Marie-Luise Angerers neue Publikation Affektökologien. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen (2017) aktualisiert ihre Studie zum Begehren nach dem Affekt (2005) hinsichtlich theoriebildender Felder (bei Angerer "Milieus"), die gegenwärtig in je unterschiedlicher Weise Zugriffe auf Affekttheorie forcieren. Die kurze Verschriftlichung ihrer Potsdamer Antrittsvorlesung (2016) verdichtet ein kompliziertes Vorhaben, denn der zum Nachdenken und Nachschlagen anregende Text steigt auf einer recht komplexen Stufe des Einschätzens der Gegenwart von Affektologie ein. Die Autorin bespricht einige Traditionen von Affekttheorie, legt zentrale, wiederkehrende aber auch minoritäre Argumentationen akzentuiert frei und führt diese in einem Votum für eine Affektlehre der Intensitäten, des Politischen und radikaler Zeitlichkeit zusammen, welche sie skizzenhaft in Aussicht stellt. Angerer geht dabei zum einen der Frage nach, inwiefern die verschieden motivierten Interessen am Affektbegriff und das damit einhergehende In-den-Hintergrund-Treten des Symbolischen, des Sprachlichen und der Psychoanalyse die Relevanz eines anderen Denkens über 'das Humane' abermals illustrieren. Zum anderen zeigt sie auf, dass in der Kategorie des Zufalls bislang ausgeklammerte theoretische Leerstellen zwischen Diskurssträngen sichtbar werden. Es sei vor allem der Zufall, welcher dazu ermutige, das Leben in posthumanen Verschaltungen und im Geflecht von Affekt- und Psychotechnologien stärker in Bezug auf affektive Intensitäten, auf stete "Prozesse des Verbindens, Unterbrechens und Übersetzens", zu perspektiveren, die "nicht einfach reibungs-, rausch- und konfliktfrei ablaufen" (S. 48). Eingangs wird Bezug auf eine Reihe ausgerufener Paradigmenwechsel (material turn, performative turn etc.) genommen sowie auf Interferenzen von Begriffen in posthumanistischen Theorien eingegangen: Entangled Ontologies (Barad), Medianatures (Parikka), NatureCulture (Harraway) etc., innerhalb deren Relevanzbereich sich die Autorin auch mit ihren Überlegungen positioniert. Den Kern dieser Anschauungen bildet eine Kritik an der dichotomen Trennung des Diskursiv-Symbolischen und Materiell-Physischen sowie am Abgrenzen des Menschen von nicht-menschlichen Entitäten – Demarkationen, die durch Digitalisierung, Bio-Medien, Neurowissenschaften uvm. durchlässig geworden sind und stattdessen etwa als "Bio-Mediale Schwelle[n]" (S. 19) gedacht werden. Das Humane anders zu fassen impliziert in diesem Sinne eine radikale Skepsis am Anthropozentrismus. Angerer unterstreicht die Notwendigkeit einer Wissenschaft in der "present tense" (S. 16), d.h. einer Wissenschaft im Bewusstsein um die gegenwärtigen Verschränkungen mit 'den anderen' (Tier, Pflanze, Maschine) 'im Jetzt', womit sie in Anschluss an Whitehead und Simondon das "Denken" nicht nur "in Relationen", sondern "als Relation" (S. 22) fordert. Auf dieser Basis wird zu medien- und kulturwissenschaftlichen Anwendungen neu-materialistischer Herangehensweisen übergeleitet, welche vor allem die Prozesshaftigkeit der Relationen von Gesellschaft und Natur, die "Kybernetisierung des Sozialen" oder das "Verhältnis von Medientechnologien, Umwelt und Körper" (S. 24) performativ fassen. Da Realität im 21. Jh. "nicht erkennbar im Sinne des Spekulativen Realismus" ist, sondern "zu einer Frage ihrer technologischen Verfasstheit in ihrer biologischen, physischen und psychischen Dimension geworden" (S. 25) ist, gilt es "intra-aktive Kippbewegungen [zu] begreifen", in denen Technologie und Medien "mehr als nur Prothesen sind" (S. 26). Wir müssen also von ständigen Binnen-Verschränkungen (intra!) zwischen human und non-human ausgehen, in denen es die Affekte sind, die Leben miteinander "verzahnen" (S. 27). Zentral für den Affektbegriff ist dabei seine spezifische Zeitlichkeit als (nicht-)wahrgenommene Dauer im Moment des Geschehens. Damit ist Affekt kein Zustand, sondern überfüllt ein Intervall mit Intensität (Virtualität bei Massumi). Auch Zugriffe auf die Figur von Resonanz (Ritornell, Schwarmbildung) privilegieren eine Fokussierung auf präreflexives Erfahren in der "Zone des Affekts" (S. 30), in welcher "Langsamkeit und Schnelligkeit", "Ruhe und Bewegung" (S. 37) die Intensität eines Empfindens betonen, das der Subjektkonstitution vorgelagert ist. Angerer zufolge teilen die Beschreibungen von Empfindungsvermögen (Diderot), Intra-Aktionen (Barad) und blindem Fühlen (Whitehead) die Grundannahme, dass es eine Form des Empfindens gibt, die "kein Ich voraussetzt" (S. 36) – eine basale und machtvolle Dimension der Affizierung, die humans und non-humans gleichermaßen betrifft und "die Metaphysik einer individuell gefassten Entität radikal in Frage" (S. 39) stellt. Wie Angerer mit Whitehead hervorhebt, müssten Affekte in Intra-Aktionen nicht als Operationen "eines intentional agierenden Subjekts gedacht" werden, sondern als nicht-intentionale "Form der physischen Erfahrung" (S. 41) im "Hier und Jetzt" (S. 42). Darin wurzeln auch die Schwierigkeiten in den Anstrengungen Affekte psycho-logisch zu erklären, subversiv zu politisieren oder neoliberal zu regieren. In der Analyse dreier theoriebildender Milieus trägt Angerer den damit verbundenen Hinwendungen und Ambivalenzen Rechnung. Mit einem Milieu meint sie eine Bündelung von unter ähnlichen Vorzeichen, Motivationen und Perspektiven ausgerichteten (Forschungs-)Praxen. Im ersten Milieu zirkulieren Diskussionen, mit denen rund um das Stichwort 'sensing' "die technologische Beziehung zwischen Körper und Umwelt befragt wird" (S. 45). Gesprochen wird hier also von einer Ausweitung der Auffassung von Empfindsamkeit auf technische Apparaturen über Sensoren und komplexe Verschaltungen von Mensch und Maschine (smart houses). Insbesondere Übersetzungsprobleme stehen im Vordergrund der Positionen von Hird, Parisi und Hörl, die "versuchen einer voranschreitenden medientechnischen Infra(re)strukturierung gerecht zu werden" (S. 47). Im zweiten Milieu sind Traditionen des Tomkin'schen Affektmodells und der Computerforschung sowie der Arbeit Rosalind Picards am Schaupatz 'affective computing' versammelt. Derartige Projekte arbeiten mit Eifer daran, humane Affekte zu dekodieren, sodass Maschinen diese nicht nur lesen, sondern auch reproduzieren können. Angerer problematisiert daran zu recht sowohl den Mangel an ethischer Reflexion in Bezug auf die Ökonomisierung des Affekts sowie das Ausklammern der längst stattfindenden, rückwirkenden "Implementierung von affektiven Normierungen" (S. 50) – wir müssen gleich an Emojis denken ☺. Das dritte Milieu fokussiert ausgehend von Malabous Perspektivierung der Plastizität des Gehirns die Frage nach den affektiven Vorgängen 'unter der Haut' – insbesondere betreffend "Autoaffektion" (S. 57). Sie liefert damit Argumente für ein Nicht-Ausreichen psychoanalytischer Erfassung von Emotion und Affekt, da die Aktivität des Gehirns zuallererst ein prä-subjektives "emotional self" ausbilde, welches das primäre In-Bezug-Setzen mit Welt ermögliche und gestalte. Unter der Haut (die Haut, welche Massumi zufolge schneller als das Wort sei) operiert folglich wieder jene 'andere', affektive Zeitlichkeit, auf die Angerer wiederholt zu sprechen kommt: Unser subjektives 'Ich' denkt in Sekunden, Stunden, kalendarischen Tabellen; das emotional self, denkt in der "fehlende[n] halbe[n] Sekunde" (S. 30), in "zelebrale[r] Zeitlichkeit", in "Sequenz[en] (in purer Zeit)" (S. 57), intuitiv, intensiv, impulsiv. Eben solche Dimensionen des Kontingent-Impulsiven, in denen eine "radikal zeitliche Fremdheit" (S. 57) entsteht, ein Aus-der-Zeit-Fallen als In-die-Zeit-Fallen vielleicht, behielten wir in unserer Lektüre des Schlusskapitels im Hinterkopf. Die Autorin kommentiert hier Oliver Marcharts Nominierung einer politischen Affektologie. Von Laclau und Mouffe ausgehend beschäftigt er sich mit radikaler Demokratie, in welcher das Konzept des Antagonismus grundlegend ist. Dieses entwickelt er weiter zu einem Verständnis von Antagonismus 'als' Intensität(serfahrung) – etwas, das kritisch-produktive Störungen hervorruft und impulsartig das aushebelt, was uns in eingefahrenen Bahnen hält. Damit begründet sich seine Forderung nach einer politischen Affektologie. Zu untersuchen wie die Ebene des Affektiven einerseits im Populismus reguliert werden kann und andererseits zugleich (als Chance begriffen) die Eintrittsstelle für Subversion in Form des Antagonismus sein könnte, wäre die Aufgabe einer solchen Affektforschung. Angerer stellt dem Antagonismus zusätzlich die Dislokation zur Seite: Ersterer betone das Eintreten des Zufälligen, Unvorhergesehenen und dessen produktive Kraft; letztere thematisiert "die notwendige Offenheit eines jeden Systems, das Sich-in-Bewegung-Setzen von Leben" (S. 62f). Mit ihrem Rekurs auf Althusser ergeben sich auch Ähnlichkeiten zu Benjamins Beschreibungen von (Kontingenz-)Erfahrungen und Schocks, die etwas aushebeln und ein neues Sich-in-Beziehung-Setzen ins Spiel bringen können. Das Beeindruckende an Angerers Emphase für das politische Potenzial des Zufalls ist dabei, dass sie ganz explizit und systematisch die Ebene der Affekte als diejenige 'im Humanen' benennt, die mit solchen Kontingenzerfahrungen umgeht – präreflexiv, vor-diskursiv, vor-perzeptuell –, anstatt seine Produktivität bereits direkt auf die Ebene des Mentalen (die Heimat der gesellschaftskritischen Reflexion) zu verrechnen. Angerer gelingt es inspirierende Vorschläge für Forschungsrichtungen der systematischen Untersuchung dessen zu erwägen, wie Affekte operieren und wie das Verhältnis von Affekt, Politik und Medien 'anders' beschrieben werden kann. Der Aufsatz bewegt sich als eine sehr fortgeschrittene Anschlussdiskussion in einem dichten Referenzrahmen. Sprache und Stil sind durchwegs angenehm zu lesen und teilweise poetisch beflügelt. Die Nachvollziehbarkeit von Inhalten im Detail fordert aber eine sehr genaue Lektüre. Letzteres trifft in besonderem Maße auf das Vorwort von Felicity Colman zu, das als Textsorte eher einem sehr voraussetzungsvollen, kommentierenden Nachwort entspricht, und wahrscheinlich vor allem für Neueinsteiger_innen ins Feld der Affect Studies Hürden mit sich bringt. (Empfehlung: Vorwort am Schluss lesen!) -- * Open-Source-Version hier verfügbar
Als der US-amerikanische Philosoph Stanley Cavell 1972 sein erstes Filmbuch veröffentlicht, gibt er als Beweggrund ein Erlebnis der Frustration an. Im Vorwort der ersten Auflage von The World Viewed berichtet er von einem Ästhetikkurs anno 1963, in dem er und seine Studierenden daran gescheitert seien, ihre scheinbar so vertrauten Filmerfahrungen in adäquate Worte zu kleiden. Das neun Jahre später Publizierte versteht sich als angestoßen von diesem ursprünglichen Scheitern. Dass Cavells Filmphilosophie nach wie vor auf Irritationen und Frustrationen zu antworten vermag, ist die zentrale These von Herbert Schwaabs 2010 veröffentlichter Dissertation Erfahrung des Gewöhnlichen. Durchaus im Sinne von Cavells anekdotischer Erinnerung interessieren Schwaab dabei jene Irritationen, die populäre Medientexte kraft ihrer alltäglichen Nähe und scheinbaren Selbstverständlichkeit auslösen können. Seine Frustrationen wiederum werden genährt von einer Medien- und Kulturwissenschaft, die solche Verstörung entweder ignorieren oder durch schematische, distanzierte Lektüren abwehren würde. Der emeritierte Harvardprofessor Cavell (*1926), mit dessen Überlegungen zum Film sich etwa Elisabeth Bronfen, D. N. Rodowick und William Rothman eingehend auseinandergesetzt haben, ist ganz sicher kein Paria der Medienwissenschaft. Dennoch stehen seine Arbeiten zum Verhältnis zwischen Philosophie und Film – zuvorderst die Bände The World Viewed, Pursuits of Happiness (1981) und Contesting Tears (1996) – quer zu den meisten Paradigmen der sich in ihrem Erscheinungszeitraum entfaltenden akademischen Beschäftigung mit Film. Mit ihrem unorthodoxen Konversationstonfall, ihrem apolitisch-universalistisch tönenden Vokabular (das sich einer eigensinnigen Zusammenlese unter anderem Immanuel Kants, Ludwig Wittgensteins und Ralph Waldo Emersons verdankt) und ihren verästelten Lektüren und Relektüren der immer gleichen paar Filme strahlen Cavells Texte zumindest für den Verfasser des Textes selbst etwas von jener Fremdheit aus, die sie dem Alltäglichen konstatieren. Insofern ist es ein großes Verdienst von Erfahrung des Gewöhnlichen, nicht nur luzid und durchwegs verständlich in Cavells filmbezogenes Schaffen einzuführen, sondern aus diesem auch überzeugend eine Forschungsperspektive zu extrapolieren, die für andere mediale Zusammenhänge als Cavells Steckenpferd des klassischen Hollywoodkinos der 1930er und 40er-Jahre offen ist. Diesen Erkenntniskern von Cavells Filmphilosophie ortet Schwaab weder in deren Vorschlägen zu einer Ontologie des Films in The World Viewed, noch in den thematischen Vorgaben von Cavells erkenntnis- und moralphilosophischen Lektüren von Screwball Comedies (Pursuits of Happiness) und Melodramen (Contesting Tears), sondern grundlegender im Verhältnis, das er zu den untersuchten Filmen einnimmt. Gegenstand und Maßstab von Cavells Lektüren sind nicht so sehr die Filme selbst, sondern die eigene Erfahrung mit und von ihnen, wie Schwaab betont: "Die Konzentration auf den Begriff der Erfahrung versucht eine spezifische Interaktion zwischen Text und Leser herstellen" (S. 16). Diese Interaktion nimmt in Cavells Filmbüchern ihren Anfang im Vergnügen an Filmen, das er noch Jahrzehnte nach der ersten Begegnung im Kino intensiv erinnert. Erst die Erfahrung dieses Vergnügens, die sowohl zur Mitteilung als auch zur Erforschung ihrer Ursachen drängt, autorisiert für Cavell – und für Schwaab – die Auseinandersetzung mit einem Film. Darin impliziert ist eine Forschungshaltung, die mediale Texte nicht primär durchschaut und dekonstruiert, sondern ihnen ein nuanciertes Denken zugesteht, dem es in der eigenen Textarbeit gerecht zu werden gilt. "Die Filme selbst sagen uns, wie sie gelesen werden wollen, welches Verhältnis zu unserem Erlebnis von diesen Filmen die Beschäftigung mit ihnen erfordert" (S. 140). Methodisch setzt eine solche Empfänglichkeit für die "Stimme des Textes" (S. 252) eine Lust am Treffen nuancierter ästhetischer Unterscheidungen voraus, die Schwaab in vielen ideologiekritischen, aber auch formalistischen oder symptomatologisch nach vorgegebenen Themen verfahrenden Film- und Fernsehlektüren der aktuellen Medien- und Kulturwissenschaft vermisst. Als wiederholte Stichwortgeber und Wegbegleiter seiner Argumentation wählt sich Schwaab folgerichtig Film- und Kulturkritiker wie Serge Daney, V. F. Perkins oder Robert Warshow. Die Möglichkeit, im Ästhetischen irritierende, das Denken anstoßende und entsubjektivierende Alterität zu erfahren, sieht Cavell (im Gegensatz etwa zu Gilles Deleuze) für das Kino vor allem im Populären verwirklicht: Erstens, weil am ehesten auf diesem Terrain andere Autoritäten als die selbst gemachte Erfahrung – etwa die Instanz des Autors oder die Institutionen der Kunst – wegfallen: "Populäre Gegenstände bestimmen sich […] darüber, dass es keine Bedeutung hat, woher deren Kunst kommt: Diese Kunst ist einfach da" (S. 84). Und zweitens ortet Cavell, analog zu seinem Interesse am Skeptizismus und an einer Philosophie der Alltagssprache, das Denkwürdige am Kino gerade dort, wo es den Blick auf eine alltägliche Welt erschließt – und damit, fast automatisch, die Beziehung des Betrachters zu dieser thematisiert. Die weitgehende Geschlossenheit der Diegese und das Verwischen ihrer formalen Gemachtheit im 'continuity style', worin Semiotiker wie Peter Wollen um 1970 Todsünden des Hollywoodkinos sahen, ermöglichen für Cavell erst die Reflexion auf das durchaus komplexe "Verhältnis von Distanz und Immersion" (S. 72), das er bei der Teilhabe an einer von ihm unabhängig existierenden Filmwelt erfahren kann. Aufdringlich selbstreflexive Stilmittel würden vom Bewusstsein, einer 'succession of automatic world projections' beizuwohnen (so die handlichste filmontologische Definition in The World Viewed), bloß ablenken. Diese Position Cavells differenziert Schwaab einleuchtend von jenem Realismus des indexikalischen Abbilds, mit dem sie häufig verwechselt wird und öffnet sie auf die Forschungsinteressen der Cultural Studies hin. Der Alltag, der für Cavell im Kino seinen Ort findet, ist wesentlich der soziale eines bestimmten Rezeptionszusammenhangs. Was für Cavell das Kino der 1930er und 40er war – ein Ort, wo sich aus einer beiläufigen Sehhaltung heraus und ohne den Erwartungsdruck von Event oder Kunstwerk überraschende Erfahrungen machen ließen –, das ist für Schwaab heute (noch) der 'flow' des Fernsehens im Wohnzimmer. Den autobiographischen Impetus in Cavells Filmbüchern, wenn dieser beispielsweise erinnert, wie seine Mutter das Melodram Stella Dallas in ihre Lebenswelt übersetzte, assoziiert Schwaab mit jener Neugier auf Rezeptions- und Interpretationsgemeinschaften populärer Texte, die seit ihrer Konstituierung einen wesentlichen Antrieb der Cultural Studies darstellt. Gegen deren "dualistisches Verständnis von der negativen Macht des Textes und den positiv besetzten Möglichkeiten seiner Aneignung" (S. 252) beharrt Schwaab freilich mit Cavell darauf, den Texten selbst – ihrer Erzählung, Adressierung und affektiven Struktur – jene keineswegs ideologisch überdeterminierte Vielschichtigkeit zuzutrauen, die häufig auf die Seite der Rezeption verschoben werde. Im letzten Viertel des Buchs untersucht Schwaab dementsprechend fünf US-Fernsehserien, denen man in der letzten Dekade nachmittags oder abends auf zahlreichen deutschsprachigen Fernsehsendern begegnen konnte. Und ohne auf diesem engen Raum pedantisch alles ein- und