Fremdheitserfahrungen erweisen sich als ebenso vielfältig wie die Möglichkeiten ihrer produktiven Verarbeitung. In der Perspektive der praxeologischen Soziologie Pierre Bourdieus lassen Fremdheitsphänomene sich begreifen als Weisen des Auseinanderdriftens bzw. des Nicht-Mehr- oder des Noch-Nicht-Zusammenpassens von Habitus und Habitaten. Die körperliche Dimension solcher Missverhältnisse hat Bourdieu bereits zu Beginn der 60er Jahre thematisiert, und zwar am Beispiel eines dörflichen Tanzabends in seinem Heimatdorf im Béarn. Erkennbar wird bereits hier, wie die mit der Ausdehnung der Märkte der symbolischen Güter und Praxisformen verbundenen Formen symbolischer Gewalt bis in die soziale Motorik hinein wirksam sind. Heutzutage finden ähnliche Entwicklungen im globalen Maßstab statt, verbunden mit Prozessen der Glokalisierung körperlicher Habitus. Die Tendenz zu einer weltweiten Angleichung kultureller Formen ist verbunden mit einer Dynamik, die auf erneute Herstellung und Produktion von kultureller Vielfalt und Differenz drängt, dies auch auf den Ebenen des Körpers und seiner Praktiken. So werden - in globalen Zusammenhängen - feldspezifische körperliche Fremdheiten potentiell ständig neu generiert, erfunden und sozial konstruiert. Ungeachtet dessen legt das soziologische Werk Bourdieus selbst Zeugnis davon ab, dass eine produktive, auf ein jeweiliges Feld abgestimmte produktive Verarbeitung der Erfahrung von Fremdheit disziplinäre Profite einbringen kann. Soziologen sind nach dieser Lesart auch professionelle Fremde, und das Geschäft der Soziologie besteht u.a. darin, einen fremden Blick fortwährend und methodisch kontrolliert als Erkenntnisprinzip anzuwenden.
»Aramis ist eine automatische Metro, die fast im Süden von Paris gebaut worden wäre. Ich habe daraus den Helden eines Dossiers in Szientifiktion gemacht. Alle Abenteuer dieses nicht-menschlichen Helden werden wahrheitsgetreu berichtet. Aber sie erscheinen nie wahrscheinlich, weil wir es nicht gewohnt sind, die Liebe und den Hass einer Spitzentechnologie im Detail zu erforschen. Zum ersten Mal, glaube ich, entfaltet sich vor unseren Augen die Geschichte einer soziologischen Untersuchung und die Liebesgeschichte einer Maschine. Zum ersten Mal sprechen auch die Ingenieure direkt, und ihre Stimmen wie ihre Dokumente gleichen kaum dem furchterregenden Mythos von der seelenlosen Technik.«Basierend auf zahlreichen Interviews, technischen Berichten und Dokumentationen spürt Bruno Latour dem gescheiterten Großprojekt eines modularen Nahverkehrssystems nach. Latour analysiert dieses Scheitern in Form eines literarisch anspruchsvollen Hybrids aus Kriminalroman und Wissenschafts- bzw. Technikforschung. Die verschiedenen Akteure dieser Geschichte eines hochkomplexen Mensch-Ding-Systems – Menschen, Schaltpläne, Motoren, Prototypen, Schienensysteme etc. – kommen dabei in einer Weise gleichberechtigt zu Wort, die für das Verständnis der Akteur-Netzwerk-Analyse von exemplarischem Wert ist. Die Schriftenreihe Historische Wissensforschung eröffnet mit der ersten deutschen Übersetzung dieses Klassikers ihre Rubrik »Unter dem Radar«, in deren Rahmen vergessene oder schwer zugängliche Arbeiten der Wissenssoziologie und -geschichte vorgelegt und historisch kontextualisiert werden.
