsatz für mehr Chancengerechtigkeit bis hin zur besseren Verknüpfung von frühkindlicher Bildung und Schule, oft mehr gemein miteinander als Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Doch nur letztere sind zusammen mit der Kultur in der KMK vereint.
Ein Thema womöglich für die Neuaufstellung der Kultusministerkonferenz, die hinter den Kulissen weiter betrieben wird? Wollen wir nicht gleich übermütig werden.
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Bücherschecks, datengestützte Schulentwicklung und ein 12-Punkte-Plan: Bildungsminister Steffen Freiberg sagt, wie er die Brandenburger Schüler aus dem Leistungstief holen will, was er jetzt vom Bund erwartet – und warum er die Wissenschaftlichkeit von PISA für unumstritten hält.
Steffen Freiberg (SPD), 42, war seit 2016 Bildungsstaatssekretär in Mecklenburg-Vorpommern, seit 2022 in Brandenburg. Nachdem Rücktritt von Britta Ernst wurde er dort im Mai 2023 Minister für Bildung, Jugend und Sport. Foto: Sophie Weise / Ganz in Weise.
Herr Freiberg, Sie wollen Bücherschecks für fast drei Millionen Euro an Brandenburgs Schüler verschenken. Ihr neues Mittel gegen Bildungsarmut?
Wir hatten noch Restmittel aus dem Bundesprogramm "Aufholen nach Corona", und damit die nicht verfallen, haben wir uns entschieden, sie zusammen mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels in ein Bücherprojekt für unsere Schülerinnen und Schüler zu stecken. Es gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen der aktuellen PISA-Studie, dass die Förderung von Sprach- und Lesefähigkeit die zentrale Voraussetzung ist für den Kompetenzerwerb in allen anderen Fächern, einschließlich der Mathematik. Wir schenken den Schülern aber nicht einfach Bücherschecks.
Sondern?
Fast alle Schulen im Land, von der Grundschule bis zum Gymnasium, erhalten je nach Schülerzahl Schecks, angefangen mit 500 Euro für die ganz kleinen bis rauf zu 11.600 Euro für die ganz großen Standorte. Die Schulen entscheiden dann, was sie damit machen und wie sie diese Bücher zielgerichtet für die Verbesserung der Sprach und Lesefähigkeit auch im Rahmen schulischer Bildungsprozesse nutzen und dabei den individuellen Bedarf der Schüler berücksichtigen. Das ist also nicht als reines Freizeitvergnügen gedacht.
Und wenn die Schüler finden, dass sie einen Comic brauchen, einen Fantasy-Roman oder einen Sportalmanach?
Solange diese Bücher nach Meinung der Lehrkräfte eine sinnvolle inhaltliche Gestaltungsperspektive bieten, aus ihrer Sicht zum Lesen und Weiterdenken anregen, ist alles denkbar. Es geht vor allem um das Lesen lernen, über Lesen üben in allen Formen. Die empirische Bildungsforschung zeigt, dass Unterrichtsmaterialien dann einen besonderen Lernerfolg erzielen, wenn sie einen Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen haben. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Bücher den Kindern und Jugendlichen gehören. Ein trauriges Ergebnis verschiedener Befragungen besteht nämlich darin, dass es Schülerinnen und Schüler auch bei uns Brandenburg gibt, die nicht mehr als ein, zwei Bücher in der Familie besitzen.
Sie erwähnen gleich mehrfach die Bedeutung von Studien und Bildungsforschung. Auch in dem 12-Punkte-Plan, den Ihre Vorgängerin Britta Ernst (SPD) im Oktober 2022 vorgestellt hat, spielen wissenschaftliche Begleitung, Evaluation und eine datengestützte Schulentwicklung eine auffällig große Rolle. Warum?
Der letzte IQB-Bildungstrend ergab für die Brandenburger Neuntklässler bedrückende Ergebnisse. Und zwar quer durch alle Schulformen. Wir sehen, dass sich in den vergangenen zehn, 15 Jahren die soziale Schülerschaft verändert hat, nicht nur in Brandenburg, sondern bundesweit. Und das hat, anders als oft behauptet, wenig mit der Frage zu tun, ob die Schüler aus Einwandererfamilien stammen oder nicht. Der pädagogische Rückhalt in den Elternhäusern schwindet, gleichzeitig führt der Konsum digitaler Medien zu einem Mangel an Bewegung und Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Schule ihre Rolle als gesellschaftliche Instanz teilweise eingebüßt hat – und damit auch der Respekt vor den Lehrkräften abnimmt. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklungen noch beschleunigt. Woraus folgt: Wenn wir die Lage verbessern wollen, braucht es mehr als die Aufwertung der Unterrichtsqualität. Es braucht einen umfassenden, wissenschaftsbasierten Ansatz, und den verfolgen wir mit unserem 12-Punkte-Plan: von der Stärkung der Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik über die sozialen Unterstützungssysteme an den Schulen bis zur Neuorganisation der Lehrkräftefortbildung. Für mich ist dabei klar: Die einzigen Menschen, die Unterricht verändern können sind diejenigen, die unterrichten. Unseren Lehrkräften müssen wir neben Anerkennung konkrete, praxistaugliche und unmittelbar verwendbare Unterstützung anbieten, bei Material und Fortbildung.
"Es kann pädagogisch schlicht nicht falsch sein, allen Schülern unabhängig vom eigenen Geldbeutel die Gelegenheit zu geben, sich nach ihren Interessen und ihrem Bedarf ein eigenes Buch auszusuchen."
So sehr Sie Daten und wissenschaftliche Empirie betonen: Die Bücherschecks für insgesamt fast drei Millionen Euro geben Sie raus, ohne anschließend sagen zu können, was die Aktion gebracht hat.
Weil ich überzeugt bin, dass die Lehrkräfte vor Ort am besten wissen, was ihre Schülerinnen und Schüler gebrauchen können. Wenn ich anfangen würde, hier vom Ministerium zentral Bücher zu bestellen, würden viele Schulen zu Recht fragen: "Und was sollen wir jetzt damit?" Ob man einen direkten Effekt der Aktion in einer Evaluation nachweisen könnte, weiß ich nicht. Es kann aber pädagogisch schlicht nicht falsch sein, allen Schülern unabhängig vom eigenen Geldbeutel die Gelegenheit zu geben, sich nach ihren Interessen und ihrem Bedarf ein eigenes Buch auszusuchen. Wer nicht richtig Lesen, Schreiben und Rechnen lernt, dem wird später die soziale, politische, wirtschaftliche Teilhabe nur eingeschränkt möglich sein. Klar ist, unsere Bücherschecks sind nur ein Baustein – und kein Allheilmittel. Anderes behauptet aber auch keiner.
Wie passt Ihre Überzeugung, dass die Lehrkräfte vor Ort am besten wissen, was richtig ist, zu Ihrer Strategie der datengestützten Schulentwicklung?
Wenn ich auf unsere Lehrerinnen und Lehrer höre, sagen die: Vom Wiegen allein wird die Sau nicht fett. Und das stimmt ja auch. Für das Messen um des Messens willen können wir den Kollegien den Aufwand nicht zumuten. Darum müssen wir immer genau wissen, wo wir was erheben. Wir tun das, was wir als Landesregierung brauchen, um unsere Schulpolitik daran auszurichten. Indem wir zum Beispiel die IQB-Bildungstrends oder die bundesweiten VERA-Vergleichsarbeiten durchführen. Wobei letztere bereits einen zusätzlichen Mehrwert für die Schulen bieten, auf den es ankommt. Noch mehr tun das die Individuelle Lernstandsanalysen in der Grundschule (ILeA), die wir in Brandenburg sehr konsequent einsetzen, wie einige andere Bundesländer auch. Die geben den Lehrkräften eine individuelle Rückmeldung zu ihren Schulklassen an die Hand, die Schulen können die Bildungsbiografien ihrer Schülerinnen und Schüler genau verfolgen und überlegen, wie sie ihnen mit welchen Mitteln gezielt helfen können. Das tun sie nicht allein, sondern die Schulleitungen stehen in einem regelmäßigen und strukturierten Austausch mit der Schulaufsicht – auf der Grundlage der Daten für jede einzelne Schule. Das minimiert die Gefahr, dass bestimmte Entwicklungen den Kollegien entgleiten, und umgekehrt werden positive Trends erkannt, honoriert, und es wird daraus gelernt.
Der Deutsche Philologenverband war neulich so verärgert über OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher und dessen Interpretation der PISA-Ergebnisse, dass der die Kultusminister zum Ausstieg aus dem internationalen Schulvergleich aufforderte – zumindest bis Schleicher seinen Posten geräumt hat. Was sagen Sie dazu?
Zu solchen Forderungen äußere ich mich nicht, nur so viel: PISA ist Teil der von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossenen Strategie zum Bildungsmonitoring. Und solange dieser Beschluss der KMK gilt, werde ich mich an ihn halten. Das Prinzip der Wissenschaftlichkeit von PISA ist unumstritten und hängt nicht von den Äußerungen einzelner ab. Ich für meinen Teil habe erst neulich wieder aus dem Gespräch mit der deutschen PISA-Koordinatorin Doris Lewalter viele Erkenntnisse gezogen – etwa die bereits erwähnte, dass die Sprachförderung auch für die mathematischen Kompetenzen eine große Bedeutung hat.
Lange Zeit haben alle Brandenburger Schulen unabhängig von der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft die gleiche Finanzierung bekommen. Das gerade zwischen Bund und Ländern vereinbarte "Startchancen"-Programm speziell für benachteiligte Schülerinnen und Schüler bedeutet auf Bundesebene nun einen Paradigmenwechsel. Wie vollziehen Sie den in Brandenburg?
Unserem 12-Punkte-Plan folgend haben wir auch bei uns im Land erstmals einen Sozialindex veröffentlicht, der alle unsere Schulen anhand von drei Kriterien nach ihrer sozialen Belastung einstuft, und zwar nach ihrer Inklusionsquote, nach dem Anteil von Familien mit Bürgergeldbezug und mit nichtdeutscher Familiensprache. Abhängig von ihrer Einstufung erhalten die Schulen jetzt in einem Pilotprojekt seit dem 1. Februar unterschiedlich hohe Budgets zur freien Verfügung für unterrichtsunterstützende und -begleitende Maßnahmen. Insgesamt 3,5 Millionen Euro übers Land verteilt pro Jahr. Wir sind natürlich noch am Anfang, anders als Hamburg, das seit Jahren so vorgeht, aber auch wir haben jetzt ein neues Instrument zur Verfügung, das künftig vermehrt zur Anwendung kommen soll. Die Brandenburger Schulen, die über das "Startchancen"-Programm gefördert werden sollen, werden wir zum Beispiel darüber auswählen, wobei da am Ende die Schulträger mit entscheiden, ob sie mitmachen wollen.
"Ich bin jetzt sehr zuversichtlich, dass es gelingen wird, den Digitalpakt 2.0 auf den Weg zu bringen."
Apropos "Startchancen"-Programm: Die Länder sollen das Bundesgeld, insgesamt eine Milliarde pro Jahr, zu gleichen Teilen gegenfinanzieren. Gehe ich richtig in der Annahme, dass die von Ihnen eingeführten Schulbudgets eine Art Vorauszahlung auf den Brandenburger Länderanteil sind?
Wie gesagt ist das bislang bei uns nur ein Pilotprojekt, die Gelder dafür sind also nicht dauerhaft im Haushalt vorgesehen. Wenn sich das ändert wäre es sicher so, dass das einzahlen würde auf unsere Kofinanzierung im "Startchancen"-Programm. Mir fallen aber noch weitere Maßnahmen für Schulen in sozial herausfordernde Lage ein, die wir schon vergangenes Jahr auf den Weg gebracht haben und die zu den "Startchancen" passen.