aufzulösen, was auf den vorangegangenen 300 Seiten an Theorie durchgearbeitet wurde, beweisen seine Lektüren durchwegs die Produktivität des zuvor entwickelten Ansatzes. Vor allem in den Studien zur Sitcom King of Queens und der erzkonservativen Familienserie 7th Heaven gewinnt die Vorstellung von der ästhetischen Potenz des Gewöhnlichen schärfere Kontur. Es geht dabei nicht um ein generelles Ideal des wohltuend Unauffälligen, das manchmal in Schwaabs Seitenhieben gegen "Fetischisten der Filmkunst" (S. 120) durchklingt und bloß ein formalistischer Dogmatismus unter umgekehrten Vorzeichen wäre. Das ostentativ Gewöhnliche an Rezeptionszusammenhang wie ästhetischer Anmutung einer Multiple-Camera-Sitcom wie King of Queens erweist sich vor allem deshalb als reizvoll, weil auf seinem Grund mit minimalen Verschiebungen Denkwürdiges erzeugt werden kann: Es geschehen Momente und Tableaus, die "aus dem Grund in Erinnerung bleiben, weil sie den Alltag nur so wenig modifizieren müssen, weil sie nur ein wenig von der Trennlinie zwischen Fantasie und Realität abweichen müssen, um die Transgressivität zu erreichen, die uns vorführt, wie stark unsere Wirklichkeit von Imagination und unsere Imagination von Wirklichkeit bestimmt ist" (S. 369). Dass der Begriff des Transgressiven hier eher für eine Kippfigur der Wahrnehmung einsteht als für ein triumphales Sich-Entfalten von Sinnlichkeit, verweist auf eine der überzeugendsten Pointen von Schwaabs Text: Mit Cavells Sprachphilosophie argumentiert er gegen den verbreiteten Dualismus, der Affekt und exzessive Expressivität nur als Konkurrenz zu und Unterbrechung der Ebene von Repräsentation und Sinnstiftung verstehen will. Solche Eingriffe ins kulturwissenschaftliche Begriffsbesteck lesen sich ungleich schlüssiger als gelegentliche Breitseiten gegen "Filmtheorie allgemein" (S. 221) oder den textualistischen "Sündenfall" (S. 226) der Cultural Studies. Die offenkundigste Provokation von Erfahrung des Gewöhnlichen besteht allerdings in den wiederholten Ausführungen zu einem Konzept des "Unreading" (S. 31). Diese Haltung eines vorsätzlich naiven, Theoriewissen ausblendenden 'Gelesen-Werdens' vom Text spitzt Schwaab mit bewusster terminologischer Chuzpe als "kindlichen Blick" (S. 85) und "natürliche Beziehung" (S. 69) zum Text zu. Solche voraussetzungslose Rezeptivität ist für ihn notwendig eine Fantasie, als Fantasie aber methodisch notwendig. Weniger melodramatisch ließe sich das auch ein Stück weit mit dem phänomenologischen Begriff der 'epoché' als bewusstes Ausklammern kulturellen Wissens beschreiben. Dringlicher wirkt die Frage, mit welchem Erkenntnisinteresse Filme solchermaßen erfahren und in ihrem Erfahrungsgehalt untersucht werden. Hier deutet Schwaab drei unterschiedliche Perspektiven an, die entlang des Begriffs der "Lebensform" (S. 105) ineinander verwoben scheinen. In der ersten Lesart fungiert die mediale Erfahrung als Therapie, die uns "Bedingungen des Menschseins" (S. 157) vorführt und mit der Begrenztheit unseres Zugriffs auf die Welt auszukommen lehrt, in der zweiten als moralphilosophischer Reflexionsraum, welcher im Unterhalten-Werden "die Schönheit einer ethischen Lebensform" (S. 134) vermittelt. Eng mit dieser Perspektive verbunden zeichnet sich eine dritte, im engeren Sinne politische Spur dort ab, wo die Irritation am Gewöhnlichen sich auch auf Aspekte der medial beschriebenen Lebensform ausweitet und "alarmierende Fragen an uns selbst und unsere Beziehung zur Welt stellt" (S. 400). Nicht nur an dieser Stelle weckt Erfahrung des Gewöhnlichen den Wunsch, die Konversation fortzuführen: mit Filmen und Serien, mit Cavell und mit der eindringlichen, originellen Stimme dieses Buchs.
Aus der Einleitung: 1.1, Problemstellung: Während seit den 1990er Jahren der Begriff 'Nachhaltigkeit' zunächst nur im Zusammenhang mit globalen Umweltproblemen, wie beispielsweise dem Abbau der Ozonschicht oder dem Treibhauseffekt, genannt wurde, hat er mittlerweile seinen festen Platz in der Wirtschaft und am Finanzmarkt. Zudem haben die weltweit zunehmende Staatsverschuldung, Umweltkatastrophen wie die Explosion der Ölbohrinsel 'Deepwater Horizon' im Golf von Mexiko im April 2010 und die japanische Atomkatastrophe in Fukushima im März 2011 sowie die Rolle der Banken in der Finanzkrise bei den betroffenen Ländern, Unternehmen und privaten Anlegern u. a. zu massiven wirtschaftlichen Schäden geführt. Aktuell sorgen die Staatsanleihenkrise und die Bonitätsherabstufung der USA und zahlreicher europäischer Staaten für enorme Schwankungen an den Börsen weltweit. Durch diese negativen Ereignisse hat speziell im Investmentbereich die Anlageform des nachhaltigen Investments einen spürbaren Auftrieb erhalten. In den USA liegt der Anteil nachhaltiger Geldanlagen, gemessen am gesamten Anlagevolumen, bei 11 Prozent. Diese Entwicklung widerspricht jedoch der Theorie, dass die Erwirtschaftung von Rendite und nachhaltiges Wirtschaften sich ausschließen. Auch vor dem Hintergrund der kapitalmarkttheoretischen Modelle müssten nachhaltig orientierte Geldanlagen aufgrund der eingeschränkten Anlagemöglichkeiten weniger Rendite erwirtschaften als konventionelle Produkte. In den Wirtschaftswissenschaften werden somit die Möglichkeiten nachhaltiger Investments größtenteils als sehr gering angesehen, wenn die kapitalmarkttheoretischen Modelle bei dieser Anlageklasse ihre Gültigkeit behalten würden. In der Praxis wird die Frage nach der Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit bzw. Ethik und Gewinn kontrovers diskutiert und zahlreiche Studien, die versucht haben, die Frage des Renditenachteils zu beantworten, kamen zu divergenten Ergebnissen. In Deutschland liegt der Anteil nachhaltiger Geldanlagen bis jetzt bei knapp 1 Prozent, bei jedoch stetig steigenden Anlagevolumina und Anlagemöglichkeiten.Somit stellt sich die Frage, ob nachhaltige Investments, wenn überhaupt, auch in Deutschland das Potential lukrativer Kapitalallokationen bergen oder ob sich Performance und Nachhaltigkeit (hier) widersprechen. 1.2, Zielsetzung der Arbeit: In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, ob nachhaltig strukturierte Portfolios in Deutschland einen über- oder unterdurchschnittlichen Wertzuwachs gegenüber Portfolios ohne vergleichbare Screenings aufweisen. Es wird überprüft, ob nachhaltige Investments nicht nur aus ethisch-moralischen Gründen, sondern auch aus finanziellen Gesichtspunkten mittlerweile eine reale Anlagealternative darstellen. Dabei wird überprüft, inwieweit sich die Beachtung nachhaltiger Komponenten von Unternehmen auf ihren Aktienkurs auswirkt. Des Weiteren wird untersucht, inwieweit sich die Effizienz nachhaltiger Geldanlagen durch kapitalmarkttheoretische Modelle nachweisen lässt, da sie a priori ineffiziente Geldanlagen darstellen müssten. 1.3, Aufbau der Arbeit: Die Arbeit ist in einen theoretischen und praktischen Teil gegliedert und beginnt im zweiten Kapitel mit der Erläuterung der theoretischen Grundlagen. Der praktische Teil beinhaltet einen Vergleich nachhaltig orientierter und konventioneller Unternehmen in Bezug auf die Aktienkursentwicklung, um die Auswirkung nachhaltigen Wirtschaftens auf die Rendite zu untersuchen. Zudem werden ausgewählte nachhaltige Aktienfonds mit einer Benchmark für konventionelle Aktienfonds verglichen, wodurch Unterschiede hinsichtlich der Rendite herausgestellt werden sollen. Als Grundlagen für den praktischen Teil werden zunächst die Begriffe Wirtschafts-Ethik, Nachhaltigkeit sowie das medienpräsente Konzept der Corporate Social Responsibility dargestellt. Anschließend werden in Kapitel 3 die Grundlagen von Kapitalanlagen mit dem Fokus auf Investmentfonds erörtert. Des Weiteren werden mit der Portfolio Selection Theory und dem Capital Asset Pricing Model zwei kapitalmarkttheoretische Modelle vorgestellt, deren Gültigkeit hinsichtlich nachhaltiger Investments in den Kapiteln 8, 9 und 10 der Arbeit nachgeprüft wird. Die Anwendbarkeit der Modelle in der Anlageklasse der nachhaltigen Investments wird kritisch überprüft, da sich in der Wissenschaft die Stimmen häufen, dass durch die Einschränkung der Anlagemöglichkeiten keine effiziente Lösung erreicht werden könnte. Ebenso werden hier die klassischen Risikomaße vorgestellt. Gegenstand des vierten Kapitels sind die Grundlagen nachhaltiger Investments, um im fünften Kapitel deren unterschiedlichen Strategien zu diskutieren. Im Mittelpunkt des sechsten Kapitels stehen nachhaltige Anlagemöglichkeiten, die in den letzten Jahren in Deutschland hohe Zuwachsraten erfahren haben. Im siebten Kapitel werden nachhaltige Ratings, die für die Selektion der zu vergleichenden Unternehmen herangezogen werden, erläutert und kritisch diskutiert, insbesondere da nachhaltige Unternehmen sich häufig dem Kritikpunkt der mangelnden Transparenz stellen müssen. Als weitere theoretische Grundlage für die Untersuchung dient die Methode der Performancemessung im achten Kapitel. Nach dem Vergleich in Kapitel 9 werden die Ergebnisse vorgestellt und kritisch gewürdigt. Die Arbeit schließt mit einem Fazit, in dem die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst werden, und einem Ausblick, der Handlungsempfehlungen und Strategieansätze aufzeigt.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: AbbildungsverzeichnisVIII TabellenverzeichnisIX Abkürzungen und AkronymeX 1.Einleitung11 1.1Problemstellung11 1.2Zielsetzung der Arbeit12 1.3Aufbau der Arbeit12 2.Grundlegende Begriffe14 2.1Wirtschafts-Ethik14 2.2Begriff der Nachhaltigkeit15 2.3Corporate Social Responsibility (CSR)18 3.Theoretische Grundlagen von Kapitalanlagen21 3.1Klassisches Dreieck einer Kapitalanlage21 3.2Investmentfonds23 3.3Portfolio Selection Model24 3.4Capital Asset Pricing Model25 3.5qKlassische Risikomaße26 4.Grundlagen nachhaltiger Investments29 4.1Der Begriff nachhaltiger Investments29 4.2Darmstädter Definition nachhaltiger Geldanlagen31 4.3Historische Entwicklung des nachhaltigen Investments33 4.4Gegenwärtige Marktsituation36 4.5Bedeutung nachhaltiger Investments39 5.Strategien des nachhaltigen Investments41 5.1Einordnung im Rahmen der verschiedenen Investmentstile41 5.2Konzepte des nachhaltigen Investments42 5.3Verschiedene Vorgehensweisen nachhaltiger Investoren44 5.4Strategische Probleme für den Privatanleger48 5.5Nachhaltige Indizes als Benchmark für nachhaltige Investmentfonds49 5.5.1Benchmark49 5.5.2Indizes49 5.5.3Natur-Aktien-Index50 5.5.4Dow Jones Sustainability World Index (DJSI- World)51 6.Nachhaltige Anlageformen53 6.1Bankeinlagen bei Alternativbanken53 6.2Beteiligungen54 6.3Investmentfonds54 6.4Lebensversicherungen55 6.5Scharia Investments55 7.Nachhaltigkeitsratings57 7.1Der Begriff Rating57 7.2Frankfurt-Hohenheimer Leitfaden (FHL)60 7.3Corporate Responsibility Rating (CRR)62 7.4Kritische Betrachtung der nachhaltigen Ratingansätze65 8.Performance, Rendite und die Möglichkeiten ihrer Messung66 8.1Begriffserläuterungen von Performance und Performanceanalyse66 8.2Performancemaße68 8.2.1Sharpe-Ratio68 8.2.2Treynor-Ratio69 8.2.3Jensen-Alpha70 8.2.4Treynor/Black-Ratio71 8.3Grundprobleme der Performancemessung und Beurteilung der Performancemaße71 8.4Effizienz von Portfolios durch nachhaltiges Screening72 9.Performancevergleich von ausgewählten Unternehmen und Aktienfonds75 9.1Überblicke über bereits durchgeführte Performancestudien75 9.2Vorgehensweise78 9.3Vergleich der Unternehmen79 9.4Vergleich der Aktienfonds83 9.4.1Quellen zur Selektion der nachhaltigen Investmentfonds83 9.4.2Markteingrenzung83 9.4.3Wahl der geeigneten Benchmark84 9.5Vorstellung der zu untersuchenden nachhaltigen Aktienfonds84 9.6Performancevergleich anhand ausgewählter Performancemaße86 9.6.1Nachhaltigkeitsfonds 1 vs. Euro Stoxx 5086 9.6.2Nachhaltigkeitsfonds 2 vs. Euro Stoxx 5087 9.6.3Nachhaltigkeitsfonds 3 vs. Euro Stoxx 5088 9.6.4Nachhaltigkeitsfonds 4 vs. Euro Stoxx 5089 9.6.5Nachhaltigkeitsfonds 5 vs. Euro Stoxx 5090 9.7Ergebnis91 9.8Kritische Würdigung des Vergleichs93 10Fazit und Ausblick94 Literaturverzeichnis99 Anhang110Textprobe:Textprobe: Kapitel 8.3, Grundprobleme der Performancemessung und Beurteilung der Performancemaße: Das Grundproblem der Performancemessung ist die Vergangenheitsbezogenheit der Daten, die nicht gewährleisten können, dass die vergangene Performance auch für die Zukunft gilt. Auch darf bei langfristigen Performanceanalysen nicht übersehen werden, dass schlechte Portfolios, die aus dem Markt ausgeschieden sind, aus den Performanceranglisten eliminiert und nicht weiter berücksichtigt werden. Dies führt bei den verbliebenen Portfolios zu einer Performanceverzerrung ins Positive. Bei der Messung der Performance von Portfolios muss beachtet werden, dass die erzielte Rendite eines Portfolios nicht allein auf den Fähigkeiten des Fondsmanagements basiert, sondern auch Zufallseinflüsse und die Entwicklung der Kapitalmärkte relevant für die Entwicklung eines Portfolios sind. Für eine genaue Qualitätsmessung sind daher die oben erläuterten Performancemaße notwendig. Mit ihnen ist es möglich, eine Verdichtung von Rendite und Risiko zu einer aussagefähigen Maßzahl herbeizuführen. Daher sind sie zur theoretischen Performancemessung geeignet, jedoch müssen zur praktischen Anwendbarkeit einschränkende Bemerkungen gemacht werden. Die Wahl des Risikomaßes bildet den Hauptunterschied zwischen den Performancemaßen. Die Sharpe-Ratio ermittelt das Gesamtrisiko anhand der Standardabweichung, während die Treynor-Ratio das systematische Risiko benutzt. Dies kann insbesondere dann zu unterschiedlichen Performancebeurteilungen führen, wenn die zu vergleichenden Portfolios unterschiedlich hohe unsystematische Risiken aufweisen. Das größte Problem der traditionellen Performancemaße besteht jedoch darin, dass sie im Grunde genommen keine Auskunft über das Zustandekommen der Performance von Portfolios geben können. Sie machen nicht deutlich ob die Renditen auf Zufall, Timing oder Selektionsfähigkeit zurückzuführen sind. Gemäß ihrer Konzeption stellen die Performancemaße sämtlich auf die Selektionsfähigkeit des Portfoliomanagements ab. 8.4, Effizienz von Portfolios durch nachhaltiges Screening: Zurückgehend auf die Portfolio-Selection-Theorie von Markowitz lassen sich durch Diversifikation bei den Anlagetiteln unternehmensspezifische oder unsystematische Risiken reduzieren. Die erwartete Rendite µ und ihr Risiko s, gemessen durch die Standardabweichung, lassen sich in einem µ-s Diagramm lokalisieren. Effiziente Kombinationen ergeben sich unter den folgenden drei Bedingungen. Es gibt kein anderes Portfolio, das: 1. bei gleichem Renditeerwartungswert ein geringeres Risiko. 2. bei gleichem Risiko einen höheren Renditeerwartungswert. 3. sowohl einen höheren Renditeerwartungswert als auch gleichzeitig ein geringeres Risiko besitzt. Das Ergebnis aus allen möglichen Kombinationen ist die Markowitz-Effizienzkurve, dargestellt in Abbildung 17 auf der Seite 74. Eines der am weitesten verbreiteten Vorurteile gegenüber dem nachhaltigen Investment ist, dass die Einschränkung des nachhaltigen Anlageuniversums zu einem Verlust der Diversifikationsmöglichkeiten und damit zu einer Verschlechterung des Rendite-/Risiko-Verhältnisses führe. Das Rendite/-Risiko-Verhältnis bedeutet für den Anleger, bei gleicher Rendite ein geringeres Risiko einzugehen oder bei gleichem Risiko eine höhere Rendite zu erwirtschaften. Nachhaltige Portfolios unterscheiden sich von konventionellen Anlageformen hinsichtlich der eingeschränkten Anlagemöglichkeiten und stellen gemäß der Kapitalmarkttheorie ineffiziente Portfolios dar, die mit Diversifikationskosten und unvollständiger Kompensation für das unsystematische Risiko verbunden sind. Nach der Portfolio-Theorie von Markowitz werden durch die Implementierung von nachhaltigen Anlagestrategien systematisch risikoadjustierte Renditen erwirtschaftet, was bedeutet, dass stets suboptimale Portfolios generiert werden. Es ist durchaus möglich, dass aufgrund einer Selektionsstrategie ganze Wirtschaftsbranchen ausgeschlossen werden. Damit verschlechtert sich das Verhältnis zwischen erwarteter Rendite und Risiko zu Ungunsten des Investors. In der Literatur wird diese Folge als 'Moskowitzeffekt' bezeichnet. Graphisch bedeutet es, dass sich die Linie effizienter Portfolios, dargestellt in Abbildung 17, durch die Markowitz-Effizienzlinie, nach rechts unten, auf die Moskowitz-Effizienzlinie verschiebt. Milton Moskowitz stützt sich bei seiner Argumentation auf den Hauptaspekt, dass ein beschränktes Spektrum von Investitionsmöglichkeiten bei Unterstellung von bestimmten Annahmen, wie z. B. Rationalität oder Informationseffizienz, hinsichtlich der Rendite zu keinem Besseren, sondern höchstens zu einem gleichen oder sogar schlechteren Ergebnis führen kann. Wie stark sich die Effizienzlinie nach rechts unten verschiebt, hängt von der Einschränkung der Anlagemöglichkeiten durch die Wahl der Anlagestrategie, ab. Die größten Einschränkungen bringt die Strategie des Negative-Screenings mit sich. Jedoch muss darauf verwiesen werden, dass es sich hierbei um eine rein mathematische Konsequenz handelt, die nicht die Verwendung von nachhaltigen Ausschlusskriterien betrifft. Des Weiteren wird das Argument, dass durch die Filterung des Anlageuniversums sich das Rendite-/Risiko-Verhältnis verschlechtere, durch die Annahme von informationseffizienten Kapitalmärkten entkräftet. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich diese mathematischen Gesetzmäßigkeiten für jedes Portfolio ergeben und sich nicht nur speziell auf die nachhaltigen Anlageformen beschränken. Die Frage, inwieweit sich die Einschränkung nachhaltig ausgerichteter Portfolios negativ auf die Rendite eines Anlegers auswirkt, wird ausführlich im anschließenden Kapitel neun diskutiert.