"Der Begriff 'Postkommunismus' wird als Abzeichen der Gesellschaftslage, der politischen Änderungen und Prozesse - die Zufolge der ökonomisch-politischen Zerfall der historisch-sozialer Realität der Osteuropäischen Länder wie auch des ehemaligen Jugoslawiens - bezeichnen, Länder des sogenannten 'realen' oder auch 'selbstverwaltenden' Sozialismus. Im historisch-sozialen Zusammenhang trachtet man gesellschaftlich und kulturell wie auch soziologisch die bedeutenden religiösen Änderungen in Kroatien zu erklären. Die sozial-politischen Änderungen in Osteuropa und ehemaligen Jugoslawien, im Namen der Demokratie und Pluralismus, der Rechte und der Freiheiten des Menschen und seines Gewissens ermöglichten auch formalrechtlich die vollständige Religionsfreiheit und zwar auch ihre freie Äußerung. Die Kirche, die Religionsgemeinschaften wurden vom Staat getrennt zufolge der Errungenschaft der Demokratie-Bedingung des demokratisch-politischen Gesellschaftslebens. Als dessen Resultat und Komponente sind die betonten (auch in Medien hervorgehobenen), öffentlichen, religiösen Manifestationen, die im großen Maße nationalgeprägten Religionsgefühle unterdrückten, befreit worden. Es geht also um eine bestimmte Entsäkularisierung, um Rückkehr der traditionellen brauchtümlichen Religiosität, die gewisse sozial-kulturelle und national-politische Identifikationen manifestiert." (Autorenreferat)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 569-578
"Unsere Forschungsperspektive richtet sich praxistheoretisch-empirisch auf den zweibahnigen Prozess der körperlichen Konstitution des Sozialen und der sozialen Konstitution körperlicher Praxen. Ausgehend von Roger Caillois Forderung nach einer Soziologie vom Spiel nehmen wir an, dass den Körper- und Bewegungspraxen der Spiele und des Sports eine Indikatorfunktion zukommt: In ihren motorischen Charakteristika und körperlichen Aufführungen werden gesellschaftliche Veränderungen schon früher sichtbar als in anderen, weniger beweglichen Handlungsbereichen. Wie wir am sozialen Wandel des Verhältnisses von Körper und Technik demonstrieren wollen, sind mit dieser körperlichen Zeigequalität der Spiele erhebliche soziologische Erkenntnischancen verbunden. Mit Bezug auf Ergebnisse unserer Feldforschungen können wir deutlich machen, dass sich in neuen Spielen des Sports (Inlineskating, Snowboarding etc.) neuartige Beziehungen zwischen Akteuren und Sportgeräten herausgebildet haben, die sich auch an neuen Arbeitsvollzügen, wie am Umgang von Programmierern und Softwareentwicklern mit dem Computer, erkennen lassen. Neue Spiel- und Arbeitsgeräte erweitern das Anforderungsprofil an die Akteure um eminent körperliche Probleme der Handhabung, Kinästhesie und sensomotorischen Rückempfindungsfähigkeit. Im Umgang mit diesen Geräten ist eine erhöhte Sach- und Selbstempfindlichkeit einzelner Körperpartien gefordert: Werden beim Inlineskaten die Füße zu technologisch optimierten Tastorganen, so ist in der Computerarbeit die Tastfähigkeit der Fingerkuppen von zentraler Bedeutung. Voraussetzung solcher Synthesen von Körper und Technik ist eine wechselseitige Annäherung: die im Habitus sich niederschlagende Körpergeschichte und das technische Gerät müssen zueinander kommen. In dieser Vereinigung werden neue körperliche Praxen und Formen praktischen Wissens generiert. Im Umgang mit den neuen technischen Artefakten nimmt die Bedeutung der praktischen Könnerschaft des Habitus also nicht ab, sie nimmt im Gegenteil zu und erlangt eine veränderte Qualität. Der Habitus übernimmt Funktionen, die die Dispositive des traditionellen Sports und der tayloristischen Fabrikarbeit an diesen abgetreten haben. Über die Mimesis der Technik an das Organische und das Anschmiegen des Körpers an die Technik sowie über deren Angewiesenheit auf eine habitualisierte körperliche Vorbildung realisieren und beglaubigen sich soziale Unterschiede zwischen verschiedenen Berufs- und Technikkulturen als körperliche Differenzen." (Autorenreferat)
