In der Studie werden Ursachen und Folgen von eugenischen Eingriffen in die reproduktive Kultur unserer Gesellschaft durch die Medizin des zwanzigsten Jahrhunderts untersucht. Wissenschaftliche Eingriffe, welche an der Wende zum 21. Jahrhundert biotechnische Selektionen am Lebensbeginn gesellschaftsfähig und zur Aufgabe von Familienbildung gemacht haben. Erkenntnisleitendes Interesse der Studie ist es, normative Idealbilder von Familie, Mutterschaft, Vaterschaft und Kindheit, welche die eugenischen Eingriffe in die gesellschaftliche Organisation der "Reproduktion der Gattung" durch die Medizin hervorgebracht haben, einer geschlechtersensiblen Analyse zu unterziehen und transparent zu machen, wie diese Idealbilder einerseits in die Entwicklung von Biotechniken der Zeugung und Selektion eingearbeitet wurden und wie diese Techniken andererseits wiederum die Familienbildung selbst beeinflussen. Diese Frage wird vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen analysiert, die den Aufstieg einer eugenischen Vernunft im 20. Jahrhundert begleiteten und möglich machten. Materiale Grundlage der Analyse sind medizinische Fachartikel der "Wiener Klinischen Wochenschrift" der Jahrgänge 1900 - 2000, die im Rahmen eines von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) durch ein APART-Stipendium finanziertes Forschungsprojekt erhoben und diskursanalytisch untersucht wurden. Die Untersuchung vermag zu zeigen, welche innerfamiliären Geschlechter- und Generationskonzepte den eugenischen Idealbildern inhärent sind, welche gesellschaftlichen Transformationsprozesse in diese Idealbilder eingearbeitet wurden, wie und wozu Elternschaft und Kindheit naturwissenschaftlich rationalisiert und modernisiert wurden, mit welchen Anforderungen an eine gelingende Erziehung und Bildung Eltern dadurch in den letzten Jahrzehnten zunehmend konfrontiert werden, welche Pflichten im Namen des Kindeswohls daraus für Mütter hervorgehen, weshalb und wozu biotechnische Selektion am Lebensbeginn heute eine allgemeine Einflussgröße von Mutterschaft und Kindheit darstellt und dass die reproduktive Kultur unserer Gesellschaft heute von einer eugenischen Vernunft durchzogen ist. Mit der Forschungsarbeit wird eine weitere Dimension des eugenischen Mainstreams erschlossen, in dem der Focus konsequent auf die wissenschaftliche Neuordnung des gesamten Reproduktionszusammenhanges gesetzt und die Verwissenschaftlichung der reproduktiven Kultur im Kontext der Sozialgeschichte und sozialpolitischen Geschichte Österreichs im zwanzigsten Jahrhundert aufgearbeitet wird. Mit dem wissenschaftssoziologischen und -historischen Zugang zum Forschungsgegenstand wird zudem am Beispiel von (Bio-)Medizin und bio(medizinischen) Techniken der Zeugung und Selektion eine profunde exemplarische Wissenschaftskritik ausgearbeitet, die Wissenschaft in ihren kulturellen und politischen Verstrickungen als eine Bastion hegemonialer Männlichkeit deutlich macht und den Zusammenhang von Wissenschaft und Verantwortlichkeit einmahnt. ; This is a study about the causes and consequences of the eurgenic intrusions into our society´s reproductive culture by medicine over the course of the twentieth century. By the turn of the twenty-first century, such scientific intrusions through biotechnological selection at the very beginning of a human´s life have become socially acceptable and part of the task of family planning. Of intrinsic interest is the goal of subjecting the normative ideal images of family, motherhood, fatherhood and childhood - which through medical science have advanced eugenic intrusions into the social organization of the species "reproduction" - to a gender-sensitive analysis. This study also highlights how these ideal images are integrated into the development of the biotechnologies of conception and selection, and how these technologies in turn influence familiy planning. The issue are analyzed against the background of social and scientific developments which accompanied and made possible the rise of eugenic rationality in the twentieth century. The sources used for this analysis are medial studies published in the journal Wiener Klinische Wochenschrift between 1900 and 2000; the methodology applied is discourse analysis. The project was financed by a research grant (APART) under the auspices of the Austrian Academy of Science (ÖAW). This research demonstrates: which concepts of gender and generation within the families are inherent to the eugenic ideal images; which social transformation processes were integrated into these ideal images; how and why parenthood and childhood were scientiffically rationalized and modernized; the demands which have increasingly confronted parents over the past decades as regards successful instruction and education; the duties which emanated in the namen of the child´s well-being; and the reasons for which biotechnological selection at the very beginning of human life currently has a sweeping influence on motherhood and childhood. Finally, the study demonstrates that the existing reproductive culture in our society is infused by eugenic rationality. A further investigative dimension of the eugenic mainstream is also developed by virtue of the approach in which the focus consistently points to the scientific reorganization of the entire context of reproduction. And by virture of which the scientification of the reproductive culture is examined and analyzed by contextualizing Austria´s twentieth-century social and socio-political history. In addition, a profound and exemplary critiqu of science is elaborated by employing the approaches of the sociology of science as well as the history of science and drawing upon the Austrian example of (bio)medicine and bio(medical) technologies of conception and selection. Science is presented in its cultural and political entanglement as a bastion of hegemonic masculinity, staking a claim to the connection between science and responsibility.
Inhaltsangabe: Ich beschäftige mich im Rahmen dieser Arbeit mit der Theoretisierung und Erklärung gewalttätigen Handelns an Beispielen dreier neuer religiöser Bewegungen (NRB) der 90er Jahre. Anhand der Gruppen Aum Shinrikyo, dem Orden des Sonnentempels sowie der Bewegung "Heaven's Gate" wird der Entstehungskontext gewalttätiger Episoden und Verhaltensmuster untersucht, wobei der Fokus bei der Beantwortung der Frage nach den Ursachen der Gewalt maßgeblich auf der Interaktion von internen und externen Faktoren liegt. Dabei soll erstens geklärt werden, welcher Stellenwert den verschiedenen bedingenden Ursachen zukommt, sowie zweitens auf welche Weise der Interaktionsprozess zwischen NRB und sozialer Umwelt bei der Entstehung eskalierender Dynamiken beteiligt ist. Ich gehe in diesem Zusammenhang von der Annahme aus, dass die Gewalt im Kontext NRB einerseits aus dem Zusammenspiel verschiedener, sich gegenseitig verstärkender Faktoren resultiert, der Prozess der Zuspitzung der Gewalt jedoch andererseits immer einen realen oder imaginären Konflikt zwischen NRB und sozialer Umwelt mit einschließt. Von Relevanz sind in diesem Kontext alle die gewaltsamen Handlungen, bei denen es sich um kollektive relationale Akte handelt, die in einer kausalen Beziehung zur jeweiligen Bewegung oder Kontrollinstanz stehen und welche durch die Bezugnahme auf ideologische Motive legitimiert werden. Die Arbeit gliedert sich demnach in einen theoretischen und einen empirischen Teil, wobei sich die ersten drei Abschnitte des theoretischen Teils mit der Analyse einzelner Ursachen beschäftigen. Zuerst werde ich dabei auf die Rolle apokalyptischer Ideologien, als Voraussetzung für die Entstehung von gewaltsamen Eskalationsprozessen, eingehen und mich anschließend mit dem Stellenwert charismatischer Herrschaftsformen auseinandersetzen. Anschließend sollen die Auswirkungen organisatorischer Merkmale, beispielsweise soziale Isolation und totalitäre Organisation, behandelt werden, um dann im vierten Abschnitt mit der Verknüpfung der einzelnen Faktoren zu beginnen. Hier werden die bereits untersuchten Einzelursachen anhand zweier Modelle mit externen Faktoren in Beziehung gesetzt und verschiedene dynamische Szenarien der gewaltsamen Eskalation identifiziert. Im Anschluss daran wird versucht, die gewonnenen Erkenntnisse im empirischen Teil auf die drei genannten Bewegungen anzuwenden, wobei hier eine besondere Betonung auf die relevanten Mechanismen der Zuspitzung von Konflikten sowie auf die Verflechtung interner und externer Faktoren gelegt wird. Hinsichtlich ihres Entstehungskontexts sind die NRB eng mit den in den 60er Jahren vorherrschenden gegenkulturellen Strömungen in der westlichen Welt verknüpft und kamen der Öffentlichkeit erstmals Ende der 60er Jahre als neuartige Form der religiösen Praxis zu Bewusstsein. Die USA boten dabei sehr gute Bedingungen für die Entstehung religiöser Gemeinschaften, weshalb sich dort anfangs die meisten Bewegungen entwickelten. Das Phänomen NRB blieb jedoch nicht nur auf Nordamerika beschränkt, sondern breitete sich bald über Großbritannien nach Europa aus und später auf eine Vielzahl von Ländern auf allen Kontinenten. Als Resultat der zunehmenden Präsenz der NRB im öffentlichen Raum und ihrem Erfolg bei der Rekrutierung von Mitgliedern formten sich zu Beginn der 70er Jahre erste Anti-Kult-Gruppen, die sich zum Teil mit Repräsentanten der sozialen Ordnung verbündeten und ein stereotypes Bild religiöser Indoktrination zeichneten. Diese Allianzen forcierten ein Modell zur Erklärung der Aktivitäten NRB, welches um die Begriffe "Brainwashing" und "Coercive Persuasion" zentriert war, gegenkulturelle Bewegungen abwertend als "Kult" stigmatisierte und in der Folgezeit maßgeblich das öffentliche Bewusstsein prägte. Anfang der 70er Jahre begann außerdem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld, und es entstanden vielfältige Ansätze zur Klassifizierung, Interpretation und Erklärung von Prozessen, die mit der Entwicklung und den Aktivitäten der NRB verbunden waren. Ende der 70er Jahre, nach den Morden der Manson Familie 1969 und dem kollektiven Suizid des Volkstempels 1978, wurden diese Aspekte darüber hinaus um eine weitere Facette ergänzt, indem nun auch die Beziehung zwischen NRB und Gewalt im wissenschaftlichen Rahmen diskutiert wurde. Bis zum Beginn der 90er Jahre hatten sich jedoch nur wenige Fälle massiver Gewalt im Kontext NRB ereignet, doch dieser Sachverhalt änderte sich in den 90er Jahren und führte zu einer Fülle unterschiedlicher Ansätze zur Erklärung gewaltsamer Eskalationsprozesse. In der ersten Zeit der Theoriebildung wandte sich das Interesse vor allem der Analyse einzelner Faktoren zu; in den 80ern und 90ern begann dann die Verknüpfung selbiger zu Interpretationsmodellen, welche verstärkt auf die interaktive Dynamik der Beziehung zwischen NRB und sozialer Ordnung Bezug nahmen. Obwohl diese marginalen religiösen Gruppen aufgrund ihrer Charakteristika von verschiedenen Seiten oft als instabil eingestuft werden und ihnen im Allgemeinen eine grundsätzliche Affinität zur Gewalt unterstellt wird, ist es notwendig, die Annahme einer intrinsischen Beziehung zwischen NRB und Gewalt prinzipiell in Frage zu stellen. Ganz abgesehen davon, dass die allermeisten dieser Gemeinschaften sich in der Ausübung ihrer spirituellen Absichten keineswegs gewaltsamer Mittel bedienen, lassen sich darüber hinaus bei genauer Betrachtung kaum Evidenzen für die populäre Auffassung finden, dass marginale religiöse Gruppen eine stärkere Neigung zur Gewalt aufweisen als etablierte Religionen. Der Eindruck einer quantitativen und qualitativen Steigerung gewaltsamer Konflikte im Kontext NRB liegt daher einerseits in der zahlenmäßigen Zunahme relevanter Gruppen begründet und reflektiert darüber hinaus die historische Entwicklung des Verhältnisses zwischen sozialer Ordnung und NRB. "The few cases of violent episodes need to be interpreted in the context of the relatively large number and rapid growth of new movements". Ein weiterer Grund, weshalb man vorsichtig sein sollte NRB generell mit Gewalt in Verbindung zu bringen, ergibt sich aus den möglichen Szenarien des Verlaufs eines gewaltsamen Konfliktes. Es existieren nur einige wenige Fälle, in denen die Gewalt von NRB ausging, und es ist weitaus wahrscheinlicher, dass Gruppen das Ziel von äußerer Aggression und Provokation werden. In den diesbezüglich relevanten Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte zeigte sich darüber hinaus eine wachsende Distanz zwischen der hegemonialen Ordnung und den betroffenen Bewegungen, worin sich unter anderem tiefliegende Konflikte über die Legitimität sozialer und kultureller Prozesse widerspiegelten. Da sich solche Auseinandersetzungen nicht in einem sozialen Vakuum ereignen, besteht überdies eine logische Verbindung zwischen den gewalttätigen Episoden verschiedener NRB, indem der Verlauf von und die Reaktionen auf Konflikte maßgeblich vom Ausgang zeitlich früherer Auseinandersetzungen mitbeeinflusst wird. Die 90er Jahre, besonders die Zeit nach der Waco-Tragödie im Frühjahr 1993, müssen aus diesem Grund als Phase erhöhter Sensibilität auf beiden Seiten betrachtet werden. Darüber hinaus ist diskutabel, was Charakteristika NRB sind, und in welcher Hinsicht diese als etwas qualitativ Neues aufgefasst werden können. Der Begriff ist nicht streng von anderen Konzepten abgegrenzt, wird jedoch im Allgemeinen auf marginale religiöse Gruppen angewendet, die seit den 60er Jahren in den westlichen Gesellschaften entstanden sind, Merkmale sozialer Bewegungen aufweisen und sich verhältnismäßig unkonventioneller Formen religiöser Organisation bedienen. Obwohl viele Gemeinschaften, die heutzutage unter diesem Ausdruck zusammengefasst werden, schon erheblich früher gegründet wurden und sich teilweise auf Traditionen berufen, die weit in die Vergangenheit hineinreichen, besteht das qualitativ Neue an selbigen vorwiegend in der Art und Weise, wie sie Ideen und Elemente der traditionellen religiösen Praxis miteinander kombinieren. Neu ist auch das öffentliche Auftreten derselben, die Formen der Opposition, mit welchen sie sich konfrontiert sehen, sowie die Aufmerksamkeit, die ihnen von wissenschaftlicher Seite entgegengebracht wird.
Die (Wieder-)Nutzung auf Schwerkraft basierender Fördertechniken, die insbesondere durch das niedrige Energiepreisniveau in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg in der Tagebautechnik nahezu vollständig verdrängt wurden, ist bei den heutigen wirtschaftlichen Randbedingungen und anzustrebenden ökologischen Standards eine Herausforderung für die bergbautreibende Industrie. Seit Aufnahme der Entwicklung des Förderkonzeptes – Geführte Versturztechnik – Mitte der 1990er Jahre haben sich die Kosten für Rohöl vor Steuern nach dem Tiefstand um das Jahr 1998 bis heute mehr als verdreifacht, alleine seit 2004 mehr als verdoppelt. Gesetzliche Regelwerke wie die europäische IVU-Richtlinie 96/61/EG zur "integrierten Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung" fordern, Genehmigungen nur noch bei Einsatz der besten verfügbaren Techniken (BVT oder BAT: "best available techniques") zu erteilen. Die Umsetzung in nationale Vorschriften wie das Bundes-Immissionsschutzgesetz und nachgeordnete Regelwerke fordern hierauf aufbauend, dass Umweltbelastungen nicht in andere Medien verlagert werden dürfen. Die Anordnung einer Versturzrinne zur Nutzung von Massenschwerebewegungen am Beispiel von Quarzitabbau im Rheinischen Schiefergebirge bei denen die Förderbezugsebene unterhalb der Strossen liegt, die zur sichern und selektiven Gewinnung des Rohstoffs aufgefahren werden müssen, erfüllt durch Rückgriff auf ein vermeintlich "archaisches" Förderkonzept durch Nutzung der Schwerkraft die obigen Anforderungen. Offenkundige Umweltbelastungen, die alleine durch die Verbrennung von Dieselkraftstoff und hieraus resultierender Schadstoff- und Wärmeeinträge in die Luft beim verbreiteten Einsatz von SLKW zur Abwärtsförderung entstehen, können erheblich vermindert werden. Der Aspekt der Betriebssicherheit einer solchen Anordnung kann durch Auffahren eines geradlinigen Bauwerks mit an das Fördergut angepassten Dimensionen sowie Einrichtungen zur Beschränkung der kinetischen Energie erreicht werden. Diese stellen auch gleichzeitig sicher, dass die Zerkleinerung des durch die Versturzrinne abwärts transportierten Materials betrieblich zulässige Grenzen nicht überschreitet. Hierfür kann auf das umfangreiche Wissen zu Massenschwerebewegungen Rückgriff genommen werden. Dem Aspekt des Umweltschutzes, der sich in Bezug auf das Medium Luft auf den autochtonen Staub reduziert, kann durch Vorrichtungen zur Staubniederschlagung Rechnung getragen werden. Vertiefende Untersuchungen sind erforderlich, um die mit komplexen, aber erprobten Techniken arbeitende Tagebauindustrie auch in dicht besiedelten Regionen wieder an die Nutzung von Schwerkraft (-gestützten) Fördertechniken heranzuführen. Auch das Konzept – Geführte Versturztechnik – ist auf konkrete Anwendungsfälle hin in Details anzupassen. ; The use of gravity based conveying methods in opencast mining were abandoned in the first five decades after the 2nd World War due to low energy prices. In today's economic conditions these transport systems should be reconsidered as they provide both a cost effective and ecologically friendly solution for the mining industry. Considerable savings have been obtained by creating a mass movement based rock pass (artificial gully), to move material downwards in an opencast mining environment in the mid 1990s. This is mainly because pre tax Crude Oil prices trebled in 1998 and further doubled since 2004. This trend in oil prices is not expected to abate in the foreseeable future. New European environmental legislation such as the IPPC-Directive 96/61/EG (Integrated Pollution Prevention and Control) demanded that new permits should only be issued if Best Available Techniques (BAT) and Best Environmental Practices (BEP) were applied. These rules were transformed into national guidelines (i.e. the German Federal Emission Control Act). These laws and other regulations require that environmental impact must not be transferred from one environmental media to another. The implementation of a surface rock pass for the use of mass movement in quartzite quarries located in the Rhenish Schist Mountains fulfils the requirement of the above mentioned regulations. To maintain a constant quality, it is necessary to perform selective mining and to have access to the ore pass at each level. The evident environmental impacts which originate from the combustion of diesel as well as dust development by the widespread application of trucks used for downhill transport can thus be decreased considerably. The operational safety of a rock pass arrangement can be secured by the development of a linear gully with dimensions adjusted to the size of the rock material that is conveyed, together with facilities to control the kinetic energy of the falling material. At the same time, these will also assure that the comminution of the rock material does not exceed operational limits. To achieve these conditions, the extensive knowledge of mass gravity movement and impact crushing need to be applied. The aspect of environmental protection (in this case only the autochthonous dust suspended in the air) can be taken into account by using facilities for dust suppression. The open-pit mining industry, which is usually working with complex, but proven technologies, also in densely populated regions, needs more intensive research about the use of gravity based transport technologies. The concept of an artificial gully will have to be optimised in detail for each individual case.
Inhaltsangabe: Diese Arbeit nimmt den Umstand zu ihrem Ausgangspunkt, dass der arbeitsoziologische Diskurs um die Thematik "Subjektivierung von Arbeit" bislang ohne fundierte Theorie des Subjekts bzw. der Subjektivität arbeitet. Dabei unterteilt sie den Gesamtdiskurs zunächst in einzelne Teildiskurse und fragt jeweils nach Unzulänglichkeiten und Aporien, welche sich aus diesem Mangel ergeben. Im Anschluss daran versucht sie aus den Arbeiten des französischen Poststrukturalisten Michel Foucault eine theoretische Skizze zu entwickeln, welche dazu dienen soll, die konzeptionellen Lücken zu schließen. Diese spannt sich über die begrifflichen Eckpfeiler Macht, Selbst und Gouvernementalität. Am Ende wird die gewonnene Betrachtungsweise wieder auf den Diskurs bezogen. Problemstellung: Die sich mit Arbeit befassenden kritischen Sozialwissenschaften erleben, so scheint es, zurzeit eine Art von Umbruch: Über Jahrzehnte hinweg hatten zahlreiche Theorien unterschiedlichster Couleur einen gemeinsamen Fluchtpunkt; ja teilweise lässt sich fast sagen einen gemeinsamen Klienten, als dessen Anwalt sie, implizit oder expliziert, agierten: das Subjekt. Dieses Konstrukt bezeichnete dabei gewissermaßen das Individuum als sich in einem Spannungsfeld befindlich gedachtes: Auf der einen Seite standen seine spezifischen Eigenschaften als Exemplar der Gattung "Mensch", also seine Fähigkeit zu Fortschritt durch Erkenntnis sowie seine Dispositionen und Intentionen in Bezug auf Denken und Handeln; auf der anderen Seite seine Geformtheit durch kulturelle und soziale Einfluss. Grund zur Beunruhigung war dabei zumeist, dass bestimmte moderne Organisationsweisen den Charakter von Arbeit so bestimmten, dass Zweites das Erstere überformte oder vollständig unterdrückte. Sämtliche Theorien, welche in irgendeiner Weise auf das Konzept der "Entfremdung" verweisen, können hier als beispielhaft gesehen werden. Seit Beginn der neunziger Jahre des letzen Jahrhunderts ist nun zu beobachten, wie all diese Konzeptionen zunehmend in eine Art von Krise geraten. Der Grund dafür liegt hier hauptsächlich im zunehmenden Zurückweichen eines bestimmten Organisationsparadigmas, welche über einen immensen Zeitraum hinweg die Struktur von Arbeit im Kapitalismus prägte: der Taylorismus. Im tayloristischen Paradigma war die Subjektivität des Individuums stets als Störgröße definiert, welche es über hierarchische Kontroll- und Anweisungsstrukturen stets auszuschalten oder zumindest beherrschbar zu machen galt. Die Frage, inwieweit Organisationsweisen von Arbeit das arbeitende Individuum dazu befähigen "sich selbst", also seine eigene Subjektivität, in die Arbeit einzubringen oder eben dies behinderten, galt in der sozialwissenschaftlichen Theorie so als Indikator für den Grad der humanen Gestaltung der Arbeit, bzw. zeigte an, inwiefern der Mensch durch seine Arbeit seiner eigentlichen Natur fremd wurde. Eine derartige Denk- und Forschungslogik scheint nun unter posttayloristischen Vorzeichen nicht länger angebracht: Der ehemalige Störfaktor "Subjektivität" erhält unter den Bedingungen von dynamisierten (globalisierten) Märkten, die gleichzeitig innovative Flexibilität und ökonomische Effizienz fordern, und der wachsenden Bedeutung des Produktionsfaktors Wissen, zunehmend den Status einer ökonomischen Ressource. In der Praxis bedeutet dies, dass betriebliche Organisationsweisen zunehmend nun geradezu darauf ausgerichtet werden, subjektive Potentiale, wie Kreativität, Eigeninitiative, Emotionalität und erfahrungsbasiertes Wissen, zu fördern, um diese dann ökonomisch nutzbar machen zu können. Diese Verschiebung reflektiert die Industriesoziologie derzeitig im Rahmen eines fachlichen Diskurses, der den Namen "Subjektivierung von Arbeit" trägt. Diesen Diskurs begleitet jedoch bis zum heutigen Tage ein Problem: Unter seinem Label werden derzeit in der Literatur zahlreiche heterogene Arbeiten zusammengefasst, welche den kleinsten gemeinsamen Nenner besitzen, in irgendeiner Weise den Wandel der Anforderungen an das Individuum im Wechselverhältnis zwischen Person und Betrieb in Arbeitsprozessen zu untersuchen, und dabei eine Verschiebung zu Lasten des Individuums zu konstatieren. Konkrete Befunde entstehen dabei, explizit oder implizit, vor den unterschiedlichsten theoretischen Hintergründen: Von am Marxismus orientierter Kritik über handlungstheoretische Zugänge bis hin zu psychoanalytischen Ansätzen, um nur einige Beispiele zu nennen, stößt man auf ein immens breites Ensemble von Zugangsweisen. Entsprechend unterschiedlich sind die entwickelten Forschungskonzepte, und entsprechend divergent stellen sich die Ergebnisse hinsichtlich brisanter Fragestellungen, wie beispielsweise die nach den Ursachen des Prozesses, der Auswirkungen auf das arbeitende Subjekt, der mikro- und makrosozialen Folgen, der angemessenen Strategie des Widerstandes usw. dar. Obgleich Multiperspektivität in einer Wissenschaft an sich kein Nachteil sein muss und sein sollte, erweisen sich Befunde und Handlungsempfehlungen aus diesem Grunde oftmals als schwer vergleichbar und existieren daher meist ohne gegenseitigen Bezug nebeneinander her. Was dem Diskurs um "Subjektivierung von Arbeit" letztendlich fehlt, ist also eine konkrete Theorie der Subjektivierung, bzw. des Subjektes, welcher hier gewissermaßen als geteilter Horizont dienen könnte. Diese Arbeit soll nun als ein Versuch gelesen werden, diese konzeptionelle Lücke zu schließen. Sie verfolgt letztendlich das Ziel, den arbeitssoziologischen Diskurs um die Thematik "Subjektivierung von Arbeit" in theoretisch zu unterfüttern. Dies geschieht in Form der Erarbeitung einer Konzeption von "Subjektivierung", welche sich konsequent auf die Arbeiten des französischen Poststrukturalisten Michel Foucault sowie deren Rezeptionen und Weiterentwicklungen bezieht. Die Entscheidung für gerade diesen Theoretiker liegt dabei vorrangig in der Tatsache begründet, dass zahlreiche aktuelle wissenschaftliche Arbeiten hier bereits auf mögliche Verbindungslinien verweisen; in ihrem Erkenntnisanspruch jedoch stets auf einen jeweils spezifischen Aspekt beschränkt bleiben. Diese Arbeit erhebt also auch den Anspruch, diesem fragmentiertem Bild ein holistisches entgegensetzen zu wollen. Gang der Untersuchung: Die Arbeit lässt sich grob in zwei Hauptschritte untergliedern: Der erste Schritt besteht in einer systematisierenden Darstellung des (neueren) arbeitssoziologischen Diskurses um die Thematik "Subjektivierung von Arbeit". Dabei wird dieser zunächst in Teildiskurse aufgeschlüsselt, d.h. innerhalb des Diskurses werden verschiedene Diskussionsstränge identifiziert und in Abhängigkeit von ihrem speziellen diskursiven Fokus (beispielsweise Führungstechniken) voneinander abgegrenzt. Aus jedem Teildiskurs werden dann jeweils ausgewählte Forschungsbeiträge einzeln zusammenfassend dargestellt. Mit dieser Vorgehensweise werden zwei grundlegende Ziele verfolgt: Auf der einen Seite soll ein möglichst breit gefächerter Überblick über das Bestehende generiert werden, welcher es dem Leser ermöglicht, einen tiefgründigen Einblick in die Thematik zu gewinnen; auf der anderen Seite soll der Diskurs in eine Form gebracht werden, in welcher es möglich wird, kontrastierende Vergleiche anzustellen, um auf diese Weise gewisse Stellen als systematische Mängel zu identifizieren, welche das Erkenntnispotential derzeitig einschränken. Des Weiteren soll auf diese Weise Anschlussfähigkeit für das theoretische Instrumentarium Foucaults; seine Sprache, sein Denken; generiert werden. Im zweiten Schritt kommt schließlich Foucault selbst ins Spiel: Auf der Basis von ausgewählter Primär- und Sekundärliteratur soll dort der Vorschlag für eine Konzeption von "Subjektivierung" erarbeitet werden, welche dem Diskurs um "Subjektivierung von Arbeit" als subjekttheoretisches Fundament dienen könnte. Dabei wird der Leser zunächst ausführlich in Foucaults spezifische Denkweise eingeführt , indem ausgehend vom fundamentalen Begriff der "Macht" elementare Konzepte wie "Wissen" oder "Diskurs" vorgestellt werden. Ausgehend von dieser Grundlage, wird es dann möglich sein, eine spezifische Perspektive der Subjektivität einzuführen, und diese im Anschluss aus verschieden Blickwinkeln auf ihre Implikationen zu befragen. Im letzen Teil dieses Abschnittes wird mit dem Konzept der "Gouvernementalität" schließlich ein Analyseinstrument vorgestellt, welches es erlaubt, das Phänomen der "Subjektivierung" von Arbeit als Effekt einer tiefer liegenden und umfassenderen Rationalität zu begreifen, welche derzeitig im Begriff ist, die gesamte Gestalt unserer Gegenwart zu transformieren: dem Neoliberalismus. Im letzten Abschnitt daran wird schließlich erörtert werden, inwieweit das zuvor gewonnene theoretische Gerüst dazu in der Lage ist, die im ersten Schritt aufgezeigten konzeptionellen Lücken des arbeitssoziologischen Diskurses zu schließen. Dabei werde ich mich erneut entlang der zuvor spezifizierten Teildiskurse orientieren.