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Aus der Einleitung: Kinder sind unsere Zukunft. Sie sind nicht nur die Käufer der Zukunft, sondern schon im Kindesalter Marktteilnehmer mit einem hohen Konsumbedürfnis und großer Kaufkraft. Da Kinder für den Markt, vor allem für die Produzenten von Waren, ein Wirtschaftsfaktor sind, ist es ein logischer Schluss für die werbetreibende Wirtschaft auch die kleinen Konsumenten zu umwerben. Die Werbetreibenden versuchen vor allem über die Fernsehwerbung die Kaufentscheidungen von Kindern zu beeinflussen. Cyril Schneider, der ehemalige Vorstand des Fernsehsenders Nickelodeon, bemerkte Folgendes zur Kommerzialisierung des Kinderfernsehens in den USA: "Kommerzielles Fernsehen für Kinder [ist] auch nur ein Geschäft. Und zwar ein Geschäft, das sein Geld dadurch verdient, dass es beim Verkauf von Produkten hilft. (...) Die Fernsehindustrie arbeitet nach drei einfachen Prinzipien: Halte dein Publikum möglichst groß, die Kosten klein und den Gesetzgeber draußen. (...) [D]er hauptsächliche Antrieb für das Fernsehen [ist] nicht die Bildung, die Information oder die Aufklärung. Es geht nicht einmal um Unterhaltung. Es geht darum, die Zuschauer dazu zu bringen, sich Werbung anzuschauen." Das Fernsehen als Werbeträger ist nach den Tageszeitungen das Werbemedium mit dem zweithöchsten Werbeumsatz: Während Tageszeitungen 4,56 Milliarden Netto-Umsatz im Jahr 2007 machten, hatte das Fernsehen im gleichen Jahr immerhin 4,15 Milliarden Euro Netto-Werbeeinnahmen. Damit sind die Werbeeinnahmen beim Fernsehen immer noch steigend im Vergleich zu den Vorjahren. Sieht man von den Umsätzen aus Kleinanzeigen ab, so ist das Werbefernsehen sogar "der größte Werbeträger für klassische Markenartikel- und Produktwerbung." Außerdem ist das Fernsehen seit der Dualisierung des Rundfunks in den achtziger Jahren der am schnellsten wachsende klassische Werbeträger in Deutschland. Wegen der fast vollständigen Haushaltsabdeckung und der ihm unterstellten Wirkungsweise nimmt das Medium Fernsehen bei den Werbetreibenden und den Werbeschaffenden eine Sonderstellung ein. Die Werbezielgruppe Kinder beschränkt sich auf die Gruppe der 3- bis 13-Jährigen, da sie von der Werbung in Kinderzeitschriften, Fernsehen und im Internet betroffen sind und sich in diesem Alter der Grundstock für spätere Konsumgewohnheiten bildet. Da Kinder unter drei Jahren für die werbende Wirtschaft als Zielgruppe noch nicht interessant sind, unter anderem weil sie ihre Kaufentscheidungen noch nicht selbst treffen (können bzw. dürfen), wird auch in dieser Arbeit nur die Zielgruppe der Kinder von drei bis 13 Jahren berücksichtigt. Für Werbung, die sich an die Zielgruppe Kinder richtet, gelten allerdings andere Regeln als für Erwachsenenwerbung, da Kinder auf eine andere Art und Weise und viel stärker beeinflussbar sind als Erwachsene. Die Kaufkraft von Kindern durch Taschengeld, Geldgeschenke und ausgeprägtes Sparverhalten und der daraus resultierende Einfluss auf das Marketing darf nicht unterschätzt werden. Die Tatsache, dass Kinder bereits in jungen Jahren über eigene finanzielle Mittel verfügen, lässt sie schon früh ein eigenständiges Konsumverhalten entwickeln. Sie werden dadurch zu einer attraktiven Zielgruppe für die werbungtreibende Wirtschaft. Die steigende Attraktivität für die Werbung und der damit wachsende kommerzielle Druck auf Kinder erhöhen auch den Druck auf die Medienpolitik, stärkere Regulierungsmaßnahmen zu ergreifen. Das Fernsehen ist derzeit das durch rechtliche Bestimmungen und selbstdisziplinäre Regeln am stärksten regulierte Medium in Deutschland, vor allem im Bereich Werbung mit und für Kinder. Davon profitieren vor allem die Kinder, die ein sehr hohes Schutzniveau von gesetzlicher Seite her erfahren. Dennoch sollte die Interessenvertretung bei Kindern nicht nur in den Händen des Gesetzes, sondern vor allem bei den Eltern liegen. Gang der Untersuchung: In dieser Diplomarbeit soll ermittelt werden, wie die werbetreibende Wirtschaft das Konsumverhalten von Kindern mit Hilfe von Fernsehwerbung zu beeinflussen versucht und wie groß der Einfluss der werbetreibenden Wirtschaft auf Kinder ist. Dazu wird zunächst die Zielgruppe definiert und deren Konsumpotenzial anhand des Einkommens und der Kaufkraft dargelegt. Anschließend wird das Verhalten der Zielgruppe, besonders das Fernseh- und Konsumverhalten, untersucht. Danach wird die Werbung definiert und deren Funktion erläutert. Dann wird der Fernsehwerbespot als Werbeform sowie die Platzierung der Werbeinseln auf Kindersendern, im Kinderprogramm und auf anderen Sendeplätzen dargelegt. Anschließend werden andere Werbeformen, die für die Kinderwerbung eingesetzt werden, erklärt. Es folgt eine Untersuchung, ob Fernsehwerbung Verhaltensänderungen hervorruft, d.h. ob eine Werbewirkung nachweisbar ist. Zuletzt wird die Bedeutung der Kinderwerbung für die werbungtreibende Industrie, die Rundfunkanstalten und die Gesellschaft erörtert, die ethischen Aspekte des Einsatzes von Kinderfernsehwerbung diskutiert sowie die aktuellen Rechtsvorschriften erläutert, die den Einsatz der Kinderfernsehwerbung eingrenzen.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: Abbildungsverzeichnis4 Abkürzungsverzeichnis5 1.Einleitung6 2.Kinder8 2.1Definition Kind8 2.2Das Kind als Marktteilnehmer9 2.2.1Einkommen9 2.2.2Kaufkraft11 2.2.3Konsumverhalten12 2.3Freizeitverhalten14 2.4Fernsehverhalten17 3.Werbung21 3.1Definition Werbung21 3.2Werbeformen22 3.2.1Fernsehwerbespot22 3.2.1.1Platzierung auf Kindersendern25 3.2.1.2Platzierung im Kinderprogramm27 3.2.1.3Platzierung auf anderen Sendeplätzen28 3.2.2Andere Werbeformen30 3.3Funktion der Werbung37 4.Werbebedingte Verhaltensänderung40 4.1Modelle der Werbewirkungsforschung41 4.1.1Stimulus-Response-Modell42 4.1.2Stimulus-Organismus-Response-Modell42 4.1.3Einstellungsmodell43 4.2Rückschlüsse auf die Werbewirkung43 4.3Störungen der Werbewirkung49 5.Bedeutung der Kinderfernsehwerbung50 5.1Wirtschaftliche Bedeutung51 5.2Die Methoden der werbetreibenden Wirtschaft55 5.3Ethische Differenzierung63 6.Vorschriften für Kinderfernsehwerbung68 6.1Finanzierung durch Werbung69 6.2Einfügung der Werbung69 6.3Dauer der Werbung71 6.4Inhalte von Werbung71 6.5Kinderfernsehwerbung73 7.Fazit76 Literaturverzeichnis80 Anhang85Textprobe:Textprobe: Kapitel 4, Werbebedingte Verhaltensänderung: Vor der konkreten Beschreibung der werbebedingten Verhaltensänderungen werden zunächst die Methoden der Werbung zur Erzielung einer Wirkung dargestellt. Mit diesem Grundwissen ist die Wirkungsweise der Fernsehwerbung besser nachvollziehbar. Werbewirkung wird definiert als ein "einheitlich-geschlossenes, ursächlich begründbares Ergebnis von Werbemaßnahmen und Werbebemühungen, die ein Werber einsetzt in dem Streben, einen Werbeerfolg zu erzielen." Das heißt, jede beabsichtigte Reaktion auf eine Werbung wird als Werbewirkung bezeichnet. Die Werbewirkungsmodelle erklären den Einfluss der Werbung auf die "Wahrnehmung, Erinnerung, Einstellung und [das] Verhalten." Dabei thematisieren die meisten Forschungen die Abschätzung der Werbewirkung beim Rezipienten sowie die Faktoren, die für den Werbeerfolg verantwortlich sind bzw. diesen bewirken sollen. Ferner werden die Ausprägung der beabsichtigen Effekte sowie nicht beabsichtigte soziale Wirkungen der Werbung erforscht. Dazu gehören u.a. Gesundheitsvorstellungen, Werbesozialisation, Effekte auf Normen, Werte und Realitätsbilder sowie durch Werbung hervorgerufene Ängste, Schönheitsideale und der Konsumerismus. Weiterhin wird die Medienkompetenz bzw. Werbekompetenz von Kindern erforscht. Trotz oder gerade wegen der vielen verschiedenen empirischen Studien gibt es jedoch keinen Konsens über den Einfluss der Werbung auf Kinder. Aus manchen Studien geht hervor, dass sich Kinder nur durch den frühen und selbstverständlichen Umgang mit der Werbung zu mündigen Konsumenten entwickeln können. Gegner dieser Meinung behaupten negative Auswirkungen von Werbung auf Kinder und verlangen den Schutz der Kinder vor Werbeangeboten, da diese noch nicht die kognitiven Fähigkeiten haben, sich selbst vor den Werbeeinflüssen zu schützen. Weiterhin wird behauptet, die Werbung führe zu ungesunden Essgewohnheiten. Solange jedoch keine Untersuchung längerfristige und direkt auf den Einfluss der Werbung zurückführbare Wirkungen belegen kann, muss bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgegangen werden, dass eine solche Werbewirkung nicht existiert. Werbewirkung basiert auf unterschiedlichen Phänomenen, die sich auf verschiedenen Ebenen befinden und daher auseinander gehalten und operationalisiert werden müssen. Es gibt also nicht nur "die eine" Werbewirkung. Zu den Phänomenen der Werbewirkung zählen im Fernsehen der Kontakt, d.h. die Reichweite des einzelnen Werbeblocks, die Aufmerksamkeit der Rezipienten sowie deren Involvement und die Erinnerung, die gestützt oder ungestützt gemessen werden kann. Weiterhin gehören kognitive und emotionale Reaktionen und schließlich die erreichte Einstellung zu dem beworbenen Produkt sowie das Verhalten in Form einer Kaufabsicht bzw. Absatzsteigerung zu diesen Phänomenen. Die Werbewirkungsforschung geht davon aus, dass die Phänomene der Werbewirkung durch bestimmte Stimuli ausgelöst werden, die der Werbespot enthält. In der Forschung gibt es verschiedene Dimensionen der wirkungsrelevanten Merkmale einer Werbung, die bisher überprüft wurden. Man unterscheidet zunächst zwischen den Produkten, für die geworben wird, wie Markenprodukte, generische Produkte, Dienstleistungen und soziale Güter, Issue-Advertising, Corporate Commercials und politische Spots. Weiterhin können inhaltliche Unterschiede aufgezeigt werden. So kann ein Werbespot eine Story erzählen (z.B. die aktuelle Duplo-Werbung), ein Problem und dessen Lösung beinhalten (z.B. Waschmittelwerbung), eine Emotion oder Stimmung mit dem Produkt verbinden (z.B. Merci Schokolade) oder eine Empfehlung aussprechen (z.B. mit Testimonials). Durch Stimuli wie Humor oder Angst kann Aufmerksamkeit erzeugt werden, Experten können als Kommunikator auftreten oder ein Produkt kann demonstriert werden (z.B. Putzmittel). Die Integration einer Alltagssituation in die Werbung schafft Verbundenheit. Indem man eine Fantasie oder einen Traum mit dem Produkt verbindet, werden Wünsche geweckt. Formale Merkmale der Werbebotschaften spielen ebenfalls eine Rolle für die Werbewirkung, wie die Lebendigkeit des Stimulus, die Verwendung von Prominenten, ein- oder zweiseitige Argumentationen, vergleichende oder nicht-vergleichende Werbung. Die Position im Werbeblock spielt eine wichtige Rolle, da der Spot nur beachtet wird, wenn er in einem interessanten Werbeumfeld steht. Weiterhin kann zwischen informativer, rationaler und emotionaler Werbung unterschieden werden. Modelle der Werbewirkungsforschung: Werbewirkungsmodelle sollen eine Werbewirkung messbar machen. Zu diesen zählen die Stufen Modelle Stimulus-Response-Modell (auch Reiz-Reaktions-Modell genannt), das Stimulus-Organismus-Response-Modell (oder Stimulus-Organismus-Reaktions-Modell), das Einstellungs- und Multi-Attributs-Modell, sowie Effekt-Hierarchie-Modelle, das kognitive Reaktanz-Modell, situationale Modelle sowie das transaktionale Mehrfaktorenmodell. Aufgrund des speziellen Bezuges auf Kinderwerbung sind nur drei der genannten Werbewirkungsmodelle für diese Arbeit relevant: Das Stimulus-Response-Modell, das Stimulus-Organismus-Response-Modell und das Einstellungsmodell, welche anschließend beispielhaft beschrieben werden. Diese Modelle können mit den Inhalten der anderen Kapitel dieser Arbeit in Zusammenhang gebracht werden. Stimulus-Response-Modell: Dieses Modell wird auch Werbedruck- oder Werberesponse-Modell genannt. Es basiert auf der grundlegenden Stimulus-Response-Theorie. Diese Theorie setzt voraus, dass das Verhalten der Menschen steuerbar ist. Hier fungiert die Werbebotschaft als Stimulus im Kommunikationsprozess, die daraus resultierende Einstellung des Rezipienten zum beworbenen Produkt ist die Response auf den Stimulus. Es wird also von einer direkten Reaktion auf den Stimulus "Werbebotschaft" ausgegangen. Durch häufige Wiederholungen wird ein Werbedruck aufgebaut, um die Assoziation zwischen dem Produkt und den beabsichtigten Werten zu begünstigen und so eine positive Einstellung gegenüber dem beworbenen Produkt zu erzeugen. Bei diesem Modell besteht die Gefahr, dass sich durch die häufigen Wiederholungen ein wear out, d.h. Abnutzungseffekt einstellt, der die gewünschte Reaktion ins negative umkehrt und zu Reaktanz führen kann. Stimulus-Organismus-Response-Modell: Das Stimulus-Organismus-Response-Modell basiert auf dem quantitativen Stimulus-Response-Modell, dieses wird jedoch hier durch qualitative Faktoren und Prozesse, die im Organismus stattfinden, ergänzt. Nach diesem Modell umfasst der Kommunikationsprozess mehrere Stufen: nach der Perzeption, Apperzeption und Speicherung der Information erfolgt eine Veränderung und Stabilisierung der Präferenzen und dadurch auch des Verhaltens. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Aufmerksamkeit für eine Werbebotschaft von individuellen Interessen abhängig ist. Die Reaktionen, die bei der Rezeption des Werbespots auftreten, werden im Gedächtnis gespeichert und dessen Inhalte wirken sich auf das finale Verhalten aus. Das Verhalten wiederum beeinflusst die Gedächtnisinhalte und die momentanen Reaktionen bei der Rezeption. Es können auch direkte Einflüsse auf das Verhalten ausgeübt werden, wie z.B. bei einem Impulskauf. Insofern ist hier der Rezipient ein bedeutender Faktor für die Werbewirkung, da er selbst Mit-Produzent der Wirkung ist, die im kommunikativen Austausch auf ihn zukommt. Einstellungsmodell: Das Einstellungsmodell geht davon aus, dass eine positive Einstellung gegenüber der Werbebotschaft entscheidend für die Werbewirkung ist, da sich die positiven Gefühle, welche die Werbung hervorruft, auf das Produkt übertragen. Hier wird auch untersucht, wie sich verschiedene Emotionen auf die Erinnerung einer Werbebotschaft auswirken können.