Kaum ein in der jüngeren Theaterwissenschaft postulierter Begriff scheint so streitbar, kontradiktorisch und ideologisch aufgeladen zu sein wie jener der Performance. Als ein vermeintlich undurchschaubares Kollektivum hinterlässt es auch bei Simon Shepherd eine besonderen Nachklang, den der Autor an einer Stelle gar mit "confused" (S. 157) beschreibt. Doch dieser definitorischen Verwirrung stellt er mit The Cambridge Introduction to Performance Theory eine fach- und theatergeschichtliche sowie theoretische Ausarbeitung des Begriffsfeldes entgegen. In insgesamt drei Kapitelblöcken wird die Genese des Performance-Begriffs betrachtet. Dabei widmet sich Shepherd zunächst den zum Teil fachlich sehr unterschiedlichen Definitionen von Performance. In der soziologischen Perspektivierung steht der auch in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft immer wieder zitierte Erving Goffman im Mittelpunkt. Jedoch belässt es Shepherd nicht dabei, Goffmans 'Alle-Spielen-Theater'-Thesen ins Feld zu führen, sondern betrachtet explizit die hier benutzten Theatermetaphern. Und er gibt dabei den interessanten Hinweis, dass Goffman selbst die Analogie zu Theater hauptsächlich aus rhetorischen und taktischen Gründen bediente. Mit Peter Worsleys Kritik an einem unreflektierten Metapherngebrauch werden die Grenzen solcher sprachlichen und fachlichen Übertragungen gekonnt thematisiert. Shepherd gelingt es in weiterer Folge, eine Parallelgeschichte aufzuzeigen, denn neben Goffman beschäftigte sich Georges Gurvitch mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Theater, aber vielmehr mit dem Blick auf kollektive Praktiken, die nur mit theatralen Elementen funktionieren können. Mit der weiteren Verbindung zu Elizabeth Burns und Richard Schechner zeigt der Autor die gegenseitige Beeinflussung von Soziologie und Theater auf: "On the way to this shared understanding the social sciences developed terminology 'adapted from the vocabulary of theater: role playing, scenes, setting, acting and/or action', and theatre borrowed in the other direction, taking terms such as 'interaction, ritual, ceremony, confrontation'." (S. 25) Doch erst durch die Ethnologie respektive Volkskunde erhielt der Performance-Begriff Einzug in die Soziologie, nämlich durch die Systematisierungen und Klassifizierungen von "the performance of the folktale and folksong" (S. 33). Über die ethnografische Betrachtung gelangt Shepherd zu "Cultural performance, social drama and liminality" (S. 42). Zentrale Figuren sind hier Milton Singer, Victor Turner und Arnold van Gennep, die der Autor trotz der zeitlichen Distanzen in argumentative Nähe zueinander setzt. Auf beeindruckende Weise entwirft Shepherd im ersten Kapitelblock eine disziplinenübergreifende Begriffsgeschichte, die in gewisser Hinsicht so verworren erscheint wie der Begriff selbst. Trotzdem gelingt es ihm, ein zusammenhängendes Narrativ zu erschaffen, das sich aber nicht einer Linearität verschrieben hat, sondern stets Gegenstimmen und Parallelgeschichten mitdenkt. Der zweite Kapitelblock widmet sich unter dem Titel The emergence of performance as sensuous practice der Performance als theatraler Praxis – oder umgekehrt, was als ein wesentlicher Aspekt dieser Begriffsbestimmung zu bewerten ist. Zum einen wird hier ein breites Bild diverser kultureller Praktiken ab den 1950er-Jahren angeboten: von Robert Jasper Grootvelds Anti-Tabak-Kampange in Amsterdam, den situationistischen Aktionen von Guy Debord in Paris, der Hippie-Bewegung in den Vereinigten Staaten über Performance als pädagogisches Mittel bei Albert Hunt, diversen Happenings bis hin zur Verbindung von Body-Art und Feminismus. Zum anderen werden diese Formen an eine diskursive Ebene geknüpft. So liegt es zwar auf der Hand, dass mit Debord Die Gesellschaft als Spektakel behandelt wird. Doch hält hier Shepherd gewisse Überraschungen bereit, wie z. B. den vielmehr für seine Rassismusforschung bekannt gewordenen Stuart Hall, der in seinem 1969 erschienen Artikel The Hippies: An American 'Moment' eine bemerkenswerte soziologische Analyse dieser gesellschaftlichen Struktur vollzog. Generell kann dieses Unterkapitel als paradigmatisch für Shepherds Arbeit gelten: "For our narrative here the interest is less in the hippies themselves than in what social commentators thought they were seeing." (S. 69) Es sind somit nicht nur bloße Beschreibungen von kulturellen/theatralen Praktiken, die der Autor liefert, sondern auch eine wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte. In dieser eindrucksvollen Verschränkung von Praxis und Diskurs wird zugleich die politisch-ideologische Ebene der Performances ersichtlich. Immer wieder wird die Haltung und Intention der Künstlerinnen und Künstler zum Ausdruck gebracht, die sich in einer ideologischen Opposition zum politischen und künstlerischen Establishment, zur Kulturindustrie – d. h. zu jenem, was als 'Theater' verpönt ist – befanden. In dieser Weise vermittelt Shepherd die moralische Überlegenheit, die mit den sowohl künstlerischen als auch wissenschaftlichen Performance-Beschäftigungen einhergeht. Wenn Performances oder Body Art, wie jene von