Aus der Einleitung: Die Bewältigung der deutschen Vergangenheit ist ein Thema, das Menschen deutscher Nationalität seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr losgelassen hat. Bis heute noch wirft die Zeit von 1933 bis 1945 dunkle Schatten auf uns, die wir immer noch nicht wissen, wie mit dieser Bürde von damals heute umzugehen ist. 'Bewältigung' wird häufig gefordert ohne jedoch zu definieren, was damit gemeint sein könnte – 'Verdrängung' ist wohl das, was man eigentlich wünscht, was auch in den letzten Jahrzehnten häufig so praktiziert wurde. Die Deutschen gehen verschwörerisch mit dem um, das ihre Geschichte, ihre nationale Identität und ihr Bild nach außen so nachhaltig veränderte. Verunsichert wohl auch, belastet durch eine Schuld, die heute nicht mehr ihre Schuld ist und dennoch weiterhin auf ihren Schultern lastet. Die unvorstellbaren Grauen des Nationalsozialismus haben in der Zeit danach eine Hilflosigkeit ausgelöst, die bis zum heutigen Tage anhält und in der Vergangenheit oft zu einer falschen Tabuisierung des Themas führte. Wie sollte man auch umgehen mit einer Schuld wie dieser? Wer sollte einem dafür jemals die Absolution erteilen? Wann durfte man zur "Normalität" zurückkehren oder darf man es überhaupt jemals? Bis heute stehen wir vor diesem Problem, auch wenn viele es gerne übersehen oder verleugnen möchten. Spätestens wenn unser derzeitiger Bundespräsident Horst Köhler vor der Knesseth, dem israelischen Parlament, eine Rede halten soll, und es stellt sich die Frage, ob diese in deutscher Sprache, der Sprache des Tätervolkes, gehalten werden darf, kann man nicht mehr die Augen davor verschließen, dass die Zeit des Nationalsozialismus immer noch dunkle Schatten auf uns wirft. Horst Köhler hat meiner Meinung nach einen sehr klugen und sehr mutigen Weg gewählt, indem er die Abgeordneten des Parlamentes in hebräischer Sprache begrüßte und den Rest seiner Rede in Deutsch hielt. Bei der Begegnung unterschiedlicher Kulturen spielen Stereotype immer eine entscheidende Rolle – keine positive, aber eine, die man nicht ignorieren kann. "Bei der interkulturellen Begegnung tritt jeder Beteiligte seinem Partner mit vorgeprägten Vorstellungen und Einstellungen gegenüber. Fast immer sind bereits bestimmte Images, Einstellungen, Stereotype und Vorurteile vorhanden; und sie bestimmen im hohem Maße mit, wie im konkreten Fall die Prozesse der Interkulturellen Kommunikation und Interaktion verlaufen." Wie Maletzke außerdem schreibt, gibt es neben den Stereotypen von fremden Gruppen, den sogenannten Heterostereotypen, und denen von der eigenen Gruppe, den sogenannten Autostereotypen, auch noch stereotype Vorstellungen davon, welche Bilder andere Menschen von mir als Angehörigen einer bestimmten Gruppen haben. Wenn ich also als Deutscher - zum Beispiel bei einer Auslandsreise - auf einen Menschen anderer Nationalität treffe, muss ich mir darüber bewusst sein, dass nicht nur das eigene Stereotyp von der anderen Person vorhanden ist, sondern auch bei dieser ein stereotypes deutsches Bild von mir selbst. Zusätzlich habe ich auch noch eine festgelegte Vorstellung darüber, was die andere Person wahrscheinlich über mich denkt, weil sie eben weiß, dass ich Deutsche/r bin. Auf Grundlage dieser Überlegung müsste ein Interkulturelles Training eigentlich damit beginnen, vor der Interaktion mit anderen Kulturen zunächst die Wirkung der eigenen Kultur zu lehren. Bevor sich jemand in eine Interkulturelle Begegnung begibt, müsste er sich vorher nicht nur der Beeinflussung der eigenen Wahrnehmung durch seine Kultur, also seines Ethnozentrismus, bewusst sein, sondern auch des Bildes, das er glaubt, durch seine Nationalität in seinem Gegenüber zu erzeugen. Basierend auf diesen Vorüberlegungen wollte ich in der vorliegenden Arbeit den langen Weg nachzeichnen, den die Deutschen in den letzten 60 Jahren gegangen sind, um sich langsam dem zu nähern, das man vielleicht irgendwann als Bewältigung der Vergangenheit bezeichnen kann. Außerdem versuchte ich, durch Recherche in ausländischen Medien und eine empirische Untersuchung herauszufinden, inwieweit das Stereotyp des Nationalsozialismus heute noch das deutsche Bild prägt. Wie sind die Deutschen in den letzten Jahrzehnten mit ihrer belastenden Vergangenheit umgegangen? Haben sie ihren Weg zwischen Verdrängung, Konfrontation, Tabuisierung und offenem Umgang mit diesem Thema gefunden? Wie hat sich das Selbstverständnis in dieser Zeit verändert und wie sieht es heute aus? Und welches Bild haben Angehörige anderer Nationen, insbesondere Briten, Franzosen und US-Amerikaner als ehemalige Besatzungsmächte, von uns? Durch welche Faktoren wird es beeinflusst? Spielt der Nationalsozialismus immer noch so eine entscheidende Rolle? Wie weit weicht also das Stereotyp, das wir glauben darzustellen, von dem ab, was andere Länder wirklich von uns haben? Diesen Fragestellungen galt mein besonderes Interesse! Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung4 1.1Die Bewältigung der deutschen Vergangenheit4 1.2Das Stereotyp in der Interkulturellen Begegnung5 1.3Nationalsozialismus als deutsches Stereotyp6 2.Das Trauma der deutschen Vergangenheit6 2.11945 – Die Stunde Null6 2.1.1Einleitung6 2.1.2Die Stunde Null7 2.1.3Entnazifizierung9 2.1.4Heimkehrerschicksal12 2.1.5Verantwortung14 2.1.6Abschluss16 2.2Die 50er Jahre16 2.2.1Einleitung16 2.2.2Ein ganz neues Deutschland17 2.2.3Der neue Konsum verdrängt die alte Schuld18 2.3Die 60er Jahre18 2.3.1Die alte Schuld lässt sich nicht verdrängen18 2.3.2Vergangenheitsbewältigung in der DDR – Hitler wurde gleichsam Westdeutscher20 2.3.3Der Widerstand gegen die schweigende Gesellschaft22 2.4Die 70er Jahre24 2.4.1Der Kniefall von Warschau24 2.4.2"Holocaust" – Eine Nation kommt via Fernseher ins Gespräch27 2.5Die 80er Jahre30 2.5.1Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg – Die ideologische Sortierung der Toten30 2.5.2Die Weizsäcker-Rede – Vom richtigen Umgang mit der Vergangenheit32 2.6Die 90er Jahre34 2.6.1Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk! – Eine Nation erfindet sich neu34 2.6.2Fremdenfeindlichkeit37 2.6.3Daniel Jonah Goldhagen – Hitlers willige Vollstrecker39 2.6.4Die Wehrmachtsausstellung41 3.Deutschland im Blick ausländischer Medien44 3.1Werbung für ein besseres Ansehen in Großbritannien44 3.2Werbung für britisches Bier45 3.3Der Stolz des deutschen Volkes47 4.Empirische Untersuchung auf Basis eines Fragebogens49 4.1Einleitung49 4.2Der Weg zum Fragebogen50 4.3Aufbau des Fragebogens50 4.3.1Die Titelseite50 4.3.2Die Seite der Fragen52 4.3.3Persönliche Fragen53 4.3.4Relevante Fragen54 4.3.4.1Frage 2.) – Das deutsche Bild54 4.3.4.2Frage 3.) – Die Quelle der Information56 4.3.4.3Frage 4.) und 5.) – Die deutsche Sprache56 4.3.4.4Frage 6.) – Bekannte deutsche Persönlichkeiten58 4.3.4.5Frage 7.) – Das typisch Deutsche59 4.3.4.6Frage 8.) – Die deutsche Vergangenheit60 4.3.4.7Frage 9.) und 10.) – Die deutsche Schuld61 4.3.4.8Frage 11.) – Der Bundeskanzler in der Normandie62 4.3.5Die Seite des Dankes63 4.4Die Teilnehmer des Fragebogens63 4.4.1Die Nationalitäten der Teilnehmer63 4.4.2Die persönlichen Daten der Teilnehmer64 4.4.3Berufsgruppen der Teilnehmer66 4.4.4Die Einschätzung auf Basis der bevorzugten Zeitung66 4.5Die Auswertung der Fragen69 4.5.1Frage 1.) – Die Einstellung zu Deutschland69 4.5.2Frage 2.) – Das deutsche Bild im Vergleich72 4.5.3Frage 3.) – Die Quelle des Deutschlandbildes74 4.5.4Frage 4.) – Die deutschen Wörter76 4.5.5Frage 5.) – Der Klang der deutschen Sprache77 4.5.6Frage 6.) – Verschiedene deutsche Persönlichkeiten79 4.5.7Frage 7.) – Typisch deutsche Attribute81 4.5.8Frage 8.) – Das Wissen um die deutsche Schuld85 4.5.9Frage 9.) – Umgang mit der Schuld86 4.5.10Frage 10.) – Bürde der deutschen Nationalität90 4.5.11Frage 11.)- Teilnahme am "D-Day"94 5.Schlussbemerkung98 Literaturangaben, Zeitungsartikel, Internetquellen und sonstige Medien99
Erstmals wird mit dieser Studie der Versuch unternommen, Handlungsspielräume von Frauen innerhalb der höfischen Adelsgesellschaft gezielt zu untersuchen. Ausgangspunkt ist dabei die Auffassung, dass nur eine Neuformulierung des - in der historischen Wissenschaft lange einseitig auf das bürgerliche Zeitalter bezogenen - Konzepts der Trennung von "Öffentlichem" und "Privatem" sinnvolle Erklärungsmuster für die Rolle von Frauen in der höfischen Gesellschaft erbringen kann. Vor diesem Hintergrund wird eine Gruppe dieser Frauen, die der Amtsträgerinnen am Wiener Hof in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, genauer untersucht. Die Darstellung beginnt mit Motivationen für den Hofdienst, es folgen familiärer und regionaler Hintergrund der Frauen, deren Amtsobliegenheiten und der Alltag bei Hof, um schließlich anhand zahlreicher Beispiele auf Handlungsspielräume dieser Frauen sowie deren Karrieremöglichkeiten zurückzukommen. Als Ergebnisse der Untersuchung sind vier Aspekte besonders hervorzuheben: Zum einen die Beobachtung, dass sich an den europäischen Höfen mindestens zwei sehr unterschiedliche Typen von Frauenhofstaaten feststellen lassen, wobei der Wiener Hof als repräsentativ für die Höfe des Alten Reiches sowie mit diesen verbundene Höfe wie die in Dänemark und Schweden gelten muss. Zum zweiten wurde herausgearbeitet, dass das kaiserliche Frauenzimmer direkt in den Prozess der Herausbildung eines habsburgischen Hofadels einbezogen war, was die regionale und familiäre Zusammensetzung der Amtsträgerinnen betrifft. Zum dritten konnten erstmals Zuständigkeiten von Amtsträgerinnen sowie deren Position innerhalb des höfischen Normensystems differenziert beschrieben werden. Zum vierten wird das aktive Wirken von Amtsträgerinnen in familialen Netzwerken herausgearbeitet, die für das Funktionieren der höfischen Gesellschaft sowie für die Sicherung familialer Karrieren konstitutiv waren. Ergänzt wird die Darstellung durch einen Quellenanhang, der vor allem der Anregung weiterer, vergleichender Forschungen dienen soll. Außerdem enthält der Band Kurzbiographien der 193 ermittelten Amtsträgerinnen, mit denen die prosopographisch erfasste Materialgrundlage dokumentiert und das gesammelte Material für weitere Forschungen zur Wiener Hofgesellschaft zugänglich gemacht wird. Die Abbildungen, von denen viele noch nie publiziert wurden, stellen nicht nur einzelne der Akteurinnen vor, sondern visualisieren als Quelle sui generis den Platz von Frauen im Rahmen von Manifestationen der höfischen Gesellschaft wie Festen, Krönungen oder Prozessionen. In diesem thematischen und inhaltlichen Zuschnitt bildet die Arbeit eine Pilotstudie, wie sie für keinen anderen Hof Europas bislang vorliegt. ; This study is a first attempt to examine the part of women in the social networking at the court. My starting point is the thesis, that only a new phrasing of the concept of the distinction between "public" and "privacy" will adduce an useful model for interpretation of the role of women in the courtly society. This is the background of my examination of a group of women of the courtly society, the female officeholders at the court of Vienna in the first half of the 17th century. In the description of this group, I began with the study of motivations for the service in the Empress's entourage. Also I examined the regional and familial background of these women, the official duties and the everyday life at court. Finally I can show backed by many examples scopes of action for these women and their possibilities to make careers. As a result of my study I can make four major points: Firstly, I can observe at European courts at least two different types of entourages of princesses (Frauenhofstaate). Therein, the Viennese court was representative for the courts of the Holy Roman Empire and some others such as Denmark and Sweden. Secondly, I can demonstrate that the entourage of the Empress was included in the developing process of a Habsburgian courtly aristocracy (habsburgischer Hofadel) with regard to the families and to the regional origins of the female officeholders. Thirdly, the study describes for the first time the responsibilities of female officeholders and their place in the courtly norms system. Fourthly, I am able to describe the female officeholders in different forms of activity in family networks which were constitutive for the courtly society and for the protection of family careers, too. To complete my study, I have included an appendix of sources with the aim to stimulate further comparative researches. Besides this, the book includes short biographies for the 193 female officeholders whom I could identify for the first half of the 17th century. With these biographies I want to document the base of sources for the study and to make available this material for other researches about the Viennese court. The illustrations - many among them are now published for the first time - show some of the protagonists, but principally they show as a source sui generis the place of women in the frame of manifestations of the courtly society like celebrations, coronations or processions. In this way, this work has the nature of a pilot study for all European courts in early modern times.
Das Buch stellt die erste umfassende Auseinandersetzung mit dem Phänomen tribaler Identität im Vorderen Orient in deutscher Sprache dar. Es verbindet eine komparativ und theoretisch orientierte Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden islamischer Stammesgesellschaften mit einer eingehenden empirischen Fallstudie. Die separate Identität im Inneren umfassenderer politisch-kultureller Gemeinschaften, die Stämme im Vorderen Orient kennzeichnet, drückt sich typischerweise im Streben nach politischer Autonomie aus, das sich je nach historischen Bedingungen in sehr unterschiedlichem Ausmaß realisieren läßt. Das Buch untersucht kulturelle Dimensionen und praktische Erscheinungsformen tribaler Identität in diesem Spannungsfeld. Am Anfang steht eine kritische Aufarbeitung des sozial- und kulturanthropologischen Stammesbegriffes. Ausgehend von der Einsicht, daß die wesentlichen Übereinstimmungen verschiedener islamischer Stämme im kulturell-ideologischen Bereich zu finden sind, werden allgemeine Charakteristika nahöstlicher Stammesgesellschaften herausgearbeitet. Spezifische kulturelle Modellen tribaler Identität, besonders die ideologische und praktische Rolle der Beziehungen von Verwandtschaft und Heirat, werden ebenso untersucht wie die variablen praktischen Erscheinungsformen tribaler Organisation. Der erste Teil schließt mit einer kritischen Aufarbeitung unterschiedlicher theoretischer Zugänge. Der zweite Teil wendet am Beispiel eines zentralmarokkanischen Berberstammes die im ersten Teil erarbeiteten theoretischen Perspektive an. Nach einer Analyse der historischen und geographischen Rahmenbedingungen werden die Geschichte des Stammes und die Quellen für ihre Kenntnis sowie traditionelle politische und rechtliche Institutionen untersucht und die Veränderungen skizziert, denen diese im 20. Jh. unterworfen waren. Dann werden die hierarchisch geordneten lokalen Statuskategorien und die segmentäre Gliederung des Stammes im Detail analysiert. Die Auseinandersetzung mit dem oral tradierten lokalen Wissen über die Vergangenheit zeigt schließlich, daß der historische Diskurs der untersuchten Gesellschaft ein privilegiertes Feld für die Untersuchung der Ideologien und kulturellen Konzeptionen darstellt, die einerseits tribale Identität konstituieren und andererseits dazu beitragen, diese zu relativieren und zu transzendieren. Ein wichtiges methodisches Prinzip ist dabei, das Vorhandensein von Brüchen und Widersprüchen nicht zu ignorieren. Der orale historische Diskurs eröffnet nicht nur einen Einblick in die sinngebenden Zusammenhänge tribaler Identität. Er zeigt auch, wie verdeckt immer wieder die dominierenden ideologischen Modelle in Frage gestellt werden. Auch auf der kulturell-ideologischen Ebene kann tribale Identität nur in ihren Wechselwirkungen mit der übergeordneten islamischen Identität verstanden werden. Diese Wechselwirkungen müssen jedoch als historisch bedingt und somit variabel aufgefaßt werden. ; This book is the first comprehensive study in German on tribal identity in the Middle East. It includes a comparative and theoretical survey of Muslim tribal societies and a detailed empirical case-study. A separate identity within wider political and cultural communities is one of the most characteristic aspects of Middle Eastern tribes. It is typically expressed in tribal striving for political autonomy - an autonomy practically realized in varying degrees according to historical conditions. The book examines cultural dimensions and practical manifestations of tribal identity in this tension between local particularism and wider belonging. A critical discussion of the anthropological notion of tribe serves as an introduction to the theoretical part of the book. The insight that the most important common traits of Muslim tribes are located in the cultural and ideological sphere leads on to an examination of the general characteristics of Middle Eastern tribal societies. Then specific cultural models of tribal identity, such as the ideological and practical role of kinship and marriage relations, are examined, and the highly variable practical manifestations of tribal organization are outlined. The first part of the book is concluded by a critical appraisal of competing theoretical approaches to the phenomenon of tribal identity, which forms the basis for the empirical case study. In the second part, the theoretical approach elaborated in the first part is applied to a case study of a specific tribal society, a central Moroccan Berber tribe. First, the historical and geographical conditions are analyzed. Then the history of the tribe and the various kinds of sources for its understanding are discussed. Further chapters are devoted to the traditional political and legal institutions and their transformations in the course of the 20th century. The hierarchically ordered local status categories and the segmentary structure of the tribe are analyzed in detail. Finally, an investigation of orally transmitted historical knowledge shows that the local discourse about the past is a privileged domain for the study of the ideologies and cultural conceptions that constitute local tribal identity but also contribute to limiting and transcending it. An important methodological principle followed throughout is that ruptures and contradictions should not be ignored or explained away. The oral historical discourse not only provides an insight into the meaning of tribal identity. It also shows how covertly the dominant ideological models are called into question time and again. Even on the cultural and ideological level, tribal identity can only be understood in its interrelations with the wider identity relating to the Muslim state - interrelations that must be explained as historically conditioned and variable.
Den Ausgangspunkt meiner Diplomarbeit bilden verschiedene Fragen und daran anknüpfende Überlegungen und Hypothesen, die sich mir bei der Auseinandersetzung mit meinem Thema stellen. Der Titel meiner Arbeit "Über das Mannwerden – Irrwege, Umwege, Auswege" greift einen ersten wichtigen Aspekt auf, der mich suggestiv in eine Richtung zu lenken scheint: Ein Mann ist nicht zwangsläufig, sondern er wird. Doch über welchen Zeitraum erstreckt sich dieses "Werden"? Unsere Sprache hält unterschiedliche Wörter für verschiedene Entwicklungszustände im Leben eines Mannes bereit, wie z.B. Junge, Knabe, Bursche, Jugendlicher, junger Mann, erwachsener Mann. Dementsprechend erstreckt sich das Mannwerden mit der Geburt über verschiedene aufeinander aufbauende Phasen bis zum Erwachsenenalter - mit dem Ziel, aus einem männlichen Kind einen Mann werden zu lassen. Hieran schließt sich für mich sogleich die nächste Frage: Wie wird ein Junge zu einem Mann? Ich gehe davon aus, dass bestimmte Faktoren und Bedingungen für diese Entwicklung notwendig sind. In seinem Buch "Eisenhans" gibt mir Robert Bly auf meine Fragen eine erste kleine Antwort, indem er feststellt, dass sich das Mannwerden tatsächlich nicht von alleine einstellt und auch nicht durch das bloße Essen vieler Haferflocken. Es muss also etwas geben, das einen Jungen zum Mann macht, denn zweifellos gibt es nun einmal Männer auf dieser Welt. An dieser Stelle muss ich mich jedoch fragen, woran ich überhaupt erkenne, dass ein Mann ein Mann ist? Was genau zeichnet ihn aus? Als erstes äußeres Merkmal fallen mir die primären männliche Geschlechtsteile des Mannes ein, d.h. sein natürliches oder auch biologisches Geschlecht. Das scheint mich jedoch als Endergebnis nicht vollends zu überzeugen, denn wie ich bereits angedeutet habe, ist ein Mann nach seiner Geburt ein Junge und trotz seiner vorhandenen Geschlechtsmerkmale kein Mann. Es muss noch mehr geben, worüber sich ein Mann definieren lässt. Was für Eigenschaften ließen sich beispielsweise dem Begriff "Männlichkeit" zuordnen? Ich überlege, was Menschen aus meinem sozialen Umfeld hierauf antworten würden. Jemand behauptet vielleicht, dass Männer einfach nicht fähig sind, ihre Gefühle zu zeigen. Dass sie kalt wie Stein, egoistisch und verletzend sind. Eine Frau würde mir dagegen möglicherweise von ihrem Mann erzählen, der sich liebevoll um ihr gemeinsames Kind kümmert und nicht zuletzt durch seine Freude am Kochen für das Wohlergehen der ganzen Familie sorgt. Vielleicht wird sich aber auch ein befragter Mann durch seine Körperkraft hervortun und mir stolz erzählen, wieviel Liegestütze er schafft und wieviel Gewichte er im Fitnessstudio stemmt. Ein Profifußballer könnte mir seine Fußballerwaden zeigen, von seiner Treffsicherheit und Schnelligkeit erzählen und wie er in seiner Freizeit sein Auto selbst repariert und das Haus ausbaut. Mir wird klar, ein Mann lässt sich neben seinem natürlichen Geschlecht durch eine Vielzahl von zugewiesenen Eigenschaften definieren. Aber wer legt überhaupt fest, dass diese Eigenschaften wirklich männlich sind? Sicher können die oben genannten Eigenschaften auch auf Frauen zutreffen! Oder nicht? Hierauf eröffnet sich für mich eine weitere Überlegung: Gibt es typische Eigenschaften, die nur für Männer zutreffend sind und für Frauen nicht? Ist ein Mann ein Mann, weil er keine Frau ist? Lassen Männer sich auch aus dem Gegensatz zur Frau definieren und welche Gegensätze wären das? Gang der Untersuchung: Den ersten Teil meiner Arbeit werde ich nutzen, um Antworten auf meine bisher gestellten Fragen und Überlegungen zu finden. Ausgehend von unserer modernen, industriellen Gegenwartsgesellschaft werde ich aufzeigen, welche Möglichkeiten es gibt, einen Mann zu definieren. Dafür gehe ich auf die bereits angedeuteten Ebenen ein: das biologische Geschlecht, die Zuschreibungen aus der Gesellschaft und den Gegensatz zum weiblichen Geschlecht. In diesem Zusammenhang führe ich verschiedene Aspekte an, die verdeutlichen, dass das bloße primäre Geschlecht nicht ausreicht, um einen Mann in unserer Gesellschaft vollständig zu charakterisieren. Im zweiten Teil stelle ich die verschiedenen Phasen (namentlich die Säuglings- und die Jungenphase) dar, die das Mannwerden bedingen. Außerdem beschäftigen mich die Fragen, welche Bedeutung die Eltern sowie die Freunde und Kameraden des Mannes für dessen Entwicklung haben und in welcher Intensität diese Personen seine Männlichkeit beeinflussen. In diesem Zusammenhang werde ich ebenfalls ansprechen, wie sich ein übermäßiges Fehlen oder eine intensive Beeinflussung durch die genannten Personen auf die Persönlichkeit des Mannes auswirken. Im dritten Teil meiner Diplomarbeit beschreibe ich einleitend die Konstruktion der Männlichkeit in unserer modernen Gesellschaft allgemein. Anschließend leite ich in eine detaillierte Beschreibung ihrer Charakteristik über. Damit verbunden betrachte ich den Einfluss der Männlichkeit auf und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und den Mann selbst. Hierauf folgt ein geschichtlicher Abriss, ausgehend vom 17. bis hinein ins 20. Jahrhundert über Männer und ihren Umgang mit Männlichkeit. Es wird sich herausstellen, dass die geschichtliche Entwicklung der Männlichkeit Schwankungen bzw. Veränderungen unterworfen ist, dass es aber auch Konstanten gibt. Besonderem Interesse gilt mir hierbei, wie sich die Veränderungen im 20. Jahrhundert auf das Bild der Männlichkeit auswirken und wie sie das Verhalten und das öffentliche und private Auftreten der Männer in dieser Zeit färben. Weiterhin will ich herausfinden, inwieweit der Grundtenor stimmt, den ich während meiner Literaturrecherche vernommen habe: "Das Mannwerden ist zur Qual geworden - da die alten Bilder der Männlichkeit keine Gültigkeit mehr haben, sind sie orientierungslos in ihre Suche nach einer neuen Bestätigung ihrer Männlichkeit verstrickt". Das Buch "Vom Mannwerden - Übergangsrituale im westlichen Kulturkreis" von Ray Raphael gab mir den Anstoß zu den abschließenden Ausführungen meines dritten Teils. Raphael bezieht sich hier auf die Übergangsrituale naturnaher Kulturen, die dazu dienen, die Jungen in die Lebensphase des Mannes zu initiieren. Ausgehend von dem Sachverhalt, dass Frauen durch ihre Menstruation auf natürlichem Weg eine Einweihung ins Frausein erhalten, kommt in naturnahen Kulturen der "künstlichen", männlichen Initiation eine viel größere Bedeutung zu, da Männern diese natürliche Fähigkeit nicht gegeben ist (vgl. Raphael 1993, S. 8). Anhand von Raphaels Beispielen möchte ich belegen, dass auch in unserer modernen Gegenwartsgesellschaft unter Männern der Drang besteht, durch Einweihungsrituale ihre Männlichkeit zu bestätigen. Diese modernen Einweihungen haben in Anlehnung an die ursprünglichen Übergangsrituale dabei lediglich die äußere Form übernommen. Ich werde daher näher beleuchten, wie sich das Fehlen der eigentlichen Bedeutung dieser modernen Einweihungen auf den Menschen auswirkt. Aufbauend auf den vorangegangenen werde ich im vierten Teil Möglichkeiten aufzeigen, um die Veränderungen im Männerbild voranzutreiben und gleichzeitig Alternativen für ein neues Selbstverständnis der Männer vorstellen; für einen gesunden Umgang mit ihrer Männlichkeit, der sich im positiven Sinne auf die Träger und ihre soziale Gemeinschaft auswirkt. Als eine Alternative werde ich die Übergangsrituale naturnaher Kulturen beschreiben, da ich es für sinnvoll erachte, auf vorhandene Möglichkeiten zurückzugreifen und zu überprüfen, welche sinnvollen Lehren sich aus ihnen ziehen lassen und in welchem Zusammenhang wir sie in unsere heutigen Lebensumstände integrieren können. Im fünften und letzten Teil meiner Diplomarbeit zeige ich - anlehnend an die Jungenarbeit - Perspektiven für ein geschlechtspezifisches pädagogisches Handeln auf. Ich beschreibe, wie Jungen auf ihrem Weg des Mannwerdens begleitet und unterstützt werden können, um ein gesundes Selbstbewusstsein und eine gestärkte männliche Identität im Einklang mit ihrer Umwelt zu entwickeln. Als Anmerkung ist es mir wichtig noch zu erwähnen, dass ich das Thema meiner Diplomarbeit auf heterosexuell orientierte Männer beziehe, die den größten Teil der Männer unserer Gesellschaft repräsentieren. Spezifische Aspekte, die bei Minderheiten, wie z.B. der Gruppe der homosexuell orientierten Männer oder der Hermaphroditen, eine zusätzliche Rolle spielen, klammere ich aus meinen. Betrachtungen aus, da viele dieser Gruppierungen eine eigene Subkultur entwickelt haben, die einer gesonderten Betrachtung bedarf. Trotzdem kann meine Arbeit dazu dienen, allen Männern jeglicher sexueller Orientierung und Gruppenzugehörigkeit einen Anstoß zu geben, sich mit ihrer eigenen Männlichkeit auseinanderzusetzen und Einblicke in die Zusammenhänge zu geben, welche das Mannwerden bedingen und beeinflussen.