Parallel zu den "Startchancen" verhandelten Bund und Länder über die Fortsetzung des Digitalpakts. Allerdings aus Sicht der Länder lange so ergebnislos, dass in der KMK zwischenzeitlich sogar ein Junktim zwischen beiden Programmen diskutiert wurde: Eine Einigung bei den Startchancen nur gegen die Zusicherung, dass der Digitalpakt 2.0 auch kommt. Schnee von gestern?
Man kann in der Politik nie ganz sicher sein, bevor die Tinte trocken ist. Aber ich bin jetzt sehr zuversichtlich, dass es gelingen wird, den Digitalpakt 2.0 auf den Weg zu bringen. Ohne ihn würden wir den in den vergangenen Jahren erreichten Stand bei der digitalen Ausstattung der Schulen aufs Spiel setzen.
Es habe bei den Digitalpakt-Verhandlungen kurz vor der finalen Startchancen-Einigung "substanzielle Fortschritte" gegeben, lautete zuletzt die unter den Kultusministern vereinbarte Formulierung. In Ihrem 12-Punkte-Plan versprechen Sie, die Digitalisierung "als Verbesserung der Unterrichtsqualität und der individuellen Förderung" weiterzuentwickeln. Welche konkreten Forderungen haben Sie vor dem Hintergrund an den Bund?
Das Wichtigste ist eine langfristige, möglichst kontinuierliche Förderung der Schulen, außerdem die Möglichkeit, über die Anwendungsbereiche des Digitalpakt 1.0 hinauszugehen und dabei trotzdem nicht bürokratischer zu werden.
Der Bund fordert seinerseits, dass die Länder statt zehn diesmal 50 Prozent der Ausgaben tragen. Aus Ihrer Sicht vorstellbar?
Ich werde solche Forderungen nicht in der Öffentlichkeit bewerten, bevor wir als Kultusminister mit unserer Kollegin aus dem Bund am Tisch gesessen und darüber gesprochen haben. Das steht aber noch nicht an, jetzt verhandeln die Staatssekretäre über alle inhaltlichen Fragen, die finanziellen sind ausgeklammert, bis der Vereinbarungsentwurf die Ministerebene erreicht. Das war übrigens bei den Verhandlungen um den Digitalpakt 1.0 genauso.
"Wenn ich mir anschaue, mit welchen gewachsenen Strukturen jedes Bundesland umzugehen hat, kann ich nicht alles wegwischen und sagen: Alles Unsinn. Dann muss ich mit den Strukturen und den Menschen darin Stück für Stück in Richtung einer Verbesserung arbeiten."
Ehrgeizig ist Ihr 12-Punkte-Plan auch in Hinblick auf den Ganztagsausbau, um den ab 1. August 2026 geltenden Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung in der Grundschule zu gewährleisten. Laut erstem Ganztag-Förderbericht der Bundesregierung hat Brandenburg allerdings auch besonders großen Nachholbedarf. Nur 51 Prozent aller Grundschulen im Land boten demzufolge 2022 Ganztag, unter den 13 verglichenen Bundesländern der zweitschlechteste Wert, nur Baden-Württemberg lag noch deutlich darunter.
Meine Statistiken besagen, dass fast 96 Prozent unserer Erstklässler den Hort besuchen. Es kommt also auf die Klassenstufen an, von denen wir reden, bei uns ist die Betreuungsquote der unter 6- und 7-Jährigen traditionell sehr hoch. Hinzu kommt, dass sich die einzelnen Erhebungen sehr stark voneinander unterscheiden, was an den unscharfen Definitionen liegt. Sie dürfen nicht vergessen, dass in den ostdeutschen Ländern die Betreuung von Kindern im Grundschulalter nicht nur an der Grundschule stattfindet, sondern nachmittags immer schon im Hort. In Brandenburg und in Ostdeutschland insgesamt haben die Horte traditionell überwiegend den Charakter von Bildungseinrichtungen und sind daher konzeptionell sehr nahe an den Schulen, die als sogenannte verlässliche Halbtagsgrundschulen arbeiten. Das ist also eine Darstellungsfrage, zumindest an dieser Stelle. Insofern können wir uns jetzt gegenseitig mit Statistiken bewerfen und ich zum Beispiel anführen, dass Brandenburg unter den ostdeutschen Ländern den besten Betreuungsschlüssel im Kindertagesbereich hat. Unsere Abdeckung mit Kitaplätzen ist also im Gegensatz zu dem, was die im Bericht der Bundesregierung angeführte Statistik nahelegt, sehr vorzeigbar, gerade im Vergleich zu den Herausforderungen in manchem westdeutschen Bundesland, wo die flächendeckende Kindertagesbetreuung nicht überall gelebte Praxis war. Aber natürlich haben auch wir an manchen Orten einen Mangel, und an dem arbeiten wir.
Als Sie vergangenes Jahr Vorsitzender der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) waren, haben Sie und die damalige KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch dafür gesorgt, dass JFMK und KMK erstmals zusammen getagt und gemeinsame Beschlüsse gefasst haben, auch zur Qualität im Ganztag. Was allerdings fehlte, war ein Plädoyer für den gebundenen Ganztag: also den sich über den Tag hinweg ziehenden Wechsel zwischen Schulunterricht, Selbstlernphasen, Freizeitangeboten und wieder Unterricht – was viele Bildungsexperten favorisieren.
Man sollte die Kirche im Dorf lassen. Klar, wenn ich am Reißbrett ein Ganztagssystem planen und aufbauen könnte, käme ich vermutlich sehr schnell beim gebundenen Ganztag an. Wenn ich mir aber anschaue, mit welchen gewachsenen Strukturen jedes Bundesland umzugehen hat, kann ich nicht alles wegwischen und sagen: Alles Unsinn. Dann muss ich mit den Strukturen und den Menschen darin Stück für Stück in Richtung einer Verbesserung arbeiten. Was hier in Brandenburg die Schulen, die Horte und ihre jeweiligen Träger umfasst.
Der Anlass für den 12-Punkte-Plan waren die enttäuschenden Leistungen der Brandenburger Schüler vor allem beim Bildungstrend. Wann werden sich all die ergriffenen Maßnahmen denn in besseren Leistungen bemerkbar machen?
Dass sich schon im nächsten Bildungstrend für Mathematik etwas zeigt, weiß ich nicht, da will ich keine Prognose abgeben. Aber wir sprechen ständig mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, gleichen unsere Maßnahmen immer wieder mit ihren Erkenntnissen ab, und insofern bin ich überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dass der sich in den Kompetenzmessungen der einzelnen Schüler möglichst bald bemerkbar macht, hoffe ich natürlich sehr.
Weil Sie als Minister dann gut dastehen?
Nein, weil die Schülerinnen und Schüler dann für ihr weiteres Leben gut dastehen.
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Deutschland vernachlässigt systematisch die Zukunftschancen seiner Jugend – und meidet die Debatte darüber. Wie lässt sich die Schieflage zwischen den Generationen erklären – und gibt es Hoffnung auf Veränderung? Ein Essay.
Bild: Wokandapix / pixabay.
ANFANG VERGANGENER WOCHE schaffte es "Pickel am Po" auf die Frontseiten mehrerer Tageszeitungen und Online-Portale. Das war, nachdem der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, eine Eigenbeteiligung für Eltern gefordert hatte, die mit ihren Kindern wegen vermeintlichen Nichtigkeiten am Wochenende in den chronisch überlasteten Kinder-Notdiensten auftauchen. "Die Notfallversorgung muss auf Notfälle konzentriert werden und nicht für die Pickel am Po der Kinder, für die die Eltern unter der Woche keine Zeit haben und mit denen man dann am Wochenende beim Notdienst aufschlägt", sagte Fischbach der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Offenbar braucht es inzwischen so plastische Formulierungen, damit die dramatische Schieflage der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen überhaupt wieder einmal bundesweit Schlagzeilen macht. Insofern handelte es sich um einen strategisch geschickten Vorstoß Fischbachs, der mitten in der Sommerpause des politischen Betriebs dankbar von den Medien aufgegriffen wurde. Was allerdings nicht daraus entstand, war eine nachhaltige Debatte über die Hintergründe und Ursachen dieser Schieflage.
Ähnlich verhielt es sich mit der Aufregung um eine misslungene Werbeaktion des baden-württembergischen Kultusministeriums. Am Stuttgarter Flughafen wurden Reisende begrüßt mit dem Plakatslogan: "Gelandet und gar keinen Bock auf Deine Arbeit? Hurraaa! Mach, was Dir Spaß macht, und werde Lehrer*in". Während Lehrerverbände Sturm liefen, hier werde Lehrkräften pauschal Faulheit unterstellt, sagte die grüne Kultusministerin Theresa Schopper: "Bei uns ist niemand überhaupt nur auf die Idee gekommen, Lehrkräfte mit dem Attribut faul in Verbindung zu bringen." Der Slogan werde jetzt abgeändert.
Nicht einmal mehr der Anschein eines Rucks
Auch dieser Ärger hätte Anlass sein können, um eine bundesweite Debatte über eine Schieflage anzuzetteln. Eine Debatte darüber, wie groß der Lehrkräftemangel inzwischen sein muss, dass Ministerien sich überhaupt auf derart eigenartige PR-Stunts einlassen. Doch auch diese Chance wurde verpasst: Nach Transport der offiziellen Empörungsperspektive verschwand das Thema wieder aus den Medien.
Die immer gleichen Meldungen über all die tausenden und abertausenden unbesetzten Lehrerstellen bundesweit haben die Öffentlichkeit längst abstumpfen lassen, so scheint es. Oder waren es die seit Jahren regelmäßigen Berichte, dass Deutschlands Schüler immer schlechter lesen, schreiben und rechnen können, wie zuletzt im Mai nach Veröffentlichung der neuen IGLU-Ergebnisse? Die jedes Mal noch ein kurzes Aufblitzen erzeugen, aber nicht einmal mehr den Anschein eines Rucks durchs Land gehen lassen?
Vielleicht haben die regelmäßigen Nicht-Debatten über die Zukunftschancen der jungen Generation aber auch einen anderen Grund. Vielleicht gibt es ja eine gemeinsame Ursache für die Unterfinanzierung von Kindermedizin, für den Mangel an Psychotherapieplätzen für Kinder und Jugendliche, für das jahrelange Vorbeiplanen der Landesregierungen an einem absehbar drohenden Lehrermangel, für die Versuchung von Finanzpolitikern in Land und Bund, Haushaltslöcher häufig überproportional auf Kosten der Jugend und ihrer Familien zu stopfen?
In so einer Gesellschaft muss eine Bildungsmilliarde als Gipfel des Machbaren erscheinen
Sprachkitas, BAföG, Bundeszentrale für politische Bildung: Die Liste vollzogener oder diskutierter Kürzungen lässt sich fast beliebig fortsetzen. Sie gipfelt in der Art und Weise, wie das BMBF das Ampel-Versprechen eines Bildungs- und Chancenaufbruchs längst in ein doppeltes Zeitspiel verwandelt hat: um das einst so groß angekündigte und längst grenzwertig geschrumpfte Startchancen-Programm genau wie um die Fortsetzung des Digitalpakts. Ein Finanzminister, der eine einzige zusätzliche Bildungsmilliarde pro Jahr als Großzügigkeit der jungen Generation gegenüber verkauft, sekundiert von der Bundesbildungsministerin, sendet damit zugleich eine brutal ehrliche Botschaft: In einer politisch-gesellschaftlichen Gemengelage, in der die Chancen der jungen Generation so wenig Priorität genießen, ist mehr eben nicht drin. Da muss eine Bildungsmilliarde mehr bereits wie der Gipfel des Machbaren erscheinen.