Carolee Schneemann, als Kritik am Ist-Zustand zu bewerten sind, dann reklamiert gleichermaßen die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit ihren moralischen Vorzug gegenüber der Forschung an jenen Formen, die nicht unmittelbar mit einer politisch-kritischen Aktualität punkten können. Im letzten Kapitelblock legt Shepherd seinen Fokus auf die Theoretisierung und die damit zusammenhängende Institutionalisierung von Performance-Theorie. Der bereits erwähnte Aktualitätsaspekt bei dieser Theoriebildung tritt laut Shepherd doppelt hervor: "Performance is modern, in that it moves with technology. But it's also modern in a deeper sense. It's the mode where current preoccupations of Theory can find themselves manifested." (S. 146) Insbesondere diese Beobachtung lässt vermuten, wieso die Definition von Performance sich als ein schwieriges Unterfangen erweist. Demnach kritisiert Shepherd insbesondere Richard Schechner, da bei ihm Performance fast alles sein kann. Die von Dell Hymes bereits 1975 ausgesprochene Warnung "about the use of 'performance' as a 'wastebasket' term" (S. 159) scheint nun spätestens ab den 1990er-Jahren Realität geworden zu sein. Auch hier belässt es Shepherd nicht bei einer theoretischen Singularität, sondern entwirft mit dem Ethnologen Dwight Conquergood eine weitere Perspektive auf die Performance-Theorie, die explizit das Verhältnis zwischen text- und oral-orientierter Wissenschaft befragt. Besonders das Verhältnis von Text und Nicht-Text scheint für den akademischen Werdegang der Performance-Theorie unumgänglich. Nach einer Analyse der amerikanischen Theaterwissenschaft, mit expliziten Blick auf Marvin Carlson, geht Shepherd ausdrücklich auf die Arbeit von Erika Fischer-Lichte ein. So reflektiert und bedacht der Autor sonst ist, übernimmt er hier Fischer-Lichtes sehr eigenwillige Interpretation von Max Herrmanns Theaterverständnis, das als Ursprungsnarrativ der Aufführungsanalyse – und somit Performance-Theorie – verstanden werden kann. Doch ist seine Schlussfolgerung in diesem Zusammenhang beachtlich: "The practices often remain the same under different names […]. But the opposition to theatre contains another opposition within which is buried a much deeper ideological investment." (S. 208) Mit einem abschließenden Kapitel fasst der Autor seine Beobachtungen und Analysen auf einen Blick zusammen und gelangt dabei zu der Schlussfolgerung, dass Performance nur als ein interdisziplinärer Begriff gedacht werden kann, der beides ist, "a practice and a mode of analysis." (S. 222) Mit The Cambridge Introduction to Performance Theory legt Simon Shepherd eine gelungene Studie vor, die sowohl durch das Material – die von ihm gewählten Beispiele gehören nicht zum Kanon der deutschsprachigen Theaterwissenschaft – als auch ihre diskursive Herangehensweise überzeugt. Dies gilt auch für den Aufbau und die gewählten Methoden, die der Komplexität und Verworrenheit des Themas gerecht werden. Es sind jedoch zumindest zwei Kritikpunkte, die an diese Arbeit gerichtet werden können: Zum einen wird es nicht immer klar, nach welchen Kriterien der Autor bestimmte Kunstschaffende sowie Theoretikerinnen und Theoretiker auswählte. Zum anderen ist es auffällig, dass er an einigen Stellen aus zweiter Hand zitiert bzw. Theorien vorstellt (wie z. B. bei Max Herrmann oder Guy Debord). Trotzdem überwiegen die positiven Aspekte der Studie, die durch die breit angelegten Betrachtungen dem Titel 'Einführung' gerecht wird.
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 4657-4665
"Nicht der griechische Gott Proteus kommt in der Soziologie vor, sondern ein nach ihm benanntes Problem: 'We are becoming fluid and many-sided', konstatiert R.J. Lifton, und R. Sennett spricht von der 'corrosion of character'. Für diese 'Verflüssigung' personaler Identität steht der Meeresgott Proteus metaphorisch ein, weil er - Karl Philipp Moritz 1791 publizierter Götterlehre zufolge - 'gleich der geheimnisvollen Natur, die unter tausend abwechselnden Gestalten den forschenden Blicken der Sterblichen entschlüpft, sich in Feuer und Wasser, Tier und Pflanze verwandeln konnte und nur denen, die unter jeder Verwandlung ihn mit starken Armen festhielten, zuletzt in seiner eigenen Gestalt erschien und ihnen das Wahre entdeckte'. Die Erneuerung des Selbst, und sei es um der Forcierung von Differenzen - mithin: um sozialer Ungleichheit - willen, wird für Proteus ein weitaus geringeres Problem sein als die Erhaltung des Selbst; und die Chance dafür sieht er nur in der Indifferenz. Die Poesie der Indifferenz (Holmes) - das