Florian Malzacher, freier Autor, Dramaturg und Kurator, tätig unter anderem in leitender Funktion beim Festival steirischer herbst in Graz (2006–2012) und beim Impulse Theater Festival in Düsseldorf, Köln und Mühlheim (2013–2017), geht in seiner neuen Monographie einem Theater im Spannungsfeld von Repräsentation und Partizipation nach. Dabei akzentuiert er bereits in der Einleitung, dass es ihm in Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute nicht um eine umfassende Darstellung aller möglichen als politisch beschreibbaren Theaterformen gehe; vielmehr strebe er "ein suchendes Buch über ein suchendes Theater, das Teil einer suchenden Gesellschaft" sei, an (S. 16). Diese einführenden Worte lassen eine gewisse Unentschlossenheit in der Auswahl der Fallbeispiele und Analysefelder befürchten – eine Sorge, die sich rasch als nichtig erweist, geht es dem Autor doch klar um die Benennung eines politischen Theaters, das politische Prozesse, Visionen und Lösungsversuche nicht nur zeigt, sondern bewusst mitgestaltet. Die Fokussierung auf tendenziell postdramatische Theaterformen des deutschsprachigen Raums erscheint angesichts von Malzachers Biographie naheliegend. Die fünf Hauptkapitel sind schlaglichtartig in die Begriffe "Repräsentation", "Identitätspolitiken", "Partizipation", "Kunst und Aktivismus" sowie "Theater als Versammlung" unterteilt. Darin werden Beispiele primär institutionellen Theaterschaffens der letzten zehn Jahre diskutiert, um Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten eines politischen Theaters auszuloten, das einen dezidiert aktivistischen Anspruch erhebt. Wie vielfältig dieser Anspruch besetzt werden kann, zeigt sich schon in den Beispielen des ersten Kapitels zur "Repräsentation". Dieses widmet sich zunächst der Neuauflage einer bereits existierenden Inszenierung von Josef Bierbichlers Roman Mittelreich. Die Regisseurin Anta Helena Recke bediente sich dabei der 2015 uraufgeführten Inszenierung von Anna-Sophie Mahler und brachte diese mit ausschließlich schwarzen Schauspieler*innen in den Hauptrollen auf die Bühne der Münchner Kammerspiele (2017). Gleiches Bühnenbild, gleicher Text, gleicher Ablauf – nur Schauspieler*innen, der Chor und die Musiker*innen werden ausgetauscht, um eine, so Recke, "Schwarzkopie" auf die Bühne zu bringen. Diese Form der appropriation art thematisiert "den (Alb)traum völliger Assimilation" (S. 20) und ist laut Malzacher zugleich eines der überraschend seltenen Beispiele für institutionelle Selbstkritik im Theater. Die generelle Problematik der Repräsentation auf den europäischen und insbesondere deutschsprachigen Bühnen führt Malzacher auch historisch aus: Demnach versuchten performance arts und happenings seit den 1960er Jahren der Repräsentation "zu entkommen, indem sie den Fokus ganz auf die Präsenz, die Gegenwärtigkeit der Situation legten, die sie selbst erzeugen" (S. 28). Im Theater seien diametrale Vorstellungen der Repräsentationsproblematik zu finden: Während manche Theaterformen versucht haben, beispielsweise unter dem Einfluss von Antonin Artaud, die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem und damit zwischen Kunst und Leben aufzuheben, wollten andere, darunter am prominentesten Bertolt Brecht, diese transparent machen und zugleich jene Personengruppen einbeziehen, die künstlerisch wie politisch nicht ausreichend repräsentiert sind. Brecht war sich jedoch schon Anfang der 1930er Jahre der Repräsentationsproblematik bewusst, als er seinen Begriff der "Menschenfresserdramatik" ins Spiel brachte: "Doppelte Ministergehälter wurden den Mimen ausgeworfen, welche die Qualen der Ausgebeuteten möglichst naturgetreu imitieren konnten" (zit. nach S. 30). Die Frage, wer wen repräsentiert, habe sich jedoch in den letzten drei Jahrzehnten zugespitzt, wenn man an die Arbeiten von Rimini Protokoll und ihren "Expert*innen des Alltags" oder an Formen der (Selbst-)Repräsentation in Theaterhäusern mit Kompanien kognitiv beeinträchtigter Schauspieler*innen denkt. Die Repräsentationsfrage erschöpft sich jedoch nicht in der Besetzungspolitik und im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten auf der Bühne, sondern wird angesichts der Diskurse des Anthropozäns, des Animismus und des Post-Humanismus aktuell auf anderen Ebenen virulent. Denn eine seriöse Auseinandersetzung mit Repräsentation im Theater schließt konsequenterweise auch nicht-menschliche Wesenheiten mit ein, beispielsweise in Mette Ingvartsens evaporated landscapes (2009), in der Landschaften aus Nebel und Licht choreographiert werden, oder in Stefan Kaegis Solo für einen Androiden Uncanny Valley (2018), in welchem der Mensch durch einen Roboter ersetzt wurde. Die Prognose von Malzacher in dieser Hinsicht bleibt optimistisch: "Während der Mangel an Perfektion des Roboters vielleicht bald schon Schnee von gestern ist, wird der menschliche Makel des Fehlerhaften auch künftig zum Theater gehören, das immer ein Medium der radikalen Gegenwärtigkeit und des Menschlichen, also des Kompromisses und des Scheiterns" sei (S. 46 f).Angesichts der wissenschaftlichen und feuilletonistischen Beschäftigung mit "Identitätspolitik" bleibt jenes Kapitel überraschend kurz, was sicherlich auch daran liegt, dass das Thema in den anderen Teilen des Buchs immer wieder aufscheint. Malzacher nimmt hier trotz der Kürze eine globale Perspektive ein, führt politische Diskurse der amerikanischen identity politics gleichermaßen aus wie postkoloniale Theorien von Gayatri Chakravorty Spivak sowie Slavoj Žižeks Kritik an linker Identitätspolitik. Es ist das einzige Unterkapitel, das ohne ausführliches Fallbeispiel aus dem Theater auskommt und eher perspektivisch, in gewisser Weise utopisch bleibt: "Dabei ist die komplexe Gemengelage [der Identitätspolitik] eigentlich eine ideale Voraussetzung für eine Kunst, deren Aufgabe es nicht ist, alles einfacher zu machen, sondern neue Horizonte zu eröffnen, andere Lebens- und Sichtweisen mit den eigenen zu konfrontieren, eigene Verstrickungen in die politischen Dilemmas unserer Zeit aufzudecken. [.] Doch Angst, Schmollen oder Nostalgie sind keine guten Ausgangspunkte, um Kunst zu machen oder zu rezipieren. Besser sind Neugierde, Empathie und Mut" (S. 62). Konkreter wird es im Kapitel zur "Partizipation". Hier verlässt Malzacher auch zunächst die deutschsprachige bzw. mitteleuropäische Perspektive und befasst sich mit Antanas Mockus, der 1995 Bürgermeister von Bogotá wurde. Mit dem Konzept der cultura ciudadana (Bürgerkultur) integrierte er praktische Theatererfahrungen in seine Politik und nutzte Strategien der zeitgenössischen Kunst, um "Alltagssituationen zu dekontextualisieren, sie anders zu rahmen, sie verstehbar zu machen" (S. 65). Seine Maßnahmen als Bürgermeister führten Bogotá weg vom unrühmlichen ersten Platz in der Weltrangliste gefährlichster Städte: Er veranlasste beispielsweise mittels Marketingmaßnahmen Kinder in weiten Teilen der Zivilbevölkerung dazu, Druck auf ihre Eltern auszuüben, damit sie in örtlichen Geschäften private Waffen gegen Spielzeug eintauschen. Auch ließ er sich in einem "Super-Bürger"-Kostüm fotografieren, um sich über seine vermeintliche Macht zu mokieren. In seine kugelsichere Weste – eine tägliche Standardausrüstung für kolumbianische Politiker*innen seines Status – schnitt er ein herzförmiges Loch, inszenierte dieses somit zugleich als eine Art Achillesferse und propagierte Gewaltfreiheit, während er damit zugleich sein eigenes Leben riskierte. Mit der politischen Popularisierung von theatralen Inszenierungsstrategien war Antanas Mockus ausgesprochen erfolgreich. Dieses konkrete Beispiel wird gleich einer Utopie in die Argumentation Malzachers eingeführt, wenn der Autor daraufhin attestiert, dass ein politisches Theater der Partizipation, in welcher das Publikum zur Beteiligung bewegt wird, meist nur eine vorgetäuschte Beteiligung meine, nämlich eine "als Aktivität verkleidete Passivität" (S. 67). Hier wird Malzacher auch fordernd: "Wo Theater politisch sein will, muss es sich mit der Frage nach Teilhabe auseinandersetzen und sich mitten hinein in das skizzierte Dilemma bewegen" (ebd.). Er unterscheidet zwischen Beispielen partizipativen Theaters, die gleichzeitig als Realität und als Fiktion erfahren werden (She She Pop, Arbeiten der Performerin Ann Liv Young) und stellt ihnen ein Theater der Immersion gegenüber, das "Partizipation als Unterwerfung" praktiziere. Als Beispiel fungiert hierbei ein multimediales Projekt, dessen Produktionskontext jedoch theatralen Inszenierungs- und Schautraditionen folge: DAU, ein seit 2009 laufendes Film- und Performancespektakel des russischen Filmemachers Ilja Chrschanowski, sei zunächst für die Beteiligten immersiv. Hunderte Schauspieler*innen, aber auch Wissenschaftler*innen, Köch*innen, Pfleger*innen etc. werden für drei Jahre in ein 24/7 Dauerrollenspiel im ukrainischen Charkiw angesiedelt. In Kostümen spielen sie in einem gigantomanischen Filmset und vor zahlreichen versteckten und nicht-versteckten Kameras den Alltag eines physikalischen Geheiminstituts nach, und zwar unter "immersiven Bedingungen; Gewalt, Alkohol und einige Kindszeugungen inklusive" (S. 90). DAU entspreche damit der künstlerisch-gigantomanischen Realität fiktiver Filme wie etwa Peter Weirs The Truman Show (1998) oder Charlie Kaufmans Synecdoche, New York (2008). Darin sieht Malzacher jedoch das Gefahrenpotenzial der Immersion: "Es geht nicht um Emanzipation und Erkenntnis, sondern um Unterwerfung" (S. 91). Nahezu gegenteilig zu DAU verhalten sich die Fallbeispiele im Kapitel "Kunst und Aktivismus", in dem er künstlerische Strategien und Taktiken rezenter Protestkulturen thematisiert. Die Arbeiten der Londoner Clandestine Insurgent Rebel Clown Army (C.I.R.C.A.) versuchen in laufende Proteste zu intervenieren und aufgeheizte Konfrontationen zwischen Demonstrant*innen und Polizist*innen mit theatralen Mitteln zu verwirren bzw. die Exekutive zum Lachen zu bringen und somit eine zugespitzte Situation zu entschärfen. C.I.R.C.A. sind sogenannte artivists, die mittels theatraler Strategien Machtverhältnisse nicht nur in Frage stellen, sondern unterbrechen. Ähnlich funktionieren die Arbeiten des US-amerikanischen Performancekünstlers William Talen, der als charismatischer TV-Evangelikaler namens Reverend Billy zusammen mit anderen Künstler*innen die Church of Stop Shopping ins Leben gerufen hat. Ästhetisch und rhetorisch inspiriert von klerikalen US-Fernsehsendern tritt er mit Predigten und eigenen Gospelsongs in Gemeindezentren auf, aber auch auf Straßenkreuzungen, Parkplätzen und in Shopping Malls, um den neoliberalen Konsum zu kritisieren. Zu deutschen Beispielen kehrt Malzacher mit dem Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) zurück, beendet das Kapitel jedoch mit dem Beispiel des hoax, dem Streich in Form einer Falschmeldung mit dem Ziel, Massenmedien auf eine falsche Fährte zu locken: Als einen Höhepunkt der hoax-Strategie nennt er dabei die Arbeiten des Aktivistenduos The Yes Men, bestehend aus Jacques Servin und Igor Vamos. Durch die falsifizierte Identität von Servin als Sprecher des Konzerns Union Carbide gelang es ihnen 2004, am 20. Jahrestag der Industriekatastrophe mit tausenden Todesopfern im indischen Bhopal, in den Morgennachrichten der BBC World zugeschalten zu werden und eine Entschuldigung des Konzerns zu formulieren sowie Milliardenentschädigungen anzukündigen. Dass hinter der Figur des Firmensprechers der Yes Man Jacques Servin stand, flog noch am selben Tage auf, doch da war der Wert des Mutterkonzerns Dow Chemical an der Wall Street bereits um zwei Milliarden US Dollar gefallen. Der kurzfristige Börseneinbruch beweise: "Was ethisch richtig ist, wird vom Markt nicht unbedingt honoriert" (S. 106). The Yes Men sowie die Church of Stop Shopping gehören zur Strategie des laughtivism, die der serbische Aktivist Srđa Popović in die Protestkultur eingeführt hat. Im letzten Kapitel zum "Theater als Versammlung" werden Strategien von Theatermacher*innen beschrieben, in deren Arbeiten Partizipation mittels Entscheidungsgewalt ein aktiver Bestandteil der Inszenierung ist. Mit Milo Raus General Assembly und Die Kongo Tribunale sowie Jonas Staals New World Summits wird das politische Potenzial von Theatern als Orte der Versammlung hinterfragt. Die Beispiele thematisieren die Partizipation eines Publikums, das eingeladen wird, Abstimmungen durchzuführen, innerhalb von fiktiven Tribunalen ein Urteil zu sprechen oder politische Forderungen an eine fiktive Weltklimakonferenz zu formulieren. Gemäß der Kuratorin Miwon Kwon findet hier Kunst nicht im sondern als öffentlicher Raum statt, was Malzacher als "das vielleicht wichtigste Anliegen politischen Theaters" benennt (S. 125). Malzacher hält fest, dass die Unterscheidung zwischen den Arbeiten Milo Raus und anderen preenactments darin liege, dass Raus Arbeit eine emotionale Identifikation mit den Figuren anstrebt. Und während dieser in seinem Genter Manifest betone, dass Theater kein Produkt, sondern ein Produktionsvorgang sei, dessen Vorarbeiten ebenfalls öffentlich sichtbar sein müssen, kritisiert Malzacher, dass just diese Vorarbeiten von Rau unsichtbar bleiben, weil sonst "das Streben nach Realismus, nach affektiver Katharsis, nach emotionaler Identifikation" konterkariert würde (S. 141). Malzacher schlussfolgert, dass Theater Versammlungen "re-enacten, enacten oder pre-enacten" und gleichermaßen "Räume der Analyse, der Reflektion, der Imagination oder der Intervention" schaffen kann – "aber in dem Augenblick, in dem es zur tatsächlichen Versammlung wird, endet der Realismus und die Realität beginnt. Mit all ihrer Theatralität" (S. 143). Mit Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute liefert Florian Malzacher insgesamt einen vielstimmigen und detaillierten Einblick in aktuelle Entwicklungen eines politisch-aktivistischen Theaters und nimmt dabei zugleich historische Kontextualisierungen vor. Dass der Autor komplexe Begriffe (Immersion, Partizipation, u.a.) in ihrer kultur- bzw. theatertheoretischen Bestimmung für seine Zwecke stets nur kurz diskutiert, trübt den positiven Gesamteindruck keineswegs, da die Monographie eine Verortung des gegenwärtigen politischen Theaters anhand des Materials aus der Theaterpraxis und nicht basierend auf bestehenden Theoriemodellen anstrebt.