Es ist diese politisch-gesellschaftliche Gemengelage, die an die Stelle notwendiger Debatten nur noch ein indifferentes Achselzucken setzt. Und wer dafür die Politik verantwortlich macht, übersieht Wesentliches. Das Wesentliche sind wir alle, eine Gesellschaft, die in ihrer Überalterung die Sicherheitsinteressen der Älteren, der Arrivierten über das Eröffnen von Entwicklungsoptionen für die Jungen setzt. Eine Prioritätensetzung, die von einer Politik, die wiedergewählt werden will, dann nur umgesetzt wird.
In dieser Gesellschaft leben in nur noch jedem fünften Haushalt Menschen unter 18, in jedem dritten aber Menschen über 65. Es ist eine Gesellschaft, die seit vielen Jahren trotz zahlloser anderslautender Versprechungen kaum darüber hinauskommt, drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Schulen und Kitas auszugeben, aber es sich in voller Kenntnis ihrer demographischen Entwicklung geleistet hat, eine Rente mit 63 einzuführen. Die es in der Corona-Zeit für richtig hielt, Kindern wochen- und monatelang das Recht auf Bildung und Teilhabe einzuschränken, während den viel gefährdeteren Älteren längst der Gang ins Restaurant wieder offen stand – und die Büros nie geschlossen wurden.
Demografie als Erklärung, nicht als Entschuldigung
Doch auch wenn die Demografie eine Erklärung bietet, so taugt sie doch nicht als Entschuldigung. Dass alternde Gesellschaften andere politische Pfade einschlagen können und sich, nebenbei gesagt, langfristig durch eine dadurch verursachte Steigerung der Geburtenrate auch noch jünger halten, zeigt etwa der Blick ins benachbarte Ausland. Dänemark gab 2022 laut dem Industriestaatenverband OECD 3,6 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Kitas und Schulen aus, Schweden 3,9 Prozent, selbst Frankreich kam auf 3,7 Prozent. Deutschland: 3,1 Prozent. Um den Unterschied zu verdeutlichen: Allein um auf das französische Niveau zu kommen, wären pro Jahr nicht eine zusätzliche Bildungsmilliarde nötig, sondern 23. Wie schaffen die, was wir nicht schaffen?
Ich habe drei Erklärungen anzubieten. Erstens: Die frühkindliche, vorschulische Bildung hat sich in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zwar qualitativ und quantitativ dramatisch weiterentwickelt, doch immer wieder stößt sie auf kulturelle und finanzpolitische Vorbehalte. Sie ist längst nicht so selbstverständlich und finanzpolitisch obligatorisch wie anderswo, ebenso wenig wie es der (gebundene) Ganztagsunterricht es hierzulande ist mit all dem, was Schulen drumherum dann anbieten. Man denke nur an die indiskutable Umsetzung des bereits verschobenen Rechts auf Ganztag für Grundschüler ab 2026, von Ganztagsbetreuung im Übrigen, nicht von Ganztagsbildung.
Doch das Problem ist, dass diese Erklärung keinerlei Anhaltspunkte liefert, warum Deutschland auch außerhalb der Bildung das Wohl seiner Jugend so viel weniger wert ist als etwa den skandinavischen Ländern, die hier Gradmesser für uns sein sollten. Was mich zu Erklärung Nummer zwei bringt, die ich schon kurz angedeutet hatte: Deutschland ist eine strukturkonservative Gesellschaft, die jede Form von Veränderungen erst einmal als Risiko ansieht und Investitionen ins Morgen meidet, sobald sie für das Heute Einschränkungen bedeuten würden.
Die Gleichberechtigung von Frauen geht einher mit mehr Gleichberechtigung der Generationen
Weshalb sich drittens in Deutschland auch der Weg der Frauen zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung so viel steiniger gestaltet als in fast allen anderen westeuropäischen Ländern. Hier schließt sich für mich der Kreis zu Erklärung Nummer 1: Dort, wo Frauen gleichberechtigt sind, spielen frühkindliche Bildung und Ganztagsschule eine tragende Rolle, dort sind Ausgaben für hochwertige Bildungs- und Betreuungsangebote eine Grundverpflichtung des Staates und nichts, worüber sich in Zeiten knapper Kassen diskutieren ließe.
Wer sich im Übrigen fragt, warum die skandinavischen Ländern in Sachen Corona-Schulschließungen im Schnitt deutlich liberaler vorgingen, findet, so meine These, hier ebenfalls seine Antwort: wegen des größeren gesellschaftlichen Einflusses von Frauen und ihrer Belange. Die OECD vermerkte schon 2021 in ihrem Bericht "Bildung auf einen Blick": "Schulschließungen dauerten in Ländern mit schlechteren Lernergebnissen tendenziell länger an." Wobei Deutschland eines der wenigen Länder war, die 2021 die Schulschließungen gegenüber 2020 sogar noch verschärften, so dass die Bundesrepublik im zweiten Corona-Jahr in Sachen Schulschließungen von 48 verglichenen Ländern nur noch von Mexiko, Litauen und Chile übertroffen wurde.
Ist Deutschland in Sachen Generationengerechtigkeit also ein hoffnungsloser Fall? Ich hoffe nicht. Und ich sehe ebenfalls drei Anhaltspunkte, die mich verhalten optimistisch stimmen.
Erstens: Die geplante Senkung der Einkommensgrenze fürs Elterngeld hat eine Diskussion übers Ehegattensplitting ausgelöst. Die Forderung nach dessen Abschaffung, um damit das Elterngeld in seiner bisherigen Form zu finanzieren, war natürlich für die politische Galerie, da ohne jede Realisierungschance. Ich hielte die Lösung darüber hinaus für falsch. Das Ehegattensplitting muss weg, ja. Aber im Sinne der Generationengerechtigkeit gehört mit seiner Abschaffung ein Familiensplitting finanziert, das Familien abhängig von der Kinderzahl besserstellt und nicht Ehen unabhängig von der Kinderzahl. Es gilt, das Debattenfenster, das sich hier auftut, entsprechend zu nutzen. In der nächsten Legislaturperiode gehört das Familiensplitting oben auf die Agenda – ein Anfang ist getan. Dass es darüber hinaus sinnvoll wäre, im Sinne der Gleichstellung das Elterngeld mit seinen bisherigen Einkommensgrenzen zu belassen, ist eine andere Sache. Aber nicht gegenfinanziert über die Milliarden fürs Ehegattensplitting, die, siehe oben, für eine andere Reform gebraucht werden.
Mahnende Stimmen, die einen Anfang machen
Zweitens: Eine Herabsetzung des Mindestwahlalters auf 16 wird seit Jahrzehnten diskutiert und liegt bei Bundestagswahlen noch in weiter Ferne. Bei Kommunal- und Landtagswahlen aber ist es in einigen Bundesländern mittlerweile Realität, das verschiebt das gesellschaftliche Machtgefüge – ein wenig – zugunsten der Jugend. Irgendwann wird dieses Momentum auch die Bundesebene erreichen.
Drittens: Gerade hat eine Gruppe von Ökonomen die Abschaffung der Rente mit 63 gefordert. Der von SPD, Grünen und FDP geplante weitere Ausbau der gesetzlichen Rente werde nur dann langfristig finanzierbar sein, wenn sich die Koalition gleichzeitig zu einigen empfindlichen Einschnitten entschließe, schreibt der Mannheimer Volkswirt Eckhard Janeba laut FAZ in einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Janeba ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Wrtschaftsministerium, und der mahnt die Politik: Falls es nicht den Willen zur Abschaffung insgesamt gebe, sollte die Rente ab 63 zumindest auf die wirklich Bedürftigen beschränkt werden. Entgegen landläufiger Meinung werde die Regelung nämlich "überwiegend von gut gebildeten, überdurchschnittlich verdienenden und gesünderen Menschen in Anspruch genommen". Auf die Kosten der jungen Generation, wie Janeba plastisch ausführt: "Die Gefahr ist groß, dass dadurch die Finanzierung von Zukunftsaufgaben verdrängt wird, etwa der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft, aber auch vermehrte Bildungsanstrengungen und der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur."
Oder wie der Wirtschaftswissenschaftler Christian Lessmann von der Technischen Universität Dresden auf dem vormals Twitter genannten Nachrichtendienst "X" übersetzte: "Wenn da nicht in dieser Legislaturperiode ernsthaft gegengesteuert wird, dann wird das nix mit der Integration von Immigranten, Bildungsoffensive, Reduktion von Treibhausgasen usw. Die (weniger werdenden) Jungen zahlen dann für die Alten und wir sind gelähmt. Geld alle." Mein einziger Einwand: Ich glaube, an dem Punkt sind wir längst.
Ansonsten sind es diese Stimmen eines gesellschaftlich-politischen Ehrlichmachens, die wir jetzt vermehrt brauchen. Dass es sie gibt, macht mir Hoffnung, dass die gesellschaftliche Indifferenz in Sachen Generationengerechtigkeit nicht das letzte Wort sein muss.