ist der Schlaf des Proteus. Denn wird er, so die Sage, geweckt, so sucht er sich dem je Anderen anzuverwandeln. Wo das 18. Jahrhundert die Natur im schlafenden Proteus sah, würde die Soziologie heute die Gesellschaft sehen. Ohne weiteres können mehrere, heute längst klassische Topoi der Soziologie in dieser Sage erkannt werden, und zwar nicht nur das in seinem role-set theaterspielende Selbst, die variabel maskierte Persönlichkeit, sondern auch die sich ihrer Beobachtung entziehende Gesellschaft und die Identität des sich Differenzierenden, nicht zuletzt auch das zugleich typische und höchst besondere Individuum. Vielleicht, das soll der Beitrag prüfen, gilt das auch für die Vermutung, im Begriff der Innovation werde ein technischer Reduktionismus gegen den sozialen Reduktionismus des Ungleichheitsbegriffs ausgespielt (was unweigerlich zur Verwicklung beider Reduktionismen führen muss). Zieht man die Erkenntnisse der soziologischen Systemtheorie im Sinne der second order cybernetics und der wahrnehmungs- und attributionspsycholgischen Medientheorie hinzu, dann wird die These möglich, dass Proteus' Innovation eine mediale Abstraktion ist, die beide Reduktionismen überwindbar macht. Die Technik führt einfach zu anderen 'nicht natürlichen Selbstverständlichkeiten' (N. Luhmann) als die sich differenzierende Gesellschaft. Proteus' Innovation ist sein Schlaf: eine sehr entschiedene, präzise Form, und deshalb eine liquide, mediale Form." (Autorenreferat)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 3736-3746
"Der Vortrag wird sich auf den Dritten nicht in seiner Lieblingsrolle als Vermittler, sondern als Unterbrecher von Konfliktdynamiken konzentrieren. Das Wechselspiel von Gewalt und Gegengewalt, das die feindlichen Parteien in einer potentiell tödlichen Symbiose aneinander kettet, kann nur durch einen Dritten, der zu keiner der beiden Seiten gehört, zum Stillstand gebracht werden: durch eine neutrale Person, einen Unterhändler oder Schiedsrichter. Seine Aufgabe besteht darin, in der dichten Reaktionsfolge sozialer Handlungen Diskontinuität zu erzeugen. Institutionen bilden sich am Ort dieser Unterbrechung. Sie sind auf Dauer gestellte und zum abstrakten Prinzip erhobene Figuren des Dritten: das Recht, das die Rachesistiert; der Machtstaat, der durch sein Monopol an Zwangsmitteln individuelle Gewaltanwendung unterbindet; der Souverän, der durch keine Partei im Staat angreifbar ist. Insoweit scheint, struktural betrachtet, Unterbrechung ein vergleichsweise simpler Mechanismus zu sein. Aber bei näherem Hinsehen bedarf sie einer ganzen Reihe von stützenden Narrativen, die genau an der Stelle der institutionellen Zäsur Übergänge und Verbindungen stiften. Ein Richter, ein Souverän, überhaupt jeder Repräsentant von öffentlichen Institutionen haben - jedenfalls der Idee nach - weder Freunde noch Feinde; sie sind durch ihr Amt aus dem Kontinuum des Austauschs von Freundschaftsgaben ebenso wie von Gewalttätigkeiten herausgerückt. Was versetzt sie jedoch in eine so enthobene Position? Welche Fiktionen der Trennung (etwa zwischen Amt und Person), welche Narrative der Investitur, des rite de passage, ja sogar der substanziellen Transformation sind notwendig, damit institutionelle Rollenzuschreibungen funktionieren? - Der strukturalen muss hier eine narratologische Betrachtungsweise an die Seite gestellt werden, um die ästhetische Form von Institutionen am Ort des Dritten analysieren zu können. Der Vortrag soll die soziologische Behandlung des Themas um einen literaturwissenschaftlichen Ansatz erweitern. Er bringt programmatische Überlegungen ein, die im Rahmen des 2003 eingerichteten Graduiertenkollegs 'Die Figur des Dritten' an der Universität Konstanz entwickelt worden sind." (Autorenreferat)
In: Soziologie in der Gesellschaft: Referate aus den Veranstaltungen der Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Ad-hoc-Gruppen und des Berufsverbandes Deutscher Soziologen beim 20. Deutschen Soziologentag in Bremen 1980, S. 914-920