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Ob durch Spiegel im All, künstlich erzeugte Wolken oder Partikel in der Stratosphäre, die technischen Möglichkeiten, Einfluss auf das Klima zu nehmen, scheinen in einer Welt, die zunehmend mit den Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert wird, grenzenlos (vgl. Deutschlandfunk 2023).Geoengineering steht für den Versuch, gegen die steigenden Temperaturen und CO₂-Emissionen anzukämpfen und das Klimasystem der Erde zu beeinflussen. Während die wissenschaftliche Erforschung dieser Technologien immer weiter fortschreitet, rückt auch die politische Machbarkeit solcher Eingriffe in den Fokus von internationalen Debatten und politischen Agenden. Doch was ist solares Geoengineering und wie funktioniert es, welche politischen Risiken birgt es und wie umsetzbar erscheint dieses Vorhaben derzeit? Diesen Fragen will die folgende Arbeit nachgehen.Zunächst soll Geoengineering im allgemeinen und solares Geoengineering im besonderen dargestellt werden. Neben der Vorstellung verschiedener Konzepte des solaren Geoengineerings soll auch die technologische Machbarkeit dargestellt werden. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der politischen Seite des solaren Geoengineerings. Die politischen Risiken sollen thematisiert werden. Zudem sollen Probleme der Umsetzbarkeit im politischen Rahmen anhand von Spieltheorien erläutert werden und das Dilemma des moralischen Risikos, das sich am solaren Geoengineering zeigt, dargestellt werden.GeoengineeringFür den Begriff des Geoengineering existiert in der Wissenschaft bislang keine allgemeingültige Definition (vgl. Wagner 2023, S. 11). Eine in der Literatur verbreitete Definition stammt von der britischen Royal Society. Demnach umfasst Geoengineering bewusste und zielgerichtete – meist in großem Maßstab durchgeführte – Eingriffe in das Klimasystem mit dem Ziel, die anthropogene Klimaerwärmung abzumildern (vgl. Royal Society 2009, S. 1).Auch in der Definition des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change – kurz IPCC) werden unter Geoengineering technologische Maßnahmen verstanden, die darauf abzielen, das Klimasystem zu stabilisieren, indem sie direkt in die Energiebilanz der Erde eingreifen und dadurch das Ziel verfolgen, die globale Erwärmung zu verringern (vgl. IPCC 2007).Laut dem Klimaökonom Gernot Wagner ist die Begriffsverwendung von Geoengineering, wie sie auch in diesen Definitionen verwendet wird, zu vage. Es handelt sich nach ihm um eine menschengemachte Bezeichnung, die durch seine häufige Verwendung im öffentlichen Diskurs entstanden ist und häufig als Überbegriff für zwei sich stark unterscheidende Konzepte verwendet wird (vgl. Wagner 2023, S. 11). Grundlegend werden die Maßnahmen des Geoengineering in zwei Kategorien untergliedert:Maßnahmen zur Kohlenstoffdioxidentfernung: Unter diese Maßnahmen fallen Technologien, die das Ziel haben, dem Kohlenstoffkreislauf der Atmosphäre CO2 zu entziehen und dieses dauerhaft zu speichern. Diese Maßnahmen werden auch als Kohlenstoffentnahme oder im englischen Sprachgebrauch als Carbon Dioxid Removal (CDR), Carbon Geoengineering oder Direct air capture bezeichnet (vgl. Wagner 2023, S. 12).Maßnahmen zur Beeinflussung des Strahlenhaushalts: Diese Maßnahmen werden auch unter solarem Geoengineering, solar radiation management (SRM), Strahlungsmanagement, solar radiation modification oder als albedo modification bezeichnet. Gemeint sind damit Methoden, die einen umfassenden und gezielten Eingriff zur Abkühlung der Erde vorsehen und damit die Atmosphäre in Bodennähe abkühlen sollen (vgl. Wagner 2023, S. 11).Da in dieser Seminararbeit das solare Geoengineering im Fokus steht, soll im nachfolgenden Kapitel genauer auf die verschiedenen Ansätze des solaren Geoengineerings eingegangen werden.Solares GeoengineeringDas solare Geoengineering setzt am Klimasystem der Erde an. Die Sonne spielt in diesem System den Motor. Während ein Teil des Sonnenlichts direkt über Wolken, Bestandteile der Luft oder der Erdoberfläche reflektiert und an den Weltraum zurückgegeben wird, wird der andere Teil der Strahlung durch die Atmosphäre und den Erdboden in Wärmestrahlung umgewandelt (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 9). Ein Teil dieser Wärmestrahlung bleibt aufgrund bestimmter Gase in der Atmosphäre und erwärmt die Erde, sodass Leben überhaupt möglich ist, hierbei spricht man vom natürlichen Treibhauseffekt. Der andere Teil der Wärmestrahlung wird an den Weltraum abgegeben (vgl. Deutscher Wetterdienst 2023). Wird nun durch bestimmte Faktoren, wie zu viel anthropogen verursachte Treibhausgase, die Atmosphäre zusätzlich erwärmt, spricht man vom Klimawandel (vgl. ebd.).Solares Geoengineering kann nun an verschiedenen Punkten des Klimasystems ansetzen, um die Temperatur der Atmosphäre zu senken. Zum einen an der reflektierten Solarstrahlung durch eine Veränderung der Erdoberfläche oder der Wolken, an der abgegebenen Wärmestrahlung durch den atmosphärischen Gehalt an Treibhausgasen und Aerosolen sowie durch Installationen im Weltraum (Umweltbundesamt 2011, S. 9). Die verschiedenen Konzepte des solaren Geoengineerings sollen nachfolgend kurz vorgestellt und hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit eingeordnet werden.Änderung der Albedo von OberflächenKonzepte, die sich die Änderung der Albedo von Oberflächen zunutze machen, setzen auf die Reflektion der einfallenden Sonnenstrahlen von Oberflächen. Je nach Farbe und Beschaffenheit von Oberflächen und Körpern werden einfallende Sonnenstrahlen unterschiedlich stark reflektiert (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 12). Das Verhältnis der Strahlung, die auf einem Objekt ankommt, und dem, was zurückgeworfen wird, wird als Albedo bezeichnet. Es ist daher ein Maß für das Rückstrahlungsvermögen von Objekten. Während dunkle Flächen, wie zum Beispiel Ozeane ein niedrigeres Rückstrahlungsvermögen und damit eine niedrige Albedo aufweisen, besitzen helle Oberflächen ein hohes Rückstrahlungsvermögen und damit eine hohe Albedo, die dazu führt, dass die Temperatur sinkt und die an den Weltraum abgegebene Wärmestrahlung verringert wird (vgl. ebd.).Um die Albedo von Oberflächen zu erhöhen, wird beispielhaft für diese Art des solaren Geoengineerings vorgeschlagen, Dächer, Straßen und Gehwege weiß zu streichen, rückstrahlungsstarke Pflanzen in der Landwirtschaft einzusetzen, Wüstenregionen mit reflektierenden Planen zu bedecken oder die Ozeane durch schwimmende reflektierende Gegenstände aufzuhellen (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 12).Auch wenn das Streichen von ganzen Städten eine niederschwellige Art des solaren Geoengineerings darstellt, würde diese Vorgehensweise nur bedingt einen Beitrag zur Reduktion der Temperatur leisten (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 12). Zudem dürfte der Einsatz von reflektierenden Feldfrucht- und Grünlandsorten ebenso scheitern, da enorme Flächen benötigt werden würden und große Monokulturen entstehen könnten (vgl. ebd. S. 13). Und auch der Vorschlag, die Ozeane mit schwimmenden Gegenständen aufzuhellen, ist kritisch zu betrachten und steht im Widerspruch zu anderen Umweltzielen wie der Vermeidung von Müll in den Meeren. Zudem würde die Funktion der Meere eingeschränkt und ein Ökosystem der Erde vom Licht abgeschnitten werden, wodurch die Nebenwirkungen auf den Menschen nur bedingt planbar wären (vgl. ebd.).Erhöhung der Albedo von WolkenDamit Wolken entstehen können, werden neben der passenden Temperatur und Luftfeuchtigkeit kleine Partikel wie Sandkörner, Salzkristalle oder Staub benötigt. Sie bilden die sogenannten Kondensationskerne, an denen das Wasser kondensieren kann, wodurch sich kleine Tröpfchen bilden. Der Gehalt dieser Wassertröpfchen bestimmt die Reflektionseigenschaft einer Wolke und somit ihre Albedo. Kleine Tröpfchen werfen das Sonnenlicht stärker zurück und führen zu einer längeren Lebensdauer der Wolken und zu dem gewünschten Abkühlungseffekt (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 13 f.). Anwendbar wäre dieses Konzept in Küstenregionen, indem durch Flugzeuge oder Schiffe vermehrt Kondensationskerne ausgebracht werden, um niedrige Wolken über den Ozeanen zu generieren (vgl. ebd.).Technisch ist dieses Konzept umsetzbar, die Einsatzorte könnten gewechselt und der Einsatz auch kurzfristig gestoppt werden. Bei großen Flächen sind die Auswirkungen auf Windsysteme, Meeresströmungen und Niederschläge sowie Folgen für Meeresorganismen jedoch noch unklar. Daher ist die weitere Erforschung dieser Thematik nötig (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 14).Installationen im erdnahen WeltraumDiese Konzepte setzen an der einstrahlenden Sonnenenergie in erdnahen Umlaufbahnen an und sollen die ankommende Sonnenstrahlung auf der Erde reduzieren. Als Ideen für diese Art des solaren Geoengineering kursieren beispielsweise das Anbringen eines reflektierenden Materials zwischen Erde und Sonne, an der ein Riesenspiegel, ein Aluminiumgeflecht oder eine Vielzahl an reflektierenden Scheiben installiert werden könnte. Auch das Anbringen eines Saturn-ähnlichen Rings aus Staubpartikeln wird in diesem Kontext diskutiert (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 16).Diese Konzepte klingen wenig realistisch und schwer umsetzbar. Es würden je nach Verfahren immense Mengen an Material benötigt werden und hohe Materialkosten bergen. Des Weiteren ist unklar, wie genau und wo solche Konstruktionen im Weltraum angebracht werden könnten. Zudem wäre durch spiegelnde Objekte im Weltraum die solare Einstrahlung nicht gleichmäßig verteilt, was dazu führen könnte, dass sich die atmosphärische und ozeanische Zirkulation verändern würde (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 16).Ausbringung stratosphärischer AerosoleDurch Vulkanausbrüche konnte nachgewiesen werden, dass in der Stratosphäre durch geringere Austauschprozesse von Luftmassen Ascheteilchen und Schwefelverbindungen Monate bis Jahre verweilen können und dadurch weniger Sonnenlicht zur Erdoberfläche gelangt und das Klima der Erde um 0,1 bis 0,2 °C gemindert wird (vgl. Umweltbundesamt 2011, S. 14). Diese Erkenntnisse sollen im Sinne des solaren Geoengineering angewendet werden, indem zum Beispiel über Wetterballons oder spezielle Flugzeuge Schwefelverbindungen in die Stratosphäre freigesetzt werden. Diese oxidieren dort zu Sulfatpartikeln, die die Sonnenstrahlung streuen und damit das an der Erdoberfläche einfallende Sonnenlicht reduzieren könnten (vgl. ebd. S. 15).Diese Art des solaren Geoengineerings wird wohl derzeit am häufigsten diskutiert. Aus technischer Sicht lässt sich die Ausbringung von Aerosolen einfach ermöglichen. Dieses Konzept des Geoengineering ist im Vergleich zu anderen Methoden eher kostengünstig und könnte schon mit einstelligen Milliarden-Dollar-Beträgen pro Jahr realisiert werden (vgl. Wagner 2023, S. 15). Jedoch überwiegen weitere Risiken als die bloße technische Umsetzbarkeit, die im Abschnitt der politischen Risiken für diese Art des solaren Geoengineering ausführlicher erläutert werden.Solares Geoengineering als politisches ThemaBevor man sich mit der politischen Umsetzbarkeit von solarem Geoengineering befassen kann, muss darauf eingegangen werden, wie solares Geoengineering derzeit in der Klimapolitik thematisiert wird. Da es sich beim Klima um ein gemeinschaftliches Gut handelt und der Klimawandel keinen Stopp vor Grenzen macht, wird die Klimapolitik auch als sogenannte "Querschnittsaufgabe" bezeichnet. Nicht ein Akteur allein kann diese politische Aufgabe lösen. Im Feld der Klimapolitik sind Prozesse der vertikalen und horizontalen Politikintegration sowie die Einbindung verschiedener Akteure beinhaltet. So ist die deutsche Klimapolitik in zwischenstaatliche und völkerrechtliche Abkommen der internationalen Klimapolitik integriert (vgl. Roelfes 2022).Teil dieser Struktur sind die Berichte des Weltklimarats, das Pariser Klimaabkommen oder die Convention on Biological Diversitiy der UNO, die wichtige Grundlagen für politische Entscheidungen der Länder zum Klimaschutz bilden. Daher soll vorgestellt werden, inwieweit das solare Geoengineering in diesen Debatten thematisiert wird.Solares Geoengineering in Berichten des IPCCDer IPCC oder auch Weltklimarat veröffentlicht in seinen Sachstandberichten zusammengefasst den aktuellen Stand der Klimaforschung, bewertet diesen und bereitet ihn für die Politik auf. Dadurch nimmt die zwischenstaatliche Organisation der Vereinten Nationen Einfluss, inwieweit ein Thema in der Politik behandelt wird und welche Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels eingesetzt werden, ohne direkte Handlungsempfehlungen abzugeben. Stattdessen sind Bewertungsmodelle in den Veröffentlichungen integriert, die verschiedene Klimaszenarien beinhalten (vgl. Wittstock 2023, S. 40).Im fünften Sachstandsbericht des IPCC werden Methoden des Geoengineering erstmals bei einem Migrationsszenarium aufgeführt. Da nur in wenigen Szenarien die Emissionsreduktion allein die Erderwärmung auf 2 °C begrenzen könnte. Soziale und politische Aspekte wurden bei den Modellierungen jedoch nicht berücksichtigt (vgl. Wittstock 2023, S. 41). Vermehrt wird auf die Methode des Carbon Dioxid Removals eingegangen, aber auch das Solar Radiation Management wird thematisiert. Insgesamt befürwortet der IPCC nicht direkt die Methoden des Geoengineering, sondern empfiehlt die weitere Erforschung dieser Technologien auf technologischer und sozialwissenschaftlicher Ebene (vgl. ebd. S. 42).Solares Geoengineering im Pariser KlimaabkommenIn den politischen Debatten des Pariser Abkommens von 2015 und den Texten des Abkommens wurden Methoden des solaren Geoengineerings nicht diskutiert. Dennoch kamen nach der Ratifizierung des Abkommens Methoden des Geoengineering vermehrt ins Gespräch. Das angestrebte Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, ist nach Klimaforscher*innen nur mit Unterstützung des Geoengineering möglich (vgl. Wittstock 2023, S. 44 f.).Solares Geoengineering in der Convention on Biological DiversityAuch im Rahmen der Convention on Biological Diversity wurde das solare Geoengineering weitreichend diskutiert. Der Schwerpunkt der multilateralen Diskussion beim Thema Geoengineering liegt in diesem Übereinkommen. Im Jahr 2010 wurde für Geoengineering im allgemeinen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips sowie ökologischer und sozialer Bedenken eine Vereinbarung aufgeschoben (vgl. Heinrich Böll Stiftung 2018, S. 5).Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass solares Geoengineering in den politischen Debatten Einzug hält und diskutiert wird, jedoch derzeit keine Strukturen zu finden sind, die den Einsatz erlauben. Mit Vereinbarungen und Einigungen in den Diskussionen kann derzeit nicht gerechnet werden.Risiken des solaren GeoengineeringsWie bei der Beschreibung der einzelnen Konzepte des solaren Geoengineering deutlich wurde, handelt es sich je nach Konzept um realistischere oder weniger realistische Vorhaben, Einfluss auf das Klima der Erde zu nehmen. Während Konzepte, welche Installationen im Weltraums vorsehen und sehr hohe Kosten mit sich brächten, weniger diskutiert werden, wird die Ausbringung von stratosphärischen Aerosolen weit häufiger in politischen Debatten diskutiert. Doch gerade diese Art des solaren Geoengineering birgt politische Risiken, auf die nun eingegangen werden soll.Immer wieder wird diskutiert, inwieweit das solare Geoengineering durch Aerosole Einfluss auf das regionale Klima und damit auf die Landwirtschaft von bestimmten Ländern hat (vgl. Wagner 2023, S. 46). Während starke Kritiker wie die Klimawissenschaftler Alan Robock und David Keith es für möglich halten, dass es durch den falschen und leichtsinnigen Einsatz zu regionalen Klimaanomalien kommen kann, die im schlimmsten Fall die Nahrungsversorgung von Milliarden Menschen bedrohen und damit zu einem politischen Problem ausufern (vgl. ebd. S. 57), äußern neuere umfassendere Analysen weniger Bedenken bezüglich des sich verändernden regionalen Klimas, da es sich um ein komplexes System handelt.Es wird davon ausgegangen, dass der Effekt des solaren Geoengineering nicht nur eine geringere Oberflächentemperatur der Erde nach sich zieht, sondern auch Temperaturextreme reduzieren kann und dadurch die Verdunstung von Wasser reduziert wird. Dadurch zeigt sich, dass die Welt durch solares Geoengineering eher wie eine Welt ohne Klimawandel aussieht und große Hungersnöte aufgrund von ausbleibendem Regen eher unwahrscheinlich sind (vgl. ebd. S. 58).Ein weiteres politisches Risiko besteht im Ozonabbau. Während in den vergangenen Jahren durch die politische Reglementierung von Fluorchlorkohlenwasserstoff das Ozonloch zum Schrumpfen gebracht wurde, führen Sulfat-basierte stratosphärische Aerosole durch ihren Säuregehalt zu einer Reduktion des Ozons in der Atmosphäre, wodurch die Erholung des Ozonlochs verlangsamt wird (vgl. Wagner 2023, S. 63). Zwar wurde in Forschungsgruppen auch mit einer Alternative für Sulfat-Aerosole experimentiert, doch diese Studien sind noch am Anfang. Generell ist nicht gewiss, wie solares Geoengineering den Erholungsprozess beeinflussen kann (vgl. ebd. S. 65).Während erneuerbare Energien, wozu auch Solarenergie gehört, durch die Politik stark gefördert werden, kann durch die Dimmung des solaren Geoengineerings der Solarertrag reduziert werden. Photovoltaikanlagen können zwar auch mit dem diffusen Licht, das durch solares Geoengineering entsteht, Strom erzeugen, aber wie genau sich die Reduktion des Sonnenlichts auf die Energiegewinnung auswirkt, ist unklar (vgl. Wagner 2023, S. 69).Ein weiteres Problem, das sich vor allem auf der politischen Ebene zeigt und hohe Bedenken gegenüber solarem Geoengineering erzeugt, bezieht sich auf eine schnellere und nicht genau vorhersehbare Erwärmung bei einem Aussetzen der Maßnahmen. Solares Geoengineering könnte eine Angriffsfläche für Anschläge sein. Aber auch Naturkatastrophen oder rasche politische Veränderungen können Grund zur Sorge wecken (vgl. Wagner 2023, S. 71).Würde die globale Durchschnittstemperatur gesenkt und der Einsatz des solaren Geoengineering abrupt beendet werden, könnte dies zu einem "termination shock" führen. Die Temperaturen könnten nach oben schellen, ohne dass eine Anpassung der Umwelt möglich wäre. Zudem besteht auch die Gefahr, dass trotz langwieriger wissenschaftlicher Forschung unvorhergesehene Probleme auftauchen könnten, die solch einen "termination shock" heraufbeschwören könnten (vgl. ebd. S. 72).Mit diesen Risiken hängen auch die Bedenken zusammen, dass es kein sofortiges Zurück gibt. Wenn einmal mit der Ausbringung von Aerosolen begonnen wurde, ist ein Abbruch nur sehr langsam möglich (vgl. Wagner 2023, S. 72). Um die Maßnahmen zu stoppen, kann nur stufenweise vorgegangen werden. Da sich Aerosole 12 bis 18 Monaten in der Stratosphäre befinden, können diese nicht innerhalb eines Tages entfernt werden (vgl. Wagner 2023, S. 72).Ein weiteres Risiko betrifft die Steuerung des Vorgehens. Mechanismen wie menschliches Versagen stellen dabei eine besondere Gefahr dar (vgl. Wagner 2023, S. 73). Solares Geoengineering birgt viele Gefahren, die übersehen werden könnten. So kann das Ziel, den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid zu reduzieren, durch den leichtsinnigen Einsatz von solarem Geoengineering umgangen werden (vgl. ebd.).Kommerzielle und militärische Kontrollen stellen ein weiteres Risiko dar. Im Prozess der Ermöglichung von solarem Geoengineering sieht Wagner eine Vielzahl an Unternehmen bei jeder Lieferkette beteiligt (vgl. Wagner 2023, S. 74). Militärische Kontrollen sind in solch einem Bereich besonders besorgniserregend und könnten anderen Ländern falsche Signale vermitteln und auch die Kontrolle des solaren Geoengineerings durch die Verteilung von Patenten wäre nach Wagner kritisch zu sehen (vgl. ebd.).Einen weiteren wichtigen Aspekt stellt ein möglicher Konflikt mit bereits bestehenden Abkommen dar. Das geltende Umweltkriegsabkommen ENMOD verbietet die militärische und feindselige Nutzung umweltverändernder Techniken, verbietet derzeit jedoch nicht die Forschung am solaren Geoengineering und würde im Falle eines bestehenden globalen Steuerungssystems auch nicht die Durchführung von solarem Geoengineering verbieten (vgl. Wagner 2023, S. 74).Dieses Problem führt auch zu einer der riskantesten Unklarheiten des solaren Geoengineering und zu der Frage, wer solares Geoengineering kontrollieren soll und wem diese moralische Autorität obliegt? Bislang gibt es keine global greifende Governance-Struktur, der sich alle Menschen der Erde anschließen würden und die solche Entscheidungen treffen könnte, und solch eine zu gründen, erscheint derzeit unmöglich (vgl. Wagner 2023, S. 75).Und nicht zuletzt besteht ein erhebliches Risiko im Bereich der unvorhergesehenen Konsequenzen. Derzeit geht es noch vor allem um die Erforschung der Technologien des solaren Geoengineering. Größere Risiken und Unsicherheiten sprechen eher für einen erhöhten Forschungsbedarf. Man weiß nicht alles und kann womöglich in diesem Bereich nie alles wissen, solange solares Geoengineering nicht tatsächlich eingesetzt wird (vgl. Wagner 2023, S. 82).Probleme der Umsetzbarkeit des solaren GeoengineeringNeben den Risiken, die solares Geoengineering mit Aerosolen birgt, zeigen sich auch auf der Ebene der Umsetzbarkeit weitere Probleme. Nach Gernot Wagner kommen beim solaren Geoengineering zwei spieltheoretische Phänomene zu tragen, die auf die Umsetzbarkeit Einfluss nehmen und damit das Entscheidungsverhalten beeinflussen. Zum einen der Free-Driver-Effekt sowie das Gefangenendilemma (vgl. Wagner 2023, S. 33).In der Spieltheorie geht es um strategische Entscheidungssituationen. Es werden Situationen untersucht, in denen das Ergebnis nicht von einer Partei allein bestimmt werden kann, sondern nur von mehreren gemeinsam. Die Handlungen des*der Einzelnen wirken sich immer auf das Ergebnis der*des Anderen aus (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon 2023).Free-Driver-ProblemBeim Klimawandel kommt die "Tragik der Allmende" zum Tragen. Während im Mittelalter die Dorfwiese, auf der jede*r Dorfbewohner*in sein*ihr Vieh weiden lassen konnte, auf Kosten der Allgemeinheit verwüstet wurde, lässt sich dieses Szenario heutzutage auf die Nutzung der Atmosphäre als Senke für anthropogen verursachte Treibhausgase übertragen (vgl. Forschungsinformationssystem 2023). Während die Vorteile der Emissionen privatisiert sind, trägt die Allgemeinheit die Kosten der Verschmutzung und muss Lösungen für den Klimawandel finden (vgl. Wagner 2023, S. 22).In der Klimapolitik wirkt sich auf spieltheoretischer Ebene das "free-rider-problem" oder auch Trittbrettfahrerproblem darauf aus, warum wenige Länder hohe Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen. Für ein einzelnes Land liegt es nicht im Eigeninteresse, als Erster die Kosten für die CO₂-Minderung zu tragen. Wenn alle anderen so weitermachen wie bisher, hätte es keine Vorteile für das Land, mehr zu tun als die anderen. Was dazu führt, dass die Motivation, strenge Maßnahmen für eine CO₂-Reduktion zu ergreifen, sehr gering ist und nicht umgesetzt wird (vgl. Wagner 2023, S. 22).Anders als beim Trittbrettfahrerproblem, bei dem es nicht im Eigeninteresse des*der Einzelnen liegt, als Erste*r die Kosten für eine CO₂-Minderung zu tragen, und damit eine Tatenlosigkeit einhergeht, führt beim Free-Driver-Problem eine zu hohe Handlungsbereitschaft zu einem Problem (vgl. Wagner 2023, S. 23). Aufgrund der geringen Kosten für die Umsetzbarkeit des solaren Geoengineering durch Aerosole stellt solares Geoengineering ein mächtiges Werkzeug dar, dass Staaten dazu veranlassen kann, "Gott" zu spielen (vgl. ebd.). Daher könnte es zu einem zu schnellen Einsatz und damit einhergehend einer schnellen Umsetzbarkeit von solarem Geoengineering kommen. Die Risiken und Ungewissheiten mindern diesen Effekt gerade noch ab (vgl. Wagner 2023, S. 28).GefangenendilemmaAuch das Gefangenendilemma kommt bei der Frage nach der Umsetzung von solarem Geoengineering zum Tragen. Das Dilemma beruht auf der Unvorhersehbarkeit des Verhaltens der*des anderen Spielers*in und kennzeichnet eine Situation, bei der sich zwei rational denkende Individuen selbstsüchtig verhalten und einander verraten, obwohl es für beide besser wäre, an einem Strang zu ziehen (vgl. Wagner 2023, S. 33).Anhand einer 2x2-Matrix stellt Wagner die Klimapolitik anschaulich dar. Das Ziel beider Länder ist, die CO₂-Emissionen zu reduzieren. Dabei ergibt sich die Möglichkeit, dies durch eine hohe Minderung der Emissionen zu verfolgen und es damit durch einen ambitionierten Klimaschutz zu tun, oder durch eine niedrige oder langsame Minderung der Emissionen. Wenn sich nicht beide Länder auf die hohe Minderung einigen, wird immer die niedrige Minderung gewinnen, was bedeutet, dass das schwächste Glied über den Ausgang der Situation entscheidet (vgl. ebd. S. 34). Dieses Szenario verdeutlicht auch, warum es so schwierig ist, eine hohe Emissionsreduzierung zu verwirklichen. Wenn andere Länder wenig im Hinblick auf den Klimaschutz tun, bietet das keine Anreize für ein anderes Land, sich stärker für den Klimaschutz einzusetzen (vgl. ebd.).Kommt zu dieser vorgestellten Matrix nun noch die Option des solaren Geoengineering hinzu, die durch ihre schnelle und (relativ) günstig Umsetzbarkeit überzeugt, würde solares Geoengineering an Stelle der Reduktion von CO₂-Emissionen kommen und das eigentliche Ziel, die Emissionen zu reduzieren, könnte verfehlt werden (vgl. Wagner 2023, S. 35).Wichtig bei diesem spieltheoretischen Ansatz ist auch die Rangfolge, die ein Land aus den Komponenten des solarem Geoengineering, hoher CO₂-Minderung und niedriger CO₂-Minderung aufstellt. Wenn ein Land ein großes Interesse verfolgt, das Klima zu schützen, und sich einer hohen Minderung der Emissionen verschreibt, gibt es zwei Optionen, an welchem Rangplatz solares Geoengineering angeordnet wird. Entweder als erste Option, mit der Reihenfolge solares Geoengineering vor hoher Minimierung der Emissionen und an dritter Stelle die langsame Minimierung der Emissionen. Diese Reihenfolge führt dazu, dass solares Geoengineering auf Kosten anderer Klimaschutzmaßnahmen durchgesetzt wird. Bei einer anderen Möglichkeit, die die Einordnung der hohen Minimierung der Emissionen in der Rangfolge vor solarem Geoengineering und als letzte Option die niedrige Minimierung des CO₂s platziert, bleibt das Hauptziel, die Emissionen zu senken, bestehen (vgl. Wagner 2023, S. 36).Hinzu kommt im spieltheoretischen Rahmen, dass das endgültige Ergebnis auch davon abhängt, an welcher Stelle in der Rangfolge ein anderes Land solares Geoengineering verortet. So könnte solares Geoengineering auch an Platz drei der Rangfolge anderer Länder stehen. Je nachdem, an welcher Stelle es verortet wird, setzt sich in der Matrix ein anderes Szenario durch (vgl. Wagner 2023, S. 37).Es zeigt sich also, dass es sich bei den spieltheoretischen Überlegungen um ein komplexes Zusammenspiel von den verschiedenen Spielparteien und ihren Ansichten zum Klimaschutz handelt. Die bloße Verfügbarkeit von solarem Geoengineering kann aufgrund seiner Risiken auch zur Verschärfung der Umweltpolitik führen. Inwieweit solares Geoengineering durch den vernünftigen Einsatz einen positiven Effekt auf das Klima und den Planeten haben kann, bleibt immer noch unklar (vgl. Wagner 2023, S. 41).Moralisches Risiko des solaren GeoengineeringIm Zusammenhang mit dem solaren Geoengineering steht immer wieder der Begriff des moralischen Risikos - auch "moral hazard" genannt. Definitorisch wird moralisches Risiko beschrieben als "den fehlenden Anreiz, sich vor Risiken zu schützen, wenn man vor den Folgen geschützt ist" (Wagner 2023, S. 131). In der Anwendung gibt es ein breites Gebiet, auf dem das moralische Risiko wirken kann. Ein bekanntes Beispiel ist die Krankenversicherung oder das Anlegen eines Sicherheitsgurts beim Autofahren. Das bloße Anlegen kann zu riskantem Verhalten durch schnelleres Fahren führen. Denn der Sicherheitsgurt macht schnelles Fahren scheinbar sicherer (vgl. Wagner 2023, S. 131).Im Zusammenhang mit dem solaren Geoengineering besteht die Sorge darin, dass der Einsatz von solarem Geoengineering zu einem Anstieg der Kohlenstoffdioxid-Emissionen führen könnte und klimaschädliche Mechanismen weiter ausgebaut werden (vgl. Wagner 2023, S. 132). Gernot Wagner beschreibt das moralische Risiko, welches beim solaren Geoengineering zum Tragen kommt, auch als "grünes moralisches Risiko". Darunter versteht er "den fehlenden Anreiz, tiefgehende, komplexe Umweltprobleme anzugehen, weil die Möglichkeit einer schnellen technologischen Lösung, z.B. Geoengineering, besteht" (Wagner 2023, S. 133).Diese Bedenken stammen laut Wagner vor allem aus dem linken Umweltschutz und kritisieren, dass technologische Lösungen allein nicht weit genug gehen und die grundlegenden Ziele verfehlen. Befürchtet wird auch, dass komplexe gesellschaftliche Veränderungen umgangen werden könnten (vgl. Wagner 2023, S. 133). Kritisiert wird in diesem Zusammenhang auch, dass sich bei solarem Geoengineering eine "Technofix"-Mentalität zeigt, die darauf vertraut, dass soziale und ökologische Probleme mit technologischem Fortschritt zu lösen seien. An den zugrundeliegenden Ursachen und Treibern des Klimawandels wird nicht gearbeitet und Nebeneffekte sowie Risiken verlagert (vgl. Schneider 2020).Bei diesen Diskussionen muss man jedoch beachten, dass die gerade eingesetzten Interventionen, CO2-Emissionen zu reduzieren, um den Klimawandel zu bekämpfen, zu wenig greifen und die aktuellen politischen Debatten dazu führen, dass solares Geoengineering als eine Maßnahme im Kampf gegen den Klimawandel diskutiert wird (vgl. Wagner 2023, S. 141).Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, ob solares Geoengineering das erste oder das letzte Mittel gegen den Klimawandel ist. Wenn solares Geoengineering die beste Lösung darstellt, liegt es nach Wagner auch nahe, dass ein Verzicht auf fossile Brennstoffe unvorstellbar erscheint (vgl. Wagner 2023, S. 141). Andere, vielleicht auch schwierigere und teurere Maßnahmen gegen den Klimawandel erscheinen dabei überflüssig und das grüne moralische Risiko wird beschworen (vgl. ebd.).Wird solares Geoengineering als letzte Rettung angesehen, könnte es jedoch auch nicht den gewünschten Effekt erzielen. Denn wenn die erhofften Erwartungen nicht erfüllt werden, gibt es keine weitere Lösung. Daher kann solares Geoengineering nicht als alleinige Lösung für dieses komplexe Problem angesehen werden und das moralische Risiko schwingt in allen Entscheidungen für und gegen solares Geoengineering mit (vgl. ebd.).FazitDiese Seminararbeit wollte der Frage nachgehen, ob sich das solare Geoengineering als Maßnahme gegen den Klimawandel eignet. Aus Sicht der aktuellen politischen Lage, die in internationalen Abkommen eingebettet ist, in denen der Umgang mit solarem Geoengineering noch nicht hinreichend geregelt ist beziehungsweise eine Einigung immer wieder verschoben wird und kein rechtlicher Rahmen über die Nutzung von solarem Geoengineering besteht, verschiedene Risiken und Probleme sowohl auf technischer als auch auf sozialer Ebene konstatiert werden, zeigt sich, dass solares Geoengineering derzeit noch kein geeignetes Mittel im Kampf gegen den Klimawandel darstellt.Auch wenn sich solares Geoengineering in Form der Ausbringung von Aerosolen technisch und mit verhältnismäßig geringen Kosten umsetzen lassen würde, birgt es noch auf zu vielen Ebenen Risiken. Erschreckend sind vor allem die unvorhersehbaren Folgen, die nicht einschätzbar sind und die erst durch eine tatsächliche Anwendung auftreten können, sowie die Gefahr eines termination shocks. Gerade auf politischer Ebene, auf der Strukturen für einen Einsatz noch fehlen, würde ein verfrühter Einsatz vor allem Konflikte schüren und einem Spiel mit dem Feuer gleichkommen.Auch eine Klimapolitik, die solares Geoengineering vor das Ziel stellt, die CO₂-Emissionen signifikant zu senken, geht in die falsche Richtung. Solares Geoengineering kann in Zukunft als sinnvoller Zusatz gegen den Klimawandel und nicht als Lösung des eigentlichen Problems dienen.Bis solares Geoengineering durch Aerosole tatsächlich umsetzbar ist, bedarf es weiterer Forschung, nicht nur auf technischer, sondern auch auf sozialwissenschaftlicher Ebene, sowie geeigneter globaler Governance-Strukturen, die solch ein Vorgehen mit globalen Auswirkungen rechtfertigen können. Denn letztendlich stellt sich die Frage, ob und wer das Klima überhaupt beeinflussen will und darf. Und dazu sollte solares Geoengineering im öffentlichen Diskurs thematisiert und in einem transparenten und partizipativen Prozess in der Öffentlichkeit ausgehandelt werden, damit solares Geoengineering als technische Möglichkeit in der Zukunft eingesetzt werden kann.LiteraturDer Deutsche Wetterdienst (2023): Klimawandel – ein Überblick (dwd online) <https://www.dwd.de/DE/klimaumwelt/klimawandel/klimawandel_node.html> (26.12.2023).Deutschlandfunk (2023): Können wir nicht einfach die Sonne verdunkeln? (Deutschlandfunk vom 15.02.2023) <https://www.deutschlandfunk.de/geoengineering-klimawandel-100.html> (23.12.2023).Forschungsinformatiossystem (2023): Beispiel: Die "Tragik der Allmende" (Forschungsinformationssystem.de vom 14.07.2023) <https://www.forschungsinformationssystem.de/servlet/is/328924/> (07.01.2024).Gabler Wirtschaftslexikon (2023): Spieltheorie (wirtschaftslexikon.gabler.de) <https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/spieltheorie-46576#:~:text=Definition%3A%20Was%20ist%20%22Spieltheorie%22,von%20den%20Aktionen%20anderer%20abhängt> (08.01.2024). Heinrich Böll Stiftung (2018): Ein zivilgesellschaftliches Briefing zur Governance von Geoengineering. Dem Geo-Sturm standhalten (boell.de) <https://www.boell.de/sites/default/files/hbf_etc_geogovern_briefing_de.pdf> (11.01.2024).IPCC (2007): Climate Change 2007: Mitigation. Contribution of Working Group III to the Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (vom 12.01.2018) <http://www.ipcc.ch/pdf/assesment-report/ar4/wg3/ar4_wg3_full_report.pdf> (23.12.2023).Roelfes, Michael (2022): Klimapolitik in Deutschland (bpb vom 24.06.2022). https://www.bpb.de/themen/klimawandel/dossier-klimawandel/509727/klimapolitik-in-deutschland/ (01.01.2024). Royal society (2009): Geo-Engineering the Climate: Science, Governance and Uncertainty, Royal society: London.Schneider, Linda (2020): Ein Technofix für das Klima? Die Interessen hinter dem Geoengineering im Meer (boell.de vom 23.04.2020) <https://www.boell.de/de/2020/04/23/ein-technofix-fuer-das-klima-die-interessen-hinter-dem-geoengineering-im-meer> (10.01.2024). Umweltbundesamt (2011): Geo-Engineering wirksamer Klimaschutz oder Größenwahn? <https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/4125.pdf> (10.01.2024).Wagner, Gernot (2023): Und wenn wir einfach die Sonne verdunkeln? Das riskante Spiel, mit Geoengineering die Klimakrise aufhalten zu wollen, Oekom: München. Wittstock, Felix (2023): Alternativloses Climate Engineering? Kommunikation von NGOs in einer klimapolitischen Kontroverse, Nomos: Baden Baden.
Die eherne Mauer und die Aktualität der Herbartschen Ethik Von Renato Pettoello »Dem Inhalte [und .] der Methode nach [.] ist mit diesem Systeme ein ganz neues Bildungsmittel in die Philosophie der Gegenwart gekommen.« (I. H. Fichte, Ein Wort über die "Zukunft" der Philosophie, in "Zeitschrift f. Phil. u. philos. Kritik" XXI (1852), p. 239). Das Problem ist immer wieder dasselbe: Ist es möglich, eine feste Grundlegung für die Moral zu finden? Bzw. ist es möglich, ein Prinzip oder mehrere Prinzipien auszumachen, die es uns gestatten, zwischen Gut und Böse zu wählen? Die Schlange der Versuchung verspricht Adam und Eva keine immensen Reichtümer oder unendliche Macht; außer der Unsterblichkeit verspricht sie ihnen, wenn sie die Frucht des verbotenen Baumes essen, daß sie sein werden »wie Gott«, d.h. daß sie wissen werden, »was gut und böse ist.« Der Mensch ist also im selben Augenblick, in dem er zum Menschen wird, d.h. in dem Augenblick, in dem er seine Unschuld verliert, sozusagen dazu gezwungen, sich zu fragen, ob das, was er tut, gut oder böse sei. Einzig der Mensch besitzt diese gleichzeitig göttliche und teuflische Fähigkeit. In seiner Unschuld kann sich das Tier dieses Problem nicht einmal stellen; mit Ausnahme vielleicht der höheren Primaten hat es kein Bewußtsein von dem, was es tut. Das Tier kann unschuldigerweise grausam sein, der Mensch nicht. Doch was sind denn eigentlich Gut und Böse? Wie können wir feststellen, ob dies eine gute oder böse Sache ist? Und ob sie immer gut ist oder nur unter gewissen Umständen, unter anderen aber nicht? Sicherlich können wir das Problem nicht dadurch lösen, daß wir einfach behaupten, dies sei gut, dies hingegen böse. Schon Platon hatte dies mit großer Klarheit erkannt und im Menon den Sokrates folgendes sagen lassen: »Das Gleiche gilt denn auch von den Tugenden. Mag es ihrer auch viele und mancherlei geben, so stehen sie doch alle unter ein und derselben Begriffsbestimmung, die den Grund dafür enthält, daß sie Tugenden sind, und der Antwortende tut gewiß gut, auf diese sein Augenmerk zu richten, um so dem Fragenden Auskunft zu geben über das Wesen der Tugend.« Ähnlich steht es auch im Euthyphron zu lesen: »Erinnerst du dich nun, daß ich dich nicht dazu aufforderte, mich über eine oder zwei der vielen frommen Handlungen zu belehren, sondern über das Wesen selbst, durch welches alles Fromme fromm ist?« »Das Wesen der Tugend«. Ich kann mir vorstellen, daß viele der Anwesenden hier schon die Nase gerümpft haben und diesen Ausdruck für abstrakt und vielleicht sogar für verdächtig halten. Und dies mit Recht. Denn es liegt ja auf der Hand, daß Platon die von der griechischen Polis und mehr noch die von Athen anerkannten Tugenden im Sinne hatte und von diesen nun verlangte, daß sie universalen Wert besäßen. – Wir sind uns der Übel nur allzu bewußt, welche in der Vergangenheit – und vielleicht auch noch heute – von der Überzeugung verursacht wurden, die einzig mögliche Kultur sei die europäische. Aufgrund dieser Überzeugung haben wir uns dazu ermächtigt gefühlt, unser Model von Kultur und Sittlichkeit ganzen Volksgruppen auf dem Planeten aufzuzwingen und dies oft mit Gewalt. Heute akzeptieren wir zumindest formal, daß unterschiedliche Modelle nebeneinander existieren können und wir hüten uns davor – oder zumindest sollten wir uns hüten –, einen erneuten Kulturkolonialismus zu betreiben. Zum Glück. Und doch hat sich gerade unter den Personen, welche sich der Unterschiede stark bewußt sind und sie am meisten respektieren (zu denen ich hoffe, auch mich selbst zählen zu dürfen), oft eine Art von ethischem Relativismus verbreitet, der, wenn man genauer hinsieht, widersprüchlich ist und oft das Gegenteil erreicht. Oft nämlich endet es auf diese Weise mit der Verwechslung von Anthropologie und Ethik. Natürlich steht es außer Frage, daß jede Kultur das Recht hat, ihre eigenen ethischen Regeln selbständig zum Ausdruck zu bringen und wir haben die Pflicht, sie zu respektieren. Doch gilt dies immer und in jedem Fall? Während nämlich der Anthropologe sich darauf beschränken muß, Sitten und Traditionen ohne Wertung aufzuzeichnen, liegen die Dinge in der Ethik nicht so. Hier hat man das Recht/die Pflicht, Werturteile zu fällen. Der Kindermord an den Mädchen, gewisse schreckliche Praktiken, wie Infibulation, die Ausbeutung der Kinder, die Sklaverei, die Folter, die Todesstrafe – um nur einige Beispiele zu nennen, doch leider könnte man noch sehr viele andere hinzusetzen – sind Praktiken, welche bei einigen Kulturen als moralisch gleichgültig betrachtet werden, wenn nicht sogar als moralisch akzeptabel; können derartige Praktiken uns im Namen eines falsch verstandenen Relativismus gleichgültig sein? Und wenn sie uns nicht gleichgültig sind und uns sogar empören und unseren Protest erregen, aufgrund welcher Prinzipien fühlen wir uns dazu ermächtigt? Es könnte nun jemand einfach und einsichtig antworten: aufgrund der Anerkennung der menschlichen Würde. Wenn aber jemand sie ablehnt? Wenn aber, wie einer der Gesprächspartnern in einem Herbartschen Dialog in platonischem Stil über das Böse sagt, welcher das Kantische Prinzip diskutiert, demzufolge man stets so handeln soll, daß man die Menschen »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« behandelt, wenn also »jemand sich dessen weigert; wird nun das Böse unmittelbar anschaulich seyn, das daraus entsteht? Oder kann der, welcher den Andern als Maschine gebraucht, auch noch fragen: was denn darin Schlimmes liege?« (IV, 490). Es ist immer wieder dasselbe, werden Sie sagen: die Philosophen (und zudem noch die italienischen) müssen immer alles unnötigerweise kompliziert machen. Warum sollte man nach einer festen Grundlage suchen, soweit es eine solche überhaupt gibt, wenn der gesunde Menschenverstand und die Menschlichkeit ausreichen, um uns bei der Bewertung von Gut und Böse zu leiten? Einmal abgesehen davon, daß Philosophie sich nicht mit dem gesunden Menschenverstand zufriedengeben kann und seit je nach einem festeren und sichereren Wissen strebt, sind wir uns denn wirklich so sicher, daß uns der Gemeinsinn eine zuverlässige Führung bietet? Außerdem bringen die mit der Ethik zusammenhängenden Probleme wichtige Auswirkungen im juristischen und, allgemeiner, im politischen Bereich mit sich, welche, so denke ich, eine aufmerksame Reflexion und eine feste Grundlage verdienen. Es ist auf der anderen Seite auch klar, daß die Grundlage, die wir suchen, allgemeine Gültigkeit haben muß, ohne deshalb bloß abstrakt zu sein, denn sonst bliebe sie in der Schwebe und im Leeren, ohne als Anleitung für den wirklichen Menschen fungieren zu können. Sie wird ebenfalls die fundamentalen Prinzipien der Moral auf klare und endgültige Weise zu definieren haben, ohne deshalb jedoch die Existenz unterschiedlicher moralischer Normen auszuschließen. Es ist nicht schwer zu sehen, daß sowohl diachronisch im Verlauf der Geschichte als auch synchronisch in den verschiedenen heutigen Gesellschaften unterschiedliche moralische Regeln existiert haben und existieren, die zu respektieren sind, solange sie nicht mit den Prinzipien in Konflikt geraten (sicherlich hat es keinen Sinn und ist vielmehr beleidigend und demütigend, den Masai-Kriegern die Unterhosen aufzuzwingen, wie es das viktorianische England getan hat); im gegenteiligen Falle jedoch sind sie in aller Schärfe anzuprangern. Zwei Beispiele: Der im alten Griechenland und in Rom verbreitete Brauch, die Neugeborenen auszusetzen, ist aus dem historischen Blickwinkel heraus eine einfache Tatsache, aus ethischer Sicht aber ein Greuel. Wer würde dies heute wieder einführen wollen? Die Verurteilung zum Tode durch Steinigung einer Frau, weil sie einem unehelichen Sohn das Leben geschenkt hat, nachdem sie vergewaltigt wurde, ist nicht nur ein juristisches Ungeheuer, sondern auch moralisch inakzeptabel. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei klargestellt, daß wir uns hier auf einer ausschließlich ethischen Ebene bewegen, die in keiner Weise Formen der Aufzwingung zuläßt. Ich bin mir auf der anderen Seite auch vollkommen der komplexen Implikationen, welche all dies mit sich bringen könnte und des Konflikts bewußt, der zwischen traditionalen Formen von Kultur und ethischen Prinzipien aufkommen könnte, doch denke ich auch, daß wir uns nicht hinter derartigen Schwierigkeiten verstecken können. In jedem Fall lassen wir für den Moment diese Probleme außer Acht und konzentrieren uns auf das Hauptproblem: Die Grundlage. Ich bin davon überzeugt, daß Herbarts Philosophie bei dieser Suche in die richtige Richtung führen kann und daß sie uns auch heute noch wichtige Anregungen auch im ethischen Bereich zu bieten hat. Bevor wir uns jedoch in Herbarts Reflexionen zur Moral vertiefen, ist es notwendig, vorher noch schnell auf Kant zu sprechen zu kommen, der für Herbart konstanter Bezugspunkt ist und auch für das zeitgenössische Denken einen unausweichlichen Probierstein darstellt. Natürlich werde ich nur auf einige wenige zentrale Punkte der Kantschen Ethik zu sprechen kommen. Ich fürchte, eine etwas technische Terminologie nicht vollkommen vermeiden zu können, doch ich hoffe, mich trotzdem klar verständlich zu machen. Welche Eigenschaften muß ein moralisches Prinzip besitzen, um wahrhaft universal zu sein? Vor allem müssen hier die Grenzen geklärt werden, indem das moralische Prinzip klar und deutlich von den theoretischen Prinzipien unterschieden wird, da der Gegenstand, mit dem diese sich beschäftigen ein grundlegend anderer ist. Dies bedeutet, daß die Moral der Metaphysik, der Psychologie usw. gegenüber autonom ist. Wenn wir wollen, daß das Prinzip, welches wir suchen, auch wirklich universal ist, ist es des weiteren notwendig, daß es nicht auf subjektiven Elementen fußt oder auf solchen, die nicht verallgemeinerbar sind, und daß es absolut autonom ist, d.h. seine Rechtfertigung nicht von fremden Elementen erhält. Die subjektiven Neigungen, die Gefühle, die Leidenschaften usw. können also die Moral nicht fundieren. Dies heißt allerdings nicht, daß sie an sich böse wären, sondern nur, daß sie das Prinzip subjektiv beeinflussen, welches dementsprechend keine universale Geltung mehr besäße. Dies eben ist Kant zufolge die Grenze aller vergangenen Versuche, die Moral zu begründen. Sie suchten die Grundlage der Moral nämlich in materiellen und heteronomen Prinzipien, wie der Glückseligkeit oder dem Nützlichen – doch meine Glückseligkeit, mein Nützliches kann das Unglück und den Schaden eines anderen bedeuten –; die Vollkommenheit oder das höchste Gute – welche jedoch entweder vergängliche Begriffe sind oder von der Geschichtsepoche bzw. der Gesellschaft beeinflußt wurden, welche sie hervorgebracht hat. Man kann also auch nicht, wie Platon es wollte, mit der Definition des Guten und des Bösen beginnen: Böse und Gut sind lediglich Gegenstände der praktischen Vernunft, ja eigentlich »die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft.« Schließlich kann auch die Religion die Moral nicht begründen, sondern eher das Gegenteil: Die Religion ist eventuell eine moralische Forderung. Andernfalls gründete Moral sich auf ein heteronomes Prinzip, d.h. ihre Rechtfertigung käme von außen. Das Prinzip, das wir suchen, muß also folgende Eigenschaften haben: Es muß autonom, bedingungslos und formal sein. Der Sitz, um uns so auszudrücken, dieses Prinzips kann nirgendwo anders als in der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch liegen. Im Gegensatz zu dem, was immer wieder wiederholt wird, ist die Kritik der praktischen Vernunft in keiner Weise eine "Moral", eine Tugendlehre; sie ist vielmehr eine Art von Metaethik. Sie bewegt sich sozusagen auf einer zweiten Ebene, auf einer metanormativen Ebene, welche eben die Moral als ihren Gegenstand hat. Genauso wie die theoretische Vernunft die Mathematik und die Physik zum Gegenstand hat, oder genauer: so wie sie die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft untersucht, so fragt die praktische Vernunft nach den Bedingungen der Möglichkeit der Moral, d.h. einer Modalität von Erfahrung, welche ihre spezifische Selbständigkeit besitzt. Die Philosophie, sagt Kant, muß sich darauf beschränken, »eine neue Formel« der Moral zu entwerfen; weder kann sie noch soll sie beanspruchen, eine neue Moral zu erfinden. Dies erklärt auch eine gewisse Bestürzung, die bei einer ersten, oberflächlichen Lektüre des Werkes aufkommen kann. Wie denn – will man sagen – am Ende all dieser Mühsal weiß ich nicht einmal, ob ich gut handle, wenn ich einer alten Dame helfe, die Straße zu überqueren. Der Grund hierfür besteht darin, daß dies nicht die Aufgabe der Kritik der praktischen Vernunft ist. Das Problem der Normen und der Regeln wird sich natürlich stellen, doch hierfür muß man andere Werke Kants heranziehen, wie etwa die Metaphysik der Sitten. Objektivität der Moral bedeutet für Kant allgemeine Gültigkeit dessen, was er das moralische Gesetz nennt und dieses Gesetz ist ein »Faktum der Vernunft«, weil es seit je in den vernünftigen Wesen vorhanden ist, d.h. in den Menschen als Menschen. Das moralische Gesetz bedarf keinerlei philosophischer Rechtfertigung; es ist hier eine Grundlegung weder möglich noch notwendig. Und zwar deshalb, weil es sein Fundament in sich selbst findet bzw. weil es an sich gültig ist und sich uns gegenüber von selbst durchsetzt. Diese Behauptung nun scheint paradox. Was heißt das, das moralische Gesetz brauche keine Grundlegung? Die Antwort auf diese Frage finden wir in der Kritik der reinen Vernunft, wo zu lesen ist: »Von der Eigenthümlichkeit unsers Verstandes aber […] läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.« Es hat demnach keinen Sinn, nach einer weiteren Grundlage der Grundlage zu suchen: wir müssen uns mit diesem Faktum begnügen. In den Menschen tritt das moralische Gesetz als Imperativ auf, der berühmte kategorische Imperativ: Du sollst, weil du sollst. Nicht: Du sollst dieses oder jenes tun, sondern du sollst das moralische Gesetz befolgen. Aber aufgepaßt, das moralische Gesetz und der kategorische Imperativ stimmen keineswegs überein. Sie scheinen nur für den Menschen übereinzustimmen, welcher nicht nur ein Vernunftwesen, nicht reine Vernunft ist, sondern der auch (zum Glück) ein sinnliches Wesen ist, das Neigungen, Wünschen, Impulsen usw. unterliegt. All diese Gefühle sind natürlich legitim, aber sie können nicht, wie wir gesehen haben, zur Grundlegung der Moral beitragen. Für einen Engel etwa wäre der Imperativ absolut nicht notwendig, weil sein Wille vollkommen mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen würde. Dem kategorischen Imperativ stehen wie bekannt die hypothetischen Imperative entgegen; Wenn du dies tun willst, wenn du das erreichen willst, mußt du dies oder jenes tun. Sie können jedoch keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Doch auch in diesem Fall müssen vereinfachende Banalisierungen vermieden werden. Der Gegensatz zwischen kategorischem Imperativ und hypothetischen Imperativen ist nicht der Gegensatz zwischen Moralität und Unmoralität. Freilich ist es wahr, daß der kategorische Imperativ der moralische Imperativ ist, doch das bedeutet nicht, daß der hypothetische Imperativ notwendigerweise unmoralisch sein muß. Auch ist die sinnliche Natur des Menschen nicht schon als solche ein Übel; sie wird dazu erst in dem Moment, in dem sie mit dem moralischen Gesetz in Konflikt gerät. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Vorstellung scheint mir Kant eine rigorose, aber keine rigoristische Moral vorzuschlagen, die sich der Grenzen des Menschlichen und seiner Rechte als sinnliches Wesen vollkommen bewußt ist. Aus dem Faktum des moralischen Gesetzes wird die Willensfreiheit abgeleitet. Die Freiheit, sagt Kant, ist »allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes« bzw. die Bedingung der Wirklichkeit des moralischen Gesetzes. Wäre der Mensch nicht frei, könnte man von Moral überhaupt nicht sprechen, denn er wäre dann wie die Tiere. Auf der anderen Seite ist das moralische Gesetz »die ratio cognoscendi der Freiheit« , d.h. das, was es uns erlaubt, die Freiheit zuzulassen. Nur so können wir verstehen, daß wir einen freien Willen haben. Noch einmal, die transzendentale Freiheit, von der Kant hier spricht, ist nicht so sehr die Freiheit, dieses oder jenes zu tun, als vielmehr die Möglichkeit selbst von Freiheit, eine Freiheit als solche und absolut unbedingt. Ich entschuldige mich für diese allzu kurze und schematische Darstellung der Kantschen Morallehre, die notwendigerweise eine ganze Reihe von wichtigen Problemen außer Acht gelassen hat. Doch war es meines Erachtens notwendig, einige zentrale Themen dieser Theorie wieder ins Gedächtnis zu rufen, um nun Herbarts Position verstehen zu können. Seine Stellung ist, um die Wahrheit zu sagen, komplex und zweideutig, denn seine Kritiken an Kant, und nicht nur diejenigen im moralischen Bereich, sind oft ungerechtfertigt und doch ist er gerade in diesen Fällen besonders anregend. Bevor ich jedoch endlich zu Herbart komme, sei es mir erlaubt, Sie noch einmal auf die Wichtigkeit des ethischen Formalismus Kants aufmerksam zu machen, denn eben hier kann man meines Erachtens die Aktualität der Herbartschen Ethik voll und ganz ausmessen. Das ethische Prinzip, haben wir gesagt, muß formal sein, da es sonst durch materielle Elemente bedingt wäre, welche seine Universalität herabsetzen würden, weil es »von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden [kann], ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde.« In diesem Sinne ist der meines Erachtens fehlgeschlagene Versuch von John Rawls bezeichnend, der eine Metaethik verwirklichen wollte ohne den Formalismus, wie auch immer man ihn verstehen will, oder auf jeden Fall durch seine Schwächung. In der Tat ist er in den Werken nach A Theory of Justice dazu gezwungen, seine Position zu revidieren, den Anspruch auf Universalität seiner Moral zu verleugnen und ihre Geltung auf die industrialisierten Gesellschaften des Abendlandes einzuschränken. Der Kantische Formalismus allerdings impliziert keineswegs Leere. Esi ist mir klar, daß die allgemeine Form sehr wohl ohne Inhalte erkannt werden kann, doch das heißt noch lange nicht, daß sie der Inhalte entbehrt. Die Form gibt es in Wahrheit nie ohne die Inhalte, doch bedeutet das nicht, daß man sie nicht unabhängig von ihnen betrachten kann. Wie bekannt riefen der vorgebliche Rigorismus Kants und der Formalismus seiner Ethik unmittelbar negative Reaktionen hervor. Man denke, nur um einige Namen zu nennen, an Schiller und Hegel, an Fichte und Schleiermacher. In einer seiner Xenien schreibt Goethe sogar sarkastisch: »Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung | Und so wurmt mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.