Die Debatte über den Einsatz von Biotechnologien in der Landwirtschaft ist eine der lautstärksten und emotionalsten der letzten Jahre, da kaum ein Gebiet wissenschaftlich und gesellschaftlich so umstritten ist, wie die moderne Gentechnik. Grund hierfür sind die stark divergierenden Ansichten der Verbraucher und Regierungen bezüglich der aktuellen und potentiellen Gefahren und Vorteile, die Produkte der landwirtschaftlichen Biotechnologie – GVO und Produkte hieraus – mit sich bringen können. Der Bereich der gv landwirtschaftlichen Produkte hat erst kürzlich großes öffentliches Aufsehen durch die bevorstehenden Genehmigung der ersten gv Kartoffel erregt. Die Bundesregierung hat die Biotechnologie sogar zur Strategie des Monats August 2007 erklärt. Die Einführung der Gentechnik in der Landwirtschaft hat zu kontroversen Diskussionen geführt, die neben der ökologischen auch eine große wirtschaftliche Dimension haben. Trotzdem sind die Auswirkungen der Gentechnik bisher weitgehend unbekannt, womit sich die dringliche Frage nach einem geeigneten, anpassungsfähigen Rechtssystem stellt, das diesen Anforderungen – dem schnellen Wandel der Technik, der Ungewissheit über die Risiken, dem Druck der Öffentlichkeit, insb. in Europa, den gegensätzlichen Verbraucherinteressen weltweit sowie den divergierenden Zielen der EG, WTO und des Cartagena-Protokolls – gerecht werden kann. Deutschland ist das Land mit den meisten Biotechnologiefirmen in Europa, die 2006 einen Umsatz von ca. 1,5 Mrd. Euro erzielten und auf 947 Hektar gv Pflanzen, die über eine Zulassung zum IVB verfügen, anbauten. Weltweit wurden ca. 102 Mio. Hektar gv Pflanzen in 22 Ländern angebaut, davon rund 82% in den USA, Argentinien und Brasilien. Gang der Untersuchung: Der rechtliche Hintergrund genmanipulierter landwirtschaftlicher Produkte als Gegenstand des Öffentlichen Wirtschaftsrechts ist eine sehr weitreichende Materie, die für eine zielgerichtete und informative Darstellung der Thematik einiger Einschränkung bedarf. Bei 'genmanipulierten landwirtschaftlichen Produkten' handelt es sich um gv landwirtschaftliche Erzeugnisse, die zunächst im allgemeinen Kontext des Öffentlichen Wirtschaftsrechts eine Konkretisierung erfordern: Ursprung des Regelungsbedarfs bezüglich gv landwirtschaftlicher Erzeugnisse ist die Problematik des nationalen und internationalen Handels mit diesen Produkten. Dieser stellt gleichzeitig auch Dreh- und Angelpunkt der verschiedenen Interessengruppen wie Unternehmen, Landwirte und Verbraucher dar und beansprucht somit die höchste Notwendigkeit an Rechtssicherheit. Aus diesem Grund sollen sich die folgenden Ausführungen vornehmlich auf das Außenhandelsrecht als Zweig des Öffentlichen Wirtschaftsrechts beziehen. Nicht alle Erzeugnisse sind von Sonderregelungen betroffen. Daher bleibt ein beträchtlicher Teil der Ein- und Ausfuhr den allgemeinen Regeln des Außenhandelsrechts unterworfen, z. B. der Bereich des Zollrechts. Dies gilt für gv landwirtschaftliche Produkte aber gerade nicht: Diese sind sowohl auf nationaler bzw. europarechtlicher Ebene durch ein gemeinschaftsrechtliches System als auch auf internationaler Ebene, insb. durch das Protokoll von Cartagena und das SPSÜ, handelspolitischen Sonderregelungen unterworfen. Da die vorliegende Arbeit die rechtliche Situation für den Handel mit gv landwirtschaftlichen Erzeugnissen darstellen soll, liegen die ganz allgemeinen Vorschriften des Außenhandelsrechts, die bei Nichtvorliegen einer Sonderregelung greifen, außerhalb des Betrachtungsfeldes. Weiterhin abzugrenzen sind die unterschiedlichen Anwendungszwecke gv landwirtschaftlicher Produkte: Für den Handel mit GVO werden nur die Vorschriften untersucht, die den Anwendungszweck des IVB und der Aus-, Ein- und Durchfuhr gv landwirtschaftlicher Produkte regeln. Zur Abgrenzung des Begriffs des IVB ist die positive Definition in Art. 2 Nr. 4 S.1 RL 2001/18/EG bzw. die Negativ-Abgrenzung in Art. 2 Nr. 4 S. 2 RL 2001/18/EG heranzuziehen, da diese Regelungen europaweit Geltung beanspruchen und darüber hinaus auch die internationalen Vorschriften des Protokolls von Cartagena umsetzen. Abzugrenzen ist der Begriff des IVB in zweierlei Hinsicht, und zwar einerseits gegen Systemverwendungen und andererseits gegen Freisetzungen: Die Anwendung in geschlossenen Systemen beinhaltet den Forschungsaustausch zur Weiterverwendung im Labor oder die Weitergabe von GVO im Rahmen eines Patentierverfahrens, aber auch gewerbliche Weitergabe von GVO, jedoch lediglich für die industrielle Produktion in geschlossenen Systemen. Die FreisetzungsRL und die SystemRL bilden systematisch eine Einheit, in dem die Systemverwendung von GVO deren Freisetzung und diese wiederum dem IVB von GVO aufgrund des Stufenprinzips zeitlich vorgeordnet sind. Ziel ist es, die gesamte Produktionskette bezüglich des Umgangs mit GVO rechtlich zu erfassen: Solange keine sektoralen Vorschriften greifen, wird jede Tätigkeit mit GVO entweder von der SystemRL oder der FreisetzungsRL erfasst. Da der Umgang mit GVM in geschlossenen Systemen aufgrund der Einschließungsmaßnahmen als weniger risikoreich und grundsätzlich leichter kontrollierbar angesehen wird, sind weniger restriktive Genehmigungsregelungen und kein aufwendiges Zulassungsverfahren wie beim IVB von GVO vorgesehen. Daher sind die Verwendung von GVO in geschlossenen Systemen und die entsprechenden Regelungen nicht Teil dieser Arbeit. Weiterhin ist gegen den Begriff der Freisetzung abzugrenzen, dem in der FreisetzungsRL zunächst zwei unterschiedliche Bedeutungen zukommen: Die Legaldefinition des Begriffs in Art. 2 Abs. 3 RL 2001/18/EG beschreibt die Freisetzung als 'jede Art von absichtlichem Ausbringen (von GVO) in die Umwelt […]'. Hierunter wäre also das IVB von GVO, das Ausbringen von bereits genehmigten GVO in die Umwelt sowie auch Freisetzungen i.e.S. zu verstehen. Die Freisetzung gv landwirtschaftlicher Produkte i.e.S. betrifft eher die experimentelle Freisetzung zu Forschungszwecken als die Verfolgung kommerzieller Profitziele. Die Zulassung zum Zwecke des IVB ist wesentlich strengeren Voraussetzungen unterworfen als die zum Zwecke der Freisetzung. Somit sind die Regelungen zur Freisetzung weniger stark regulierend und haben demnach geringere Auswirkungen auf den Handel. Zudem soll diese Arbeit den Handel, also das 'auf den Markt bringen' von GVO als in der Praxis relevantere Form der kommerziellen Nutzung untersuchen, die sich in Form des IVB der Produkte vollzieht. Sie steht daher im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Die Einbeziehung der Regelungen zu gv Arzneimitteln, die im allgemeinen Handel mit GVO sicherlich eine wichtige Rolle spielen, verbietet sich schon durch den Titel der Arbeit, der explizit nur landwirtschaftliche Produkte umfasst, zu denen Arzneimittel nicht zählen. Bezüglich des nun definierten Rechtsgebietes sollen sich die Ausführungen auf den europarechtlichen Rechtsrahmen, der auf die nationale Situation indirekt durch Richtlinien und direkt durch die jeweiligen Verordnungen stark Einfluss ausübt, sowie den internationalen Rechtsrahmen beziehen. Auf das deutsche Gentechnikrecht soll aus diesem Grund nur knapp eingegangen werden. Darüber hinaus werden in einer vergleichenden Darstellung Kernpunkte der US-amerikanischen Vorschriften mit einbezogen, die aufgrund ihrer Divergenz gegenüber den europarechtlichen Vorschriften den rechtlichen Gegenpol zur Vorbereitung einer abschließenden Analyse bilden. Die vorliegende Arbeit besteht aus vier Teilen. Teil 1 bildet mit einer kurzen Einführung in das Thema, der Abgrenzung und Vorgehensweise sowie der Begriffsdefinition den einleitenden Teil der Arbeit. Anschließend wird in Teil 2 der Stand der Forschung und Entwicklung im Bereich der Gentechnik sowie deren Vor- und Nachteile dargestellt. Teil 3 befasst sich mit der Darstellung der derzeit existierenden Vorschriften bezüglich des Handels mit gv landwirtschaftlichen Produkten. Da der Rechtsrahmen für gv Erzeugnisse in Fachkreisen als kompliziert gilt, aber dennoch für die Praxis äußerst relevant ist, bildet dieser Punkt den Hauptteil der Arbeit. Den Schlussteil der Arbeit bildet in Teil 4 die Analyse des Rechtsrahmens unter Berücksichtigung wichtiger Probleme aus der Praxis, wobei der Versuch gemacht wird, durch Vergleich gewonnene Verbesserungsvorschläge integrativ darzustellen. Abschließend wird ein kurzer Ausblick in die mögliche zukünftige Entwicklung im Bereich gv landwirtschaftlicher Produkte gegeben.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: InhaltsverzeichnisII AbkürzungsverzeichnisIV 1.Einleitung1 1.1Problemstellung1 1.2Abgrenzung des Themas und Vorgehensweise der Untersuchung2 1.3Erläuterung zentraler Begriffe5 2.Anwendungsbereiche und Risiken der Gentechnik in Landwirtschaft und Industrie8 2.1Stand der Forschung und Anwendungsbereiche8 2.2Risiken gentechnisch veränderter landwirtschaftlicher Produkte10 2.3Vor- und Nachteile des Handels mit gentechnisch veränderten landwirtschaftlichen Produkten aus ökonomischer Sicht11 3.Der Rechtsrahmen für den Handel mit gentechnisch veränderten Produkten13 3.1Entstehungsgeschichte der derzeitigen Reglementierung innerhalb der EU und der WTO14 3.2Die nationalen und europarechtlichen Vorschriften15 3.2.1Andere gentechnisch veränderte Organismen19 3.2.1.1RL 2001/18/EG über die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der RL 90/220/EWG des Rates19 3.2.1.2Das deutsche Gentechnikgesetz zur Umsetzung der RL 2001/18/EG27 3.2.2Alle gentechnisch veränderten Organismen29 3.2.2.1VO (EG) Nr. 1830/2003 über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von GVO und über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von aus GVO hergestellten Lebens- und Futtermitteln sowie zur Änderung der RL 2001/18/EG29 3.2.2.2VO (EG) Nr. 1946/2003 zur grenzüberschreitenden Verbringung von GVO bezüglich des Exports von GVO aus der EU32 3.2.3Lebens- und Futtermittel33 3.2.3.1VO (EG) Nr. 1829/2003 über das Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Lebens- und Futtermitteln34 3.2.3.2VO (EG) Nr. 258/97 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (Novel-Food-VO) und ihr Verhältnis zur VO (EG) Nr. 1829/200337 3.3Vergleichende Darstellung der US-amerikanischen Vorschriften gegenüber den europarechtlichen Vorschriften39 3.4Die