Wie die Kunstproduktion mit der sie umgebenden Kultur verknüpft ist und wie sich beide gegenseitig beeinflussen, ist eine zentrale Fragestellung für die - nicht nur soziologisch motivierte - Kunst- und Kulturtheorie. Die Antworten des in Peru geborenen Kunstkritikers und Kulturtheoretikers Juan Acha (1916-1995) auf diese Frage machen sein Werk zu einem außerordentlichen Beitrag zu der disziplinübergreifenden Debatte um Kunstproduktion und Kultur, der im deutschsprachigen Raum bisher nicht wahrgenommen wurde. Denn Acha gibt diese Antworten vor dem Hintergrund einer präzisen Kenntnis globaler kunsttheoretischer Debatten einerseits und einer besonderen Berücksichtigung der lateinamerikanischen Situation andererseits, in der die kolonialen Grundlagen von Ökonomie und Kultur besonders betont werden. Die zentralen Thesen Achas einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen, ist das primäre Ziel dieses Textes. Der Aufsatz beansprucht darüber hinaus, über die Diskussion des Spannungsverhältnisses, das sich im Werke Acha auftut, die Relevanz seines Werkes für heutige Debatten aufzuzeigen: Es handelt sich um die Spannung zwischen einer empirisch-theoretischen Einsicht in die reproduktive Funktion von Kunst auf der einen Seite und die emanzipatorischen Hoffnungen, die auf künstlerische Praktiken zugleich und trotzdem gesetzt werden andererseits. Der Text geht in fünf Schritten vor: Erstens wird das grundlegende Plädoyer Achas für eine Soziologie der Kunst und der dabei zentrale Begriff des no-objetualismo vorgestellt. Zweitens wird die Besonderheit von Achas Ansatz gegenüber anderen, vergleichbaren theoretischen Herangehensweisen an die Kunst herausgestrichen, die in der Bedeutung liegt, die Acha dem Kolonialismus einräumt. Mit dessen analytischer Bedeutung geht die normative Hinwendung zu einer Redefinition der Kunst einher. Drittens wird Achas Fokus auf den ästhetischen Konsum nachgezeichnet und seine relationale Methode skizziert, um dann viertens näher auf das politische Engagement einzugehen. Fünftens wird der Einfluss von Achas Werkes auf andere TheoretikerInnen und auf die künstlerischen Bewegungen seiner Zeit skizziert.
Inhaltsangabe: Gewalt und Fußball stehen seit Jahrzehnten in einer wechselseitigen Beziehung. In Deutschland erreichte das Problem in den 70er und 80er Jahren besondere Brisanz, als verfeindete Hooliganmobs von Bundesligavereinen für zahlreiche Tote und Verletzte verantwortlich waren. Seitdem geht die deutsche Polizei massiv und repressiv gegen gewaltbereite Fußballfans vor. Die Sicherheitsvorkehrungen in und um die Stadien haben sich zuletzt auch im Zuge der WM 2006 massiv weiterentwickelt: Große Polizeipräsenz, Kameraüberwachung, szenekundige Beamte, Polizisten in Zivil, strikte Blocktrennung zwischen den Fanlagern, Fanprojekte und Sicherheitsbeauftragte der Vereine sollen dafür sorgen, dass der mittlerweile zum gesellschaftlichen Event hochstilisierte Profifußball nicht durch gewalttätige Exzesse einzelner instrumentalisiert wird. Doch viele aktive Fußballfans kritisieren diesen enormen Sicherheitsapparat und hinterfragen die Verhältnis- und Rechtmäßigkeit vor allem der polizeilichen Maßnahmen. Dazu häufen sich zusehends Berichte von Fanvereinigungen und Faninitiativen über ungerechtfertigte Stadionverbote, repressive Kontrollen, unrechtmäßige Speicherung von persönlichen Daten und über die Kriminalisierung friedlicher Fans. Es stellt sich die Frage: Treten die Ordnungshüter in gewissen Situationen als zusätzliche Aggressoren auf und verstärkt der Auftritt der Sicherheitskräfte das "Feindbild Polizei" auch bei nicht gewaltbereiten Fans? Die vorliegende empirisch-soziologische Untersuchung beleuchtet das Verhältnis zwischen Fans und Polizei eingehender. Sie hinterfragt, ob die massive Präsenz und das Vorgehen der Polizei im Rahmen von professionellen Fußballspielen teilweise für Aggressionen und Fangewalt in und um die deutschen Stadien mitverantwortlich sind. Sie will klären, wie es zu einer Eskalation zwischen Fans und Polizeikräften kommen kann. Dabei wird zunächst eine Definition der verschiedenen Zuschauergruppen im Fußballstadion gegeben. Es soll aufgezeigt werden, welche Arten von Fans mittlerweile Gewalt verüben. Da in den letzten Jahren eine Änderung in der Fankultur zu beobachten ist, soll besonders auf die neue Fansubkultur der "Ultras" eingegangen werden. Im Anschluss werden Theorien und phänomenologische Erklärungsansätze zur Zuschauergewalt behandelt und mit ihnen die Einflussfaktoren und Ursachen aufgezeigt, die aggressive Handlungen bei Fußballspielen bedingen können. Darüber hinaus werden einige empirische Untersuchungen zur Thematik vorgestellt und analysiert, um den Stand der Forschung deutlich zu machen. Eine Analyse von Feldforschung und qualitativer Experteninterviews soll letztlich Aufschluss geben, inwieweit das Verhältnis zwischen Fans und Polizei als "gestört" bezeichnet werden kann. Dabei werden Präventivmaßnahmen vorgestellt und deren Umsetzung in der realen Welt des sozialen Systems Fußball analysíert, um adäquate Lösungsansätze gegen die Gewalt in deutschen Stadien aufzuzeigen.