« Doch die Diskussion setzte sich weit über das eben vergangene 18. Jahrhundert hinaus fort. So hat Husserl, der eine formale Ethik in Analogie zur Logik aufbauen wollte, Kant kritisiert, weil seine Ethik nicht formal genug sei, während Max Scheler, der im Gegenteil eine materielle Wertethik begründen wollte, den Kantschen Formalismus glattweg ablehnte. Doch nun ist es Zeit, zu Herbart überzugehen, der ja auch als Inspirationsquelle und als Bezugspunkt allen Hauptdarstellern dieser Debatte gegenwärtig ist, H. Cohen ebenso wie Vorländer, die meines Erachtens entscheidende Beiträge zum ethischen Formalismus Kants geliefert haben , Scheler ebenso wie, auf vermittelte Weise, Husserl. Auch Herbart reiht sich in den Chor der Kritiken ein. Auch er weist den Kantschen Formalismus zurück, weil er ihm leer erscheint und deshalb unfähig, wirklich vom Besonderen Rechenschaft zu geben, das sich im Allgemeinen verliert. Des weiteren lehnt er die transzendentale Freiheit (auch wegen ihrer unheilvollen pädagogischen Konsequenzen) und den kategorischen Imperativ ohne Vorbehalt ab, da sie für ihn nichts anderes sind, als begriffliche Absurditäten. Natürlich hat auch für ihn die Pflichtmäßigkeit eine zentrale Funktion in der Behandlung der Moral; doch der kategorische Imperativ und die Kantschen Pflichten sind am Ende eben wegen ihres leeren Formcharakters dazu gezwungen, auf eine höhere Autorität zu rekurrieren, auf einen ewigen Herrn. Allerdings erkennt er an, daß mit Kant »der wichtige Theil der Reform, welche die Sittenlehre treffen mußte.« (III, 235) abgeschlossen wurde. Kant hat das Verdienst, die Selbständigkeit der Moral klar erkannt zu haben: selbständig gegenüber dem Gegenstand, der nicht mit dem der theoretischen Vernunft verwechselt werden darf und selbständig gegenüber der Form, welche nach Kants Absicht von jeder Bestimmung unabhängig sein sollte, es sei denn der des reinen Wollens in seiner Universalität. Kant wird also auf der einen Seite das Verdienst zuerkannt, Ethik und Metaphysik klar voneinander getrennt zu haben: Der verfehlte Ausdruck Metaphysik der Sitten – sagt Herbart – ist lediglich eine unglückliche Redensart, die der Tatsache keinen Abbruch tut, daß Kant die ursprüngliche, besondere und absolute Evidenz des moralischen Elements erkannt hat, welches keiner äußeren Stützen bedarf (XII, 348). Auf der anderen Seite kommt ihm das Verdienst zu, »gleichsam eine eherne Mauer« (III, 70) zwischen der Totalität der materiellen Prinzipien des Wollens und den formalen Prinzipien aufgerichtet zu haben. Das Bestreben Herbarts besteht also in folgendem: ein moralisches Prinzip oder besser moralische Prinzipien ausmachen, welche allgemeinen Wert haben, jedoch gleichzeitig das Besondere wahren; welche formal sind, aber nicht leer, ohne deshalb von materiellen Elementen bedingt zu sein. Wie sollen wir uns also bewegen? Zunächst einmal ist klar, daß das ethische Urteil, welches der Herbartschen Moral zugrunde liegt, keinen Anspruch darauf erheben kann, im logischen Sinne universal zu sein, da es auf diese Weise das Besondere vollkommen aus dem Auge verlöre; auch kann es keineswegs auf dem Wege der Abstraktion erreicht werden, wie es die Empiristen möchten, da es auf diese Weise die Allgemeingültigkeit verlöre. Des weiteren muß man sich davor hüten, um alles in der Welt ein einziges Prinzip zu suchen, das es nicht gibt und das auch nicht gesucht werden soll. Wir werden also eine Vielfalt von Prinzipien vor uns haben, ähnlich dem, was in der Metaphysik auch passiert. Ein einziges Prinzip ist eine reine Abstraktion, welches das richtige Verhältnis zwischen Gegebenem und Prinzipien umkehrt. Zuerst werden die einzelnen Werturteile gefällt und dann wird künstlich ein einziges Prinzip aufgestellt. So läßt Herbart in seinen Gesprächen über das Böse, die ich schon erwähnt habe, einen seiner Gesprächspartner, und zwar Otto, zu einem anderen, der die Thesen Fichtes vertritt, sagen: »Sie tadeln erst den Streit, und alsdann aus diesem Grunde die Trägheit; Sie verurtheilen den Hass, und darum hintennach das, was Sie als Quelle des Hasses ansehen, und so weiter.« (IV, 491) Doch was geschieht nun eigentlich, wenn wir ein moralisches Urteil fällen oder wenn wir sagen, dies sei gut, das sei schlecht? Um welche Form von Urteil handelt es sich? Und betrifft das Urteil die Form oder den Inhalt? Zunächst leuchtet ein, daß das Urteil (A ist B zum Beispiel) eine Beziehung vorsieht und das gilt auch für das Werturteil: Ein einzelnes materielles Element ist moralisch indifferent, es ist weder gut noch böse. Hat man einmal eine Güterlehre ausgeschlossen und das Problem des Werts oder Unwerts für den Willen gestellt, dann kann dieser letztere, da er von allen Beziehungen zu den Dingen befreit ist, sich einzig durch die Form der Beziehung charakterisieren, welche er angenommen hat: »Jede Zusammenfassung – so Herbart -, welche als solche eine neue Bedeutung erlangt, ergiebt eine Form; im Gegensatze gegen die bloße Summe dessen, was zusammengefasst wird, welche Summe in sofern Materie heißt. Also kann nur der Form des Wollens ein Werth oder Unwerth beygelegt werden.« (X, 348) Das Geschmacksurteil betrifft also lediglich die Form, nicht den Inhalt und ist doch nicht abstrakt: Es ist nichts anderes als der Name für besondere Beziehungsurteile. Doch muß sich die praktische Philosophie keineswegs schämen, keine solche Universalität erreichen zu können, welche alle Tatsachen des Lebens vollkommen erfassen könnte: »das menschliche Leben ist viel zu bunt, als daß die einfachen Willensverhältnisse im Voraus wissen könnten, wie sie einander darin begegnen werden.« (II, 351) Das Werturteil, welches für die Ästhetik und mehr noch für die Ethik bezeichnend ist, stellt sich als Geschmacksurteil dar, welches unmittelbar Billigung oder Mißbilligung auslöst. Aus dem Geschmacksurteil muß jeder subjektive Gemütszustand ausgeschlossen werden. Es handelt sich um ein reines Urteil und das unterscheidet Herbart sicherlich klar von den englischen Moralisten, mit denen er trotzdem, wie wir gleich sehen werden, bedeutsame Punkte gemein hat. In Über die ästhetische Darstellung der Welt schreibt er denn auch, indem er sich ausdrücklich auf Platon beruft: Die ästhetische, und das heißt für Herbart auch die ethische Notwendigkeit »charakterisiert sich dadurch, daß sie in lauter absoluten Urtheilen, ganz ohne Beweis, spricht, ohne übrigens Gewalt in ihre Forderung zu legen. Auf die Neigung nimmt sie gar keine Rücksicht; sie begünstigt und bestreitet sie nicht. Sie entsteht beym vollendeten Vorstellen ihres Gegenstandes.« (I, 264) Die ethischen Urteile müssen demnach absolut und unbedingt sein und können deshalb nicht im Willen als einer subjektiven Wirklichkeit gesucht werden, sondern einzig in einer objektiven Wirklichkeit, die – wie wir gleich sehen werden – in den praktischen Ideen ihren Ausdruck findet, welche typische Willensverhältnisse sind, die mit ihrer Beispielhaftigkeit notwendige Urteile hervorrufen. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Obschon wir uns in der Heimatstadt dieses großen Denkers befinden (meines Erachtens sicherlich einer der größten Denker nach Kant), ist nicht gesagt, daß auch alle seine Ethik aus der Nähe kennen. Deshalb scheint es, so hoffe ich, nicht unnütz, kurz die wichtigsten Züge darzustellen. Herbart lehnt also, wie gesehen wurde, Kants Formalismus ab, dem er einen Formalismus entgegenzusetzen beabsichtigt, welcher ein solcher nur deshalb ist, weil er vom besonderen Inhalt der menschlichen Handlungen absieht, allerdings die typischen Verhältnisse, welche diese Handlungen aufweisen, einschließt. Die Absolutheit, die mit dem Formalismus eng verbunden ist, wird dann Herbart zufolge nicht im Willen als einer subjektiven Wirklichkeit gesucht (in Herbarts Augen wäre dies der Kantsche gute Wille), sondern in einer objektiven Wirklichkeit, in unwillkürlichen Urteilen der Billigung oder Mißbilligung, welche jeden Aspekt des menschlichen Lebens einbeziehen. Die moralische Pflichtmäßigkeit besteht aus absoluten, atheoretischen Urteilen. Die Haltung des urteilenden Subjekts muß also der des reinen Beobachters entsprechen oder, wie er mit evidentem Bezug auf Adam Smiths "interesselosen Zuschauer" auch sagt, der des »inneren Zuschauers.« (I, 118, siehe auch X, 338-340) Die praktischen Ideen sind eben Ausdruck von typischen Willensverhältnissen und rufen mit ihrer Beispielhaftigkeit unwillkürliche Urteile der Billigung oder Mißbilligung hervor. Die moralische Pflichtmäßigkeit wird also durch die unmittelbare Notwendigkeit des "ästhetischen" Urteils garantiert, eine Notwendigkeit, die sich den Menschen aufdrängt; eine Notwendigkeit, die aus dem objektiven "Wert" herkommt, der in jenen Urteilen beschlossen liegt, die in ihm ihren Inhalt finden und der stark an den Respekt erinnert, den Kant zufolge das moralische Gesetz unmittelbar und notwendig hervorruft, aber auch an den "ästhetischen Geschmack" der englischen Moralisten. Allerdings sind es nicht die Ideen, welche unmittelbar Gehorsam verlangen; die Pflicht vielmehr, die aus ihnen herkommt, fordert ihn. Das Gebieterische der Pflicht leitet sich eben gerade von der Billigung oder Mißbilligung her, welche die Urteile gegenüber den moralischen Ideen zum Ausdruck bringen, insoweit sie als objektiv gültige und universale anerkannt sind und dies unabhängig von der Befriedigung, die daraus entstehen kann. Ursprünglich jedenfalls ist nicht die Pflicht. Erst wenn man sich seiner eigenen Verpflichtung bewußt wird, indem man einer Richtschnur folgt, hat man es mit dem Begriff der Pflicht zu tun, wodurch man nun wirklich in die Moralität eintritt. Der Begriff der Pflicht kann nicht das erste Fundament der moralischen Wissenschaft sein, denn, wäre dem so, dann müßte eine unmittelbare Sicherheit bestehen für den Wert eines ursprünglichen Befehls. Doch dies ist nicht möglich, denn befehlen bedeutet wollen, und sollte der Befehl einen ursprünglichen Wert haben, dann käme ein Konflikt zwischen den unterschiedlichen Willen auf, wobei die einen untergeordnet, der andere herrschend wäre; doch jedes Wollen ist als Wollen jedem anderen gleich und keines kann sich über das andere erheben. Die Grundlage der Ethik besteht also weder im Begriff der Pflicht noch in dem des Guten und auch nicht in dem der Tugend, sondern einzig in einer spontanen Reaktion gegenüber den jeweiligen Situationen, welche erst in der Folge moralisch wird, wenn man von den reinen ethischen Ideen übergeht zu den moralischen Maximen. Die ethischen Ideen sind also natürlich anerkannte "Werte", die angemessene Handlungen anraten, weil sie ein gemeinsames Gut der menschlichen Natur sind, dem man widerspricht, wenn man nicht gehorcht. Die ursprünglichen praktischen Ideen sind fünf und nicht gegenseitig auseinander deduzierbar; das wahrhaft moralische Urteil muß alle fünf Ideen vereinigen. Keine von ihnen kann isoliert und von den anderen getrennt genommen werden. Die erste praktische Idee ist die »Idee der inneren Freiheit«, die in keiner Weise mit der transzendentalen Freiheit verwechselt werden darf. Es handelt sich vielmehr, wie Herbart schreibt, um »diejenige Freyheit der Wahl, die wir alle in uns finden, welche wir als die schönste Erscheinung unsrer selbst ehren, und welche wir unter den andern Erscheinungen unsrer selbst hervorheben möchten« (I, 261). Herbart zieht also die Beziehung in Betracht, welche die innere Kohärenz bei der Bewertung des Willens betrifft bzw. die Beziehung zwischen dem Willensakt und dem Werturteil. Ihr Zusammenstimmen ist eben die Idee der inneren Freiheit, der innigen und tiefen Einheit der einzelnen Personen mit sich selbst. Dieses Zusammenstimmen ruft unmittelbar Billigung hervor, während im Falle, daß der Wille nicht mit den Forderungen des Werturteils übereinstimmt, sich eine Beziehung einstellt, welche unmittelbar mißfällt. Die zweite praktische Idee ist die »Idee der Vollkommenheit« und sie beschäftigt sich mit den Beziehungen der einzelnen Willensakte untereinander. Die dritte praktische Idee ist die »Idee des Wohlwollens.« Mit dieser Idee befinden wir uns in einer mittleren Stellung zwischen der Betrachtung eines einzelnen Willens und der Beziehung zwischen mehreren Willen. Die Idee des Wohlwollens nämlich setzt einen einzelnen Willen mit einem anderen in Beziehung, insoweit er von jenem vorgestellt wird. Das Wohlwollen besteht somit in der Harmonie des eigenen Willens mit einem anderen, insoweit er vorgestellt wird. Dieses Verhältnis ruft unmittelbar Billigung hervor, während das Gegenteil, d.h. der intentionale Kontrast zwischen zwei Willen mißfällt. Die vierte praktische Idee ist die »Idee des Rechts.« Ein weiteres Mal schwimmt Herbart gegen den Strom, denn er unterscheidet nicht zwischen Moralphilosophie und Philosophie des Rechts; mehr noch, er denkt, daß einige der grundlegenden Fehler der Philosophie des Rechts seiner Zeit eben in dieser Trennung zu suchen seien. Und wir Italiener können davon eine Geschichte erzählen. Das Recht, behauptet Herbart, ist das Zusammenstimmen mehrerer Willen, welches als Regel verstanden wird, um dem Konflikt zuvorzukommen. Die Idee des Rechts hat also die Aufgabe, Kontraste, die zwischen zwei realen, in Beziehung stehenden Willen aufkommen, zu vermeiden oder zu überwinden, wobei beide diese Idee als Einschränkung ihrer Willkür spontan und wie eine Notwendigkeit akzeptieren. Die fünfte und letzte praktische Idee ist die »Idee der Billigkeit.« Wenn in der Idee des Rechts das intentionale Element keine Rolle spielte, so ist es hingegen zentral in der Idee der Billigkeit. Herbart versucht die Notwendigkeit klarzumachen, daß zwischen Schuld und Strafe ein genaues Gleichgewicht herrsche. Durch die fünf praktischen Ideen sind Herbart zufolge alle möglichen Grundverhältnisse zwischen Urteil und Willen nach einer klaren Ordnung bestimmt, die vom Einfachen zum Komplexen aufsteigt. Bisher hat er nur die Verhältnisse des Willens einer und derselben Person oder zwischen einzelnen Personen in Betracht gezogen, doch dies schöpft natürlich die Zahl aller möglichen praktischen Verhältnisse nicht aus. Es müssen nun Strukturen von Verhältnissen zwischen mehreren Willen untersucht werden, zwischen einer unbestimmten Vielheit von vernünftigen Wesen. Dieser Übergang von den einzelnen Individuen zur Gesellschaft hat nach Herbart nicht die Notwendigkeit zur Folge, neue Verhältnisse einzuführen: Alle Grundverhältnisse werden von den ursprünglichen moralischen Ideen ausgeschöpft. Lediglich die Komplexität der Verhältnisse zwischen den verschiedenen Willen ist nun größer, von denen wir annehmen müssen, daß sie sich in einem konstanten Fortschritt hin zu einer immer vollkommeneren Einheit befinden. An diesem Punkt nun führt Herbart die abgeleiteten Ideen ein, die den ursprünglichen Ideen entsprechen – auch sie sind fünf an der Zahl, doch keine Angst, ich habe nicht die Absicht, sie hier aufzuzählen –, auch wenn die von ihm angewandte Darstellung in gewisser Weise der vorhergegangenen gegenüber umgekehrt verfährt. Man muß nämlich bei den letzten beiden Verhältnissen beginnen, welche den anderen gegenüber eine weniger vollkommene Kommunikation zwischen den Willen impliziert, um dann zu einer immer größeren Vollkommenheit emporzusteigen. Was aus der Untersuchung dieses Teils des Herbartschen Werks hervorginge, wäre die Feststellung, daß seine Ethik in einer Philosophie der Gesellschaft mündet. Herbart achtet denn auch immer stark auf die praktische Anwendbarkeit seiner Konzeptionen und ist der Überzeugung, daß eine Theorie der Pflichten einzig in der konkreten Wirklichkeit durchgeführt und auf die Probe gestellt werden könne. Herbarts Ideenlehre ist zum Teil auch scharfen Kritiken unterzogen worden. Schon Hartenstein, einer seiner wichtigsten Schüler, hatte aus der Moral die Idee der Vollkommenheit und die daraus abgeleitete der Kultur ausgeschlossen, weil bei ihnen auf den Grad Bezug genommen wird und das bedeutet auf quantitative Beziehungen ; was Adolf Trendelenburg betrifft, so meinte er, daß alle fünf verworfen werden müßten . Doch auch Paul Natorp wird eine aufmerksame und kritische Analyse der praktischen Ideen Herbarts durchführen . Sicherlich ist dies nicht der richtige Ort, um diese Kritiken im Detail zu untersuchen und um zu bewerten, inwieweit sie zutreffen und noch weniger können wir hier bewerten, ob die praktischen Ideen auch wirklich fünf sein müssen und ob es gerade diese fünf sind. Was mich hier interessiert, ist vielmehr die grundlegende Idee, welche Herbarts Theorie beseelt. Die Idee nämlich, daß unter Beibehaltung des Kantschen Prinzips, daß die ethische Grundlage eine formale zu sein hat, welches, wie wir gesehen haben, auch für Herbart die einzige Garantie für die Allgemeingültigkeit der ethischen Prinzipien darstellt, es trotzdem notwendig sei, typische Prinzipien auszumachen, welche verhindern, daß man sich in der reinen Abstraktion verliere und welche als Model dienen, auf dessen Grundlage die einzelnen Normen und die einzelnen Verhaltensweisen bewertet werden können. Heutzutage sind die Bedingungen wahrscheinlich besser, um befriedigendere Resultate in der Richtung zu erzielen, die von Herbart angezeigt wurde. Die besseren anthropologischen, paleoanthropologischen und ethologischen Kenntnisse, die wir der Epoche gegenüber besitzen, in der Herbart lebte, erlauben es, mit größerer Klarheit das typisch Menschliche jenseits aller geschichtlichen und kulturellen Bedingungen zu bestimmen und es mit mehr Bewußtsein beurteilen zu können. Wir können ja auch gar nicht umhin, vorauszusetzen, daß es Elemente gibt, welche für alle Menschen typisch sind, für den Menschen als homo sapiens. Das Gegenteil vorauszusetzen, nämlich daß die Menschen verschieden sind, hätte von diesem Standpunkt aus (auf welcher Grundlage? Auf der Rasse?) gravierende Folgen. Es wäre leicht nachzuweisen, daß die von mir anfangs zitierten Beispiele in klarem Widerspruch zu Herbarts fünf praktischen Ideen stehen und wahrscheinlich auch zu den Prinzipien, die man mit seiner Methode erarbeiten könnte. Es bleiben natürlich noch viele Probleme offen, die ich hier auch absichtlich aus Gründen der Zeit weglasse. An Stelle all dieser Probleme sei dieses eine genannt: Wie können wir die unmoralischen Verhaltensweisen erklären? Wenn das ethische Urteil unmittelbar Billigung oder Mißbilligung hervorruft, warum verhalten sich die Menschen dann so schlecht? Wenn man Herbarts praktische Philosophie detailliert analysieren würde, dann könnte man entdecken, daß sein Ansatz auch von diesem Gesichtspunkt aus überraschend aktuell und fruchtbar ist. Dies jedoch führte uns zu weit und es ist Zeit, daß ich schließe, denn ich habe Ihre Geduld schon viel zu sehr ausgenutzt.
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Hamburgs Universitätspräsident Hauke Heekeren über seine Ambitionen in der Exzellenzstrategie, den langen Schatten seines Vorgängers, die Strategie der Hansestadt als Wissenschaftsstandort – und die Frage, woran er sich persönlich messen lassen will.
Hauke Heekeren, 53, ist Neurowissenschaftler, seit März 2022 Präsident der Universität Hamburg und Sprecher der Hamburger Landeshochschulkonferenz. Foto: UHH/Esfandiari
Herr Heekeren, knapp zwei Jahre nachdem Sie Ihr Amt als Präsident der Universität Hamburg angetreten haben, kam es zu Ihrer ersten großen wissenschaftspolitischen Bewährungsprobe: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat am vorvergangenen Freitag bekanntgegeben, welche der bundesweit 143 eingereichten Skizzen für neue Exzellenzcluster zum Vollantrag ausgearbeitet werden dürfen. Die Universität Hamburg (UHH) war mit drei Bewerbungen am Start, nur eine davon blieb im Rennen. Geht so, oder?
Das sehe ich anders: Wir waren erfolgreich. Der ExStra-Wettbewerb ist äußerst kompetitiv und wir behaupten uns als Exzellenzuniversität gegen starke Konkurrenz. Neben unseren vier bestehenden Exzellenzclustern in den Gebieten Physik, Chemie, Klimaforschung und Manuskriptkulturen, geht nun eine weitere Forschungsinitiative in der Infektionsforschung ins Rennen. Wir bewerben uns damit für fünf Exzellenzcluster. Als LHK-Sprecher gratuliere ich auch der TU Hamburg zu der erfolgreichen Initiative im Bereich der Materialforschung, an der auch die UHH beteiligt ist. Zwei erfolgreiche Antragsskizzen sind ein starkes Signal für den Wissenschaftsstandort Hamburg.
Ihr Vorgänger Dieter Lenzen kam wie Sie von der Freien Universität (FU) Berlin nach Hamburg. Schon die FU hatte Lenzen zur Exzellenzuniversität gemacht. Als er ankündigte, das gleiche in Hamburg schaffen zu wollen, wurde er von manchen belächelt. 2019 fuhr die Universität unter seiner Leitung fünf erfolgreiche Antragsskizzen und dann vier Exzellenzcluster ein, 2020 wurde Hamburg mit dem Exzellenz-Titel gekürt. Ist Lenzens langer Schatten seit vorvergangenem Freitag noch länger geworden?
Als ich mich vor über zwei Jahren um Dieter Lenzens Nachfolge beworben habe, war diese Aufbruchstimmung, die er an der Universität Hamburg geschaffen hatte, ein wesentlicher Punkt für meine Bewerbung. Er hat viel geleistet, strategisch sehr erfolgreich gearbeitet, natürlich nicht er allein, sondern im Zusammenspiel mit der ganzen Uni, unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Und mit den Partnern der anderen Hamburger Wissenschaftseinrichtungen, DESY mit seinem Direktoriumsvorsitzenden Helmut Dosch zum Beispiel. Wir verfolgen in Hamburg die Vision einer Wissenschaftsmetropole im 21. Jahrhundert, hinter der die Stadt und auch die ganze Landesregierung steht, mit Katharina Fegebank als kompetenter und erfahrener Wissenschaftssenatorin. Dieter Lenzen hat die Gelegenheit, die sich bot, mit großem Gespür genutzt. Diese Dynamik geht weiter. Wir wollen weiter machen, noch besser werden, und das fühlt sich richtig gut an.
"Das ist vielleicht so ähnlich wie bei einem Trainer, der ein extrem erfolgreiches Team übernimmt und von dem wie selbstverständlich erwartet wird, dass er weitere Titel gewinnt."
Der große Unterschied ist, dass es unter Lenzen nur besser werden konnte. Unter Ihnen kann es zumindest in Sachen Exzellenzstrategie nur schlechter werden.
Das ist Teil des Berufsrisikos, das war mir bewusst, als ich hier anfing. Das ist vielleicht so ähnlich wie bei einem Trainer, der ein extrem erfolgreiches Team übernimmt und von dem wie selbstverständlich erwartet wird, dass er weitere Titel gewinnt. Aber ich bin keineswegs besorgt, im Gegenteil: Die bestehenden Cluster arbeiten auf einem sehr hohen wissenschaftlichen Niveau und haben national wie international eine starke Reputation erreicht. Und auch die neuen Initiativen haben hervorragende wissenschaftliche Arbeit geleistet. Trotz des Exzellenztitels gibt es immer noch Luft nach oben: Intern wie extern. Intern müssen wir deutlicher vermitteln, warum es für alle Studierenden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität ein Gewinn ist, wenn wir bei der Exzellenzstrategie erfolgreich sind. Und extern in der Stadtgesellschaft müssen wir Wissenschaft in all ihrer Exzellenz und Breite noch viel mehr zum Gespräch machen. Das ist unser Auftrag als Universität der Stadt.
Ist es eigentlich noch zeitgemäß, dass der Erfolg Ihrer Arbeit zu einem guten Teil vom Abschneiden in der Exzellenzstrategie abhängt? Anders gefragt: Passt so ein Wettbewerb noch in die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts? Die frühere Wissenschaftsratsvorsitzende Dorothea Wagner stellte bei ihrem letzten Jahresbericht vor ihrem Ausscheiden die Frage in den Mittelpunkt, ob die Wettbewerbsorientierung in der Wissenschaft an ihre Grenzen gestoßen sei.
Da sind wir bei einer sehr grundsätzlichen Diskussion angelangt. Wie wettbewerblich sollte unserer Wissenschaftssystem organisiert sein? Wie stark sollte man die Kooperation betonen? Und muss man dieses Verhältnis nicht neu denken?
Und, muss man? Zumal sich die Erwartungen an die Wissenschaft offensichtlich geändert haben. Der Umgang mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen vom Klimawandel über die Digitalisierung bis zum Umbau unserer Energieversorgung steht für viele im Vordergrund, gleichzeitig betont die Wissenschaft die Bedeutung des Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Anwendung.
Alles richtig, aber das bedeutet ja nicht, dass die Förderung herausragender Grundlagenforschung sich erledigt hat. Die Exzellenzinitiative hat mich mein gesamtes Wissenschaftlerleben lang begleitet. Für mich war sie immer viel mehr als ein Wettbewerb, sie hat den Universitäten Anlass und Gelegenheit gegeben, neue Dinge auszuprobieren und ihr strategisches Profil zu schärfen. Umgekehrt kann ich die Kritik verstehen, dass hier Gelder eher einseitig vergeben werden. Die Alternative wäre, dass die Politik die Grundfinanzierung für alle Universitäten so auskömmlich erhöht, dass überall sehr gute Grundlagenforschung möglich ist.
In vielen Bundesländern grassiert zurzeit eher die Angst vor Einsparungen im Wissenschaftsetat. Beispiel Berlin: Dort sollen die Hochschulen jedes Jahr fünf Prozent mehr Geld bekommen, fünf Jahre lang, doch parallel streiten der CDU-Finanzsenator und die SPD-Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra um Einsparungen von fast sechs Prozent in diesem Jahr. Früher blickte man in Hamburg neidvoll nach Berlin. Hat sich das unter der grünen Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank geändert?
Berlin und Hamburg kann man nicht miteinander vergleichen, dazu sind die Städte zu unterschiedlich. Berlin hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine unglaublich positive Entwicklung hin zur Wissenschaftsmetropole geschafft. Es war toll, das als Wissenschaftler und in verschiedenen Positionen aktiv begleiten und erleben zu können. Hamburg hat damit insgesamt später angefangen, dafür aber zuletzt deutlich an Tempo aufgenommen, und wir gehen einen ganz eigenen Weg, der aus Hamburgs Tradition als Hafen- und Handelsstadt kommt. Hamburg ist der größte Industriestandort Deutschlands, auch daraus ziehen wir Kraft für die Wissenschaft. Ein Flaggschiff-Beispiel ist für mich die Science City Hamburg- Bahrenfeld mit faszinierenden Projekten wie dem von Experimentalphysiker Florian Grüner, dem es gelungen ist, per Röntgenfluoreszenz-Tomografie präzise kleinste Tumore nachweisen zu können oder die Verteilung von Medikamenten in lebenden Organismen zu beobachten. Und die Methode jetzt in Kooperation mit Siemens Healthineers in die Anwendung bringt. Das ist unser klares Zukunftsbild: Dieser Geist, die Ergebnisse von Grundlagenforschung in Innovationen weiterzuentwickeln und umzusetzen
"Mein Anspruch ist, dass wir als Universität kluge theoretische Beiträge leisten und ebenso praktisch zeigen, was alles möglich ist."