internationalen juristischen Regelwerke41 3.4.1SPS-Übereinkommen42 3.4.2TBT-Übereinkommen47 3.4.3GATT-Regelung51 3.4.4Cartagena-Protokoll zur biologischen Sicherheit52 3.4.5Der WTO-Biotech-Fall und der transatlantische Streit bezüglich GVOs55 4.Abschließende Gesamtbetrachtung der jurisitischen Regelwerke und Ausblick58 4.1Abschließende Analyse und Bewertung der untersuchten Rechtssysteme unter Berücksichtigung aktueller Praxisprobleme58 4.2Ausblick über zukünftige Entwicklung der untersuchten Rechtssysteme62 LiteraturverzeichnisVI AnhangXVTextprobe:Textprobe: Kapitel 3.3, Vergleichende Darstellung der US-amerikanischen Vorschriften gegenüber den europarechtlichen Vorschriften: Die USA ist eines der Länder, in denen die Regierungen den neuen Biotechnologien – und damit insb. der Biotechnologie- und Saatgutindustrie – relativ wenige rechtliche Hürden in den Weg gelegt haben. In Sachen Gentechnik ist die USA den Europäern einen Schritt voraus: Vor allem die Gesetzeslage ermöglicht der Forschung einen größeren Spielraum. Dies ist eine Folge der unterschiedlichen Rechtskulturen. Die Diskrepanzen der Rechtssysteme spiegeln die unterschiedlichen Ansätze und Einstellungen der Verantwortlichen der US-Regierung, der Verbraucher und der Industrie gegenüber GVO und gv Lebensmitteln. Das US-amerikanische Rechtssytem bezüglich GVO unterscheidet sich also stark von dem europäischen Rechtssystem. Der Grund: Die EU handelt nach dem Vorsorgeprinzip. In Europa gilt das Gentechnik-Verfahren grundsätzlich als risikoreich. Erst wenn man Schäden durch Gen-Pflanzen ausschließen kann, erlaubt Brüssel die Nutzung. Anders in den USA: Die Vorreiter auf dem Gebiet der Gentechnik forschen schon seit drei Jahrzehnten. Das Vorsorgeprinzip wird aufgrund seiner Fähigkeit, gesetzeswidrige Handelsbeschränkungen zu rechtfertigen und zu schützen, nur mit größter Vorsicht angewendet. Eine zentrale Kontrollstelle wie bspw. die EFSA gibt es ebenso wenig wie ein einheitliches Gentechnikrecht: Basierend auf dem Ansatz, dass gv Produkte im Grunde genommen nur eine Erweiterung herkömmlicher Produkte darstellen, machte sich die US-Regierung ursprünglich die bereits existierenden Gesetze zunutze, um die Sicherheit der gv Produkte zu garantieren. 1986 erließ die US-Administration dann das 'Coordinated Framework for Regulation of Biotechnology' und setzte damit den rechtlichen Grundstein für die folgenden 20 Jahre US-amerikanischer Regelungen zur Biotechnologie. Dieses Rahmenkonzept, das mit unwesentlichen Änderungen bis heute gilt, stellt einen vertikalen, risikobezogenen Verfahrensansatz bei der Regulierung der Gentechnik in den USA dar. Nach diesem Rahmenwerk sind Behörden, die für die Aufsicht über bestimmte Kategorien von Produkten oder bestimmte Arten der Produktverwendung verantwortlich waren, auch zuständig für die Bewertung gleichartiger gv Produkte. Es sind demnach keine neuen Behörden speziell für den Bereich gv Produkte errichtet worden, wie dies bspw. nach europarechtlichen Regelungen bei der ESFA der Fall war. So ist die 'Food and Drug Administration' (FDA) verantwortlich für die Lebens- und Futtermittelsicherheit, auch im Bereich der GVO. Im US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium (United States Department of Agriculture, USDA) ist der 'Animal and Plant Health Inspection Service' (APHIS) verantwortlich für die Risikobewertung gv Pflanzen; und die 'Environmental Protection Agency' (EPA) ist zuständig für die Entwicklung und Freisetzung gv Pflanzen. Die derzeitigen rechtlichen Vorschriften für Produkte der modernen Biotechnologie sind der 'Plant Protection Act' (PPA), der 'Federal Food, Drug, and Cosmetic Act' (FFDCA), der 'Federal Insecticide, Fungicide, and Rodenticide Act' (FIFRA) und der 'Toxic Substances Control Act' (TSCA). Neue Vorschriften wurden - sofern notwendig – nach Maßgabe dieser Gesetze entwickelt, um der Entwicklung neuer gv Produkte gerecht zu werden. Leitlinien zur Genforschung schreiben die National Institutes of Health (NIH) vor. Die einzelnen Bundesstaaten überprüfen die Nutzung. Außerdem werden US-Unternehmen über ein einheitliches Haftungsrecht direkt zur Verantwortung gezogen, wohingegen gerade die Haftungsproblematik in Europa noch nicht einheitlich geregelt ist. In den USA ist die Gentechnik längst im Alltag angekommen. Gentechnisch veränderte Lebensmittel finden sich in jedem gut sortierten Supermarkt – ursprünglich ohne Kennzeichnung. Allerdings ist in den letzten Jahren der Widerstand der Verbraucher gegenüber gv Lebensmitteln auch in den USA angewachsen, so dass auch die US-amerikanische Öffentlichkeit immer stärker nach einer angemessenen Kennzeichnung gv Lebensmittel verlangt. Im US-Kongress hat der Abgeordnete Kucinich seit 2000 die Gesetzgebung bezüglich der freiwilligen Kennzeichnung von gv Lebensmitteln vorangetrieben und 2003 sechs Reformvorschläge zu Rechtsvorschriften über gv Pflanzen erarbeitet und eingeführt. Der vorgeschlagene 'Genetically Engineered Food Right to Know Act of 2006' sowie weitere fünf Vorschriften zu gv Produkten sollen den Schutz der Verbraucher stärken, insb. durch die Verpflichtung der Lebensmittelindustrie, alle Lebensmittel, die GVO enthalten oder mit GVO hergestellt sind, als solche zu kennzeichnen. Desweiteren soll die FDA Kontrollen durchführen, um die Einhaltung der Vorschriften zu gewährleisten. Der seit 2001 bestehende 'Pre-market notice concerning bionegineered foods' verlangte eine Anmeldung zur Genehmigung bei der 'agency of data and information' bezüglich gv Lebens- oder Futtermittel, mindestens 120 Tage vor dem IVB, allerdings nur auf freiwilliger Basis. Diese Vorschriften sollen nun ersetzt werden durch strengere Vorschriften zur Kennzeichnung, Überwachung und Genehmigung, angeregt durch das USDA. Diese Verstärkung der Gentech-Vorschriften soll auch ein mehrstufiges, risikobasiertes Zulassungsverfahren enthalten, um das derzeitige Zulassungs-/Genehmigungsverfahren zu ersetzen. Amerikanische Verbraucher haben offensichtlich weniger Angst vor Gen-Food. Sie scheinen eher der Wirtschaft zu vertrauen, und die Europäer eher den staatlichen Behörden, die sich auf Verbraucherschutz und auf die Freiheit, zwischen genmanipulierten und konventionellen Lebensmitteln wählen zu können, berufen.
HEGELS LEBEN, WERKE UND LEHRE. [8. BAND. ERSTER THEIL] Geschichte der neuern Philosophie (-) Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Erster Theil] (8,1 / 1901) ( - ) Einband ( - ) Titelseite ( - ) [Abb.]: Kuno Fischer. ([II]) Titelseite ([III]) Impressum ([IV]) Vorrede. (V) Inhalzsverzeichniß. ([VII]) Erstes Buch. Hegels Leben und Werke. ([1]) Erstes Capitel. Herkunft und Lehrjahre. ([3]) I. Die erste Jugendzeit in Stuttgart. ([3]) 1. Elternhaus ud Schule. ([3]) 2. Der Präceptor Löffler. (4) 3. Rhetorische Uebungen. (5) 4. Studien und Lectüre. Tagebücher. (6) II. Die akademischen Lehrjahre in Tübingen. (10) 1. Studiengang. Magisterium und Candidatur. (10) 2. Kant und die Revolution. (11) 3. Freundschaften. Der politische Club. (12) Zweites Capitel. Hegel als Hauslehrer in Bern. (14) I. Lebensplan und Wanderjahre. (14) 1. Die Hauslehrerperiode. (14) 2. Aufenthalt in Stuttgart. Stäudlin und Hölderlin. (15) 3. Die Schicksale und Zustände Berns. (16) 4. Das Geschlecht der Steiger. (18) II. Hegels Fortbildung in der Schweiz. (20) 1. Sprache, Sitten und Politik. (20) 2. Alpenwanderungen. (21) Drittes Capitel. Fortsetzung. Hegels Studien in der Schweiz. (24) I. Die einflußreichen Zeitbegebenheiten. (24) 1. Philosophie. Fichte und Schelling. (24) 2. Deutsche Dichtung. Schiller. (25) 3. Das neue Weltalter. (26) II. Philosophische Studien. (28) 1. Theologische Probleme. (28) 2. Orthodoxie und Philosophie. (31) 3. Schelling als Führer. (32) 4. Die Frage des Monismus. (33) Viertes Capitel. Das Ende des Aufenthaltes in der Schweiz. Hegel und Hölderlin. Uebersiedlung nach Frankfurt. (35) I. Die neuen Mysterien. (35) 1. Der dritte im Bunde. (35) 2. Eleusis. (37) II. Hölderlin im Hause Gontard. (39) 1. Die Katastrophe. (39) 2. Irrfahrten und Ende. (40) III. Hegel im Hause Gogel. (41) 1. Stellung. (41) 2. Der verleidete Aufenthalt. 3. Tod des Vaters. Oekonomische Lage. (42) 4. Zukunftspläne. (42) Fünftes Capitel. Hegels Frankfurter Studien und Arbeiten. (45) I. Die Urform des Systems. (45) 1. Die Aufzeichnungen. (45) 2. Grundthema. Die Religion als Weltproblem. (45) II. Die Religionsentwicklung. (47) 1. Das Endziel. (47) 2. Philosophie und Religion. Schleiermachers Reden. (48) 3. Die Weltreligion. (49) 4. Charakter der christlichen Religion. (51) III. Religion und Philosophie. (52) 1. Die neue Aufgabe. (52) 2. Die Grundidee: der absolute Geist. (53) 3. Die Gliederung des Systems. (54) 4. Ein politischer Entwurf. (54) Sechstes Capitel. Hegel in Jena. Die ertsen Sechs Jahre seiner litterarischen und akademischen Wirksamkeit. (57) I. Litterarische Wirksamkeit. (57) 1. Philosophische Schriften. (57) 2. Eine politische Schrift. (58) II. Akademische Wirksamkeit. (62) 1. Vorlesungen. (62) 2. Beförderungen. (64) III. Jenaische Zustände und Personen. (65) 1. Der litterarische Rückgang. (65) 2. Immanuel Niethammer. (65) 3. Philosophische Docenten. (66) 4. Gesellige Kreise. (67) IV. Die Phänomenologie und die Schlacht. (68) 1. Das Werk und der Streit mit dem Verleger. (68) 2. Die Schlacht bei Jena. (69) 3. Die erste Differenz zwischen Schelling und Hegel. (70) V. Neue Lebenspläne. (71) 1. Der Brief an J. H. Voß. (71) 2. Die Berufung nach Bamberg. (72) Siebentes Capitel. Hegels publicistische und pädagogische Wirksamkeit im Königreich Bayern. Die Gründung seines Hausstandes. (74) I. Die Bamberger Zeitung. (74) 1. Das Redactionsgeschäft. (74) 2. Die Weltbegebenheiten. (75) 3. Ein drohender Conflict. (76) II. Der Uebergang zu einem neuen Lehramt. (77) 1. Die Zeitungsgaleere. (77) 2. Nürnberg, Altdorf, Erlangen. (78) 3. Der neue Schulplan. (78) III. Das Rectorat des Gymnasiums in Nürnberg. (79) 1. Berufung und Lebenswendepunkt. (79) 2. Amtliche Verhältnisse und Uebelstände. (80) 3. Logik, Propädeutik und Rectoratsreden. (81) IV. Die Gründung des Hausstandes. (85) 1. Die Frage des ehelichen Glücks. (85) 2. Maria von Tucher. (86) Achtes Capitel. Alt- und Neu-Bayern. Die bayrische Finsterniß und Reaction. Hegels Zeit- und Weltanschauung. (90) I. Bayrische Mängel und