Verfügbarkeit an Ihrem Standort wird überprüft
Dieses Buch ist auch in Ihrer Bibliothek verfügbar:
Der Sammelband Disputed Memory. Emotions and Memory Politics in Central, Eastern and South Eastern Europe bietet eine Vielzahl von Fallstudien, die die Komplexität und Besonderheit der weithin umstrittenen Vergangenheiten in den Regionen aufzeigen. Der Band versucht sowohl den 'methodischen Nationalismus' als auch die Konzentration auf eine ausschließliche Repräsentation von Erinnerungen zu überwinden und dabei stärker die sozialen Kontexte in der Vermittlung und Übertragungen von Erinnerungen in den Blick zu nehmen. Ein zunächst neuer und interessanter Zugang ist der Fokus auf die Bedeutung von Emotionen in der Hervorbringung und Vermittlung von Erinnerungen sowie damit zusammenhängender Politiken. Während der Sammelband die ausgewählten transnationalen Erinnerungsbewegungen in Ost- und Südosteuropa überzeugend darstellt, verdeutlicht er bei der Erforschung von Emotionen zwar deren Bedeutung, zeigt aber kaum neue methodologische und theoretische Zugänge auf. Es wäre für den Band sicher bereichernd gewesen, soziologische wie auch geschichtswissenschaftliche Entwicklungen in der Emotionsforschung einzubeziehen und entsprechend deren Konzepte in der Erinnerungsforschung nutzbar zu machen. ; The multi- and interdisciplinary volume Disputed Memory. Emotions and Memory Politics in Central, Eastern and South-Eastern Europe provides a variety of case studies to display the complexity and specificity of disputed pasts in this region. By trying to overcome a methodological nationalism and a "representation bias" in the study of memory, the volume aims at understanding the mediation and transmission of memories in their social contexts. Furthermore, the authors integrate the role of emotions in processes of memory making and politics – at first sight a new and interesting approach. While the volume successfully displays transnational memory movements in Eastern and South-Eastern Europe, the analysis of emotions in the assembled texts could have benefitted from integrating methods and theories from the already rich sociological and historical literature on the study of emotions.
Der Beitrag diskutiert die Konzepte des doing und undoing gender. Zunächst rekonstruiert er den methodologischen Sinn der Rede von 'doing' X, die Folgeprobleme und Radikalitätsverluste des doing gender sowie dessen soziologische Ergänzungsbedürftigkeit um das Konzept des 'undoing gender'. Anschließend betrachtet er das Verhältnis von Mikro- und Makrotheorien in den Gender Studies. Dort wird der Reichweitenlimitierung des (un)doing gender-Theorems oft mit einer rhetorischen Prämodernisierung der Gesellschaft begegnet. Mikro/Makro steht in den Gender Studies für einen epistemologischen Split, durch den man die 'Geschlechter' mikrotheoretisch dekonstruiert und makrotheoretisch rekonstruiert. Dieser Split ist in den politischen Verstrickungen des Feldes begründet. Der Aufsatz plädiert für das Dritte der Geschlechterdifferenz als eine Beobachtungsposition der Post Gender Studies, von der aus sich Prozesse des Gendering und Degendering symmetrisch beobachten lassen. ; This article discusses the concepts of doing and undoing gender. First, it reconstructs the methodological sense in speaking of 'doing X', the subsequent problems for and the loss of radicalism of doing gender, and the sociological need to supplement it by the concept of 'undoing gender'. Second, the relationship between micro and macro theories in gender studies is taken into consideration. Here, the (un)doing gender theorem's limited scope is met with a rhetorical pre-modernization of society. Furthermore, micro/macro stands for an epistemological divide in gender studies, deconstructing 'genders' micro theoretically while reconstructing them macro theoretically. This divide stems from the political entanglement within the field. All told, this article makes the case for the third of gender difference as an observational position of post-gender studies from whose vantage point processes of both gendering and degendering can be viewed symmetrically.