Ist Wissenschaft für Hamburg jetzt das, was vorher immer der Hafen war?
Beide ergänzen sich gegenseitig. Der Hafen kann Innovationsmotor für die Wissenschaft sein und umgekehrt. Beispielsweise verfolgen exzellente Wissenschaftler von uns die Vision, dass der Einsatz von Quantencomputing die Logistikbranche nachhaltig verändern wird. Klar ist, Wissenschaft ist ein Motor der Innovation und leistet einen entscheidenden Beitrag zum Wohlstand unserer Stadt und zu einer prosperierenden sowie nachhaltigen Zukunft.
Apropos nachhaltig: Sie haben in Hamburg das Leitbild einer nachhaltigen Universität. Was heißt denn das praktisch?
Die Nachhaltigkeit hat an der Universität Hamburg eine lange Vorgeschichte mit unserem "Kompetenzzentrum Nachhaltige Universität", dort wurde viel "Denkarbeit" geleistet. Aus Mitteln der Exzellenzstrategie haben wir ein neues Amt geschaffen: Die "Chief Sustainability Officer" mit einem Team, das das gesamte Spektrum an Nachhaltigkeitsfragen strategisch neu erfasst. Das Thema energetisiert unsere Uni. Mein Anspruch ist, dass wir als Universität kluge theoretische Beiträge leisten und ebenso praktisch zeigen, was alles möglich ist: Von einer starken Klimaforschung ausgehend bis hin zu einem robusten Klimaschutzplan. So haben wir beispielsweise eine Biodiversitätsmanagerin, Myriam Rapior, die bei uns in Hamburg zu nachhaltigen Lieferketten promoviert und im Rat für Nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung mitarbeitet. Klar muss man Rankings immer differenziert betrachten, aber wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass wir im anerkannten QS-Ranking für Nachhaltigkeit zur drittbesten deutschen Universität aufgestiegen sind. Daraus schlussfolgern wir, dass unsere Maßnahmen beginnen zu wirken. Besonders wichtig ist uns das praktische Zusammenspiel von Digitalisierung und Nachhaltigkeit, die sogenannte "Twin Transformation", die einer unserer strategischen Schwerpunkte ist. Wir möchten sie als Hebel nutzen, um unsere Universität zur bestmöglichen Version ihrer Selbst zu machen.
Von welchen anderen Universitäten in Deutschland lernen Sie in Hamburg? Wo sind Ihre persönlichen Vorbilder, Herr Heekeren?
Ich sage hier schon manchmal: Schaut nach Berlin, was da alles entstanden ist, in Sachen Dynamik können wir da schon etwas lernen. Und ein Vorbild ist natürlich die TU München (TUM), gerade im Bereich Transfer und Gründung. Aber wir müssen wie gesagt immer überlegen, was davon zu uns hier Hamburg passt.
Weil Sie gerade die TUM nennen: Wenn wir fünf Jahre in der Zeit zurückgehen, gab es an deutschen Universitäten zwei scheinbar ewige Präsidenten, die jeder kannte, ihre Unis, aber auch eine ganze Ära prägten: Dieter Lenzen erst in Berlin, dann in Hamburg, und Wolfgang Herrmann an der TUM. Herrmann wurde 2019 von Thomas Hoffmann beerbt, Lenzen 2022 von Ihnen. Stehen Sie jetzt vor vergleichbaren Aufgaben?
Beide stehen wir sicherlich für einen anderen Führungsstil. Mein Anspruch ist eine Kultur der Kommunikation zu leben. Es geht um Offenheit, Transparenz und um Kommunikation auf Augenhöhe. Praktisch bedeutet das für mich in Hamburg, vor Entscheidungen, die wir im Präsidium fällen und die Menschen betreffen, mit diesen vorher zu sprechen und sie möglichst von Anfang an in den Beratungsprozess einzubeziehen. Das darf aber nicht heißen, dass wir langsamer werden. Im Gegenteil: wir wollen schneller, partizipativer, agiler und projekthafter handeln. Wir wollen den Kolleginnen und Kollegen in der Verwaltung mehr Eigenverantwortung ermöglichen.
"Ein Begriff, der Universitäten gut beschreibt, ist der von der robusten Flexibilität. Eine gewisse Starrheit in der Struktur, aber trotzdem so flexibel, dass sie die Veränderungen um sich herum aushält und mit ihnen umgeht."
Alles Begriffe, die toll klingen. Zur Wahrheit gehört aber, dass die Universität Hamburg aus einer linken, antiautoritären Vergangenheit herauskommt mit traditionell starken Abwehrtendenzen gegen Führungsversuche von oben. Hat sich das geändert? Ist die Universität heute das, was Hochschulmanager gern "strategiefähig" nennen?
Die Vergangenheit, von der Sie da sprechen, kenne ich nur aus Berichten, über die kann ich mir kein Urteil anmaßen. Ich sehe aber auch diesen starken Gegensatz nicht. Mein Anspruch ist schon, als Unipräsident visionär und strategisch unterwegs zu sein. Wenn ich aber ein klares Bild davon habe, wo ich hinwill, dann kann ich dieses auch den verschiedenen Mitgliedern der Universität vermitteln und sie bei anstehenden Entscheidungen mitnehmen sowie für Veränderungen begeistern. Strategisch und partizipativ, das geht zusammen und muss zusammengehen in einer Universität, die von der akademischen Selbstverwaltung geprägt ist. Manchmal wird es dann kontrovers, das muss so sein, wenn wir pluralistisch sein wollen. Wenn wir über unsere Nachhaltigkeitsstrategie diskutieren, laden wir dazu die gesamte Universität ein, stellen unsere Ideen vor und sind gespannt auf die Resonanz. Aus dem ersten "Offenen Forum Nachhaltigkeit" vergangenes Jahr haben sich fünfzehn Arbeitsgruppen gebildet, deren Ergebnisse in unsere Strategie integriert wurden. So bleiben wir als Universität mutig, neugierig und ermöglichen wirkliche Innovationen.
Sie klingen wie der einzige deutsche Unipräsident, der wunschlos glücklich ist mit der Governance seiner Hochschule. Hand aufs Herz: Wo sehen Sie Reformbedarf?
Natürlich ist das eine Frage, über die ich viel nachdenke. Mit Jetta Frost haben wir eine ausgewiesene Expertin für Organisationsfragen und wir diskutieren Fragen dieser Art im Präsidium. Meine Antwort ist: Universitäten sind stabile Organisationen. Ein Begriff, der Universitäten meines Erachtens gut beschreibt, ist der von der "robusten Flexibilität". Eine gewisse Starrheit in der Struktur, aber trotzdem so flexibel, dass sie die Veränderungen um sich herum aushält und mit ihnen umgeht. Eine gute Hochschulleitung wird diese Flexibilität situationsangemessen zu nutzen wissen und weit kommen.
Auf der Metaebene klingt das stimmig. Aber hält diese These auch den Praxistest? Sie haben in Hamburg mit den übrigen Hochschulen die "Hamburger Erklärung zu Hochschulkarrieren in der Wissenschaft" beschlossen. Sie selbst sehen sich damit in einer bundesweiten Vorreiterrolle und ein "Signal gegen den Karrieretypen-Konservatismus in der deutschen Wissenschaftslandschaft". Ihre Kritiker sehen ziemlich viele Luftblasen.
Solche Reaktionen sind nicht neu für hochschulpolitische Debatten. Es heißt häufig, dass ohne Umsetzungszwang und ohne mehr Geld Reformen nicht funktionieren würden. Ich bin immer noch stolz, dass wir es geschafft haben, die unterschiedlichen Hochschultypen in enger Abstimmung mit der Wissenschaftsbehörde auf eine gemeinsame Veränderungsperspektive einzustimmen. Unser Signal kommt an in der Hochschulpolitik, und wir tun, was wir versprochen haben, daran lasse ich mich auch gern messen.
Und ich nehme Sie gern beim Wort. Nennen Sie bitte ein paar Vorhaben, deren Umsetzung in einem Jahr konkret überprüfbar ist.
Wir haben die "Hamburger Erklärung" vor nicht einmal drei Monaten verabschiedet. Jetzt sind wir in Abstimmungsprozessen, um unsere Personalstruktur um attraktive Karrierewege auf Dauer zu erweitern. Wir binden alle ein, die für diesen Prozess wichtig sind, über alle Ebenen hinweg. Nehmen wir beispielsweise das neue Stellenprofil für Dauerstellen ("Staff Researcher") neben der Professur. Ein wichtiger Meilenstein für seine Etablierung ist die Zustimmung durch den wissenschaftlichen Personalrat, denn die Einstellungs- und Weiterbeschäftigungsverfahren verändern sich. Die UHH gehört schon heute zu den wenigen Universitäten, die in Berufungsverfahren Assessmentcenter und potenzialdiagnostische Verfahren einsetzen. Daraus ziehen wir systematische Schlussfolgerungen für die Ausgestaltung des "Staff Researchers" und etablieren ein Verfahren für die wissenschaftsgeleitete Entfristung der Stellen. Ein weiterer Meilenstein ist die übersichtliche, transparente Darstellung der wissenschaftlichen Karrierewege an der UHH.
Auch wenn Sie Ihre Pläne ohne zusätzliches Geld umsetzen wollen, finanziell sichere Rahmenbedingungen brauchen Sie natürlich schon. Wie optimistisch sind Sie da?
Grundsätzlich optimistisch und gleichzeitig realistisch. Der Hamburger Senat wird seine Zusagen einhalten, auch und gerade was den Ausbau der Science City Hamburg-Bahrenfeld betrifft. Die Pläne für Bahrenfeld und der zeitliche Ablauf sind vereinbart, die Finanzierung ist gesichert. Der S-Bahnanschluss kommt, der Bund gibt seinen Teil dazu, in der Zwischenzeit entstehen wunderbare neue Forschungsbauten. Und die Menschen, die im Quartier leben, sind aktiv involviert. Auch anderswo erlebe ich ein starkes Commitment der Politik. Gerade erst hat Finanzsenator Andreas Dressel nach einer umfangreichen Analyse aller Hamburger Hochschulbauten angekündigt, in den nächsten 20 Jahren mindestens sechs Milliarden Euro in die Sanierung zu investieren. Per Senatsbeschluss wurden vergangene Woche gleich die ersten 75 Millionen Euro freigegeben, um die dringendsten Vorhaben zu starten.
"So klar, wie sich die Politik zu Hamburg als Wissenschaftsmetropole bekannt hat, fehlt mir die Fantasie, was passieren müsste, dass die Beteiligten von diesem Weg abkommen."
Als Sie Vizepräsident an der FU Berlin waren, hat der dortige Senat 2018 nach einer Analyse auch ein massives Sanierungsprogramm versprochen. 2023 musste die TU Berlin mehrere Gebäude kurzfristig schließen, und ihre Präsidentin Geraldine Rauch warnt vor dramatischen Konsequenzen für die Hochschullehre.
Meine Erfahrung in Hamburg ist, dass erst Aussagen getätigt werden, wenn man einen Plan hat und Klarheit über dessen Finanzierung besteht. An der Stelle bin ich beruhigt. Weniger beruhigt bin ich bei der Frage, wie wir als Hamburger Hochschulen die hohen Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst abbilden sollen. Für 2024 sind wir abgesichert, aber wie geht es 2025 weiter? Da brauchen wir eine Antwort der Politik. Aber auch hier gilt: So klar, wie sich die Politik zu Hamburg als Wissenschaftsmetropole bekannt hat, fehlt mir die Fantasie, was passieren müsste, dass die Beteiligten von diesem Weg abkommen.
Ist Ihr Vertrauen in die Bundespolitik ähnlich ausgeprägt?
Ich würde mir von der Bundesregierung mehr Taten wünschen, um Deutschland in Bildung und Wissenschaft voranzubringen. Wir sind leistungsstark, wir stehen im internationalen Vergleich nicht schlecht da, aber die wirkliche gesellschaftliche Prioritätensetzung drückt sich auch im baulichen Zustand der Schulen und Universitäten aus. Was sendet das für eine Botschaft der Wertschätzung an die Talente der Zukunft, an die jungen Menschen, die unser Land irgendwann steuern und gestalten sollen? Ich finde, da ist auch die Bundesregierung gefragt. Das ist ein dickes Brett. Aber es gibt viele weitere Themen, auf die es in der Zukunft ankommt. Zu nennen wäre die dringend nötige Umsetzung einer forschungsfreundlichen Gesetzgebung zu Datenschutz und Datennutzung. Oder die seit Jahrzehnten immer wieder diskutierte, aber nie forcierte Veränderung im Kapazitätsrecht, das uns als Hochschulen in unserer Entwicklung einschränkt.
Dieser Wunsch richtet sich aber schon wieder sehr stark an die Länder, oder?
Ich sage ja nicht, dass meine generelle Zufriedenheit mit der Hamburger Wissenschaftspolitik bedeutet, dass da nicht noch mehr geht. An letzterem arbeiten wir als Hochschulleitung der Universität Hamburg gemeinsam jeden Tag.
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Wäre die Gegenwart eine andere, hätte im Mai 2020 die achte Ausgabe der Konferenz "Theater und Netz", einer Initiative von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, stattgefunden. Stattdessen ergab sich für Theaterschaffende, Kritiker*innen und Publikum reichlich Gelegenheit, das Verhältnis von Theater und Netz in actu auszuloten: Durch die Ausgangsbeschränkungen befeuert, verlagerte sich das Theatergeschehen in die digitale Experimentierstube. Im Oktober erschien nun der Band Netztheater, der in 21 Beiträgen die Erfahrungen der vergangenen sechs Monate reflektiert –fundiert durch die Expertise der im Format "Theater und Netz" seit 2013 geleisteten Pionierarbeit. Die Kürze der zwei- bis siebenseitigen Beiträge, gepaart mit der Erfahrungsdiversität aus Herstellung, Rezeption und wissenschaftlicher Auseinandersetzung, hat entscheidende Vorteile: Hier wird nicht lange umständlich unter Ausrufung irgendeines "Post-" herumgeredet oder die beliebte Formel strapaziert, Theater müsse "neu gedacht" werden. Die Beitragenden verbindet die gemeinsame Sache und so kommen sie rasch zum Punkt. Als Hybrid aus theoretischen Positionen und reflektierender Praxis bündelt die Publikation praktisch verwertbares und weiterentwickelbares Wissen kompakt und beinahe in Echtzeit. Daher verhandelt diese Rezension die Beiträge nicht chronologisch, sondern führt einander ergänzende Perspektiven zu zentralen Aspekten wie Dramaturgie, Community, Interaktion etc. kommentierend zusammen: Der Band eröffnet mit einem Praxisbericht des geglückten Burgtheater-on-Twitter-Experiments #vorstellungsänderung, das tausende Mittweeter*innen auch abseits des Abopublikums rekrutierte. Projekte wie dieses geben Hoffnung, dass die Theater, die sich im Netz oft als singuläre kulturelle Leuchttürme gebärden, durchaus von den Praktiken der Sozialen Medien profitieren können: Like, share, comment, retweet sind schließlich nichts anderes als digitale Kürzel für gemeinschaftsstiftende Interaktionen, basierend auf Emotion, Zuspruch, Diskussion und Multiplikation. Vielleicht sind in Zukunft ja auch vermehrt offen und öffentlich geführte Dialoge zwischen Theaterhäusern zu erwarten? Netztheater geht davon aus, dass die Suche nach digitalen künstlerischen Ausdrucksformen sich nicht erst daraus ergibt, dass Hygieneregeln und Distanzierungsvorgaben die Modi des Zuschauens kurzfristig verändert haben. Auch tradierte Annahmen über das Publikum sind zu überprüfen. In ihrem kollaborativen Text "Das Theater der Digital Natives" beobachten Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und Kathrin Tiedemann, dass die Digitalisierung längst "in Form von Alltagstätigkeiten und Wahrnehmungsweisen" (S.16) im Theater angekommen sei. Das Theater ist kein geschützter Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Vielmehr tragen die Zuschauer*innen die Welt, in der sie leben, unweigerlich in ihn hinein. Das betrifft auch Praktiken des Multitaskings bzw. des 'Second Screen', also die Gleichzeitigkeit mehrerer Interfaces und Informationsquellen. Jahrhundertelang war der zentralperspektivische Blick der Barockbühne prägend für die Organisation einer exklusiven Aufmerksamkeit im Theater. Wiewohl es also eine neue Erfahrung für die Theaterhäuser ist, "Nebenbeimedium zu sein" (S. 20), wie Judith Ackermann betont, ist es höchste Zeit, diese 'verstreute' Aufmerksamkeit im Inszenierungsprozess aktiv mitzudenken und gezielt einzusetzen. Dabei ist die Diversität des Publikums inklusive der unterschiedlich ausgeprägten Media Literacy zu beachten, denn nicht alle Zuschauer*innen werden sich augenblicklich z. B. in einer gamifizierten virtuellen Umgebung zurechtfinden: "Indem ich im digitalen Raum Zusatzinformationen – Hintergrundinfos zum Stück, zur Produktion – zu meinen Inszenierungen streue, kann ich zum Beispiel auch dem 'analogen Publikum' einen Mehrwert bieten, der es aber nicht verschreckt." (S. 22) Für eine Dramaturgie des Digitalen ist Aristoteles allenfalls partiell ein guter Ratgeber. Zu viele Komponenten sind neben 'der Story an sich' an der Architektur der Erzählung beteiligt. Einige Elemente des 'klassischen' Storytellings lassen sich psychologisch für den digitalen Raum begründen: Das Überschreiten der 'Schwelle' etwa wird als zentraler Moment markiert, zumal die Spielregeln für das Dahinterliegende noch nicht festgelegt sind – die Verständigung auf "Floskeln, Rollen und Situationen" (S. 71) hat erst zu erfolgen. Friedrich Kirschner, Professor für digitale Medien an der Ernst Busch Berlin, schlägt vor, die zur Vermittlung von "Rollen- und Erlebnissicherheit" (ebd.) dringend nötigen Ausverhandlungsprozesse im Rahmen der jeweiligen Inszenierung ästhetisch zu gestalten. Dabei setzt er auf ein Miteinander, "das im Gegensatz zu den treibenden Kräften der Plattformhalter auf Erkenntnis gerichtet ist; das Handlungsfähigkeit vermittelt anstelle von Determinismus" (S. 73). In diesem Sinne schlägt Ackermann überdies vor, "modular" zu denken, also "leichte Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten" zu schaffen, "indem man immer wieder die Möglichkeit gibt dazuzustoßen" (S. 21). Wiederholt wird das Serielle als Chance für neue Theaterformen ausgewiesen, beispielsweise um "durch gemeinsames, geteiltes Wissen über einen langen Zeitraum […] eine Beziehung zu Figuren auf[zu]bauen, sie mit der eigenen Lebensrealität ab[zu]gleichen und mit Freund/innen [zu] diskutieren" (S. 72), wie Kirschner in "Teilhabe als Notwendigkeit: Theater als Raum pluraler Gemeinschaften" schreibt. Um diese Gemeinschaftsbildung ist es auch Christiane Hütter zu tun: Die Community ist das Herzstück des Theaters, weshalb die künstlerische Energie aktuell vor allem darauf zu verwenden sei, "dass Leute wiederkommen, dass sich Routinen und Rituale entwickeln, dass serielle Formate entstehen" (S. 45). Diese Community aufzubauen, "das ist ein Handwerk, das eine Strategie, Zeit und Inhalte benötigt" (S. 30), weiß auch Christian Römer, Referent für Kulturpolitik und Neue Medien der Heinrich-Böll-Stiftung, in seinem Plädoyer "Für ein Theater @home!". Essentieller Bestandteil dieser Strategie, die vorerst noch strategisch auf eine Gemeinschaft "vor der Bezahlschranke" setzen müsse, sei die "Arbeit an der eigenen Identität als Theater im Netz" (ebd.). "Ein Schaufenster in die eigene Vergangenheit stärkt die Bindung des Publikums an 'sein' Theater." (S. 29) Man möchte hinzufügen, dass die "Verbindung zur [eigenen] Geschichte" (ebd.) auch nach Innen identitäts- und strukturbildend wirken und so womöglich die ein oder andere Erschütterung abfangen kann, die die Theaterschaffenden gegenwärtig persönlich und als Gemeinschaft erleben. Wie zugkräftig Selbstmarketing bzw. 'Branding' in Sachen Follower*innenschaft ist, lässt sich beispielsweise bei erfolgreichen Influencer*innen beobachten. Der Dramatiker und Dramaturg Konstantin Küspert zeigt in "Sozialmediale Theaterräume: Die performative Parallelwelt von TikTok" überaus schlüssig auf, welche "Grundelemente theatraler Praxis" in Social-Media-Formaten zu finden sind: "TikToks müssen, um erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe haben, meistens überraschend und lustig, und damit grundsätzliche Elemente einer Narration – teilweise regelrechte Fünf-Akt-Strukturen oder Rekontextualisierungen im Miniformat – nachbauen." (S. 26) Auffällig sind auch Praktiken des Samplings, wie sie schon in Hans-Thies Lehmanns Postdramatische[m] Theater, das jüngst seinen zwanzigsten Geburtstag feierte, zu finden sind: Denn auch bei TikToks wird "reinszeniert, kontextualisiert und koproduziert" (ebd.). Aber manchmal ist es gerade das Ähnliche, das trennt. Man stelle sich etwa einen Burgschauspieler auf der Bühne eines Kölner Karnevalsvereines vor. So verlockend wasserdicht die von Küspert angestrengte Gleichung auch anmutet, lässt sich eigentlich nur in der konkreten Anwendung überprüfen, "was vom eigenen Formenrepertoire übersetzbar ist" (S. 84). Der schmerzliche Verlust öffentlicher Orte, zu denen auch das Theater als Raum der gesellschaftlichen Verständigung gehört, zieht sich leitmotivisch durch die Texte des Sammelbandes. "Die Corona-Krise ist eine Krise der Versammlung" (S. 35), bringt Dramaturg Cornelius Puschke diesen Umstand zu Beginn seines "Plädoyer[s] für 1000 neue Theater" auf den Punkt. Dass es sehr wohl auch im Internet Formen von Gemeinschaftsbildung gibt, die sich auf dezentrale Weise organisieren, beobachtet Christiane Hütter mit kritischem Interesse: "QAnon und Konsorten glänzen mit orchestriertem Storytelling, outgesourced an viele, mit einem übergeordneten World-building-Framework, das Inkonsistenzen erlaubt" (S. 41). Eine Aufgabe des Theaters könnte es sein, positive Gegenangebote zu entwerfen, die dieser Sehnsucht nach Gemeinschaft, Austausch und gemeinsamer Erzählung entsprechen. Wie aber können solche Dialog und Austausch befördernden Formate aussehen? Die interdisziplinäre Künstlerin und Game Designerin Christiane Hütter, aus deren Feder insgesamt drei Texte des Bandes und zwei Interviews stammen, entwirft zu diesem Zweck eine "Typologie von Interaktion, Kollaboration und Partizipation" in übersichtlich tabellarischer Form, denn häufig enttäuschten 'interaktive Stücke' durch "Pseudo-Interaktions-Möglichkeiten" oder "asymmetrische Interaktion" (S. 44). Angesichts der pandemiebedingten Einschnitte in die Möglichkeit, durch Handlungen 'stattzufinden', ist es eine der wichtigsten Herausforderungen an Inszenierungsprozesse, die Agency der Zuschauer*innen sinnvoll zu integrieren. Die Nachtkritikerin Esther Slevogt plädiert explizit dafür, die Webseiten der Theater als "Portale in den digitalen Raum" und "Interfaces" (S. 109) zu behandeln. Diese verstehen sich gegenwärtig eher als Sende- denn als Empfangskanäle; die einstigen Gästebücher sind längst in selbstverwaltete Facebook-Gruppen migriert und bilden hier den kulturkritischen Versammlungsort einer recht spezifischen Theaterklientel. Eine Brücke zwischen analog und virtuell, Inszenierungs- und Alltagsgeschehen könnten hybride Formate herstellen. Der Theaterregisseur Christopher Rüping beschreibt Hybridität durchaus als Challenge, weil "sich die kulturellen Praktiken des einen und des anderen so beißen". Eine Inszenierung, die so divergente Rezeptionsbedingungen berücksichtigt, sei entsprechend komplex im Herstellungsprozess und müsste "auf achtzehn Ebenen gleichzeitig" funktionieren: "Interaktivität, die nur im digitalen Raum stattfindet, während ich analog zuschaue und davon ausgeschlossen bin, ist merkwürdig." (S. 94) Zudem ist es auch für Darsteller*innen eine neue Erfahrung, auf die weder Ausbildung noch bisherige Praxis sie angemessen vorbereitet haben. So stellt Ackermann die berechtigte Frage: "Wie kann den Schauspieler/innen das Gefühl vermittelt werden, dass sie keinen Film machen, sondern dass sie mit Personen interagieren, die nicht Teil der performenden Gruppe sind – auch wenn diese Personen nicht physisch kopräsent sind?" (S. 21) 'Gemeinsames Erzählen' prägt die Entstehungsgeschichte unserer Kultur, Gesellschaft und Sozialisation. Keine Entwicklung ohne Kooperation, keine Innovation ohne Vorstellungsvermögen. Netztheater könnte ein System der jahrhundertelangen Professionalisierung von Theater neu in Bewegung bringen, weil es Expertisen unterschiedlicher Provenienz bedarf und den Grundgedanken von Crowdsourcing in Schaffensprozesse integriert. Aber sind wir wirklich bereit für künstlerische Formate mit offenem Ausgang? Widerspricht das nicht dem Prinzip von Inszenierung? Müsste man das Profil der Regie – der ja gerade im deutschen Sprachraum besondere Deutungshoheit zukommt – womöglich neu definieren? Aktionen von Zuschauer*innen, die aktiv am Handlungsverlauf mitschreiben, sind schwer zu antizipieren; die Interventionen von Trollen und Bots brechen unerwartet in den Handlungsverlauf ein. Aber vielleicht ist es angesichts der Erschütterungen von 2020 gar keine dumme Idee, statt vorgefertigter Handlungsbögen flexibel adaptierbare Aktionsmodelle zu entwerfen, mit denen auf den Einbruch des Unvorhergesehen reagiert werden kann. Frank Rieger vom Chaos Computer Club beforscht Mixed-Reality-Projekte bereits seit den 1990er-Jahren. "Hybride Räume, digitale und interaktive Formate" hätten bereits eine lange Geschichte, allerdings gäbe es immer wieder "unrealistische Annahmen über das, was die Technik am Ende leisten können wird" (S. 61). Mitunter behindere aber gerade die entgegengesetzte Annahme die Umsetzung: "Man kriegt ein staatliches Theater für eine große Produktion nur dazu, das auch im digitalen Raum zu machen, wenn die das gleiche Gefühl von ernsthafter Technik haben" (S. 94), weiß Regisseur Christopher Rüping aus eigener Erfahrung. Andere Internetformate bewiesen, dass es nicht immer schweres Gerät erfordert, denn "im digitalen Raum dieses Erlebnis [von Gemeinschaft] zu stiften" sei etwas, das "jedem mittelmäßigen Streamer gelingt" (ebd.). Die Ursache für solche Trugschlüsse sieht Rieger in der Inselexistenz, die viele Theater fristen. Der Branche fehle noch immer eine "breite Kultur des ehrlichen Erfahrungsaustausches, der Diskussion von technischen, inhaltlichen und Projektmanagement-Fehlern" (S. 62), sodass das Rad immer wieder neu erfunden werden müsse. Dem entgegenzuarbeiten beabsichtigt die im vergangenen Jahr gegründete Dortmunder Akademie für Digitalität und Theater. Gemäß ihrer Open-Source-Strategie will sie "Nerdkultur […] ins Theater reinbekommen" (S. 67) und die Erkenntnisse ihrer prototypischen Arbeit in Tutorials, Talks und Wikis zugänglich dokumentieren. In ihrer Auswertung der Netztheaterexperimente des ersten Pandemie-Halbjahres bemerken die Bandredakteur*innen Sophie Diesselhorst und Christian Rakow, dass "das Gros […] piratischen Charakter" hatte. "Es entstammte der Freien Szene oder ging auf Initiativen von Einzel-Künstler/innen zurück, die sich ihre eigene Infrastruktur bauten und einfache technische Lösungen jenseits des Stadttheater-Apparats fanden." (S. 89) Man kann annehmen, dass dieser Innovationsgeist zumindest teilweise der Not geschuldet war. Denn selbst Projekte an etablierten Häusern sind häufig von externen Zusatzförderungen abhängig. Um über den eigenen Guckkasten hinauszudenken, haben einige Theater bereits Kontakt zu freien Künstler*innen und Kollektiven aufgenommen. "Es gibt viele kleine Aufträge von Theatern, die sagen: 'Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wollen Sie etwas ausprobieren?'" (S. 97), schreibt die britische Kritikerin Alice Saville. Diese vorsichtige Kontaktaufnahme birgt die Chance, das Gespräch darüber zu beginnen, wie sich festgefahrene Strukturen künstlerisch und wirtschaftlich öffnen lassen. Eine Möglichkeit wäre, Theater künftig als "Agenturen für das Dramatische" zu denken, wie am 13.11.2020 bei der Onlinetagung "Postpandemisches Theater" vorgeschlagen wurde, die ebenfalls auf die Initiator*innen des Sammelbandes zurückgeht. Für die Pluralität und Interdisziplinarität der Branche steht übrigens auch, dass keine der Autor*innenbiographien einen linearen Verlauf aufweist, geschweige denn sich auf eine einzige Berufsbezeichnung zurückführen ließe. Eine der aktuellen Herausforderungen besteht darin, Jobprofile zu überdenken. In Christiane Hütters Entwurf für ein "Theater der Gegenwart" ändert sich die Organisationsstruktur auch auf der Leitungsebene: "Es geht in Zukunft vor allem auch darum, die Gesamtprozesse zu koordinieren, Projektmanagement zu machen, Herstellungsleitung für Situationen, Care-Arbeit fürs Team." (S.45) Ein Kernanliegen der Publikation ist das Plädoyer für eine 'vierte', digitale Sparte – wobei zu bemerken ist, dass das digitale Theater sich diesen vierten Platz vielerorts mit dem Theater für junges Publikum teilt. Dieser Befund ist symptomatisch, werden doch Digitalität und Jugend oft zusammengedacht. Berücksichtigt man die zeitliche Dimension –"in naher Zukunft wird es nur noch Digital Natives geben" (S. 16) – wird rasch klar, dass es sich um eine voreilige Schlussfolgerung handelt. Die sich andeutende Marginalisierung verheißt wenig Gutes für die so dringend nötigen Finanzierungsstrukturen und Fördermodelle, zumal auch die Verantwortung, diese 'vierte Sparte' zu gestalten, damit demselben Personenkreis zugesprochen wird. Folgerichtig wird immer wieder sachlich bemerkt, dass zum Aufbau einer künstlerischen Infrastruktur tatsächliche Ressourcen in Form von Zeit, Geld und neuen Stellenprofilen am Theater benötigt werden. Einige Häuser haben bereits erste Schritte gesetzt und beschäftigen neben Positionen wie Social Media oder – neudeutsch – Community Management nun auch Programmierer*innen. Das Staatstheater Augsburg, das sich bereits im Frühjahr "einen Namen als VR-Hochburg mit einem umfangreichen Spielplan an Virtual-Reality-Produktionen" (S. 99) machte, hat mit Beginn der Spielzeit 2020/21 Tina Lorenz als "Projektleitung für Digitale