Uebelstände. (90) 1. Die bureaukratische Centralisation. (90) 2. Der Mangel an Autorität und Publicität. (91) 3. Die altbayrische Finsterniß. (93) 4. Der fanatische Hyozoismus. (94) II. Die bayrische Reaction. (94) 1. Die Conflicte in der Studiencommission. Niethammers Niederlage. (94) 2. Monteglas' Entlassung und das Concordat. (97) 3. Hegels Zeitanschauung und Hoffnung. (97) Neuntes Capitel. Hegels der Philosophie ind Heidelberg. (1816 - 1818.) (98) I. Drei Berufungen. (98) 1. Erlangen. (98) 2. Berlin. (99) 3. Heidelberg. (100) II. Zwei Jahre in Heidelberg. (101) 1. Die Encyklopädie. (101) 2. Vorlesungen und Amtsgenossen. (102) III. Die heidelbergischen Jahrbücher. (105) 1. Fr. H. Jakobis Werke. (105) 2. Die württembergischen Landstände. (107) IV. Philosophische Einwirkungen. Die Anfänge der Schule. (116) 1. Yxkfüll. (116) 2. Hinrichs. (117) 3. Carové. (118) 4. Cousin. (119) 5. Daub. (123) Zehntes Capitel. Hegels Berufung nach Berlin. (124) I. Das Ministerium Altenstein. (124) 1. Steins Reformen. (124) 2. Altensteins Denkschrift. Der erste preußische Cultusminister. (125) 3. Universitäten. Gründungen und Gefahren. (125) 4. Das zeitgemäße System. (127) II. Johannes Schulze. (130) 1. Bildungsgang und Jugendschicksale. (130) 2. Die Verdächtigungen. (136) III. Hegel und Johannes Schulze. (137) Elftes Capitel. Hegels Wirksamkeit in Berlin. (138) I. Akademische und litterarische Wirksamkeit. (138) 1. Die Anfänge. Solger. (138) 2. Die Antrittsrede. (140) 3. Die Vorrede zur Rechtsphilosophie. (142) 4. Der Gang der Vorlesungen und die Einführung neuer. (145) II. System und Schule. (146) 1. Repetitorien und Conversatorien. Henning. (146) 2. Der geschichtsphilosophische Character des Systems. (148) 3. Marheineke, Gans, Henning, Michelet, Hotho, Rötscher, Werder. (149) 4. Vatke, Strauß, Brunno Bauer, J. Ed. Erdmann, Rosenkranz, Hinrichs und Gabler. (151) III. Freunde und Feinde. (153) 1. Die heidelberger Freunde. (153) 2. Anonyme Feinde. (154) 3. Ein philosophischer Gegner: Ed. Beneke. (155) 4. Goethe und Hegel. (158) 5. Heiberg. (160) IV. Die Prüfungscommission und der philosophische Gymnasialunterricht. (161) Zwölftes Capitel. Hegels Ferienreisen nach Brüssel, Wien und Paris. (163) I. Ausflüge nach Rügen und Dresden. (163) II. Die Reise in die Niederlande. (163) 1. G. van Ghert. (163) 2. Die Fahrt nach Brüssel und die Rückkehr. (165) III. Die Reise nach Wien. (168) 1. Der Aufenthalt in Wien. Die italienische Oper. (168) 2. Die Rückreise. Dresden. (169) IV. Hegels Verhältniß zu Cousin und Reise nach Paris. (170) 1. Cousins Aufenthalt in Berlin. (170) 2. Hegels Reise nach Paris. (173) 3. Die Rückkehr. (174) V. Der letzte Aufenthalt in Weimar. (175) Dreizehntes Capitel. Auf der Höhe seiner Wirksamkeit. (176) I. Die letzten fünf Jahre. (176) 1. Die Geburtstagsfeier. (176) 2. Die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. (177) 3. Hegels Wirksamkeit in den Jahrbüchern. Hamann. (181) 4. Göschels Aphorismen. (183) 5. Verdächtigungen und Anfeindungen. "Das Gesindel." (185) 6. Eine "schäbige Polemik". (187) 7. Ludwig Feuerbach. (188) II. Das Ende der Wirksamkeit und des Lebens. (191) 1. Das Rectorat. (191) 2. Die Julirevolution. (193) 3. Die englische Reformbill. (194) 4. Die Choleraepidemie. Der Brief an H. Beer. Das Schreiben an Gans. (197) 5. Tod und Begräbniß. (199) Vierzehntes Capitel. Hegels Werke und deren Gesammtausgabe. (201) I. Die von Hegel selbst herausgegebenen Werke. (201) 1. Jena. (201) 2. Nürnberg. (203) 3. Heidelberg. (203) 4. Berlin. (204) II. Die Gesammtausgabe. (205) 1. Die Aufgabe. (205) 2. Die Herausgeber und die Ausgabe. (205) III. DIe Quellen zur Ausgabe der Vorlesung. (207) 1. Die Philosophie der Geschichte. (207) 2. Die Aesthetik oder Kunstphilosophie. (208) 3. Die Philosophie der Religion. (211) 4. Die Geschichte der Philosophie. (212) IV. Hegel auf dem Katheder. (214) 1. Die Persönlichkeit. (214) 2. Der Kathedervortrag. (215) Zweites Buch. Hegels Lehre. ([217]) Erstes Capitel. Hegels Ausgangspunkte und Aufgaben. Die Idee der Weltentwicklung. (219) I. Monismus und Identitätslehre. (219) 1. Die englische Entwicklungslehre. Der Darwinismus. (219) 2. Der deutsche Darwinismus. (220) 3. Zoologische Philosophie und philosophische Zoologie. (220) 4. Die philosophische Entwicklungslehre vor Kant. Leibniz. (221) 5. Die kantische Entwicklungslehre. (222) 6. Die fichtesche Entwicklungslehre. (223) 7. Die schellingsche Entwicklungslehre. (224) II. Das absolute Identitätssystem. (225) 1. Der Durchbruch. (225) 2. Der Stufengang der Welt. (226) 3. Schelling und Spinoza. (227) 4. Die neuen Aufgaben. (228) 5. Der Weg zur Wahrheit. (230) Zweites Capitel. Hegel im Bunde mit Schelling. (231) I. Die ersten Schriften. (231) 1. Die Planetenbahnen. (231) 2. Die philosophische Differenz zwischen Fichte und Schelling. (235) 3. Die philosophische Differenz zwischen Schelling und Hegel. (242) Drittes Capitel. Hegels Aufsätze im kritischen Journal. (245) I. Philosophie und Unphilosophie. (245) 1. Die philosophische Kritik. (245) 2. Der gemeine Menschenverstand. (248) 3. Der neue Scepticismus. (250) II. Glauben und Wissen. Die Reflexionsphilosophien. (255) 1. Die kantische Philosophie. (256) 2. Die jacobinische Philosophie. Schleiermacher. (259) 3. Die fichtesche Philosophie. (265) Viertes Capitel. Fortsetzung. Die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts. (270) I. Die empirische Behandlungsart. (271) 1. Die Hypothesen vom Naturzustande. (271) 2. Die praktischen Zwecke. (272) 3. Die untheoretische Praxis und die unpraktische Theorie. (273) II. Die reflectirte Behandlungsart. (273) 1. Die große Seite der kantisch-fichteschen Philosophie. (273) 2. Die Unsittlichkeit der kantischen Sittenlehre. (274) 3. Der fichtesche Rechtszwang. Strafe und Ephorat. (276) III. Die absolute Sittlichkeit. (278) 1. Das Volk und die Völker. Der sittliche Organismus. (278) 2. Die sittliche Gesundheit und der Krieg. (280) 3. Die Organisirung der Stände und Individuen. (280) 4. Tragödie und Komödie. Die Zonen des Sittlichen. (284) 5. Naturrecht, Moral und positive Rechtswissenschaft. (286) Fünftes Capitel. Die Phänomologie des Geistes. Vorrede, Einleitung und Eintheilung. (289) I. Vorrede. Die Aufgabe der neuen Lehre. (289) 1. Die Form der Wissenschaft. (289) 2. Die Substanz als Subject. Das Princip als Resultat. (291) 3. Die Leiter. Die Entwicklung des Wissens. (294) 4. Vourtheile und Selbsttäuschung. (294) II. Einleitung. (296) 1. Das Erkenntnißvermögen als Werkzeug und Medium. (296) 2. Die falsche Grundlage des Zweifels. Das erscheinende Wissen. (297) 3. Die Methode der Ausführung. (300) III. Der Stufengang des Bewußtseins. (304) 1. Hauptstufen. (304) 2. Die triadische Ordnung. (305) 3. Die Grenzen. (305) Sechstes Capitel. Das gegenständliche Bewußtsein. (306) I. Die sinnliche Gewißheit. (306) 1. Die objectivste, reichste und concreteste Wahrheit. (306) 2. Die subjectivste, ärmste und abstracteste Wahrheit. (306) 3. Das Aussprechen und das Aufzeigen. (308) II. Das wahrnehmende Bewußtsein. (309) 1. Das Ding und die Eigenschaften. (309) 2. Das Aufheben und Aufgehobensein. (310) 3. Das Thema und Problem der Wahrnehmung: die Einheit des Dinges und Die Vielheit der Eigenschaften. Die Täuschung. (311) 4. Die Vielheit der Dinge und Eigenschaften. Die Logik und die Sophistereien der Wahrnehmung. (313) III. Das Reich des Verstandes. (314) 1. Kraft und Aeußerung. Das Spiel der Kräfte. (314) 2. Das Innere und die Erscheinung. (316) 3. Das Innere als Gesetz. Das Reich der Gesetze. (317) 4. Erscheinung, Gesetz und Kraft. (318) 5. Die Thätigkeit des Erklärens. (320) 6. Uebergang zum Selbstbewußtsein. (320) Siebentes Capitel. Das Selbstbewußtsein. (321) I. Das Selbstbewußtsein und sein Object. (321) 1. Vergleichung mit dem gegenständlichen Bewußtsein. (321) 2. Das Selbstbewußtsein als Begierde. (323) 3. Die Objecte als lebendige Dinge. (323) II. Herrschaft und Knechtschaft. (324) 1. Verdoppelung des Selbstbewußtseins. (324) 2. Der Kampf auf Leben und Tod. Die Todesfurcht. (325) 3. Herr und Knecht. Gehorsam und Dienst. Arbeit und Bildung. (327) 4. Die Abhängigkeit des Herrn und die Unabhängigkeit des Knechts. (328) 5. Die Befreiung des Denkens. (329) III. Die Freiheit des Selbstbewußtseins. (329) 1. Stoicismus. (329) 2. Skepticismus. (330) 3. Das unglückliche Bewußtsein. (332) Achtes Capitel. Das Vernunftbewußtsein. A. Die beobachtende Vernunft. (338) I. Thema und Aufgabe. (338) II. Die beobachtende Vernunft. (339) 1. Der Standpunkt des Idealismus. (339) 2. Das künstliche und natürliche System der Dinge. Gesetz und Experiment. (340) 3. Die organische Natur und der Zweckbegriff. (Kielmeyer und Schelling.) (342) 4. Logische und psychologische Gesetze. (346) 5. Physiognomik und Schädellehre. (348) Neuntes Capitel. Das Vernunftbewußtsein. B. Die thätige Vernunft und das Reich der in sich befriedigten Individuen. (353) I. Rückblick und Vorblick. (353) II. Die thätige Vernunft. (355) 1. Die Luft und die Nothwendigkeit. (Faust.) (355) 2. Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels. (357) 3. Die Tugend und der Weltlauf. (361) III. Das Reich der in sich befriedigten Individuen. (363) 1. Das geistige Thierreich. (363) 2. Die gesetzgebende Vernunft. (368) 3. Die gesetzprüfende Vernunft. (369) Zehntes Capitel. Der Geist. A. Das Reich der Sittlichkeit und der Rechtszustand. (371) I. Das Gemeinwesen. Das göttliche und menschliche Gesetz. (371) 1. Familie und Staat. (371) 2. Mann und Frau, Eltern und Kinder, Bruder und Schwester. (373) 3. Der tragische Conflict. Die Schuld und das Schicksal. (375) II. Der Rechtszustand. (378) 1. Der Uebergang. (378) 2. Die Personen. (379) 3. Der Herr der Welt. (379) 4. Die Frau im Rechtszustand. (380) Elftes Capitel. Der Geist. B. Der sich entfremdete und der seiner selbst gewisse Geist. (381) I. Die Welt des sich entfremdeten Geistes. (381) 1. Das Reich der Bildung. (381) 2. Staatsmacht und Reichthum. Das edelmüthige und das niederträchtige Bewußtsein. (382) 3. Das zerreißende und zerrissene Bewußtsein. (Rameau's Neffe.) (385) 4. Das glaubende Bewußtsein. (389) 5. Die Aufklärung. (391) II. Die absolute Freiheit und der Schrecken. (398) 1. Die Gleichheit und die Vernichtung. (398) 2. Die Faction und die Schuld. (399) 3. Schrecken und Tod. (400) III. Der seiner selbst gewisse oder moralische Geist. (402) 1. DIe moralische Weltanschauung. (402) 2. Die Verstellung. (405) 3. Das Gewissen, die schöne Seele. Das Böse und seine Verzeihung. (407) Zwölftes Capitel. Die Religion und das absolute Wissen. (413) I. Wesen und Stufen der Religion. Die natürliche Religion. (413) 1. Religionsstufen und Religionsgeschichte. (414) 2. Indische und ägyptische Religion. (414) II. Die Kunstreligion. (415) 1. Der Kultus. Das abstracte Kunstwerk. (417) 2. Das lebendige Kunstwerk. (418) 3. Das geistige Kunstwerk. (419) III. Die offenbare Religion. (423) 1. Der Untergang der Kunstreligion. (423) 2. Die Menschwerdung Gottes. (425) 3. DIe Gemeinde. (426) IV. Das absolute Wissen. (429) 1. Religion und Wissenschaft. (429) 2. Phänomenologie und Logik. Das System der Philosophie. (431) Dreizehntes Capitel. Der Gegenstand und die Methode der Logik. (433) I. Der Gegenstand der Logik. (433) 1. Die Werke. (433) 2. Aufgabe und Thema. (434) 3. Einleitung. (435) II. Die Methode. (439) 1. Die Kategorien. Die Denkbestimmungen und die Denkthätigkeit. (439) 2. Der dialektische Proceß und die Entwicklung. (440) 3. Die Eintheilung. (442) 4. Der Begriff Gottes in der Logik. Das Reich der Schatten. (444) 5. Die Logik und die Geschichte der Philosophie. (445) 6. Der Anfang. (446) Vierzehntes Capitel. Die Lehre vom Sein. A. Die Qualität. (448) I. Das reine Sein. (448) I. Sein und Nichts. (448) 2. Das Werden. Entstehen und Vergehen. (449) II. Das Dasein. (451) 1. Qualität. Etwas und Anderes. (451) 2. Endliches und Unendliches. Die Veränderung. (452) III. Das Fürsichsein. (456) Das unendliche Sein. (456) Fünfzehntes Capitel. Die Lehre vom Sein. B. Die Quantität. (460) I. Die reine Quantität. (460) 1. Continuität und Discretion. (460) 2. Zeno, Aristoteles, Kant. (461) II. Das Quantum. (463) 1. Anzahl und EInheit. Zahl und Zählen. (463) 2. Zählen und Rechnen. (464) 3. Das extensive und intensive Quantum (Grad). (465) III. Die quantitative Unendlichkeit. (467) 1. Die schlechte quantitative Unendlichkeit. (467) 2. Die erste kantische Antinomie. (468) 3. Die Unendlichkeit des Quantums. (468) IV. Das quantitative Verhältniß. (471) 1. Die Verhältnißarten. (471) 2. Der doppelte Uebergang. (473) 3. Die Zahlenphilosophie. (474) Sechszehntes Capitel. Die Lehre vom Sein. C. Das Maaß. (475) I. Die specifische (qualitative) Quantität. (475) 1. Das specifische Quantum. Der Maaßstab. (475) 2. Die Mathematik der Natur. (478) 3. Das specificirende Maaß. Die Regel. (479) II. Das reale Maaß. (480) 1. Die Reiche der Maaßverhältnisse. (480) 2. Die Knotenlinie von Maaßverhältnissen. (482) III. Das Maaßlose. (484) 1. Das auschließende Maaß und das abstract Maaßlose. (484) 2. Der Uebergang zum Wesen. (485) 3. Die Kategorien des Seins und die Entwicklung. (486) Siebzehntes Capitel. Die Lehre vom Wesen. A. Die Reflexion. (488) I. Die Reflexionsbestimmungen. Die Identität. (488) 1. Schein, Erscheinung, Wirklichkeit. (488) 2. Die Denkgesetze. (490) 3. Die Identität. (491) II. Der Unterschied. (492) 1. Die Verschiedenheit. (492) 2. Der Gegensatz. (494) 3. Der Widerspruch. (497) III. Grund und Folge. (499) 1. Der zureichende Grund. (499) 2. Materie und Form. (500) 3. Die Existenz. (502) Achtzehntes Capitel. Die Lehre vom Wesen. B. Die Erscheinung. (503) I. Das Ding und seine Eigenschaften. (503) II. Erscheinung und Gesetz. (507) III. Das wesentliche Verhältniß. (509) 1. Das Verhältniß des Ganzen und der Theile. (509) 2. Das Verhältniß der Kraft und ihre Aeußerung. (511) 3. Das Verhältniß des Aeußeren und Inneren. (512) Neunzehntes Capitel. Die Lehre vom Wesen. C. Die Wirklichkeit. (516) I. Das wahrhaft Wirkliche. Das Absolute. (516) II. DIe innere und äußere Wirklichkeit. (517) 1. Das Reich der Möglichkeit. (517) 2. Das Reich des Zufalls. (518) 3. Die Nothwendigkeit. (519) III. Das absolute Verhältniß. (521) 1. Die Substantialität. (521) 2. Die Causalität. (522) 3. Die Wechselwirkung. (524) Zwanzigstes Capitel. Die Lehre vom Begriff. A. Die Subjectivität (527) I. Der Begriff des Begriffs. (527) 1. Vom Begriff im Allgemeinen. (527) 2. Der allgemeine Begriff. (530) 3. Der besondere Begriff. (531) 4. Das Einzelne. (532) II. Das Urtheil. (534) 1. Das Urtheil des Daseins. (536) 2. Das Urtheil der Religion. (537) 3. Das Urtheil der Nothwendigkeit. (538) 4. Das Urtheil des Begriffs. (538) III. Der Schluß. (539) 1. Der Schluß des Daseins. Die Schlußfiguren. (539) 2. Der Schluß der Reflexion. (541) 3. Der Schluß der Nothwendigkeit. (543) Einundzwanzigstes Capitel. Die Lehre vom Begriff. B. Die Objectivität. (544) I. Ontologie und Kosmologie. (544) II. Der Mechanismus. (546) 1. Der Determinismus. (546) 2. Die Centralisation. (547) 3. Der absolute Mechanismus. (548) III. Der Chemismus. (548) IV. Die Teleologie. (550) 1. Mechanismus und Teleologie. Der subjective Zweck. (550) 2. Das Reich der Mittel. Die List der Vernunft. (551) 3. Der ausgeführte Zweck. (553) Zweiundzwanzigstes Capitel. Die Lehre vom Begriff. C. Die Idee. (554) I. Die Idee als Proceß. (554) II. Das Leben. (556) 1. Das lebendige Individuum. (556) 2. Der Lebensproceß. (559) 3. Die Gattung. (560) III. Die Idee des Erkennens und des Wollens. (561) 1. Die Idee des Wahren. (561) 2. Die Idee des Guten. (565) 3. Die absolute Idee. (568)
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Der SPD-Parteivorstand will die Bildungsausgaben massiv erhöhen, finanziert über zusätzliche Steuern. Die Parteivorsitzende Saskia Esken sagt, wie Bund, Länder und Kommunen auf ein gemeinsames Ziel eingeschworen werden sollen: den Kampf gegen die dramatische Bildungsungerechtigkeit.
Saskia Esken ist Softwareentwicklerin und war stellvertretende Vorsitzende des Landeselternbeirats Baden-Württemberg. Nach ihrem Einzug in den Bundestag 2013 engagierte sie sich in der Bildungs- und Digitalpolitik. 2019 wurde sie eine von zwei SPD-Bundesvorsitzenden. Foto: Anne Hufnagl.
Frau Esken, heute wird der SPD-Parteivorstand voraussichtlich den Leitantrag "Zusammen für ein starkes Deutschland" für den Bundesparteitag im Dezember beschließen. Wesentlicher Bestandteil ist ein "Deutschlandpakt Bildung". Wer soll da mit dem paktieren?
Mit dem "Deutschlandpakt Bildung" wollen wir erreichen, dass Bund, Länder und Kommunen sich zusammentun, um ihren gesamtstaatlichen Bildungsauftrag zu erfüllen. Die Lage der Bildung in Deutschland ist so herausragend schwierig geworden in den vergangenen 20 Jahren, die sozialen Schieflagen bei der Bildungsgerechtigkeit so groß, dass nur noch alle staatlichen Ebenen gemeinsam Veränderungen bewirken können. Die Zeit drängt, wir stehen vor einem großen demografischen Umbruch: Wenn meine Generation in Rente geht, kommt eine nach, die nur noch halb so groß ist. Woraus folgt, dass noch dringlicher wird, was ohnehin unsere Pflicht sein sollte: Wir müssen die Potenziale aller jungen Menschen vollständig entwickeln. Insofern ist der "Deutschlandpakt Bildung" eingebettet in eine größere Strategie zur Gestaltung der gesellschaftlichen Transformation, die wir dem SPD-Bundesparteitag vorschlagen wollen.
"Kooperationsgebot statt Kooperationsverbot", "ein echter Bildungsaufbruch", "gleiche Chancen für eine gute und zeitgemäße Bildung für alle Menschen", Ganztagsausbau, Verstetigung des Digitalpakts. Mit Verlaub: Vieles von dem, was in dem Leitantrag zum "Deutschlandpakt Bildung" vorkommt, stand so oder ähnlich schon im Ampel-Koalitionsvertrag von Ende November 2021. Hat der so wenig gebracht?
Der Koalitionsvertrag trägt eine starke sozialdemokratische Handschrift. Insofern steht viel Schlaues drin und wir haben auch einiges schon umgesetzt. Erst vor wenigen Wochen ist, leider mit wenig öffentlicher Wahrnehmung, das "Startchancen"-Programm zwischen Bund und Ländern geeint worden, das genau in die Richtung zielt, in die wir jetzt als SPD entschieden weitergehen wollen: Ganz gezielt die Bildung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler zu fördern, weil wir nur auf diese Weise etwas erreichen können im Kampf gegen die große Bildungsungerechtigkeit. In der Ampel-Koalition müssen wir uns durch die finanziellen Limitierungen auf zehn Prozent der Schulen beschränken. Aber die Herausforderungen kennen diese Limits nicht: Ein Viertel der Grundschülerinnen und Grundschüler kann am Ende von Klasse vier nicht genügend gut lesen, schreiben, rechnen, zuhören. Ein Drittel der Neuntklässler verfehlt die Mindeststandards in Deutsch. 50.000 junge Menschen verlassen jedes Jahr die Schulen ohne Schulabschluss. Hier wird klar: Wenigstens die Hälfte aller Schulen braucht die Unterstützung, die wir jetzt nur jeder zehnten geben können.
"Mein Vorschlag mit dem Sondervermögen war das erste Ausrufezeichen"
Der "Deutschlandpakt Bildung" soll also ein aufgepumptes "Startchancen"-Programm werden?
Er soll viel breiter werden als das, aber in der Tat, der Pakt soll derselben Logik folgen: Die Ebenen tun sich zusammen, um ganz gezielt Benachteiligungen der Bildungschancen auszugleichen. Wir gehen stärker in die Breite und schärfen gleichzeitig den Fokus, weil die Bildungsforschung noch einmal deutlicher gezeigt hat, wo die Probleme liegen. Erstens: Es kommt auf den Anfang an, auf frühe Hilfen, frühkindliche Bildung und – wenn nötig - frühe Intervention. In der Grundschule dann die gezielte Förderung der Basiskompetenzen, die Unterstützung genau dort, wo sie zu Hause fehlt, aus den verschiedensten Gründen. Vielleicht weil beide Eltern Vollzeit arbeiten und, um über die Runden zu kommen, zusätzlich einen Minijob haben. Die können nicht nachmittags mit den Hausaufgaben helfen und auch keine Nachhilfe bezahlen. Deshalb müssen wir hier den Ganztag nutzen. Denn als Gesellschaft sind wir aber verantwortlich, dass alle Kinder das notwendige Rüstzeug für eine erfolgreiche Bildungsbiografie bekommen. Und zweitens kommt es auf den Abschluss an, denn ohne den gibt es keinen Anschluss. Damit möglichst alle Schülerinnen und Schüler einen Schulabschluss erhalten, der sie formal und inhaltlich dazu befähigt, eine Berufsausbildung aufzunehmen und fertigzumachen.
Für die "Startchancen" wollen Bund und Länder jeweils eine Milliarde Euro pro Jahr investieren. Sie haben bereits vor Monaten 100 Milliarden zusätzlich für ein Sondervermögen Bildung gefordert – auch das mit wenig Widerhall in der Öffentlichkeit. Ist die Idee mit dem Deutschlandpakt jetzt der nächste Anlauf?