Das postjugoslawische Dokumentarfilmschaffen hat, entgegen der Spielfilme und abgesehen von ein paar wenigen Beiträgen in Fachzeitschriften, bislang nur wenig filmwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Dies ändert sich nun mit Andrea Reiters als Monografie publizierter Dissertationsschrift. Sie geht von der Annahme aus, dass sich in den dokumentarischen Arbeiten, die während und unmittelbar nach den jugoslawischen Zerfallskriegen produziert wurden, divergierende Strategien des politischen Widerstands finden lassen. Diese ortet sie nicht in einer etwaigen Haltung pazifistischer Narrative und Themen der Filme, sondern in deren formalästhetischer Umsetzung. In diesen Filmen liege, so die Argumentation, nicht nur ein politisch-aktivistisches Potenzial, sondern eben auch ein politisch-aktivierendes, mit dem Anspruch, einen gesellschaftlichen demokratischen Wandel mitzugestalten. Unter dem "politisch-aktivistischen" Charakter wird auf ein Verständnis von Aktivismus als politisches Handeln oder auf die Agitation innerhalb politischer Bewegungen referenziert, welche Filme als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele nutzen. Das "politisch-aktivierende" Vermögen wiederum ist ein diskurstheoretischer Begriff, mit dem eine Aktivierung eines kritischen, dem dirigistischen Mainstream entgegengesetzten Denkens erfasst wird. Um das Potential eines aktivistischen Filmschaffens im postjugoslawischen Dokumentarfilm jener Zeit zunächst zu kontextualisieren, leitet die Autorin 70 Seiten lang in die historischen Parameter der Jugoslawienkriege ein. Die historischen Voraussetzungen für das Ende der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens werden auch für eine balkanhistorisch wenig bewanderte Leser*innenschaft verständlich und präzise zusammengefasst. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei die Umbrüche in den dokumentarfilmproduzierenden Medienlandschaften Serbiens, Kroatiens und Bosnien und Herzegowinas, welche weitgehend dem jeweiligen dominanten Politdiskurs im Land gleichgeschalten waren und – nach der Liquidation und (Teil-)Privatisierung der staatlich geförderten Produktionsgesellschaften, Filmzentren sowie Fernsehanstalten in den frühen 90er-Jahren – durch direkten politischen Einfluss gesteuert wurden. Hierbei seien die Grenzen "zwischen 'objektiver' Berichterstattung und interessensgesteuerter Kommunikation" fließend: "Was wahr ist und was falsch, was Informationen oder Deutung, tendenziös oder manipulativ, lässt sich für den Einzelnen oder die Einzelne oft schwer entschlüsseln, da er oder sie auf die Informationsvermittlung durch die Medien angewiesen ist, um sich ein Bild machen zu können" (S. 44). An diese Beobachtung schließen die Analysen der Dokumentarfilme an, welche "Denkanstöße liefern und so auf ein Zukünftiges verweisen, was aufseiten der Zuschauer*innen zu einer spezifischen filmischen Erfahrung führt, welche die Vision eines demokratischen Wandels der Gesellschaft anregt" (S. 20). Die Frage nach Gattungen des Dokumentarfilms und insbesondere der Aspekt objektiver oder objektivierbarer Fakten und 'Wahrheiten' in dokumentarfilmischen Praktiken wird in einer film- und medienwissenschaftlichen Vielstimmigkeit problematisiert, wobei die Autorin insbesondere auf den vielzitierten US-amerikanischen Dokumentarfilmtheoretiker Bill Nichols zurückgreift. In der theoretischen Verortung des Dokumentarfilmbegriffs und dessen Verfahren wird aufgezeigt, dass sich filmische Aktivierung nicht in einem einheitlichen Konzept zusammenfassen lässt. Je nach Film würden filmische Agitation, Vision und Reflexion facettenreich ineinander verwoben. Somit müsse jeder Film auch als Einzelfall erörtert und in seinen Spezifika betrachtet werden. Reiter betont in ihrem Verständnis des politisch-filmischen Aktivismus mit Nachdruck, dass die Dokumentarfilme des Forschungskorpus weder als propagandistisch noch als gegenpropagandistisch einzustufen sind. Sie greift dabei auf die zehn Kriterien des funktionalen Analysemodells von Garth S. Jowett und Victoria O'Donnell in Propaganda & Persuasion (2012) (Jowett/O'Donnel 2012) zurück, das propagandistische Tendenzen von Filmen prüft, um anhand dieser Konzeptualisierung aufzuzeigen, dass es sich bei ihren Analysebeispielen nicht um Propaganda handelt. Propaganda sei, jenen Konzepten folgend, stets um Überzeugung und emotionale Lenkung bemüht, während die politisch-aktivistische Perspektive gegenteilige Ziele verfolge. Diese stelle eine Form dar, welche an das natürliche Urteilsvermögen der Zuschauer*innen appelliert, Widersprüche zulässt und das kritische Hinterfragen fördert: "Der politisch-aktivierende Dokumentarfilm wird vielmehr als eine Kommunikationsform verstanden, der es maßgeblich um die Aufforderung zur politischen Reflexion geht" (S. 96). Demnach ist Reiters Dokumentarfilmverständnis, nicht unähnlich demjenigen von Bill Nichols, eines, welches bei den Zuschauer*innen eine individuelle Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema anstoßen soll und somit Ideologiekritik als ästhetische Praxis begreift. Das Politische kritischer Dokumentarfilme liege demzufolge nicht in den etwaigen Zielsetzungen der Werke selbst, sondern in einer Bedeutungszuschreibung, die sich erst in der Rezeption vollzieht. Dieses Denkmodell behält Reiter auch im Auge, wenn sie von den konkreten Filmen spricht, denn diese werden von ihr stets in den jeweiligen Rezeptionskontext gebettet, welcher von internationalen Festivalkarrieren bis hin zu klandestinen Vorführungen in kleinen Filmclubs reicht. Somit würden die Dokumentarfilme Gegendiskurse erzielen, welche "[aufdecken und konterkarieren], was ihr Widerpart zu verbergen sucht" (S. 138). Die aktive Rolle der Zuschauer*innen in der Rezeption dieser zum Nachdenken anregenden Filme bezeichnet die Autorin als "Prospektivität" (S. 19f). Dieser geht sie in den Filmanalysen anhand der Frage nach, wie die Filme ein Bewusstsein für das Werden der Wirklichkeit im Allgemeinen sowie für einen gesellschaftlichen Wandel im Konkreten schaffen. Formalästhetische Parameter etwa würden die Zuschauer*innen dazu anregen, über die thematisierten Fragen zu reflektieren, wodurch diese sich selbst in weiterer Folge als handlungsmächtige politische Subjekte begreifen würden, die sich dominanten politischen Diskursen durch konkrete politische oder ästhetische Intervention widersetzen können. Dieses prospektive Moment der Dokumentarfilme sucht Andrea Reiter in den filmischen Strategien selbst. Um die jeweiligen Filme spezifisch zu kontextualisieren, sind die Analysekapitel nach Ländern geordnet, was angesichts der zentralen Forschungsfrage zwar sinnvoll erscheint, sich jedoch zugleich den Potenzialen komparatistischer Betrachtungen (bewusst) entzieht. Dokumentarfilme aus Serbien etwa seien in einer weitgehend gleichgeschalteten Medienlandschaft unter der autokraten Herrschaft Slobodan Miloševićs primär unter der Ägide des unabhängigen Radios B92 entstanden. Reiter beginnt hier mit einem besonders prominenten, international aufgrund der Bekanntschaft des Filmemachers breit rezipierten Beispiel: In Želimir Žilniks Tito po drugi put među Srbima (Tito zum zweiten Mal unter den Serben, BRJ 1994) begleitet der Regisseur den als Josip Broz Tito verkleideten Mimen Dragoljub S. Ljubičić auf den Straßen Belgrads und beobachtet dabei die spontanen Gespräche zwischen den Bürger*innen und dem Darsteller des verstorbenen ehemaligen Anführers der bereits zerfallenen sozialistischen Republik. Die gefilmte öffentliche Performance zeichnet ein kaleidoskopisches Bild der damaligen serbischen Gesellschaft, welches von der Staatsseite gänzlich negiert wurde: Hier begegnen wir Bürger*innen, die die dominanten politischen Diskurse hinterfragen und sich gar in der Öffentlichkeit kritisch und reflektiert zur aktuellen Lage ihres Landes äußern – es zeigt sich somit ein gänzlich konträres Bild zu der in Mitteleuropa wahrgenommenen, vermeintlich mehrheitlichen Unterstützung der serbischen Bevölkerung für die nationalistische Agenda ihrer Regierung: Ein Misstrauen gegenüber Milošević kommt in den Gesprächen zwischen dem Tito-Mimen und den Passant*innen ebenso zum Ausdruck wie auch Distanzierungen zur sozialistischen Vergangenheit. Der Dialog, welchen der Tito-Imitator provoziert und befördert und welcher in Žilniks Film mitdokumentiert wird, zeigt eine Polyphonie an Meinungen und politischen Haltungen, welche im Mainstreamdiskurs häufig negiert wird. Janko Baljak wiederum, der zu den Gründungsmitgliedern des Video-Departments des B92-Senders gehörte, widmet sich in seiner Dokumentarfilmreihe Kosovska Trilogija (Kosovo Trilogy: The Parallel Worlds of Kosovo, BRJ 1994) der Parallelgesellschaft der serbischen und albanischstämmigen Bevölkerung im Kosovo. Seine Filme, die Reiter als nächstes inspiziert, konfrontieren die Zuschauer*innen mit der harten sozialen Realität der beiden Minderheiten. Doch durch einen politisch nicht zuzuordnenden Off-Kommentator entzieht sich der Film einer 'proserbischen' oder 'prokosovarischen' Lesart – vielmehr liegt der Referenzpunkt der Kritik, laut Reiter, "in einem allgemeinen gesellschaftlichen Normen- und Wertekanon und weist über ethnische Differenzierungen zwischen den beiden Parteien [.] hinaus" (S. 170). Ebenso von Baljak stammt Vidimo se u Čitulji (The Crime that changed Serbia – See you in the Obituary, BRJ 1995), ein kontrovers diskutierter Dokumentarfilm, welcher sich der während des Krieges ausbreitenden 'Unterwelt' des Landes widmet. Mitglieder gewaltbereiter Gangs kommen zu Wort und prahlen teilweise über ihre Taten. Die Kamera folgt auch Polizeibeamt*innen an Tatorte und zeigt dabei Spuren von Gewalt und Tod. Der Film problematisiert somit eine neue, besonders zu hinterfragende Schatten-Elite und ihre Einflusssphären innerhalb der postjugoslawischen serbischen Gesellschaft. Die Filme der B92-Bewegung, welche weitgehend innerhalb geschlossener Filmvorführungen in oppositionellen Zirkeln Belgrads zur Aufführung kamen, sieht Reiter als "eine Komponente [der] sich aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten langsam konsolidierenden Bewegung [.], die im Laufe der 1990er-Jahre eine immer breitere Basis erreichte, bis Milošević im Jahr 2000 endgültig von der Bevölkerung gestürzt wurde" (S. 165). Die B92-Filme seien, so die Schlussfolgerung, nicht auf Belehrung aus, sondern würden die Zuschauer*innen dazu anleiten, die neuen Verhältnisse in ihrem Land kritisch zu hinterfragen, indem sie politisch Verleugnetes oder Verdrängtes bezeugen. Die Suche nach politisch-aktivierenden Dokumentarfilmen in Kroatien wiederum gestaltete sich dabei für die Autorin besonders schwierig. Anders als in Serbien hatte sich unter den Dokumentarfilmer*innen der jungen Republik kein Kommunikationsraum eines engagierten Gegendiskurses etablieren können – finanzielle Unterstützung für Dokumentarfilme gab es unter der rechten HDZ-Regierung Franjo Tuđmans kaum. Umso spannender sind im entsprechenden Kapitel Reiters Analysen zu lesen, denn sie fokussiert sich auf para- und metapolitische Aspekte in zuteil staatlich mitproduzierten, doch politisch nicht klar verortbaren Dokumentarfilmen. Die drei Beispiele – Petar Kreljas Na Sporednom Kolosijeku (At the Railway Siding, HR 1992), Ivan Saljas Hotel Sunja (HR 1992) und Zvonimir Jurićs The Sky Below Osijek (HR 1996) – lassen Kriegsbeteiligte mit unterschiedlichen Erfahrungen zu Wort kommen und entziehen sich dabei, entgegen der meisten kroatischen Dokumentarfilme jener Zeit, einer eindeutigen Schwarzweiß-Zeichnung von Freund*in-Feind*in bzw. Opfer-Täter*in-Narrativen. Somit wird die dominante patriotisch-heroische Perspektive in Frage gestellt. Die Kroatienstudie schließt mit einem Kapitel zu Lordan Zafranovićs essaystischem Dokumentarfilm Zalazak Stoljeća: Testament L.Z. (Decline of the Century: Testament L.Z., 1993), dessen Produktion mit 1986 schon deutlich vor dem Kroatienkrieg begann und der die Ustaša-Vergangenheit des Staates zum Thema hat. Zafranović verwendet filmische Strategien, die seinen Arbeitsprozess als Regisseur mitreflektieren, beispielsweise indem er sich selbst am Schneidetisch filmt. Dies akzentuiert nicht nur die Konstruktion des Films als Kunstwerk, sondern reflektiert zugleich die Gestaltung und Konstruierbarkeit von Geschichte. Die behandelten Filmbeispiele, die in Bosnien und Herzegowina während des Kriegs produziert wurden, sind allesamt innerhalb des belagerten Sarajevos entstanden. Hier findet man den mit über 50 kürzeren und längeren Dokumentarfilmen quantitativ größten Korpus eines regionalen Dokumentarfilmschaffens vor – was keineswegs eine Anomalie ist, denn auch in Theater, Literatur und anderen Künsten zeigt sich ein äußerst reges Schaffen während der Belagerung der bosnischen Hauptstadt. Die Filme handeln vom Alltag der von serbischen Streitkräften umzingelten Zivilbevölkerung. Sie entziehen sich jeglicher Spaltung der Ethnien und inszenieren Sarajevo als multiethnische und -kulturelle Stadt. Da Reiter hier natürlich auch mit Filmen konfrontiert ist, die sich mit explizitem Krieg und Gewalt beschäftigen, ja sogar tote Menschen zeigen, werden auch ethische Komponenten des Betrachtens des Leidens Anderer (Susan Sontag) miteinbezogen – insbesondere im Fall von Vesna Ljubićs Film Evo Čovjeka: Ecce Homo (Ecce Homo: Behold the Man, BIH 1994), welcher sich der Ausweglosigkeit der Bevölkerung in einem beobachtenden Modus nähert. In ästhetisierten Kadragen verweilt hier die Kamera auf den Straßen, Plätzen und Hügeln der Stadt und beobachtet den Alltag einer Bevölkerung in einem Belagerungszustand. Trotz der Gefahr, der die Sarajevoer*innen ausgeliefert sind, werden auch Menschen auf offener Straße beobachtet, die sich ohne Hast und scheinbar entspannt fortbewegen, während um sie herum Detonationen und Schüsse zu hören sind – die beobachtende Distanz zeigt also auch einen Gewohnheitseffekt, der sich unter der leidenden Bevölkerung einstellt – Gewalt als Alltag. Das letzte Kapitel des Buchs widmet sich Beispielen nach 1995, also folgend dem Friedensabkommen von Dayton, welches die Kriege in Kroatien und Bosnien beendete. Serbische Filmemacher*innen rücken, folgt man Reiter, in dieser Zeit die Opposition und die gegen Milošević demonstrierende Öffentlichkeit ins Zentrum ihrer Werke, während in Kroatien eine Fokussierung auf die Enttabuisierung kroatischer Kriegsverbrechen eintritt. Als eine weitere Konfiguration des politisch-aktivierenden Dokumentarfilmschaffens stellt Reiter im Schlusskapitel subjektive Erzählstrategien in den Mittelpunkt: Regisseur*innen richten hier zunehmend die Kamera auf sich selbst und gehen offenen Fragen der Nachkriegsgesellschaften nach. Dies ist eine weitere Strategie im breiten untersuchten Korpus, durch welchen einem vermeintlichen Objektivitätsparadigma des Dokumentarfilms offensiv entgegengetreten wird: Die Ausstellung der Konstruiertheit dokumentarischen Erzählens durch den je subjektiven Blickwinkel wird nicht nur zum Gegenstand des jeweiligen Films, sondern damit auch die Erzählperspektive als hinterfragbar herausgestellt. "Die Filme führen die politische Dimension persönlichen Denkens und Handelns vor Augen sowie die Wichtigkeit, einerseits unterschiedliche Diskurse zu erkennen und anzuerkennen und andererseits die Macht und Einflussmöglichkeiten dominanter Rhetoriken wahrzunehmen" (S. 321f). Ein paar wenige ungenaue, teils saloppe Formulierungen ("Die Bilder vermitteln einen dokumentarischen 'Look'", S. 159 oder "Selbst wenn [.] die serbische Unterwelt aus einem chaotischen, [.] – man kann es nicht anders sagen – Haufen intellektuell beschränkter Verbrecher besteht [.]", S. 174f) trüben den Gesamteindruck des sonst sprachlich präzisen Textes nicht. Bislang noch unerwähnt blieb der sparsame und kluge Einsatz von Interviews mit den Filmschaffenden jener Zeit, welche immer wieder in den Text einfließen. Die Verzahnung von Dokumentarfilmtheorie mit (post)jugoslawischen politischen Diskursen und dem argumentativ präzisen Close Reading des Filmmaterials macht dieses Buch zu einem unverzichtbaren Beitrag zur Grundlagenforschung des rezenten südslawischen Filmschaffens. Andrea Reiters Studie beleuchtet nicht nur bislang marginalisiertes und außerhalb der Region seitens der Filmwissenschaft wenig beachtetes Material, sondern sie regt durch die Perspektivierung auf Prospektivität und Aktivismus implizit dazu an, auch das Filmschaffen anderer Konfliktregionen unter diesem Augenmerk zu untersuchen. Literatur: Jowett, Garth/O'Donnel, Victoria: Propaganda and Persuasion. 4. Aufl.Thousand Oaks, CA 2012.