Das Europäische Parlament ist zweifelsohne die mächtigste parlamentarische Versammlung auf supranationaler Ebene. Das provoziert die Frage, wie Entscheidungen in diesem Parlament gefällt werden und wie sie begründet werden können. Darin liegt das Hauptanliegen dieser Arbeit, die zur Beantwortung dieser Frage auf soziologische Ansätze der Erklärung sozialen Handelns zurückgreift und damit einen neuen Zugang zur Beobachtung parlamentarischen Handelns schafft. Dabei arbeitet sie heraus, wie wichtig es ist, bei der Analyse politischer Entscheidungsprozesse zu beachten, wie politische Probleme von Akteuren interpretiert und gegenüber Verhandlungspartnern dargestellt werden. An den Fallbeispielen der Entscheidungsprozesse zur Dienstleistungsrichtlinie, zur Chemikalien-Verordnung REACH und dem TDIP (CIA)-Ausschuss in der Legislaturperiode 2004–2009, wird der soziale Mechanismus dargestellt, der hinter Einigungen im Europäischen Parlament steckt. Kultur als Interpretation der Welt wird so zum Schlüssel des Verständnisses politischer Entscheidungen auf supranationaler Ebene. ; The European Parliament is the most powerful parliamentary assembly on the supranational level. However, the question of how and why decisions are being taken in this parliament has been insufficiently addressed so far. This is the main aim of this book, which draws on sociological theories for explaining social action and thus opens up a new approach to the analysis of parliamentary action. It argues that it is necessary to take into account how actors interpret political problems and how they relate to their counterparts in negotiations. In three case studies on decision-making processes in the 6th European Parliament between 2004 and 2009 - Services Directive, REACH and the TDIP (CIA-)committee – the study reconstructs the social mechanism behind compromise in the EP. Culture as the way actors attach meaning to the world is the key to understanding political decisions on the supranational level.
Zwei Jahre nach Erscheinen seiner mathematisch verfassten Arbeit "KYBERNETIK, oder Regelung und Kommunikation bei Tier und Maschine" veröffentliche Norbert Wiener auf Drängen einiger Freunde ein weiteres Buch, das seine Theorien auch Laien zugänglich machen sollte. In diesem zweiten Buch verschwinden alle mathematischen Zeichen, dafür werden von Wiener die sozialen Folgen der Kybernetik herausgearbeitet. Das neue Buch trägt im Original den Titel "The Human Use of Human Beings (Cybernetics and Society)". Die deutsche Übersetzung verzichtet auf den gesellschaftlichen Anspruch und titelt schlicht "Mensch und Menschmaschine". Wiener macht deutlich, dass durch das neue Maschinenzeitalter »die unmittelbare Zukunft der menschlichen Gesellschaft von düsteren Gefahren umgeben ist und wir unseren Kurs anhand von Seekarten der Fortschrittsidee verfolgen, auf denen die drohenden Untiefen nicht verzeichnet sind«. Auch wenn die Gefahren heute andere sind als 1950, so sind doch die Seekarten nach denen Politik und Wirtschaft in Bezug auf die Technik navigieren die alten. Und Wieners Frage »Was sollen wir nun in dieser Lage tun?« ist ohnehin zeitlos. Im Bewusstsein der Gefahr, leicht in die Nähe alter ideologischer Fahrwasser der Kybernetik zu geraten oder verschrobenen Phantasien nachzuhängen ganze Gesellschaften ließen sich als riesiger Homöostat modellieren und simulieren, soll im Rahmen eines kleinen Workshops im Juli 2013 trotzdem erneut die Frage gestellt werden, was das Zusammendenken von Kybernetik und Gesellschaft in der aktuellen Problemlage leisten könnte. Können kybernetische Begriffe und damit verbundene Methoden wie Feedback, Blackbox, Information, Homöostase, blinder Fleck, Selbstreferenz, Selbstorganisation, Autonomie, strukturelle Kopplung und Autopoiese überhaupt etwas zum Verständnis sozialer Strukturen beitragen? Die Kybernetik ist mathematisch und abstrakt. Wo bleiben die Werte, nach denen eine Gesellschaft sich ausrichtet? Liegen diese nicht immer jenseits systemtheoretischer Möglichkeiten? Ist es vielleicht trotzdem möglich, Orientierungshilfen auf den abstrakten Fundamenten neuerer kybernetischer Erkenntnisse zu gründen? Warum soll es nicht wenigstens kybernetisch--‐motivierte Handlungsstrategien geben, die sich in vernetzten Sozialstrukturen als überaus brauchbar erweisen? Was taugt zum Beispiel Luhmanns soziologische Systemtheorie als Bedienungsanleitung? Oder lassen sich Gesellschaftsdynamiken grundsätzlich nicht vollständig modellieren? Der folgende Text stellt keine Antworten vor, sondern versucht zunächst aus subjektiver Perspektive die Problemlage zu umreißen.