Mein Vorschlag mit dem Sondervermögen war das erste Ausrufezeichen, und es hat einigen Widerhall gefunden, zu Beispiel bei der "Bildungswende", aber leider noch keine Umsetzung. Um es klar zu sagen: Bildung ist eines der zentralen Zukunftsthemen unserer Zeit und sollte es darum auch für uns in der Politik sein. Woraus folgt, dass wir der Bildung dasselbe finanzpolitische Gewicht einräumen sollten wie anderen priorisierten Politikfeldern. Mit unserem Antrag legen wir nach und sagen jetzt konkret, was wir tun wollen, woher wir das nötige Geld nehmen wollen und wie wir durch einen Pakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen sicherstellen, dass wir die verabredeten Ziele auch verbindlich erreichen.
Und da ist das Zauberwort wiederum "Sondervermögen"?
Ob nun ein Sondervermögen oder ein anderes Finanzinstrument gut für unsere Ziele passt, wird man sehen. Hauptsache, wir treiben jedes Jahr wesentlich mehr Geld für Bildung auf und sorgen dafür, dass es verbindlich und zielgerichtet eingesetzt wird. Wichtig ist auch, dass wir das Projekt wissenschaftlich begleiten. Wir brauchen endlich eine durchgehende Dateninfrastruktur zur Bildung in Deutschland - die Forschung klagt zu Recht, dass uns oft die Grundlage fehlt, um genauer hinschauen zu können.
"Zehn Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr, zumindest auf zehn Jahre"
Bitte mal konkret: Was meinen Sie konkret, wenn Sie von "wesentlich mehr Geld für Bildung" reden? Sind das besagte 100 Milliarden Euro, und über welchen Zeitraum?
Im "Startchancen"-Programm investieren Bund und Länder zwei Milliarden Euro zusätzlich für zehn Prozent der Schulen. Ich sage, dass wir mit dem "Deutschlandpakt Bildung" wenigstens die Hälfte der Schulen erreichen sollten. Insofern habe ich das Ziel, um die zehn Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr zu generieren. Und so wie die "Startchancen" über zehn Jahre laufen sollen, sollten wir auch den Deutschlandpakt zumindest auf zehn Jahre anlegen. Das ist für die Politik, die normalerweise in Legislaturperioden denkt, schon nahe an der Dauerhaftigkeit. Perspektivisch, auch das steht im Leitantrag, wollen wir uns dem Ziel annähern, unbefristet sieben Prozent der Wirtschaftsleistung für Bildung auszugeben.
Laut Leitantrag wollen Sie das nötige Geld nicht etwa durch eine Umpriorisierung der heutigen Staatsausgaben erreichen, sondern durch eine höhere Einkommensteuer für Spitzenverdiener – und durch eine höhere Erbschafts- und Schenkungssteuer für Superreiche. Glauben Sie, das ist angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse durchsetzbar?
Vor allem ist es notwendig. Mit dem Vorschlag verfolgen wir ja zwei Ziele. Wir wollen mehr Geld für Bildung, wir wollen aber auch mehr Steuergerechtigkeit erreichen. Im Moment steht das System auf dem Kopf: Kleine und mittlere Erbschaften werden im Schnitt mit neun Prozent besteuert, während auf Erbschaften über 20 Millionen im Schnitt nur drei Prozent anfallen. Das ist grob ungerecht. Das müssen umdrehen. Wir machen das aber nicht aufkommensneutral, sondern so, dass mehr Steuereinahmen erzielt werden. Und wenn wir gleichzeitig über eine Einkommensteuerreform nur die extrem hohen Einkommen belasten, die mittleren aber entlasten, stärken wir auch dadurch die Gerechtigkeit – und generieren nochmal mehr Geld für Bildung.
Wie aber wollen Sie sicherstellen, dass dieses Geld dort auch ankommt? Es ist rechtlich unmöglich, Steuern mit Zweckbindung zu erheben.
Die Erbschafts- und Schenkungssteuer ist eine reine Ländersteuer, sie kommt also zu 100 Prozent den Ländern zugute. Aber natürlich haben Sie Recht: Wir können die Länder nicht zwingen, dass sie die Mehreinnahmen in die Bildung investieren. Der "Deutschlandpakt Bildung" zielt auf eine Vereinbarung von Bund und Ländern: Wenn der Bund einen Teil seiner höheren Steuereinnahmen aus der Einkommensteuer in den Deutschlandpakt investiert, erwarten wir von den Ländern das Commitment, ebenfalls einen Teil ihrer Mehreinnahmen in den gemeinsamen Topf für Bildung einbringen.
Bund und Länder zahlen also in den gemeinsamen Fonds ein, und dann, so sieht es der Leitantrag vor, entscheiden sie in einer gemeinsamen Kommission zusammen mit dem Kommunen, wofür es ausgegeben wird. Ein schönes Gedankenexperiment. Aber realistisch?
Natürlich ist es wichtig, dass die Kommission sich ihre demokratische Legitimation holt, indem sie über die Mittelverwendung einmal im Jahr Rechenschaft ablegt gegenüber den Parlamenten, bei denen das Budgetrecht liegt. Das wollen und können wir ihnen nicht aus der Hand nehmen. Aber wir können, so wie es beim "Startchancen"-Programm geschieht, auf der Grundlage der Kommissionsarbeit Bund-Länder-Vereinbarungen abschließen, die dafür sorgen, dass die Mittel aus dem Deutschlandpakt entsprechend den tatsächlichen Bedürfnissen zielgerichtet dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Jeweils mit Zustimmung der Parlamente, versteht sich. Wichtig ist, dass wir am Ende der Tatsache Rechnung tragen, dass der Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler gerade in solchen Bundesländern besonders hoch ist, deren Finanzkraft eher gering ist.
"Es geht nicht nur um mehr Gerechtigkeit für die Kinder und Jugendlichen. Es geht auch um die Zukunft unserer Volkswirtschaft und unseres Wohlstands."
Mehr Geld an Bremer Schulen und weniger nach Bayern und Baden-Württemberg? Sind die "Startchancen" dann wirklich ein gutes Vorbild? Die Länder haben mit Ach und Krach einen Kompromiss erreicht, der darin besteht, dass der Großteil der Gelder doch wieder per Gießkanne verteilt wird.
Ich baue weiter auf die Kraft des Arguments. Denn es geht nicht nur darum, mehr Gerechtigkeit für die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Es geht auch um die Zukunft unserer Volkswirtschaft und unseres Wohlstands. Unsere Gesellschaft wird immer diverser, und wir brauchen die Zuwanderung ja auch, um unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft in Zeiten der Demografie am Laufen zu halten. Umso mehr brauchen wir dann aber auch ein Bildungssystem, das jeden und jede Einzelne in die Lage versetzt, das nutzen zu können, was in ihnen steckt. Deutschland hat keine Bodenschätze – unsere Ressource sind unsere klugen Köpfe. Und in die müssen wir investieren. Ich bin zuversichtlich, dass am Ende genau diese Argumente wirken werden.
Vielleicht sind die Länder leichter zu überzeugen, wenn dank des 100-Milliarden-Fonds auch die Zukunft des Digitalpakts gesichert wird? In den vergangenen Monaten hatten viele Länder die Befürchtung, für den Bund könnte es zwischen "Startchancen" oder Digitalpakt-Fortsetzung auf ein Entweder – Oder hinauslaufen.
Ich bin zuversichtlich, dass uns beim Digitalpakt eine Weiterentwicklung gelingt. Ich habe den Digitalpakt angestoßen, er wurde auf meine Anregung während der Pandemie aufgestockt. Unsere Schulen müssen auf die immer weitergehende Digitalisierung unserer Welt und auf Entwicklungen wie in der Künstlichen Intelligenz eine Antwort haben, und dafür brauchen sie die nötige Ausstattung. Mit der von uns vorgeschlagenen Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer erhalten die Länder weitere finanzielle Handlungsspielräume, die sie für die zeitgemäße Ausstattung ihrer Schulen aufwenden können.
Reden wir mal von etwas Anderem als Geld. Es gibt ernstzunehmende Bildungsexperten, die sagen: Eigentlich ist genug Geld da, das wirkliche Problem unseres Bildungssystems besteht darin, dass der Föderalismus nicht richtig funktioniert.
Also der Sanierungsstau an den Schulen von fast 50 Milliarden Euro ist schon ein erhebliches Geldproblem. Aber richtig ist, dass mehr Geld allein nicht reicht. Kein Geld der Welt kann zum Beispiel kurzfristig den enormen Fachkräftemangel lösen, den wir insbesondere in Kitas und Schulen haben. Und so sehr wir Lehrkräfte entlasten wollen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, so wenig wissen wir, wie wir die entstehenden Deputatslücken füllen sollten. Darum gehört zu unserem "Deutschlandpakt Bildung" der Vorschlag einer gemeinsamen Aus- und Weiterbildungsoffensive für Erzieher*innen, Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Personal. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern ist auch im Bildungsföderalismus möglich und wird ja auch stetig weiterentwickelt. Auch in der Vergangenheit haben wir, wo es nötig war, das Grundgesetz geändert. Doch dafür brauchen wir eine Zweidrittel-Mehrheit, dafür müssten die Unionsparteien mit im Boot sein müssten. Ich setze auf neue Strukturen der gesamtstaatlichen Zusammenarbeit, wie ich sie für den "Deutschlandpakt Bildung" beschrieben habe. Strukturen, die nicht auf Zweidrittel-Mehrheiten und erst recht nicht auf Einstimmigkeit angewiesen sind, sondern die über ein gemeinsames Commitment funktionieren.
"Wenn die SPD den Leitantrag beschließt, wird sie alles dafür tun, dass der Deutschlandpakt auch Wirklichkeit wird"
Frau Esken, wann hat die SPD zuletzt erfolgreich ein so großes Bildungsrad gedreht, wie Sie das vorhaben?
An einen vergleichbaren Leitantrag kann ich mich nicht erinnern. Aber ich erinnere mich, wie das Versprechen von Aufstieg durch Bildung und Leistung eine ganze Generation inspiriert hat. Das war meine Generation. In den 60er und 70er Jahren haben viele Arbeiterkinder diesen Aufstieg geschafft, haben hohe Bildungsabschlüsse erzielt und Führungsaufgaben übernommen. Heute jedoch ist die soziale Mobilität praktisch zum Erliegen gekommen. Schlimmer noch: Viel zu viele Kinder und Jugendliche fallen in unserem Bildungssystem durchs Raster. Das ist eine riesige Ungerechtigkeit, doch wenn wir auch in Zukunft erfolgreich sein wollen als Volkswirtschaft und als Gesellschaft, dann können wir es uns gar nicht leisten, all diese Potenziale liegen zu lassen. Ich sage: Von der Bildung dieser jungen Menschen hängt unsere Zukunft ab. Und ich bin überzeugt: Dem stimmt die große Mehrheit der Menschen zu, die Wissenschaft wird es bestätigen und die Wirtschaft weiß es ohnehin. Diese Überzeugung kann und muss das gemeinsame Fundament für den "Deutschlandpakt Bildung" werden.
Mit dem es dann wann losgeht? Immerhin ist die SPD die stärkste Regierungsfraktion. Und die gemeinsame Kommission von Bund, Ländern und Kommunen, die Keimzelle des Deutschlandpakts werden soll, hatte die Ampel schon in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt.
Darum wäre es sehr wünschenswert, wenn es der Bundesbildungsministerin endlich gelänge, die Kommission einzurichten. Wir halten sie für dringend notwendig, sonst hätten wir sie nicht im Koalitionsvertrag vereinbart. Sie wäre der erste Schritt. Und Sie können sich darauf verlassen: Wenn die SPD den Leitantrag beschließt, wird sie alles dafür tun, dass der "Deutschlandpakt Bildung" auch Wirklichkeit wird. Und wir fangen noch in dieser Legislatur an, um Mehrheiten dafür zu werben.
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