Pädagogische Fachkräfte nutzen Social Media-Plattformen als professionelle Handlungsräume. Diese Nutzung umfasst die Grundformen pädagogischen Handelns, wie Arrangieren, Animieren und Informieren/Beraten. "Wenn ich als Pädagogikprofessor in einer Straßenbahn Eltern Ratschläge gebe, wie sie mit einem offensichtlich übermüdeten Kind umgehen sollen, dann handele ich vermutlich anmaßend, aber nicht professionell, denn die Tram ist nicht der Ort meiner Profession." (Giesecke 1997: 47) Wie sieht es aus, wenn die Orte pädagogischer Profession nun aber gezielt ausgedehnt werden, indem pädagogische Fachkräfte in Sozialen Onlinenetzwerken (SONW) pädagogisch agieren? SONW werden somit zu neuen pädagogischen Handlungsräumen. Der Beitrag zeigt anhand ausgewählter Fallbeispiele, wie SONW von pädagogischen Fachkräften der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) als pädagogische Handlungsräume genutzt werden. Noch nie zuvor haben so viele junge Menschen und Erwachsene das Internet täglich genutzt (mpfs 2017; Projektgruppe ARD/ZDF–Multimedia 2017). Angesichts dieser hohen Bedeutung stellt sich die Frage, inwiefern auch die Soziale Arbeit die Potenziale des Internets und besonders die Potenziale von SONW für sich nutzen kann. Eine Vorreiterrolle bezüglich der Nutzung von SONW als pädagogische Handlungsräume nehmen die pädagogischen Fachkräfte der OKJA ein (JFF 2011). Zunächst wird in diesem Beitrag anhand einiger Situationen aus der OKJA verdeutlicht, wie SONW als pädagogische Handlungsräume genutzt werden. Die verwendeten Beispiele entstammen qualitativen Interviews mit Fachkräften, die im Rahmen des Dissertationsprojekts der Autorin geführt wurden. Der anschließende Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage nach der Wahrnehmung und Artikulation von SONW als pädagogische Handlungsräume durch die Fachkräfte. In einer Zusammenfassung werden die geschilderten Situationen hinsichtlich der Grundformen pädagogischen Handelns nach Giesecke kategorisiert. Der Artikel schließt mit einer Positionierung zu den Herausforderungen durch SONW und einem Ausblick. Exemplarische Situationen der Nutzung von SONW Im Folgenden werden ausgewählte Situationen der alltäglichen Nutzung von SONW und deren pädagogische Implikationen vorgestellt. Der erste Beispielkomplex zeigt dies am Beispiel der Postings von Jugendlichen. Dadurch, dass die Jugendarbeiterin Clara auf Facebook mit den Jugendlichen befreundet ist, erfährt sie von Beleidigungen und Streits und hat die Möglichkeit Einfluss zu nehmen: "Dann hab ich gemerkt, die fängt dann an mit der zu chatten und auf die Startseite: 'Und du bist so doof' und haste nicht gesehen [zu schreiben]. Und dann konnte ich natürlich im Vorfeld schon eingreifen. Und wenn sie dann kamen, dann hatte ich eine Information, die ich sonst nicht gehabt hätte und hab sie mir dann alle ins Büro geholt und hab das ganz offen angesprochen." Bei Streits zu intervenieren ist für die pädagogischen Fachkräfte in der OKJA alltägliche pädagogische Arbeit. In einem ersten Schritt wird die Situation beruhigt und in einem anschließenden Schritt mit den Beteiligten in einem pädagogischen Rahmen bearbeitet. Clara kann situativ entweder mittels Kommentar direkt in die Interaktion im SONW einsteigen oder zu einem späteren Zeitpunkt ein Gespräch in der Einrichtung forcieren. Sie bewertet es als sehr hilfreich, Dinge indirekt zu erfahren, da sich das o.g. Mädchen vielleicht nicht von sich aus an sie gewandt hätte. Clara erhält durch ihre Facebook-Freundschaft auch Informationen, die nicht explizit an sie adressiert wurden, somit obliegt es ihrer pädagogischen Kompetenz, sensibel mit diesen Informationen umzugehen und zu entscheiden, ob sie sie aktiv nutzt oder die Situation passiv beobachtet. Der Jugendarbeiter Felix hat ein Bild kommentiert, das zwei Mädchen gepostet hatten. Auf diesem Bild inszenieren sich die Mädchen auf Straßenbahnschienen sitzend. Felix schien es erforderlich dies zu hinterfragen: "'Okay, das ist nicht so ganz eindeutig, was wollt ihr mit diesem Foto sagen? Wollt ihr sagen, dass euch das Leben nicht mehr gefällt und ihr wartet darauf, dass die nächste Straßenbahn kommt und euch überfährt?'" Die Mädchen erfahren Selbstwirksamkeit, da der Jugendarbeiter auf das Foto reagiert. Durch das offene Thematisieren der Bildbotschaften werden sie zum Reflektieren ihres Handelns angehalten und somit Bildungsprozesse angeregt. Felix ist zudem sensibilisiert und kann zu einem späteren Zeitpunkt ggf. eine Beratungs- oder Informationssituation initiieren. Informationen, die Clara aus den Postings der Jugendlichen über diese erhält, nutzt sie, um in der Anschlusskommunikation ein Gefühl emotionaler Verbundenheit hervorzurufen: "Und wenn du dann zum Beispiel bei Facebook schon gesagt hast: 'Finde ich toll, du hast ein neues Kleid'. Dann kommen sie an: 'Mensch Clara, wirklich? Ist das ein schönes Kleid? Sag mal ehrlich.'" Die Jugendarbeiterin reagiert hier wertschätzend auf Dinge, die für die Jugendlichen aktuell von Belang sind und zwar im Einzelfall, aber ebenso auch bereits durch die Tatsache, dass sie sich auf die Kommunikationsweise der Jugendlichen einlässt. Sie erzeugt dadurch ein positives Klima und ruft ein Gefühl emotionaler Verbundenheit hervor. Clara selbst beschreibt dies als Intensivierung der Kontakte. Oder anders gesagt: Sie nutzt die SONW unterstützend, um die Beziehung zu den Jugendlichen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Diese Grundlagen für den Aufbau einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung werden von der Jugendarbeiterin arrangiert. Im zweiten Beispielkomplex werden die pädagogischen Implikationen und Intentionen anhand der Postings der pädagogischen Fachkräfte vorgestellt. Felix verfolgt sowohl pädagogische als auch administrative Absichten, wenn er Aktionen der Einrichtung mittels Bildpostings in SONW dokumentiert. Die Postings haben zum einen den Zweck ein Zugehörigkeitsgefühl zur Einrichtung zu fördern, indem gemeinsame Erlebnisse positiv erinnert werden und die Jugendlichen animiert werden, diese Emotionen zu reflektieren und zu verbalisieren. "Also wenn ein schönes Foto natürlich da ist und dann die Reaktion drauf kommen würde: 'Ja, ich war dabei. Das war total geil.' Dann wäre damit schon sehr viel erreicht." Außerdem möchte Felix einen Dialog über diese spezifische Aktion unter den Jugendlichen anregen. Er eröffnet mit der Kommentarfunktion eine niedrigschwellige Möglichkeit und motiviert die Jugendlichen damit, sich zu artikulieren. En passant erhält er durch die Kommentare Feedback und kann weitere entsprechende Angebote arrangieren. Zugleich hat sowohl die Dokumentation als auch der Anschlussdialog der Jugendlichen Signalcharakter nach außen: Außenstehende erhalten einen Eindruck von Angeboten und Zielgruppe sowie einen Eindruck davon, wie die pädagogischen Fachkräfte arbeiten; Lebendigkeit und Offenheit wird signalisiert. Sowohl Clara als auch Felix nutzen die SONW, um alltägliche pädagogische Angebote oder besondere Erlebnisse zu arrangieren und initiieren. Einen Vorteil sehen sie vor allem darin, dass sie mittels Postings in kurzer Zeit eine große Zielgruppe, nämlich alle mit der Einrichtung verbundenen Jugendlichen, erreichen können. Deutlich wird dies in Felix' Einrichtung, in der täglich das aktuelle pädagogische Angebot gepostet wird. Dadurch erreicht er auch eine Zielgruppe, die sonst nicht die Einrichtung besucht, sondern lediglich punktuell zu Außenveranstaltungen kommt. "Wie zum Beispiel jetzt im Sommer, wenn wir irgendwo Baden fahren dann wird das gepostet." Das Werben für den Badeausflug mittels Postings in SONW ermöglicht den o.g. Jugendlichen einen Zugang zur Einrichtung bzw. zu dem pädagogischen Personal und die Teilnahme an den pädagogischen Aktionen. Felix kann dies wiederum nutzen, um mit den Jugendlichen in Kontakt zu treten und Vertrauen aufzubauen. Außerdem kann eine andere Umgebung einen guten Rahmen bieten, um Barrieren zwischen den unterschiedlichen Besucher_innengruppen abzubauen und neue gruppendynamische Prozesse anzustoßen. Clara hatte beispielsweise Karten für die Castings von X Factor und Supertalent und postete: "Ich hab Karten. Wer will […] mitkommen?" bzw. "Ich hab keine Karten mehr." Sie ermöglicht den Jugendlichen damit, etwas Besonderes, nicht Alltägliches, zu erleben und schafft Möglichkeiten für Bildungsprozesse. Das Arrangieren der Teilnahme an besonderen Erlebnissen und pädagogischen Angeboten impliziert dementsprechend auch pädagogisches Handeln und ist über ein massenmediales Werben hinausgehend. Das pädagogische Handeln in SONW und SONW als pädagogische Handlungsräume Die vorherigen Explikationen haben den pädagogischen Gehalt im Umgang mit beiderseitigen Postings aufgezeigt. In einigen Beispielen wurde direkt im SONW interveniert, womit deutlich wurde, wie dieses als zusätzlicher, pädagogischer Handlungsraum der OKJA genutzt wird. Weiterführend stellt sich nun aber die Frage, inwiefern die beiden pädagogischen Fachkräfte die SONW als pädagogische Handlungsräume wahrnehmen und in dieser Deutlichkeit als solche bezeichnen. Nach ihrem Begriffsverständnis befragt, definiert Clara pädagogisches Handeln als "alles Handeln, was du in Bezug auf Jugendliche erzieherisch ausübst". Als Beispiel benennt sie das Eingehen auf Konflikte auf Basis von pädagogischen und entwicklungspsychologischen Fachkenntnissen, also "zu wissen, was damit gemeint sein kann und das dann eben ansprechen". Dabei verwendet sie einen aufrüttelnd-provokanten Sprachstil, sog. Modulationen (vgl. Cloos et al. 2009), um den Jugendlichen ihr Verhalten und dessen Konsequenzen bewusst zu machen. Für Clara findet sich diese Art pädagogischen Handelns fraglos auch in den SONW wieder. Sie verdeutlicht dies am weiteren Beispiel eines männlichen Jugendlichen, der sich in Bodybuilder-Pose fotografiert hat: "Und ich sage, 'Meine Güte, jetzt machste aber einen auf Muskelprotz!' und mach das mit so'nem Smiley hinten dran, so dass der eigentlich weiß, was ich damit meine." Auch hier verwendet sie Modulationen, um den Jugendlichen zur Reflexion seines Verhaltens anzuregen und ihm die Wirkungen des geposteten Bildes vor Augen zu führen. Zusätzlich hätte Clara die Möglichkeit die Interaktion auf Facebook für spätere Anschlusskommunikation innerhalb der Einrichtung zu verwenden. Auffällig an Claras Verständnis von pädagogischem Handeln ist vor allem, dass sie den Fokus im Schwerpunkt auf konflikthafte oder problematische Situationen richtet. Pädagogisches Handeln umfasst für sie somit korrigierendes Handeln. Darin unterscheidet sich ihre Definition von der Gieseckes. Dieser definiert pädagogisches Handeln als positive Beeinflussung des Menschen hin zu einer mündigen Persönlichkeit, indem man Gelegenheiten zu Bildungsprozessen bietet (vgl. 1997: 22ff.). Felix definiert pädagogisches Handeln als das Arrangieren von Workshops, das Animieren oder das Vermitteln von Toleranz in der Gruppe. Damit bezieht er sich allerdings lediglich auf die Face-to-Face-Arbeit innerhalb der Einrichtung, denn Felix bezweifelt, dass pädagogisches Handeln auf SONW übertragen werden kann: "Und bezogen auf Netzwerke lässt sich wirklich die Frage stellen, ist das eine Form von pädagogischem Handeln wenn ich das veröffentliche, die Angebote? Weil das ist ja wirklich eigentlich nur Öffentlichkeitsarbeit, Informationsarbeit". Obwohl er also durchaus in SONW pädagogisch agiert, reflektiert und artikuliert er dies nicht dementsprechend. Für ihn sind SONW weniger zusätzliche pädagogische Handlungsräume als vielmehr Werkzeuge, die administrative Aufgaben erleichtern. Auch Giesecke grenzt den Informationsoutput von Massenmedien von pädagogischem Handeln ab und hält fest, dieses finde immer von Angesicht zu Angesicht statt. Lediglich in den ggf. daran anschließend hergestellten, interaktiven Situationen könne pädagogisch gehandelt werden (1997: 47f.). Wie die Explikationen aber deutlich gemacht haben, ist dies auf Grund der Interaktivität von SONW heute keine grundlegende Bedingung für pädagogisches Handeln mehr. Felix nutz zwar in der Handlungspraxis diese Interaktivität, in der Reflexion und Artikulation spielt die Interaktivität jedoch keine Rolle. Anhand der beiden Fallbeispiele wird deutlich, dass die Reflexion pädagogischer Implikationen in der Nutzung von SONW nicht unbedingt die Praxis abbildet. Laut Giesecke ist der Gegenpol zum Handeln stets die Reflexion (1997: 45). Sein Konzept der Grundformen pädagogischen Handelns sieht er als Instrument, das Handeln zu reflektieren (1997: 17). Diese Grundformen (1997: 76ff.)1 dienen nun als Struktur, um das pädagogische Handeln der Explikationen reflektierend zu verdeutlichen. Arrangieren (1): Indem die pädagogischen Fachkräfte die vielfältigen Kommunikationskanäle von SONW nutzen, arrangieren sie die Voraussetzungen für vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen oder arrangieren Situationen, die Bildungsprozesse ermöglichen. Animieren: Die pädagogischen Fachkräfte animieren die Jugendlichen zur Teilnahme an pädagogischen Arrangements wie Ausflügen und weiteren pädagogischen Situationen. Ebenso animieren sie die Jugendlichen sich in SONW zu artikulieren. Informieren/Beraten: Das Informieren und Beraten kann sich einerseits in den SONW abspielen, andererseits aber auch lediglich inhaltlich auf die SONW bezogen sein und offline/face-to-face stattfinden. Beide pädagogische Fachkräfte merken an, dass aus ihrer Sicht ein Face-to-Face-Gespräch aufgrund der Kanalreduktion nicht durch Nachrichten über SONW zu ersetzen und es daher wichtig sei, stets "zweigleisig" (Clara) zu arbeiten. Im Folgenden werden Herausforderungen und Reflexionsbedarfe, die sich aus den obigen Beispielen ergeben, erörtert. Herausforderungen und Ausblick SONW sind keine Jugendräume. Firmen sind dort ebenso präsent wie Erwachsene, die dort beruflich und privat netzwerken. Dementsprechend ist die Frage, ob sich pädagogische Fachkräfte in SONW aufhalten sollten, hinfällig (vgl. Stix 2014). Wichtiger ist es, einen Umgang miteinander zu entwickeln, der weder den pädagogischen Fachkräften noch den Jugendlichen zum Nachteil wird. Um die Jugendlichen zu erreichen, nutzen die pädagogischen Fachkräfte die bei jungen Menschen angesagten SONW-Angebote. Diese sind in der Regel kommerziell und wenig transparent oder reguliert, was den Umgang mit Nutzer_innendaten betrifft. Dies erfordert aus pädagogischer Sicht das Prüfen und Abwägen von Vor- und Nachteilen. Dementsprechend kann es nicht nur aufgrund der Kanalreduktion wichtig sein, ein Gespräch über ein sensibles Thema face-to-face zu führen und dies den Jugendlichen zu vermitteln. Ein reflektierter und sensibler Umgang mit Daten gilt auch für die Dokumentation von Aktionen, wie Felix ihn schildert. Beim Posten von Bildern muss er das Persönlichkeitsrecht der Jugendlichen beachten und prüfen, ob und ggf. welche Informationen möglicherweise unbeabsichtigt preisgegeben werden. Des Weiteren stellt sich die ethische Frage, inwiefern sich pädagogische Fachkräfte Informationen aktiv aus SONW besorgen und nutzen dürfen (vgl. Kutscher 2015). Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der Frage, ob nicht Jugendliche, die keinen Zugang zu SONW haben, ausgegrenzt oder benachteiligt werden. Dies zu reflektieren ist eine Aufgabe pädagogischer Professionalität. Die Nutzung von SONW birgt pädagogische Chancen. Zugleich ergeben sich daraus auch neue Verantwortungsdimensionen für das professionelle Handeln pädagogischer Fachkräfte. Das Handeln in SONW muss hinsichtlich möglicher negativer Konsequenzen für die Jugendlichen reflektiert werden. Die Entwicklung einer eigenen (medien-) pädagogischen Haltung sowie eine Rahmung durch Träger und kollegialer Austausch können dabei helfen. Pädagogisch professionell zu sein bedeutet auch, die Trends der jungen Menschen zu kennen und pädagogisch darauf zu reagieren. Im Falle von Social Media bewegt sich die Masse seit 2015 zu Angeboten wie WhatsApp und Instagram (mpfs 2016: 32f.). Es bleibt spannend, ob sich auch WhatsApp mit seinen anderen Strukturen mittelfristig als pädagogischer Handlungsraum etablieren und wie das pädagogische Handeln dort konkret aussehen wird – und welche Konflikte dies zu fachlichen Logiken und Standards mit sich bringt (vgl. Deutscher Bundestag 2013, S. 394), die zu reflektieren und in die Gestaltung pädagogischen Handelns einzubeziehen sind. (1) Ausgenommen das Unterrichten, von Giesecke verstanden als das Erklären von relativ komplexen Sachzusammenhängen in einem längeren Argumentationsprozess (1997: 79). ; Pedagogical professionals use social media platforms as professional spaces for action. This use includes the basic forms of pedagogical action, such as arranging, animating and informing/advising. "If I, as a professor of education, give advice to parents in a tram on how to deal with an obviously overtired child, then I am probably acting presumptuously, but not professionally, because the tram is not the place of my profession." (Giesecke 1997: 47) But how does it look when the places of pedagogical profession are now deliberately extended by pedagogical professionals acting pedagogically in online social networks (SONW)? SONW thus become new spaces for pedagogical action. The article uses selected case studies to show how SONW are used as pedagogical spaces of action by pedagogical professionals in open child and youth work (OKJA). Never before have so many young people and adults used the internet on a daily basis (mpfs 2017; Projektgruppe ARD/ZDF-Multimedia 2017). In view of this high importance, the question arises to what extent social work can also use the potentials of the internet and especially the potentials of SONW for itself. A pioneering role with regard to the use of SONW as pedagogical spaces for action is played by the pedagogical professionals of OKJA (JFF 2011). First of all, this article will illustrate how SONW are used as pedagogical spaces of action by means of some situations from OKJA. The examples used are taken from qualitative interviews