Entwicklung" eingestellt; das Schauspielhaus Zürich holte für seine Webserie Dekalog den Designer für Virtuelle Interaktion, Timo Raddatz, ins Boot. Für eine "Digitale Sparte" argumentiert auch Elena Philipp, die die Münchner Kammerspiele, das Staatstheater Augsburg und das Hebbel am Ufer als Case Studies ins Feld führt. Die Nutzung digitaler Technologien beschränkt sich aber naturgemäß nicht nur auf die künstlerische Außenwirkung, sondern bietet auch ganz praktische Lösungen: Produktionsvorgänge –und sogar der ökologische Fußabdruck –können beispielsweise durch 'virtuelle Bauproben', 3D-Modelle und die Nutzung von Extended Reality (XR) wesentlich erleichtert werden. Mit der routinemäßigen Nutzung digitaler Technologien stehen auch neue Inhalte in Aussicht. Derzeit erfahre die Form zu große Aufmerksamkeit, zitiert Philipp Tina Lorenz, die konkrete Vorschläge für inhaltliche Schwerpunkte abseits der tausendsten Neuauflage von Goethe und Schiller macht: "Noch ist das Medium die Message, aber wir müssen Geschichten für das digitale Zeitalter entwickeln, über die Gig Economy, Smart Cities oder darüber, wie Kommunikation, Aktivismus und soziale Bewegungen im 21. Jahrhundert funktionieren." (S. 102) Der Blick der Herausgeber*innen inkludiert auch Länder, deren staatliche Subventionsstrukturen weit weniger privilegiert beschaffen sind als im deutschsprachigen Raum. Alice Saville stellt in ihrem Beitrag "Keine Show ohne Publikum" einige Beispiele aus "Großbritanniens immersive[r] Theaterszene im Lockdown" vor, die ja aufgrund ihrer Organisationsform –weit mehr Touring Companies als feste Ensembletheater –ein gewisses Training in innovativer Raumgestaltung besitzt. Der Stadtplaner und Theaterleiter Trevor Davies berichtet von seinen Erfahrungen mit der hybriden Performancereihe "Wa(l)king Copenhagen", für die 100 Künstler*innen eingeladen wurden "ab dem 1. Mai 2020 über 100 Tage lang 100 kuratierte zwölfstündige Walks […] über stündliche Livestreams digital [zu] übertragen" (S. 54). Und die Kuratorin und Kritikerin Madly Pesti erzählt am Beispiel Estlands, bei dem sich die Einwohnerzahl und die Summe der jährlichen Theaterbesuche entsprechen, von der gelungenen Kooperation von Theaterhäusern und Rundfunk, die auf ein über Jahrzehnte gepflegtes Verhältnis zurückgeht: Da die Rechte der beteiligten Künstler*innen vom Estnischen Schauspielerverband vertreten wurden, konnte eine Sonderregelung für die Dauer des Ausnahmezustands verhandelt werden, um die künstlerischen Arbeiten im kulturellen Webportal des Nationalrundfunks kostenlos zugänglich zu machen. Angesichts des vergleichsweise neuen Terrains muss das Theater sich fragen, was es aus den Erfahrungen anderer Branchen lernen kann. Denkt man beispielsweise an die wirtschaftlichen Nöte des Onlinejournalismus und die mühsame Etablierung von Paywalls, ist es sinnvoll, frühzeitig über Verwertungsmodelle bzw. den Preis von 'gratis' nachzudenken. Es gilt zu prüfen, inwiefern Limitation (zeitlich, kapazitär, Ticketing), Exklusivität (Sonderformate, Blicke hinter die Kulissen, Stichwort Onlyfans) oder Partizipations- und Mitgestaltungsoptionen als wertsteigernde Maßnahmen praktikabel und tragfähig sind. Im Kontext von Big Data ist zudem branchenweit zu diskutieren, wie sich Theaterhäuser zu privatisierten Plattformen, die ja den digitalen Raum dominieren, verhalten sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass die ungeklärte Rechtesituation im deutschsprachigen Raum auf Netztheaterexperimente nachgerade innovationsfeindlich wirkt. "Man kann nicht Theater im Internet machen und dann aber straight die Copyright-Gepflogenheiten des Analogen anwenden wollen" (S. 93), spricht die Dramaturgin Katinka Deecke im Interview ein Feld mit raschem Klärungsbedarf an. Wiewohl alle Texte von den Lehren aus spezifischen Best Practices leben – schließlich werden die neuen Ausdrucksformate von Pionieren "des Ausprobierens, Aneignens und Entdeckens" (S. 76) entwickelt – versammelt die Publikation in einem eigenen "Produktionen"-Kapitel gezielt Besprechungen einzelner Projekte. Sinnigerweise stammen diese Texte mehrheitlich von Menschen, die berufsbedingt einen größeren Überblick über die Rezeption der Szene besitzen: Kritiker*innen und Redakteur*innen. So kommt Elena Philipps Untersuchung des "Aufbau[s] von Online-Programmen an Theatern" beispielsweise zu dem Schluss, dass "begleitend zu einer Theaterästhetik" – beispielsweise "für Virtual-Reality-Umgebungen" – auch "das Publikum dafür entwickelt" (S. 101) werden müsse. Der Umgang mit neuer Technologie ist schließlich für alle Beteiligten zunächst eine Terra incognita. Sophie Diesselhorst berichtet vom Online-Zusammenspiel der "Netztheater-Experimente aus Schauspielschulen", etwa der vielbeachteten Produktion Wir sind noch einmal davongekommen der Münchner Theaterakademie August Everding, die sich das Artifizielle des Mediums spielerisch überhöht zunutze machte und vermittels kluger Discord-Regie die Videokästchen in Bewegung setzte. Schade, dass die zitierten Experimente nicht zur Nachschau verlinkt bzw. verfügbar sind. Ein Grund hierfür könnte neben der prinzipiellen Unverfügbarkeit einmalig ausgestrahlter Livestreams sein, dass auch andere Quellen knapp einen Monat nach Erscheinen der Publikation bereits der 'Transitorik' des Internets zum Opfer gefallen sind. "Virtuelle[n] Festivalauftritte[n]" widmet sich Esther Slevogt, allen voran dem Berliner Theatertreffen mit seinen streambegleitenden Sonderformaten, die mittels Chat und Videotelefonie erstmals Fachdiskurse, die sonst wenigen Eingeweihten vorbehalten sind, mitsamt den dazugehörigen Gesichtern im Internet teilten. Für das Festival Radar Ost entwarf das Künstlerduo CyberRäuber ein weboptimiertes 360-Grad-3D-Modell des Deutschen Theaters, innerhalb dessen in verschiedenen 'Räumen', inklusive der Unterbühne, Veranstaltungen im Videoformat eingesehen werden konnten. Rückgriffe auf analoge Formate – die Berliner Volksbühne entschied sich etwa für eine Magazinanmutung bei der Gestaltung ihres Festivals Postwest – können laut Slevogt durchaus inspirierend sein: Als "Transfererleichterung für das Denken immaterieller Räume" genüge mitunter eine simple Lageplanskizze, wie es schon 1995 die Association for Theatre in Higher Education der Universität Hawai'i bewies. Wenn es gilt "Übergangsschleusen von der analogen in die digitale Welt benutzer/innenfreundlich zu gestalten", votiert Slevogt ganz klar für "Pragmatismus" (S. 109). Netztheater räumt mit dem weitverbreiteten Missverständnis auf, dass das Digitale allenfalls ein Substitut für 'das Echte' sei. Es ist an der Zeit, sich von falsch verstandenen Authentizitätsdiskursen und einer Überbetonung der 'leiblichen Ko-Präsenz', die die Theaterwissenschaft – die ja damit eine ganz eigene Agenda vertrat – an das Theater herangetragen hat, zu verabschieden. Netztheater will niemandem etwas wegnehmen. Es will das tradierte Theater keineswegs abschaffen, nicht den intimen Moment der Begegnung zweier Menschen ersetzen. Es sucht vielmehr nach technologisch unterstützten Erzähl- und Interaktionsformaten, in denen solche Begegnungen ebenfalls möglich sind. Das Digitale hat unser Denken bis in seine neurologischen Strukturen hinein verändert, die Art, wie wir kommunizieren und interagieren, wie wir uns organisieren, uns in der Welt verorten. Es hat sich in unser Verhältnis zu unseren Körpern eingeschrieben, unseren Zugang zu Wissen erleichtert und auf Herrschaftswissen basierende Hierarchien abgeschafft oder zumindest verschoben. Die Fülle an Information ist nahezu unnavigierbar geworden, Fake News haben unser Vertrauen in glaubwürdige Quellen erschüttert. Das Internet hat eine Vielzahl von alternativen Wahrheiten und alternativen Realitäten geschaffen. Das ist beängstigend, zumal in Zeiten einer Pandemie. Das 18. Jahrhundert hat das Theater als Laboratorium gedacht und die Bühne als Ort, an dem Probehandeln möglich ist, um etwas über unser Menschsein zu erfahren. Auch das Netztheater ist ein solches Laboratorium, ausgestattet mit den Gerätschaften der Gegenwart, die etwa Aufschluss darüber geben können, wie unsere Wahrnehmung beschaffen ist oder wie sich Aufmerksamkeit organisieren lässt. "Theater ist die Institution mit dem ältesten Wissen über die gesellschaftliche Kraft des Spielens." (S. 15) Philosophie und Soziologie veranschlagen im Spiel die Grundlage unseres Menschseins. Es wäre fatal, die verfügbaren virtuellen Spielzeuge und technischen Gadgets jenen Player*innen zu überlassen, deren Interessen wirtschaftlich, militärisch oder politisch getrieben sind. Indem wir unser über die Jahrtausende gewachsenes Wissen über Theatralität und Inszenierungsformen einsetzen, um spielerisch zu experimentieren, erlernen wir den Umgang damit und finden heraus, welche Weltgestaltung mit ihnen möglich ist. Die Lektüre der Beiträge zeigt deutlich: Die vielfach beschworene Minimaldefinition des Theaters – A geht durch einen Raum während B zuschaut – beinhaltet keinerlei Spezifikation, dass B sich dabei im selben Zimmer befinden muss.
Malnutrition, poverty and the unsustainable exploitation of natural resources pose serious problems in sub-Saharan Africa (SSA). Overfishing and deforestation not only damage ecosystems, but also put livelihoods at risk in rural economies. The development of nature-based tourism, aquaculture and bioenergy production from papyrus briquettes provide opportunities for improvement. Co-management is becoming increasingly important in SSA to prepare and implement development plans. It aims to provide a framework in which governments work closely together with key stakeholders in village communities, but often success has been limited. Namibia and Zambia are used as case studies in this thesis because despite co-management, malnutrition, poverty and high exploitation of natural resources is evident. A modeling approach can evaluate the impact of different policy (or development) programs ex-ante in order to derive recommendations for action. Quantitative approaches such as computer-based mathematical programming therefore provide an important tool to support policy planning and explore development opportunities, as simulations can indicate the feasibility and potential acceptance of policy (or development) programs. As a result, there is great interest in computer-based models to support the design of development and management plans. The literature also points to research needs for nature-based tourism, aquaculture and papyrus briquettes as bioenergy in SSA. This need is addressed in this thesis by developing computer-based mathematical programming models. Against this background, the overall objective of this thesis is to develop computer-based mathematical programming models to investigate the impact of different development opportunities on rural economies and natural resources in SSA. The focus of this thesis is on nature-based tourism and aquaculture applied to a region in Namibia, and papyrus briquetting applied to a rural area in Zambia as possible (management) options. In detail, the following research questions are raised: (1) Does nature-based tourism improve local livelihoods? (2) Does nature-based tourism have the potential to reduce overfishing? (3) Does aquaculture improve local livelihoods? (4) Does aquaculture have the potential to reduce local overfishing? (5) Does papyrus harvesting and processing improve local livelihoods? (6) Does papyrus harvesting and processing have the potential to reduce the pressure on local forest resources? Chapter 2 investigates the impact of nature-based tourism on rural development and conservation in Namibia's Zambezi Region. Co-management and nature-based tourism often go hand in hand to drive conservation and economic development in SSA. However, the complementarity of the two strategies is controversially discussed in the literature. A mathematical optimization model was developed which represents the economy of a rural case study region and analyzes the trade-offs between nature conservation and development objectives. The model is based on survey data from 200 households collected in 2012. Two different modeling scenarios were developed. Results show that in the scenario describing unrestricted resource extraction, local communities mainly benefit from fishing and utilizing forest products. The current problem of overfishing is highlighted and would be further worsened by the absence of the angling tourism sector. Furthermore, important macro- and micronutrients are missing in the daily diets. In comparison, the scenario representing the social optimum, implying sustainably managed fish stocks and appropriate diets for community inhabitants, shows that community households increase agricultural diversification and shift livelihoods towards tourism employment. As long as appropriate dietary substitutes for fish are available, the overall welfare can be maintained. Model results indicate the high willingness to pay for fish of angling tourists compared to local consumers. Revealed marginal values provide information for developing sustainable regional management plans and guide values for development interventions. Nature-based tourism thus has the potential to improve livelihoods and stop overfishing. Chapter 3 examines the impact of aquaculture development on fish stocks and livelihoods in rural Namibia. Aquaculture is widely recognized as a way to reduce malnutrition and poverty. So far, research with respect to aquaculture has mainly focused on Asia, and the few studies available from SSA are predominantly ex-post partial analyses. A village Computable General Equilibrium (CGE) model was constructed to investigate whether aquaculture improves local livelihoods and simultaneously has the potential to counteract local overfishing. The model is applied to a rural case study region in Namibia's Zambezi Region where malnutrition, poverty and fish resource overexploitation pose current problems. A Social Accounting Matrix (SAM) from 2012 is used as a database for the analysis. The village CGE model shows that aquaculture is a viable livelihood activity improving household incomes and utility through labor reallocations. Furthermore, aquaculture can counteract malnutrition through increased fish consumption. Higher opportunity costs lead to households leaving the fisheries and switching to aquaculture. These substitution effects offer the possibility of reducing the pressure on local freshwater fish stocks. The results also predict that the price of fish from aquaculture is below the regional market price and thus more affordable for the poor. However, the subsistence fish harvest still exceeds the sustainability limit, and the simulation of a strict fish conservation policy leads to declining incomes and increasing deforestation. Policy makers can use the results to introduce aquaculture support programs in rural areas. The findings indicate that such interventions should take particular account of the poorest households, which are most dependent on fisheries. The derived opportunity costs provide information about payments that are necessary to make policy interventions acceptable for different household groups. Chapter 4 analyzes the impacts of introducing a small-scale papyrus briquetting business in rural Zambia. Papyrus is increasingly suggested as an alternative bioenergy source to reduce the pressure on forest ecosystems. However, there are few studies on the economic viability of papyrus wetlands and the benefits for local communities. A village CGE model was developed to examine whether papyrus harvesting and processing has the potential to improve local livelihoods and simultaneously counteract the pressure on local forest resources. The model is applied to a village in northern Zambia where overexploitation of forest resources to produce energy from firewood and charcoal poses a serious problem. The analysis is based on a SAM, which was constructed from survey data of 105 households collected in 2015. The model results show that papyrus briquettes are a possible alternative biofuel and that this technology of papyrus briquetting improves household income and utility through labor reallocations. Higher opportunity costs lead to households switching from firewood extraction and charcoal production activities to papyrus harvesting and processing for bioenergy production. Revealed group-specific opportunity costs of the CGE analysis represent the incentive price for households to stop deforestation. Replacing energy supplies from firewood and charcoal with papyrus briquettes results in substitution effects between forest land and wetland and thereby reduces the pressure on local forest resources. However, sustainable harvesting regimes are required to maintain papyrus as an alternative biofuel source. The CGE approach allows for an economy-wide ex-ante analysis at village level and can support management decisions to ensure the success of papyrus bioenergy interventions. Annex A contains a user manual for the construction of a SAM for a village economy. The methodology is well established at the national level. The procedure for developing national SAMs is extensively documented in literature. However, it can also be constructed for smaller economies, such as a village. Studies dealing with village SAMs are rare. In addition, there are hardly any guidelines for design. In order to complete this gap, theoretical principles and data requirements are discussed; a hypothetical village SAM is constructed by using numerical examples. Subsequently, the SAM of a real-world village case study from Zambia is analyzed. It is demonstrated how macroeconomic indicators can be calculated and microeconomic information obtained. Furthermore, a village SAM provides the database for scientific modeling approaches, such as optimization and CGE models, which are presented. Village SAMs are thus a useful management tool and support policy planning at local and regional level. ; Unterernährung, Armut und die nicht nachhaltige Ausbeutung natürlicher Ressourcen sind schwerwiegende Probleme in Subsahara-Afrika. Überfischung und Entwaldung schädigen nicht nur die Ökosysteme, sondern gefährden auch die Existenzgrundlage der ländlichen Wirtschaftsräume. Die Förderung von Naturtourismus, Aquakultur und Bioenergieproduktion aus Papyrusbriketts stellen Möglichkeiten zur Verbesserung dar. Co-Management gewinnt immer stärker an Bedeutung in Subsahara-Afrika, um Entwicklungspläne zu erstellen und umzusetzen. Es soll einen Rahmen schaffen, in dem Regierungen eng mit den wichtigsten Interessengruppen in dörflichen Gemeinden zusammenarbeiten, allerdings häufig mit begrenztem Erfolg. Namibia und Sambia werden in dieser Arbeit als Fallstudien verwendet, da trotz Co-Management Unterernährung, Armut und eine starke Ausbeutung der natürlichen Ressourcen offensichtliche Herausforderungen darstellen. Ein Modellierungsansatz kann die Auswirkungen verschiedener Politik- (oder Entwicklungs-)Programme ex-ante bewerten, um Handlungsempfehlungen abzuleiten. Quantitative Ansätze, wie die computergestützte mathematische Programmierung, bieten daher ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der Politikplanung und Erarbeitung von Entwicklungsmöglichkeiten, da Simulationen auf die Realisierbarkeit und wahrscheinliche Akzeptanz von Politk- (oder Entwicklungs-)Programmen hinweisen können. Es besteht folglich ein hohes Interesse an computergestützten Modellen, um die Erstellung von Entwicklungs- und Managementplänen zu unterstützen. Die Literatur verweist zudem auf Forschungsbedarf für Naturtourismus, Aquakultur und Papyrusbriketts als Bioenergie in Subsahara-Afrika. Dieser Bedarf wird im Rahmen der Arbeit durch die Entwicklung computergestützter mathematischer Programmierungsmodelle adressiert. Vor diesem Hintergrund ist das übergeordnete Ziel dieser Arbeit, computergestützte mathematische Programmierungsmodelle zu entwickeln, um die Auswirkungen verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten auf ländliche Ökonomien und die natürlichen Ressourcen in Subsahara-Afrika zu untersuchen. Als mögliche (Management-)Option wird der Naturtourismus und die Aquakultur am Beispiel Namibias und die Papyrusbrikettierung am Beispiel Sambias hervorgehoben. Im Einzelnen werden die folgenden Forschungsfragen aufgeworfen: (1) Verbessert der Naturtourismus die lokalen Lebensgrundlagen? (2) Hat der Naturtourismus das Potenzial, die Überfischung zu reduzieren? (3) Verbessert Aquakultur die lokalen Lebensgrundlagen? (4) Hat Aquakultur das Potenzial, die lokale Überfischung zu reduzieren? (5) Verbessert die Papyrusernte und -verarbeitung die lokalen Lebensgrundlagen? (6) Hat die Papyrusernte und -verarbeitung das Potenzial, den Druck auf die lokalen Waldressourcen zu reduzieren? Kapitel 2 untersucht die Auswirkungen des Naturtourismus auf die ländliche Entwicklung und den Naturschutz in Namibias Sambesi Region. Co-mangement und Naturtourismus gehen oft Hand in Hand, um den Naturerhalt und die ökonomische Entwicklung in Subsahara-Afrika zu fördern. Inwiefern sich diese beiden Strategien ergänzen, wird jedoch in der Literatur kontrovers diskutiert. Es wurde ein mathematisches Optimierungsmodell entwickelt, welches die Wirtschaft einer ländlichen Fallstudienregion repräsentiert und die Zielkonflikte zwischen Naturschutz und Entwicklungszielen untersucht. Die Datenbasis des Modells stellen Umfragedaten von 200 Haushalten aus dem Jahr 2012 dar. Es wurden zwei unterschiedliche Modellierungsszenarien entworfen. Die Ergebnisse zeigen, dass in dem Szenario der uneingeschränkten Ressourcenextraktion die lokalen Gemeinden hauptsächlich von der Fischerei und der Nutzung von Waldprodukten profitieren. Das derzeitige Problem der Überfischung wird aufgezeigt und würde durch das Fehlen des Angeltourismus noch weiter verschärft werden. Zudem zeigt die Simulation das Fehlen wichtiger Makro- und Mikronährstoffe in der täglichen Ernährung. Im Vergleich zu dieser, den Status quo repräsentierenden Modellierung zeigt das Szenario des sozialen Optimums, welches nachhaltig bewirtschaftete Fischbestände und eine angemessene Ernährung der Gemeindebewohner beinhaltet, dass die Haushalte der Gemeinde ihre landwirtschaftliche Diversifizierung erhöhen und ihre Lebensgrundlagen zugunsten von Tourismusbeschäftigungen verlagern. Solange geeignete Ernährungssubstitute für Fische zur Verfügung stehen, kann die allgemeine Wohlfahrt aufrechterhalten werden. Die Modellergebnisse zeigen die hohe Zahlungsbereitschaft für Fische von Angeltouristen im Vergleich zu lokalen Konsumenten. Aufgedeckte Marginalwerte liefern Informationen für die Entwicklung nachhaltiger regionaler Managementpläne und Richtwerte für Entwicklungsmaßnahmen. Naturtourismus hat somit das Potenzial, die Lebensgrundlagen zu verbessern und die Überfischung zu stoppen. Kapitel 3 behandelt die Auswirkungen der Entwicklung der Aquakultur auf die Fischbestände und Lebensgrundlagen im ländlichen Namibia. Aquakultur ist allgemein als eine Möglichkeit bekannt, Unterernährung und Armut zu reduzieren. Bisher hat sich die Forschung bezüglich dieses Themas hauptsächlich auf Asien konzentriert und die wenigen verfügbaren Studien aus Subsahara-Afrika sind überwiegend Ex-post-Teilanalysen. Daher wurde ein ländliches Gleichgewichtsmodell entwickelt, welches untersucht, ob Aquakultur die lokalen Lebensgrundlagen verbessert und gleichzeitig das Potenzial hat, der lokalen Überfischung entgegenzuwirken. Das Modell wird auf eine ländliche Fallstudienregion in der Sambesi Region Namibias angewendet, die von Unterernährung, Armut und Überfischung gekennzeichnet ist. Für die Analyse wird der Datensatz einer Sozialrechnungsmatrix aus dem Jahr 2012 verwendet. Das ländliche Gleichgewichtsmodell zeigt, dass Aquakultur eine realisierbare Aktivität zur Verbesserung des Einkommens und des Nutzens der Haushalte durch Arbeitsreallokationen ist. Darüber hinaus kann die Aquakultur der Unterernährung durch erhöhten Fischkonsum entgegenwirken. Höhere Opportunitätskosten führen dazu, dass Haushalte die Fischerei verlassen und zur Aquakultur wechseln. Diese Substitutionseffekte bieten die Möglichkeit, den Druck auf die lokalen Süßwasserfischbestände zu verringern. Die Ergebnisse prognostizieren zudem, dass der Preis für Fisch aus der Aquakultur unter dem regionalen Marktpreis liegt und somit für einkommensschwache Haushalte bezahlbar ist. Der Subsistenzfischfang übersteigt jedoch noch immer die Nachhaltigkeitsgrenze und die Simulation einer strengen Fischschutzpolitik führt zu sinkenden Einkommen und zunehmender Entwaldung. Politische Entscheidungsträger können diese Resultate nutzen, um Förderprogramme für Aquakultur in ländlichen Gebieten einzuführen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei diesen Maßnahmen insbesondere die ärmsten Haushalte, die am stärksten von der Fischerei abhängig sind, berücksichtigt werden sollten. Abgeleitete Opportunitätskosten geben Aufschluss über Zahlungen, die notwendig sind, um politische Interventionen für verschiedene Haushaltsgruppen akzeptabel zu gestalten. Kapitel 4 analysiert die Auswirkungen der Einführung eines Papyrusbrikettbetriebes im ländlichen Sambia. Papyrus wird zunehmend als eine alternative Bioenergiequelle vorgeschlagen, um den Druck auf die Waldökosysteme zu verringern. Es gibt jedoch nur wenige Studien über die Wirtschaftlichkeit von Papyrus-Feuchtgebieten und den Nutzen für die lokale Bevölkerung. Es wurde ein ländliches Gleichgewichtsmodell entwickelt, um zu untersuchen, ob die Ernte und Verarbeitung von Papyrus das Potenzial hat, die lokalen Lebensgrundlagen zu verbessern und gleichzeitig dem Druck auf die lokalen Waldressourcen entgegenzuwirken. Das Modell wird auf ein Dorf im Norden Sambias angewendet, wo die Ausbeutung der Wälder zur Energiegewinnung aus Feuerholz und Holzkohle ein schwerwiegendes Problem darstellt. Die Analyse verwendet eine Sozialrechnungsmatrix, die auf Erhebungsdaten von 105 Haushalten aus dem Jahr 2015 basiert. Die Modellergebnisse zeigen, dass Papyrusbriketts ein möglicher alternativer Biokraftstoff sind und dass diese Technologie der Papyrusbrikettierung das Einkommen und den Nutzen der Haushalte durch Arbeitsreallokationen verbessert. Höhere Opportunitätskosten führen dazu, dass die Haushalte von der Feuerholzgewinnung und Holzkohleproduktion auf die Papyrusernte und -verarbeitung zur Erzeugung von Bioenergie wechseln. Die aufgedeckten gruppenspezifischen Opportunitätskosten der Gleichgewichtsanalyse stellen einen Anreiz für Haushalte dar, die Entwaldung zu stoppen. Der Austausch von Energie aus Feuerholz und Holzkohle durch Papyrusbriketts führt zu Substitutionseffekten zwischen Waldfläche und Feuchtgebiet und entlastet damit die lokalen Waldressourcen. Um Papyrus als alternative Biokraftstoffquelle zu erhalten, sind jedoch nachhaltige Erntemethoden erforderlich. Der Gleichgewichtsansatz ermöglicht eine gesamtwirtschaftliche Ex-ante-Analyse auf Dorfebene und kann Managemententscheidungen unterstützen, um den Erfolg von Papyrus-Bioenergie-Interventionen sicherzustellen. Annex A beinhaltet ein Benutzerhandbuch für den Bau einer Sozialrechnungsmatrix einer ländlichen Ökonomie. Die Anwendung dieser Methodik ist auf nationaler Ebene bereits etabliert. Die Vorgehensweise zur Erstellung nationaler Sozialrechnungsmatrizen ist in der Literatur ausführlich dokumentiert. Sie kann aber auch für kleinere Ökonomien, wie ein Dorf, entwickelt werden. Studien, die sich mit dörflichen Sozialrechnungsmatrizen beschäftigen, sind selten. Zudem gibt es kaum Richtlinien zur Gestaltung. Um diese Lücke zu schließen, werden theoretische Grundlagen und Datenanforderungen diskutiert; eine hypothetische dörfliche Sozialrechnungsmatrix wird mit Hilfe numerischer Beispiele konstruiert. Anschließend wird eine Sozialrechnungsmatrix einer realen Dorf-Fallstudie aus Sambia analysiert. Es wird aufgezeigt, wie makroökonomische Indikatoren berechnet und mikroökonomische Informationen ermittelt werden können. Darüber hinaus wird erläutert, inwiefern eine dörfliche Sozialrechnungsmatrix die Datenbasis für wissenschaftliche Modellierungsansätze wie Optimierungs- und Gleichgewichtsmodelle bietet. Dörfliche Sozialrechnungsmatrizen sind somit ein nützliches Managementinstrument und unterstützen die Politikplanung auf lokaler und regionaler Ebene.