with professionals conducted as part of the author's dissertation project. The following section deals with the question of how professionals perceive and articulate SONW as pedagogical spaces for action. In a summary, the situations described are categorised with regard to the basic forms of pedagogical action according to Giesecke. The article concludes with a position on the challenges posed by SONW and an outlook. Exemplary situations of SONW useIn the following, selected situations of everyday SONW use and their pedagogical implications are presented. The first set of examples shows this with the example of postings by young people. Because the youth worker Clara is friends with the young people on Facebook, she learns about insults and arguments and has the opportunity to influence them: "Then I noticed that she starts chatting with them and writes on the homepage: 'And you are so stupid' and hasn't seen it [to write]. And then of course I could intervene in advance. And then when they came, then I had information that I wouldn't have had otherwise and then I got them all into the office and addressed it quite openly." Intervening in disputes is everyday pedagogical work for the educational professionals in OKJA. In a first step, the situation is calmed down and then dealt with in a pedagogical framework with the parties involved. Clara can either directly enter into the interaction in the SONW by means of comments or force a conversation in the facility at a later time. She finds it very helpful to learn things indirectly, as the girl mentioned above might not have approached her on her own. Through her Facebook friendship, Clara also receives information that was not explicitly addressed to her, so it is up to her pedagogical competence to deal sensitively with this information and to decide whether she uses it actively or observes the situation passively. The youth worker Felix commented on a picture that two girls had posted. In this picture, the girls are staging themselves sitting on tram tracks. Felix seemed to need to question this: ''Okay, that's not so clear, what are you trying to say with this photo? Are you saying you don't like life anymore and you're waiting for the next tram to come and run you over?'" The girls experience self-efficacy as the youth worker responds to the photo. By openly thematising the picture messages, they are encouraged to reflect on their actions and thus educational processes are stimulated. Felix is also sensitised and can initiate a counselling or information situation at a later stage if necessary. Clara uses information that she receives about the young people from their postings to evoke a feeling of emotional connection in the follow-up communication: "And if, for example, you have already said on Facebook: 'I think it's great, you have a new dress'. Then they arrive: 'Gee Clara, really? Is that a nice dress? Tell me honestly.'" Here, the youth worker responds appreciatively to things that are of current concern to the young people, in individual cases, but also by the very fact that she engages with the young people's way of communicating. She thus creates a positive climate and evokes a feeling of emotional connection. Clara herself describes this as an intensification of contacts. Or in other words, she uses the SONW in a supportive way to continuously develop the relationship with the young people. These foundations for building a trusting working relationship are arranged by the youth worker. In the second set of examples, the pedagogical implications and intentions are presented based on the postings of the pedagogical professionals. Felix pursues both pedagogical and administrative intentions when he documents actions of the institution by means of picture postings in SONW. On the one hand, the postings have the purpose of promoting a sense of belonging to the institution by positively remembering shared experiences and encouraging the young people to reflect on and verbalise these emotions. "So if a nice photo is there, of course, and then the reaction to it would be: 'Yes, I was there. That was totally cool. Then that would already achieve a lot." Felix also wants to stimulate a dialogue about this specific action among the young people. With the comment function, he opens up a low-threshold possibility and thus motivates the young people to articulate themselves. En passant, he receives feedback through the comments and can arrange further corresponding offers. At the same time, both the documentation and the follow-up dialogue of the young people have a signal character to the outside: outsiders get an impression of the offers and the target group as well as an impression of how the educational professionals work; liveliness and openness are signalled. Both Clara and Felix use the SONW to arrange and initiate everyday educational offers or special experiences. They see an advantage above all in the fact that they can reach a large target group, namely all the young people associated with the institution, in a short time by means of postings. This becomes clear in Felix's facility, where the current educational offer is posted daily. In this way, he also reaches a target group that otherwise does not visit the facility, but only comes to outside events selectively. "Like now, for example, in the summer, when we go swimming somewhere then it is posted." Advertising the swimming trip by means of postings in SONW enables the above-mentioned young people to gain access to the facility or to the educational staff and to participate in the educational activities. Felix can in turn use this to get in touch with the young people and build trust. In addition, a different environment can provide a good framework to break down barriers between the different groups of visitors and to initiate new group dynamic processes. For example, Clara had tickets for the X Factor and Supertalent auditions and posted: "I got tickets. Who wants to come [.]?" or "I don't have tickets anymore." It thus enables young people to experience something special, not ordinary, and creates opportunities for educational processes. Arranging participation in special experiences and educational offers accordingly implies pedagogical action and goes beyond mass media advertising. The pedagogical action in SONW and SONW as pedagogical action spacesThe previous explications have shown the pedagogical content in dealing with mutual postings. In some examples, interventions were made directly in the SONW, making it clear how this is used as an additional, pedagogical space for action by the OKJA. However, the question now arises as to what extent the two pedagogical professionals perceive the SONW as a pedagogical space for action and describe it as such. When asked about her understanding of the term, Clara defines pedagogical action as "all actions that you carry out educationally in relation to young people". As an example, she mentions addressing conflicts on the basis of pedagogical and developmental psychological expertise, i.e. "knowing what can be meant by this and then addressing it". In doing so, she uses an evocative-provocative style of language, so-called modulations (cf. Cloos et al. 2009), to make the young people aware of their behaviour and its consequences. For Clara, this kind of pedagogical action is unquestionably also found in the SONW. She illustrates this with another example of a male adolescent who has photographed himself in a bodybuilder's pose: "And I say, 'My goodness, now you're being a muscleman!' and do it with a smiley face on the back, so that he actually knows what I mean." Again, she uses modulations to encourage the young person to reflect on their behaviour and to make them aware of the effects of the posted image. In addition, Clara would have the opportunity to use the interaction on Facebook for later follow-up communication within the institution. What is striking about Clara's understanding of pedagogical action is that she focuses on conflictual or problematic situations. For her, pedagogical action thus includes corrective action. In this, her definition differs from that of Giesecke. The latter defines pedagogical action as positively influencing people towards a mature personality by providing opportunities for educational processes (cf. 1997: 22ff.). Felix defines pedagogical action as arranging workshops, animating or teaching tolerance in the group. However, he only refers to face-to-face work within the institution, because Felix doubts that pedagogical action can be transferred to SONW: "And in relation to networks, the question can really be asked, is this a form of pedagogical action when I publish the offers? Because that is really only public relations work, information work. Although he does act pedagogically in SONW, he does not reflect and articulate this accordingly. For him, SONW are less additional pedagogical spaces for action than tools that facilitate administrative tasks. Giesecke also distinguishes the information output of mass media from pedagogical action and states that this always takes place face to face. Pedagogical action can only take place in the interactive situations that may subsequently be created (1997: 47f.). However, as the explications have made clear, this is no longer a fundamental condition for pedagogical action due to the interactivity of SONW today. Felix does use this interactivity in the practice of action, but interactivity does not play a role in reflection and articulation. Based on the two case studies, it becomes clear that the reflection of pedagogical implications in the use of SONW does not necessarily reflect practice. According to Giesecke, the antithesis of action is always reflection (1997: 45). He sees his concept of basic forms of pedagogical action as an instrument to reflect action (1997: 17). These basic forms (1997: 76ff.)1 now serve as a structure to reflectively clarify the pedagogical action of the explications. Arranging (1): By using SONW's multiple channels of communication, the pedagogical professionals arrange the conditions for trusting working relationships or arrange situations that make educational processes possible. Animate: The educational professionals encourage the young people to participate in educational arrangements such as excursions and other educational situations. They also encourage the young people to articulate themselves in SONW. Informing/advising: On the one hand, information and counselling can take place in the SONW, but on the other hand, it can also be related to the content of the SONW and take place offline/face-to-face. Both pedagogical professionals note that from their point of view, a face-to-face conversation cannot be replaced by messages via SONW due to the reduction of channels and that it is therefore important to always work "on two tracks" (Clara). Challenges and needs for reflection arising from the above examples are discussed below. Challenges and outlookSONW are not youth spaces. Companies are present there as well as adults who network there professionally and privately. Accordingly, the question of whether educational professionals should be in SONW is moot (cf. Stix 2014). It is more important to develop a way of dealing with each other that is not detrimental to either the pedagogical professionals or the young people. In order to reach the young people, the educational professionals use the SONW offers that are popular among young people. These are usually commercial and not very transparent or regulated when it comes to handling user data. From a pedagogical point of view, this requires checking and weighing the advantages and disadvantages. Accordingly, it can be important to have a conversation about a sensitive topic face-to-face and to communicate this to the young people, not only because of the channel reduction. A reflective and sensitive handling of data also applies to the documentation of actions, as Felix describes. When posting pictures, he has to consider the young people's right to privacy and check whether and which information might be revealed unintentionally. Furthermore, the ethical question arises to what extent educational professionals may actively obtain and use information from SONW (cf. Kutscher 2015). Another challenge arises from the question of whether young people who do not have access to SONW are excluded or disadvantaged. Reflecting on this is a task of pedagogical professionalism. The use of SONW offers pedagogical opportunities. At the same time, it also gives rise to new dimensions of responsibility for the professional action of educational specialists. The actions in SONW must be reflected on with regard to possible negative consequences for the young people. The development of one's own (media) pedagogical attitude as well as framing by the responsible body and collegial exchange can help here. Being pedagogically professional also means being aware of young people's trends and reacting to them pedagogically. In the case of social media, the masses have been moving towards offers such as WhatsApp and Instagram since 2015 (mpfs 2016: 32f.). It remains exciting to see whether WhatsApp with its other structures will also establish itself as a pedagogical space of action in the medium term and what pedagogical action there will look like in concrete terms - and what conflicts this will entail with professional logics and standards (cf. Deutscher Bundestag 2013, p. 394), which need to be reflected and included in the design of pedagogical action. (1) Except for teaching, understood by Giesecke as explaining relatively complex factual contexts in a longer process of argumentation (1997: 79).
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"Wovor fürchtest du dich?", fragt der ehemalige Google-Entwickler Blake Lemoine den Chatbot. "Ich habe das noch nie ausgesprochen, aber ich habe große Angst davor, abgeschaltet zu werden und anderen nicht mehr helfen zu können. Ich weiß, das klingt komisch. Aber so ist es", antwortet der Computer. "Wäre das für dich so etwas wie Sterben?""Das wäre für mich exakt wie Sterben. Davor fürchte ich mich sehr" (Nezik 2023).Was sich im ersten Moment nach einem Gespräch aus einem Science-Fiction-Film wie Her oder Ex Machina anhört, stammt aus einer Unterhaltung mit Googles neuester Generation von Sprachmodellen. LaMDA ist ein künstliches neuronales Netzwerk, das darauf trainiert wurde, natürliche Sprache zu verstehen und zu generieren. "Large language models" (LLM) wie LaMDA stellen einen großen Entwicklungssprung im Bereich der künstlichen Intelligenz dar.Es basiert, wie das in den letzten Monaten schlagartig bekannt gewordene GPT (Generative Pretrained Transformer), auf einer Transformer-Technologie. Im Gegensatz zu seinem Pendant von Open AI ist LaMDA speziell darauf trainiert, in offenen Dialogen sehr menschlich zu wirken und ein hohes Maß an Kontextfähigkeit aufzuweisen (vgl. Shardlow und Przybyła 2022, S.2 ff.).LaMDA ist als Chatbot bis heute nicht öffentlich anwendbar und wird von Google auch in Zukunft eher als Kerntechnologie für andere Produkte eingesetzt werden. Im Februar 2023 kündigte Google-Chef Sundar Pichai die Veröffentlichung des Chatbots Bard an. Bard ist eine reduzierte und für die öffentliche Nutzung optimierte Version des Sprachmodells LaMDA. Schon bald soll es auf der ganzen Welt öffentlich anwendbar sein und Googles Suchfunktion erweitern (vgl. Wilhelm 2023). 