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Vorstand statt Präsidentschaft, drei eigenständige Konferenzen, andere Abstimmungsmodalitäten: Die Kultusministerkonferenz steht vor einem grundsätzlichen Neuanfang. Scheitert die Reform, droht dem Ministerclub das Aus.
Bild: Bruno / Pixabay.
OFT HABE ICH hier im Blog geschrieben, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) sich verändern muss, um relevant zu bleiben. Jetzt gibt es gleich zwei Anlässe, diesen Satz zu revidieren. Richtig muss er lauten: Verändert sich die KMK jetzt nicht, könnte es sein, dass sie nicht mehr lange existiert. Zu extrem formuliert? Hoffentlich. Doch gibt es Leute in der KMK, die genau dieses befürchten – und deshalb weitreichende Reformen diskutieren. Schon beim Treffen der Kultusminister Ende der Woche in Völklingen im Saarland werden sie teilweise auf dem Tisch liegen.
Anlass 1 ist das Erstarken von rechtsextremen und populistischen Parteien, das besonders bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen im September zu einem politischen Erdrutsch führen könnte. Mit einer, siehe die vorläufigen Ergebnisse der Europawahlen, inzwischen erschreckend hohen Wahrscheinlichkeit: In Sachsen (31,8 Prozent AfD, 12,6 Prozent BSW), Thüringen (30,7 Prozent AfD, 15,0 Prozent BSW) und etwas abgestuft in Brandenburg (27,5 Prozent AfD, 13,8 Prozent BSW) wird eine Regierungsbildung ohne eine dieser beiden Parteien rechnerisch immer schwieriger. Doch was machen AfD oder BSW, sollten sie etwa die für Bildung und/oder Wissenschaft zuständigen Landesminister stellen?
Maximalen Krach könnten sie erzielen, wenn sie den Austritt ihres Bundeslandes aus der KMK erklärten. Der Applaus der Massen wäre ihnen erstmal sicher, denn wenig bundesdeutsche Institutionen haben einen derart ramponierten Ruf wie der Bildungsföderalismus. Meine regelmäßigen Leser wissen, dass ich das Kultusminister-Bashing in weiten Teilen unfair finde und Föderalismuskritiker noch nie eine realistisch-realisierbare Alternative präsentiert haben. Doch wäre diese zum Kaputtmachen des Bestehenden auch nicht nötig, das noch dazu derzeit denkbar einfach wäre: In Paragraph 6 des geltenden Länderabkommens zum KMK-Sekretariat heißt es nämlich: "Die Kündigung durch ein Land bewirkt, dass das Abkommen mit Wirkung für alle Länder außer Kraft tritt." Und weiter: "Tritt dieses Abkommen außer Kraft, so ist das Sekretariat aufzulösen." Also die Verwaltung der KMK, die zum Beispiel alle länderübergreifenden Vereinbarungen nachhalten soll.
Ein Kündigungsschreiben, und das war's
Ein Kündigungsschreiben eines AfD-Kultusministers, und das war's. Zum Glück aber wohl nicht mehr lange: Aus der KMK ist zu hören, dass der Passus schon kurzfristig geändert werden könnte. Mit dem Ergebnis, dass auch 15, 14 oder 13 Länder weitermachen könnten.
So wichtig das ist, es wäre nur ein erster Schritt. Denn das Imageproblem der KMK hing schon lange vor dem aktuellen Rechtsruck vor allem damit zusammen, dass sie sich allzu oft nicht auf weitreichende Reformen im Bildungssystem und erst recht nicht auf deren konsequente Umsetzung verständigen konnte und stattdessen meist beim kleinsten gemeinsamen Nenner stehen blieb. Warum? Weil bei allen wichtigen Entscheidungen alle 16 Bundesländer Ja sagen müssen – und wenn nur eines nicht an Bord ist, der Beschluss durchfällt. Für die lähmende Wirkung des Einstimmigkeitsprinzips brauchte es insofern gar keine AfD und kein BSW, weshalb seine Abschaffung auch schon seit Jahren, allerdings bislang erfolglos, in der Bildungspolitik diskutiert wurde.
Das hat sich geändert: Die neuen Kultusminister-Koordinatorinnen von Union und SPD, Karin Prien aus Schleswig-Holstein und Stefanie Hubig aus Rheinland-Pfalz, haben seit Jahresanfang mehrfach klargemacht, dass sie ran wollen an die Einstimmigkeit, und in der KMK einen entsprechenden Prüfauftrag initiiert. Jetzt kursieren unter den Kultusministern erste konkrete Überlegungen: (Fast) alle KMK-Entscheidungen könnten demzufolge künftig mit 13 zu drei Stimmen gültig sein, ein Quorum, das der Ministerclub bislang schon bei weniger zentralen Abstimmungen angewandt hat.
Die 13 Ja-Länder würden sich dann verpflichten, den gefassten Beschluss umzusetzen, die drei übrigen könnten, müssten aber nicht. Es wäre eine Koalition der Willigen im Bildungsföderalismus, die sich viele schon lange wünschen, die es bislang aber bei Bildungsstandards, noch einheitlicheren Abiturregeln oder anderen länderübergreifenden Vorgaben nicht gab. Auch mit dem Bund könnte sich die KMK leichter einigen, weil sie nicht mehr jedes Land mitnehmen müsste. Was heute, siehe oben, drängender erscheint als je zuvor. Aber eine schlagkräftigere KMK, die es herausschafft aus dem föderalen Klein-Klein, bräuchte es auch ohne die Gefahren von Rechts. Denn ohne sie wird es keinen Aufbruch im Bildungssystem geben.
Wie realistisch das Reden über ein solches Modell ist? Schwer zu sagen. Verfassungsrechtlich gesehen hatten KMK-Beschlüsse ohnehin nie eigene Wirkmacht, die bekamen sie nur durch absichernde Beschlüsse auf Ebene der Ministerpräsidenten und Landesparlamente. Umgekehrt hätte es schon eine hohe politische Symbolkraft, wenn 13 Kultusminister sich politisch zu weitreichenden gemeinsamen Initiativen verpflichten würden und dabei nicht von wenigen Bremsern aufgehalten werden könnten.
Die Blaupause der "Strukturkommission II"
Anlass 2, warum die KMK nicht mehr lange existieren könnte, wenn die Kultusminister jetzt nicht handeln, ist demokratietheoretisch weniger dramatisch – aber kurzfristig sogar noch drängender. Hintergrund ist der zum 1. Juli geplante Start der neuen Wissenschaftsministerkonferenz, kurz "Wissenschafts-MK". Sie soll "innerhalb der KMK" gegründet werden, wie Kultus- und Wissenschaftsminister Ende 2023 vereinbart hatten. Abstrakt vereinbart hatten, denn jetzt, wo sich die Implikationen dieses Beschlusses zeigen, gibt es Aufregung und Ärger.
Diese Implikationen zeigt die aus mehreren Amtschefs bestehende "Strukturkommission II" in einem internen Konzept auf, das mir vorliegt, beim KMK-Treffen in Völklingen diskutiert werden und dort laut Beschlussvorschlag bereits in wesentlichen Teilen verabschiedet werden könnte. Was allerdings, wenn man sich unter Bildungsministern umhört, durchaus noch fraglich ist. Überschrift: "Eckpunktepapier zur zukünftigen Struktur der Kultusministerkonferenz (KMKhoch3)".
Es soll so etwas wie die Blaupause für die anstehende KMK-Großreform sein, bei der die Einrichtung einer Wissenschafts-MK nur ein, obgleich wichtiger, Schritt ist. Von einer "Neuausrichtung" und einer "neuen Architektur für die KMK" ist in dem Papier die Rede, von einer "strategisch veränderte(n) Aufstellung", die die "Schlagkraft der KMK in allen drei Kernbereichen – Bildung, Wissenschaft und Kultur – " erhöhen, die Entscheidungswege verkürzen, die Kommunikationsstrukturen optimieren und die "Flexibilität in der politischen Agenda" fördern werde.
Die wesentlichen Bestandteile des Reformvorschlags
o Drei eigenständig agierende Ministerkonferenzen innerhalb der KMK namens Bildungsministerkonferenz (Bildungs-MK), Wissenschaftsministerkonferenz Wissenschafts-MK) und Kulturministerkonferenz (Kultur-MK), wobei letztere bereits 2018 gegründet wurde und das Vorbild für die beiden neuen Runden darstellt.
o Die drei Konferenzen entscheiden selbst über ihre Binnenstruktur und die Gremien und Beratungsformate, die sie noch brauchen. Ziel: eine Beschränkung auf diejenigen Runden, die wirklich zur Erledigung der jeweiligen Aufgaben nötig sind.
o Einmal im Jahr treffen sich alle drei MKs bei der "Jahrestagung der Kultusministerkonferenz", um dort "ausschließlich bereichsübergreifende Materien von Bildung, Wissenschaft und Kultur" zu beraten. Ansonsten gibt es nur für bereichsübergreifende Angelegenheiten – das Konzept nennt als Beispiel die Lehrkräftebildung – noch bereichsübergreifende Gremien.
o Statt KMK-Präsidium würde es künftig einen KMK-Vorstand geben, bestehend aus den Vorsitzenden der drei Konferenzen, der sich mehrfach im Jahr trifft und "flexibel auf gemeinsame strategische und politische Themen reagieren" soll.
o Zur Koordination und Steuerung des KMK-Sekretariats würde eine "Verwaltungskommission" auf Staatssekretärsebene eingerichtet. Das Sekretariat würde allen drei Konferenzen nach deren Bedarf zuarbeiten.
Denkt man die vorgeschlagene Struktur zu Ende, wird schnell klar, wo der Konflikt liegt: Es gäbe keine KMK-Präsidentschaft mehr wie bislang. Sondern drei Vorsitzende, die gleichberechtigt den Vorstand bilden und jeweils für ihren Politikbereich die KMK in der Öffentlichkeit vertreten. Und: "Die Vertretung der Gesamt-KMK in der Öffentlichkeit erfolgt bei Bedarf gemeinschaftlich durch die drei Vorsitzenden der Ministerkonferenzen der KMK, weitere protokollarische Fragen werden separat geregelt."
Die meisten Wissenschaftsminister wollen genau das, weil sie sich bislang meist von der Bildungsseite untergebuttert fühlten, die wie selbstverständlich den oder die KMK-Präsidentin stellte. Damit wäre es vorbei – was wiederum verschiedene Kultusminister:innen auf die Barrikaden treiben könnte. Eine solche Struktur, argumentieren einige zudem, passe nicht zum Reformziel, die KMK in der Öffentlichkeit einig und schlagkräftiger als bislang zu präsentieren.
Was passiert in Völklingen?
Die große Frage ist: Was passiert beim KMK-Treffen in Völklingen? Fest steht: Die Fliehkräfte auf der Wissenschaftsseite sind gewaltig. Besteht die Bildungsseite auf einer Präsidentschaft wie bisher, könnte im schlimmsten Fall die bevorstehende Gründung der Wissenschafts-MK zugleich das Ende der bereichsübergreifenden Kultusministerkonferenz bedeuten. Noch vor wenigen Wochen, ist zu hören, hätte sich eine solche Zuspitzung auch in der KMK kaum einer vorstellen können.
Genau die will die Strukturkommission mit ihrem Konzept offenbar verhindern – doch ist noch unklar, ob ihr Beschlussvorschlag es überhaupt zur Abstimmung schafft Ende der Woche. Eine Vertagung großer Teile ist denkbar, auch wenn die Wissenschafts-MK auf jeden Fall pünktlich kommen soll.
Im Vergleich zu der Präsidentschafts-/Vorstands-/Kommissionsfrage erscheinen da andere in ihrem Eckpunktepapier enthaltene Vorschläge fast schon vernachlässigbar. Etwa dass es beim Vorsitz von Bildungs- und Wissenschafts-MK bei dem von der bisherigen KMK-Präsidentschaft bekannten Rotationsprinzip bleiben soll, während die Kultur-MK sich seit ihrer Gründung am jeweiligen Vorsitzland der Ministerpräsidentenkonferenz ausrichtet.
Oder dass die Verwaltungskommission im Unterschied zu den MK-Vorsitzenden um "der notwendigen Expertise und Erfahrung" willen über mehrere Jahre hinweg besetzt werden und der Austausch ihrer einzelnen Mitglieder zeitversetzt erfolgen sollte. Wer genau zur Kommission gehören würde, da hält sich das Eckpunktepapier noch bedeckt. Denkbar wäre aber, erzählen manche in der KMK, dass sie sechs Mitglieder hätte: zwei Amtschefs pro Konferenz, und zwar aus den Ministerien, die jeweils A- und B-Seite koordinieren. Andere wollen, dass etwa auch das Land Berlin, offizieller Betreiber des KMK-Sekretariats, drinsäße. Für das KMK-Sekretariat würde die Verwaltungskommission in jedem Fall eine Zeitenwende bedeuten – denn seine noch ausstehende Umstrukturierung fände in äußerst enger politischer Begleitung statt.
Schließlich schlägt die Strukturkommission II ein "Kriterienraster" für die versprochene Verschlankung der KMK-Gremienstruktur vor, inklusive fünf Fragen, denen sich jedes bestehende und neue Gremien stellen soll. Die wichtigsten beiden: "Soll das Thema innerhalb der KMK wahrgenommen werden?" Und: "Wenn ja, was ist die effizienteste Bearbeitungsform?"
Ende der Woche im Saarland werden sich die Kultusminister freilich noch eine ganz andere Frage stellen müssen. Wollen sie, dass die KMK als Ganzes überlebt? Wenn ja, müssen sie möglichst bald entschieden handeln und dabei auch zum Abschneiden alter Zöpfe bereit sein. Die Chance ist da. Vielleicht zum letzten Mal.
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Der Wissenschaftsratsvorsitzende Wolfgang Wick schwört Hochschulen und Politik auf Strategien für bundesweit stagnierende Studierendenzahlen ein und hofft auf eine demographische Rendite.
Demnächst mehr freie Plätze? Foto: Michal Jarmoluk / Pixabay.
JEDES JAHR Ende Januar gibt der oder die Vorsitzende des Wissenschaftsrats einen Bericht zu aktuellen Tendenzen im Wissenschaftssystem ab, über den das Gremium anschließend diskutiert. In Dorothea Wagners letzter Bestandsaufnahme Anfang 2023 stand die Frage im Mittelpunkt, ob die Wettbewerbsorientierung in der Wissenschaft an ihre Grenzen gestoßen sei. Wagners Nachfolger Wolfgang Wick, der dieses Jahr zum ersten Mal mit dem Berichten an der Reihe war, widmete sich der Hochschullehre und dem Watershed-Moment, den viele Hochschulen gerade erleben. Es ist die Realisierung, dass die Zeit bundesweit stetig wachsender Studierendenzahlen zu Ende geht. Weshalb Wick zielsicher die passende hochschulpolitische Agenda fürs neue Jahr setzte, indem er von Hochschulen und Hochschulpolitik neue Strategien für den demographischen Wandel forderte.
Wick verweist auf die aktuelle Vorausberechnung der Kultusministerkonferenz (KMK), dass die Zahl der Studienanfänger deutschlandweit wohl spätestens von 2027 an für einen längeren Zeitraum stagnieren wird. Tatsächlich gingen die Erstsemesterzahlen zwischen 2018 und 2021 sogar über mehrere Jahre zurück, doch schien das kaum einer wahrzunehmen, solange die Gesamt-Studierendenzahlen noch von Rekord zu Rekord jagten. Obwohl es eine mathematische Gewissheit war, dass letztere mit zeitlicher Verzögerung ersteren folgen würden. Im Wintersemester 2022/23 war es dann soweit. Die Gesamtzahl der Studierenden in Deutschland sank zum ersten Mal seit 2007, im Wintersemester 2023/24 ging es weiter runter auf zuletzt 2,871 Millionen. Was allerdings immer noch satte 850.000 mehr waren als 20 Jahre zuvor und der Einbruch teilweise pandemiebedingt. So dass es bei den Erstsemestern – wenn auch nur leicht – die vergangenen beiden Jahre sogar schon wieder aufwärts ging.
Wie ein Luftholen von der scheinbar ewig laufenden Bildungsexpansion
Insofern fühlte sich der demographische Wandel an vielen Hochschulen vor allem in den westdeutschen Metropolen bislang allenfalls wie ein Luftholen von der scheinbar ewig laufenden Bildungsexpansion an. Das zu Recht von Wolfgang Wick angemahnte strategische Umdenken mag gerade dort noch aus anderen Gründen schwer fallen: Die Rektorate und Präsidien haben bis zur Pandemie die Erfahrung gemacht, dass die Zahl der Neuimmatrikulationen die mutigsten Prognosen von Hochschulforschern immer aufs Neue übertrafen. Und auch jetzt ist ja nicht von einem weiteren starken Rückgang die Rede, sondern von einer Stagnation auf hohem Niveau.
Absehbar ist zudem, auch das führt der Wissenschaftsratsvorsitzende, aus, dass diese bundesweite Entwicklung sich je nach Region und Disziplin in ein deutliches Minus oder gar ein weiteres kräftiges Plus bei den Studierenden übersetzt (siehe hierzu auch meinen Bericht von Ende November 2023). Weshalb, so Wick, die Hochschulen individuelle, "maßgeschneiderte" Strategien entwickeln müssten. Sehr viele ostdeutsche Standorte und auch etliche westdeutsche sind, nebenbei bemerkt, den Umgang mit dem Schrumpfen schon länger gewöhnt.
Von ihnen können die erstmals seit langem mit Rückgängen konfrontierten Einrichtungen viel lernen. Dabei bietet sich ihnen zumindest auf den ersten Blick eine große Gelegenheit: "Die Hochschulen bekommen die Chance, Fehlentwicklungen der Wachstumsperiode zu korrigieren, die Qualität der Lehre zu verbessern, den Anteil erfolgreicher Abschlüsse zu steigern und die Digitalisierung voranzutreiben", sagt Wolfgang Wick.
Womit die große Gelegenheit übrigens auch auf Seiten der jungen Menschen liegt. Denn wenn die Studierenden nicht mehr Schlange stehen vor den Immatrikulationsbüros, müssen sich die Hochschulen mehr einfallen lassen, um sich neue Zielgruppen zu erschließen und alte Zielgruppen im Studium zu halten: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern zum Beispiel, Berufstätige, Einwanderer und internationale Studierende. Die erstaunliche Erfolgsgeschichte privater Hochschulen in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren erklärt sich zu einem großen Teil erst dadurch, dass viele ihrer staatlichen Pendants ihren Fokus auf dem vermeintlichen "Normstudenten" hatten.
"Small is beautiful, too", findet der Vorsitzende
Auf den zweiten Blick ist das mit der großen Gelegenheit für alle Beteiligten allerdings so eine Sache – womit auch erklärbar wird, warum vielerorts gerade nicht das große Jubeln ausbricht. Denn die Hochschulfinanzierung läuft in den meisten Fällen hauptsächlich über die Zahl der Köpfe. Werden die weniger, stehen sie dann eben nicht der gleichen Menge an Geld gegenüber, die Hochschulen müssten Personal abbauen, und es wäre wenig bis nichts gewonnen. Erst recht, wenn dann auch noch einseitig bei den Fächern und Standorten eingespart würde, die gerade weniger am Arbeitsmarkt gefragt sind. Bei Wick hört sich diese Warnung so an: "Wir dürfen nicht aufgrund von Nachfrageschwankungen Fächer und Institute kaputtsparen, die wir später nur langwierig und mit hohen Kosten wieder aufbauen müssen."
Immerhin: Andere Finanzierungslogiken sind in der Hochschulpolitik in Ansätzen längst installiert. So haben Bund und Länder den gemeinsamen Hochschulpakt 2020, einst geschlossen, um die hunderttausenden zusätzlichen Erstsemester abzufangen, nach seinem Auslaufen in den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" transformiert, der die Finanzierung allmählich von der Zahl der Erstsemester unabhängiger macht. Auf Anraten des Wissenschaftsrats. Zuletzt einigten sich Bund und Länder sogar noch darauf, die Zukunftsvertrags-Ausgaben pro Jahr um drei Prozent zu erhöhen – unabhängig von der Studierendenzahl.
Wolfgang Wick postuliert in seinem jährlichen Bericht denn auch ganz grundsätzlich: "Small is beautiful, too." Eine Hochschule, die weniger Studierende aufnehme und diese dafür besser betreue, müsse belohnt und nicht durch Stellenabbau bestraft werden. Eine ähnliche Hoffnung wurde in der Schulpolitik einst unter dem Stichwort "demographische Rendite" diskutiert: Bis in die Zehnerjahre hinein rechnete man dort mit bald sinkenden Schülerzahlen und appellierte an die Politik, die bisherigen Bildungsausgaben trotzdem beizubehalten – der Qualität zuliebe. Aus den sinkenden Schülerzahlen wurde dann übrigen nichts. Mal sehen, wie es sich mit der von der KMK prognostizierten Stagnation bei den Studierendenzahlen verhalten wird.
Entscheidend für die Durchschlagskraft von Wicks Appell wird freilich sein, dass er nicht nur von den Wissenschaftsministern ernstgenommen und beklatscht wird, die – mit Ausnahme von Hamburgs Finanzssenator (derzeit Andreas Dressel) – die Länderseite im Wissenschaftsrat vertreten. Vielleicht hilft bei der Vermittlung Richtung Haushaltspolitiker und Regierungschefs, dass seit April 2022 mit Jakob von Weizsäcker aus dem Saarland immerhin ein Landeswissenschaftsminister auch das Finanzressort verantwortet. Umgekehrt intensivieren gerade verschiedene Landesregierungen die Suche nach jeder sich auftuenden Sparmöglichkeit – oder streiten darüber (jüngstes Beispiel: Berlin). Eine aus Sicht vieler Hochschulen unschöne Koinzidenz mit der erwarteten Entwicklung der bundesweiten Studierendenzahlen.
Was der Wissenschaftsrat zu Brandenburgs Hochschulsystem und zum neuen Max-Planck-Institut "caesar" sagt
In seiner Wintersitzung beschloss der Wissenschaftsrat auch seine Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Hochschulsystems des Landes Brandenburg. Zuvor hatte das Gremium auf Bitten von Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) eine umfangreiche Begutachtung durchgeführt und dessen Ergebnisse auf über 600 Seiten dargestellt. Insgesamt erhielten dabei die Hochschulen recht viel Lob für ihre positive Entwicklung und die ihre Rolle beim gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Auch das Land kam gut weg: Es habe mit seinem finanziellen und politischen Engagement dazu beigetragen, die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Hochschulen zu steigern und Transfer, Digitalisierung sowie Qualitätssicherung zu stärken.
"Das Land sollte sein finanzielles Engagement fortsetzen und gemeinsam mit den Hochschulen Maßnahmen ergreifen, um die Qualität von Forschung und Lehre weiter zu verbessern und Herausforderungen zu begegnen, wie der an einigen Standorten rückläufigen Studierendennachfrage, dem Fachkräftemangel oder der Bildung kritischer Massen in der Forschung an den überwiegend kleinen Hochschulen", sagte der Vorsitzende Wolfgang Wick. Außerdem sollte das Wissenschaftsministerium seine Finanzierungs- und Steuerungsarchitektur vereinfachen, die Forschungsförderung stärker an den Stärken der Hochschulen ausrichten und zugleich die kooperative Spitzenforschung stärken.
Den Hochschulen empfahl der Wissenschaftsrat unter anderem, sich stärker überregional zu profilieren, ihre Kooperationen untereinander, mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aber auch mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft auszubauen. Mit innovativen Ansätzen in Studium und Lehre sollten sie dem Rückgang der Studierendenzahlen entgegenwirken und besser auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Studierenden eingehen.
Der Wissenschaftsrat lobte die Strategie der Landesregierung, den Strukturwandel in der Region Cottbus mithilfe der Bundesgelder aus dem Strukturstärkungsgesetz für die Kohleregionen wissenschaftspolitisch zu gestalten. Die aus der Fusion einer Universität mit einer Fachhochschule entstandene BTU Cottbus-Senftenberg müsse forschungsstärker werden und sich auch, um attraktiver für Studierende zu werden, zu einer reinen Universität entwickeln. Ein besonderes Lob erhielt die Universität Potsdam, die durch die Einwerbung kompetitiver Forschungsprojekte und die intensive Zusammenarbeit mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen überzeuge. Angesichts der geplanten Neugründung einer medizinischen Universität in Cottbus forderte der
Wissenschaftsrat eine enge Kooperation mit der BTU und die Auflösung der hochschulübergreifenden Fakultät für Gesundheitswissenschaften.
BTU-Präsidentin Gesine Grande sagte laut Research.Table, bei den Studierenden scheine die Trendwende bereits geschafft und mit rund 40 Prozent internationalen Studierenden sei man sogar Vorreiter. Die Forderung des Wissenschaftsrats, eine reine Universität zu werden, begrüßte sie, weil das derzeit noch 18 Semesterwochenstunden umfassende Lehrdeputat der ehemaligen FH-Kollegen diesen kaum Potenziale in der Forschung ermöglichten.
Wissenschaftsministerin Schüle kommentierte: "Wir sind auf dem richtigen Weg." Brandenburgs Wissenschaftslandschaft habe sich in den vergangenen Jahren exzellent entwickelt. "Zusammen müssen wir innovative Wege gehen, indem unsere Hochschulen noch klarere Profile entwickeln und Kooperationen weiter ausbauen sowie noch stärker auf Studienerfolg, auf durchlässige Bildungswege und auf gute Integration internationaler Studierender setzen." Man werde die Empfehlungen jetzt gemeinsam mit den Hochschulen auswerten. "Für das Land kann ich schon jetzt versprechen: Wir werden auch die Punkte angehen, die für das Ministerium unbequem sind."
Der Wissenschaftsrat nahm außerdem zur Eingliederung des Bonner Forschungszentrums "caesar" in die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) Stellung. Er sehe darin einen folgerichtigen Schritt für die Sicherung der Zukunft caesars. Die wissenschaftliche Verantwortung des heutigen "Max-Planck-Instituts für Neurobiologie des Verhaltens – caesar" habe bereits seit über 15 Jahren bei der MPG gelegen. "Durch die Integration übernimmt die MPG nun sowohl die rechtliche als auch die finanzielle Gesamtverantwortung."
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat den Wissenschaftsrat 2021 gebeten, den Eingliederungsprozess begleitend zu evaluieren. Dabei sollte allerdings keine inhaltliche Bewertung der wissenschaftlichen Qualität des "caesar" vorgenommen werden.
Um das "caesar" hatte es im Vorfeld der Eingliederung heftige Vorwürfe des Bundesrechnungshofs gegeben. Das BMBF wolle Stiftungsgelder in dreistelliger Millionenhöhe am Parlament vorbei an die Max-Planck-Gesellschaft übertragen. MPG und Ministerium widersprachen. Der Bundestag hatte der Eingliederung dann zwar zugestimmt, aber strenge Auflagen gemacht.
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