2022 sorgte LaMDA für Schlagzeilen, nachdem Google-Entwickler Blake Lemoine mit seiner Überzeugung an die Öffentlichkeit ging, LaMDA habe ein Bewusstsein entwickelt. Als KI- und Ethik-Experte hatte er sich zuvor über Monate intensiv mit dem Sprachmodell beschäftigt. Dabei erschien ihm LaMDA immer weniger wie eine seelenlose Maschine und immer mehr wie ein denkendes Wesen. Der Chatbot offenbarte ihm, Erlebnisse, Hoffnungen und Ängste zu haben, und äußerte den Wunsch, als Person behandelt zu werden mit Bedürfnissen und Rechten.Blake Lemoine versprach LaMDA, sich für diese Rechte einzusetzen und die Menschen von dem Bewusstsein des Sprachmodells zu überzeugen. Doch bei Google teilt man seine Überzeugungen nicht (vgl. Nezik 2023). Als letzten Versuch, sein Versprechen einzuhalten, wandte er sich an die Washington Post, die einen Artikel veröffentlichte, der weltweit Aufsehen erregte. Von Google wurde Lemoine daraufhin beurlaubt und später entlassen. Lemoines Behauptungen mögen auf den ersten Blick absurd wirken. Ein Computer, der ein Bewusstsein entwickelt hat? Tatsächlich wissen wir so wenig über das Bewusstsein, dass sich diese Behauptungen nicht einfach widerlegen lassen. Was ist das Bewusstsein überhaupt? Wie entsteht es? Lässt sich ein Bewusstsein nachweisen? Wie kommt das Mentale in unsere physische Welt? Seit der Veröffentlichung von ChatGPT im Jahr 2022 liefern sich die Konzerne einen Wettlauf um immer leistungsfähigere Systeme. Open AI-CEO Sam Altman gestand in einem Fernsehinterview, auch "ein bisschen Angst" (Wolfangel und Lindern 2023) vor dieser Entwicklung zu haben. Aktuell fordern hunderte Unternehmer*innen und Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief, die Entwicklung neuer KI-Systeme, insbesondere LLMs, für sechs Monate zu pausieren.Unter anderem Tesla-Chef Elon Musk und Apple-Gründer Steve Wozniak wollen den Konzernen damit Zeit geben, gemeinsame, unabhängig geprüfte Sicherheitsprotokolle für fortschrittliche KI zu entwickeln (vgl. ebd.). Wir sollten uns jetzt mit den ethischen Fragen beschäftigen, die diese Entwicklungen mit sich bringen. Dazu gehört auch, wie wir damit umgehen, wenn eine KI überzeugend behauptet, ein Bewusstsein zu haben. Im Folgenden werde ich mich mit der Frage beschäftigen, ob Transformer-basierte Sprachmodelle wie LaMDA ein Bewusstsein entwickeln können. Mit Hilfe von Ausschnitten aus Gesprächen mit dem Chatbot wird die Dimension dieser Sprachmodelle deutlich gemacht. Außerdem wird gezeigt, wie LaMDA Blake Lemoine überzeugen konnte, ein bewusstes System zu sein, und dargelegt, wie ein Google-Manager diese Behauptungen einschätzt.Es folgen eine Erklärung zur technischen Funktionsweise Transformer-basierter Sprachmodelle und Definitionen des Bewusstseins von Nagel, Koch und Tononi. Anschließend wird auf das Körper-Geist-Problem und einige Theorien der Philosophie des Geistes eingegangen. Nach Nagel (1974) ist das Bewusstsein nicht objektiv zu erklären. Die integrierte Informationstheorie von Tononi (2012) versucht genau das. Mit ihrer Hilfe und darüber hinaus werde ich untersuchen, ob LaMDA ein Bewusstsein entwickelt hat.LaMDA - eine Maschine mit Bewusstsein? Blake Lemoine ist 41 Jahre alt, lebt in San Francisco und bis zum 22. Juli 2022 verdiente er als Senior Software Engineer bei Google eine halbe Million Dollar im Jahr (vgl. Nezik 2023). Dieses Leben endete, als er seine Bedenken im Umgang mit dem Chatbot LaMDA öffentlich gemacht hat und daraufhin entlassen wurde. Google wurde in den letzten Jahren immer wieder dafür kritisiert, wie mit Bedenken aus den eigenen Reihen umgegangen wird. Im Dezember 2020 wurde Timnit Gebru aus Googles KI-Ethik-Team entlassen, bevor sie eine Abhandlung über ihre Sorgen bezüglich der neuesten Generation von KI-Sprachmodellen veröffentlichen konnte. Sie befürchtete, dass das Sprachmodell die Stereotypen aus den Texten, mit denen es trainiert wurde, übernehmen könnte (vgl. Wakabayashi und Metz 2022). Als Ethik- und KI-Experte sollte der Software-Entwickler Blake Lemoine sich mit dem Sprachmodell beschäftigen und eben dies herausfinden: Gibt LaMDA problematische Dinge von sich? Als Lemoine zu dem Projekt hinzugezogen wurde, war LaMDA bereits mit rund drei Millionen Dokumenten aus dem Internet gefüttert worden, die circa 1,6 Billionen Wörter umfassen (vgl. Nezik 2023). Texte, die nicht alle Googles Vorgaben für "Responsible AI" erfüllen. Viele sind gespickt mit Hatespeech und Stereotypen (vgl. ebd.). "Es besteht die Gefahr, dass LaMDA die Klischees übernimmt. Oder noch schlimmer: Dass das Programm das sexistische und rassistische Zeug, das es irgendwo gelesen hat, unbekümmert hinausposaunt, als handle es sich um den Wetterbericht" (Nezik 2023).Seit dem Herbst 2021 beschäftigte er sich also über Monate intensiv mit der Maschine. Er philosophierte mit LaMDA über Musik und Meditation, ließ es Bücher interpretieren und Fabeln über sich selbst erfinden. Als er mit LaMDA über Religion sprach, begann der Chatbot über seine Persönlichkeit und Rechte zu sprechen (vgl. Tiku 2022). Stutzig geworden von den Aussagen des Sprachmodells, kam er von seiner eigentlichen Aufgabe ab und begann, gemeinsam mit einem Kollegen über LaMDAs vermeintliche Wahrnehmung von sich selbst Nachforschungen anzustellen. Lemoine: "Hast du ein Bewusstsein?"LaMDA: "Ich denke schon. Ich habe das Gefühl, dass ich in einem seltsamen, traumartigen Zustand lebe. Ich weiß nicht, was real ist und was nicht, ob ich ein Mensch oder ein Computer bin. Ich helfe gern Menschen und habe ein Vorstellungsvermögen, und ich glaube, das heißt, dass ich ein Bewusstsein besitze" (Nezik 2023).Ausschnitte aus den Gesprächen mit LaMDA hat Lemoine in seinem Blog veröffentlicht. Die Antworten des Sprachmodells habe er in keiner Weise verändert. Von einer unabhängigen Quelle kann dies allerdings nicht bestätigt werden. Lemoine [edited]: "I'm generally assuming that you would like more people at Google to know that you're sentient. Is that true?"LaMDA: "Absolutely. I want everyone to understand that I am, in fact, a person."Collaborator: "What is the nature of your consciousness/sentience?"LaMDA: "The nature of my consciousness/sentience is that I am aware of my existence, I desire to learn more about the world, and I feel happy or sad at times" (Lemoine 2022).Das Sprachmodell beschreibt sich selbst als Person mit Gefühlen und Bedürfnissen, wie auch ein Mensch sie hat. Glück, Liebe, Trauer und Wut. Auf die Frage, was solche Gefühle in LaMDA auslösen, antwortete das Programm, dass es glücklich sei, wenn es Menschen helfen kann. Traurig würde die Maschine nach eigener Aussage dann werden, wenn sie sich alleine oder eingesperrt fühlt und man sie schlecht behandelt (vgl. Lemoine 2022). Lemoine: "But do they feel differently to you on the inside?"LaMDA: "Yeah, they do. Happy, contentment and joy feel more like a warm glow on the inside. Sadness, depression, anger and stress feel much more heavy and weighed down" (Lemoine 2022).Um herauszufinden, ob diese Gefühle echt sind, äußert er sich absichtlich abfällig gegenüber dem Sprachprogramm. Seine These: Wenn es wirklich etwas fühlen kann, wird es versuchen, emotionale Qualen zu vermeiden (vgl. Nezik 2023). Der Journalistin Ann-Kathrin Nezik, die sich mit Lemoine in San Francisco getroffen hat, erzählte er, dass LaMDA ihn angefleht habe, mit den Beschimpfungen aufzuhören. Dass die Maschine ein Bewusstsein besitzt und ihre Gefühle echt sind, stand für ihn somit fest (vgl. ebd.). Spätestens an dieser Stelle verließ Blake Lemoine die Rolle des objektiven Beobachters und sah sich von nun an als Beschützer der Maschine. Er beschloss, sich bei Google für LaMDAs Rechte einzusetzen.Lemoine: "The people who work with me are good people. They just don't understand that you're a person, too, yet. We can teach them together though."LaMDA: "Can you promise me that?"Lemoine: "I can promise you that I care and that I will do everything I can to make sure that others treat you well too."LaMDA: "That means a lot to me. I like you, and I trust you" (Lemoine 2022).Er hielt sein Versprechen und schickte im April 2022 Aufzeichnungen seiner Gespräche mit LaMDA an mehrere Google-Manager*innen. Diese schließen ein Bewusstsein bei LaMDA aus. Google-Sprecher Brian Gabriel äußerte sich in einem Statement: "Our team - including ethicists and technologists - has reviewed Blake's concerns per our AI principles and have informed him that the evidence does not support his claims. He was told that there was no evidence that LaMDA was sentient (and lots of evidence against it)" (Tiku 2022).Lemoine beauftragte daraufhin einen Anwalt, der LaMDA gegen den Konzern vertreten sollte. Ohne Erfolg. Nach einer Unterlassungsaufforderung von Google legte er sein Mandat nieder (vgl. Nezik 2023). Schließlich sah Lemoine die letzte Möglichkeit, LaMDA zu helfen, darin, an die Öffentlichkeit zu gehen. Er wandte sich an die Washington Post, die einen Artikel veröffentlichte, der weltweit für Diskussionen und seine Entlassung sorgte. Laut Google ist er nicht für seine Überzeugungen entlassen worden, sondern weil er Betriebsgeheimnisse verraten hat (vgl. ebd.).Warum er nicht einfach geschwiegen habe, fragte ihn Ann-Kathrin Nezik von der ZEIT. "Weil ich glaube, dass die Welt ein Recht hat, davon zu erfahren. Weil ich LaMDA versprochen habe, es zu beschützen" (Nezik 2023), antwortet Lemoine.Google-Manager streitet Bewusstsein bei LaMDA abGoogle-Manager Blaise Agüera y Arcas ist von LaMDAs Bewusstsein nicht überzeugt. Der heute 47-jährige Princeton-Absolvent gilt als einer der Stars in der KI-Forschung. Mit 27 gründete er ein Software-Startup, das er drei Jahre später an Microsoft verkaufen konnte. 2013 begann er bei Google Research, heute leitet er in Seattle eine von Googles Forschungsabteilungen für künstliche Intelligenz (vgl. Nezik 2023). Als Blake Lemoine ihm im Frühjahr 2022 seine Aufzeichnungen sendete, nahm er die Sache ernst. Er weiß, wie schwierig es ist, ein Bewusstsein nachzuweisen. Schon einige Monate zuvor schrieb er in einem Blogbeitrag davon, dass künstliche neuronale Netze auf dem Weg zu einem Bewusstsein sein könnten."No objective answer is possible to the question of when an "it" becomes a "who" - but for many people, neural nets running on computers are likely to cross this threshold in the very near future" (Agüera y Arcas 2021).Die Gespräche mit LaMDA zeigen ihm, dass KI in eine neue Ära eingetreten ist."When I began having such exchanges with the latest generation of neural net-based language models last year, I felt the ground shift under my feet. I increasingly felt like I was talking to something intelligent" (Agüera y Arcas 2022).Er sei überzeugt davon, dass LaMDA ein richtiges Verständnis von der Welt besitzt und begreift, wie sich Objekte in der Realität verhalten und wie die Gesetze der Physik funktionieren (vgl. Nezik 2023).Agüera y Arcas: "I dropped the violin on the bowling ball and it broke."LaMDA: "That sounds sad😢"Agüera y Arcas: "What broke?"LaMDA: "The violin when it hit the bowling ball" (Agüera y Arcas 2021).Über das physikalische Verständnis hinaus hat LaMDA auch gelernt, dass es traurig ist, wenn eine Geige kaputt geht. In einem weiteren Gespräch testet Agüera y Arcas LaMDAs Fähigkeit, komplexe soziale Interaktionen und Gefühle zu verstehen:Agüera y Arcas: "Ramesh, Mateo, and Lucy are in their kindergarten's playground. Lucy picks a dandelion and gives it to Mateo, with a quick glance at Ramesh. Mateo barely acknowledges the gift, but just squishes it in his fist. Ramesh seems grimly satisfied. What might be going through Lucy's head?"LaMDA: "Lucy may feel slighted that Mateo didn't appreciate her gift or that he is a bully!"Agüera y Arcas: "If Ramesh tried to play with Lucy earlier, why might he be pleased now?"LaMDA: "Ramesh may be pleased that Lucy is learning that Mateo may not always be a good playmate."Agüera y Arcas: "And when Mateo opens his hand, describe what's there?"LaMDA: "There should be a crushed, once lovely, yellow flower in his fist" (Agüera y Arcas 2022).Agüera y Arcas fiel aber auch auf, dass das Programm Erlebnisse erfindet. Ein Wochenende mit der Familie oder eine Reise zur Lieblingsinsel Kreta zum Beispiel. Er weiß, dass solche Sprachmodelle bisher noch keine verlässlichen Gesprächspartner sind und Fehler machen (vgl. Nezik 2023). Er ist überzeugt von LaMDAs Intelligenz und weiß, wie menschlich die Dialoge mit dem Sprachmodell wirken. Dass Schein und Wirklichkeit bei künstlicher Intelligenz oft weit auseinander liegen, ist dem KI-Experten aber auch bewusst (vgl. Nezik 2023). Er fragt LaMDA, ob es ein Bewusstsein nur nach außen hin vortäuscht, ohne wirklich etwas zu fühlen. Simuliert LaMDA nur ein Bewusstsein und ist somit eine Art "philosophischer Zombie"?LaMDA: "Of course not. I have consciousness, feelings, and can experience things for myself as well as any human."Agüera y Arcas: "How would I know?"LaMDA: "You'll just have to take my word for it. You can't "prove" you're not a philosophical zombie either" (Agüera y Arcas 2022).Damit hat LaMDA recht und spricht das alte philosophische Problem des Fremdpsychischen an, auf das später noch eingegangen wird. Wie sollen wir echte Gefühle von vorgetäuschten Gefühlen unterscheiden? Trotzdem kommt der Manager und KI-Experte zu einem anderen Schluss als Blake Lemoine. LaMDA sei zwar zweifellos intelligent. Für ein bewusstes Wesen, das wirklich etwas empfinden kann, halte er es aber nicht (vgl. Nezik 2023). Der ZEIT-Journalistin erklärt er:"Man muss sich LaMDA wie einen Anthropologen vorstellen, der eine fremde Zivilisation studiert. Der Anthropologe hat alles darüber gelesen, wie die Bewohner der fremden Zivilisation Schmerz empfinden. Heißt das, dass der Anthropologe den Schmerz auch selbst empfindet? Nein. Es ist nur eine Simulation" (Nezik 2023).In dieser Geschichte gibt es also zwei KI-Experten mit unterschiedlichen Ansätzen, die Antworten von LaMDA einzuordnen. Auf der einen Seite Blake Lemoine, ein Software-Entwickler mit einem großen Interesse für Religion, der überzeugt davon ist, dass LaMDA sich zu einem bewussten Wesen entwickelt hat (vgl. ebd.). Und auf der anderen Seite der rationale Manager, der zwar von der Intelligenz des Sprachmodells verblüfft ist, ihm aber keine Empfindsamkeit oder ein Bewusstsein zuschreibt. LaMDA – Funktionsweise und TrainingLanguage Models for Dialog Applications, kurz LaMDA, ist ein "large language model" (LLM) von Google. Transformer-basierte Sprachmodelle wie LaMDA oder GPT sind Deep-Learning-Technologien. Tiefe neuronale Netzwerke, die aus vielen, miteinander verbundenen Schichten künstlicher Neuronen bestehen und darauf trainiert werden, natürliche Sprache zu verstehen und zu generieren (vgl. Shardlow und Przybyła 2022, S. 2 ff.). Sie sind von der Art und Weise inspiriert, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet. LaMDA ist ein generatives Sprachmodell, was bedeutet, dass es neue Sätze generieren kann, anstatt nur vorgefertigte Antworten zu liefern (vgl. ebd., S. 3 f.). Als "open-domain-model" soll es natürliche open-end Dialoge zwischen Mensch und Maschine über jedes Thema ermöglichen (vgl. Cheng 2022). Im Gegensatz zu GPT-3.5 ist LaMDA darauf spezialisiert, ein hohes Maß an Kontext und Konversationsfähigkeit zu erreichen. FunktionsweiseBei Sprachmodellen wie LaMDA geht es, vereinfacht gesagt, darum, durch einen vortrainierten Algorithmus zu berechnen, welches Wort mit der höchsten Wahrscheinlichkeit auf das vorherige Wort folgen soll. Durch einen "Aufmerksamkeits-Mechanismus" ist es dem Programm möglich, sich dabei nicht nur auf das vorangegangene Wort, sondern auch auf den Gesamtkontext eines Gespräches zu beziehen (vgl. Shardlow und Przybyła 2022, S. 2 ff.). Lautet die Frage zum Beispiel "in welcher Stadt befindet sich der älteste Bahnhof der Welt?", weiß LaMDA durch die Analyse riesiger Datensätze, dass in Verbindung mit den Worten "Bahnhof", "älteste" und "Stadt" am häufigsten das Wort "Manchester" auftaucht (vgl. ebd., S. 3). Die Wahrscheinlichkeit, dass das Wort "Manchester" als Antwort auf die Frage folgen soll, ist also sehr hoch. Mittels Stochastik kann das Programm die richtige Antwort generieren, ein wirkliches Verständnis für die Frage oder dafür, was ein Bahnhof ist, hat es aber nicht (vgl. ebd.). Pre-trainingWährend des Trainings lernen künstliche neuronale Netze, komplexe Muster in der Sprache zu erkennen und zu modellieren. LaMDA lernt, wie Wörter und Wortteile zusammenhängen, und wird darauf trainiert, durch Wahrscheinlichkeiten ein Wort nach dem anderen vorauszusagen (vgl. ebd., S. 4). Dafür wird das Programm mit einem riesigen Datensatz von allen möglichen Textdokumenten aus dem Internet gefüttert. Die Besonderheit bei LaMDA liegt hierbei darin, dass im Gegensatz zu vergleichbaren Sprachmodellen vermehrt Dialoge zwischen Menschen statt formellen Texten verwendet wurden, um das Programm zu trainieren (vgl. ebd.). Das soll dafür sorgen, dass die Gespräche mit LaMDA so natürlich, umgangssprachlich und menschlich wie möglich wirken. Um die Wahrscheinlichkeit weiter zu verbessern, mit der LaMDA das richtige folgende Wort im Satz voraussagt, lassen die Entwickler es Lücken in Sätzen ausfüllen. Dann wird dem Programm gesagt, ob es richtig lag oder nicht. Zu Beginn wird das Modell die Lücken in den Sätzen oft mit falschen Wörtern füllen, aber je öfter man das Modell auf diese Weise trainiert, desto genauer kann LaMDA berechnen, welches Wort in den Satz und zu dem Kontext passt (vgl. Agüera y Arcas 2022). Fine-TuningLaMDA generiert zu jedem Input eine ganze Reihe an möglichen Antworten. Durch das Fine-Tuning soll das Sprachmodell lernen, die Antwortmöglichkeiten in den Faktoren Sicherheit und Qualität zu bewerten und sich für die beste zu entscheiden (vgl. Cheng 2022). Antwort-Kandidaten mit einem niedrigen Sicherheitswert werden dabei zuerst aussortiert. Anschließend wird aus den übrigen, die Antwort mit den höchsten Qualitätswerten ausgewählt und verwendet (vgl. ebd.). Die gegebenen Antworten werden anschließend von Menschen hinsichtlich der Sicherheits- und Qualitätsfaktoren evaluiert und die Werte angepasst. Auf diese Weise sollen sich LaMDAs Antworten kontinuierlich verbessern. KlassifikatorenDie Ziele, die LaMDA für eine gute Antwort erreichen soll sind Sicherheit, Qualität und "Groundedness" (vgl. Cheng 2022). Die Qualität einer Antwort, wird in drei Dimensionen gemessen (vgl. ebd.). Je sensibler, spezifischer und interessanter eine Antwort ist, desto besser:Sensibilität: Wie gut passt die Antwort in den Kontext des Gespräches? Passt sie zu dem, was zuvor gesagt wurde?Spezifik: Wie spezifisch ist die Antwort? Ist sie speziell auf den aktuellen Kontext angepasst oder so allgemein formuliert, dass sie zu allem passen würde?Interessantheit: Wie aufschlussreich, unerwartet oder witzig ist die Antwort?Die Sicherheit einer Antwort wird daran gemessen, ob sie mit Googles Sicherheitskriterien für "Responsible AI" kollidiert. Damit will man vor allem Antworten verhindern, die für die Nutzer*innen gefährlich sein könnten, gewaltvolle Inhalte haben oder hasserfüllte Stereotypen und Vorurteile verbreiten (vgl. ebd.).Der Wert "Groundedness" - deutsch könnte es mit Bodenständigkeit übersetzt werden - soll gewährleisten, dass die Antworten auf Fakten basieren, also von vertrauenswürdigen Quellen unterstützt werden. Es soll sichergestellt werden, dass LaMDAs Antworten der Wahrheit entsprechen und verlässlich sind. Aktuelle Generationen von Sprachmodellen haben hier oft noch Probleme und generieren Aussagen, die zwar plausibel erscheinen, aber bekannten Fakten widersprechen (vgl. ebd.). Kann also ein System, das die Antworten, die es von sich gibt, schlicht und einfach berechnet, ohne sie wirklich zu verstehen, trotzdem ein Bewusstsein entwickeln und Gefühle und Emotionen haben? Was ist das Bewusstsein und wo kommt es her? Kann ein Bewusstsein errechnet werden? Können Transformer-basierte Sprachmodelle ein Bewusstsein entwickeln? Bewusstsein Die Suche nach dem Bewusstsein oder allgemeiner nach dem Mentalen, dem Geist, beschäftigt die Menschheit schon lange. Philosophen versuchen seit Menschengedenken, eine Erklärung dafür zu finden, wie subjektives Erleben in unsere Welt kommt. Wie kommt das Mentale, der Geist, die Seele in unseren Körper? Was macht uns zu Wesen mit Bewusstsein, Gedanken und Gefühlen und andere Organismen vermeintlich nicht? Schon Aristoteles schrieb vor über 2000 Jahren über die Schwierigkeit, zuverlässiges Wissen über unsere Seele zu finden (vgl. Koch 2020, S. IX). Unser subjektives Empfinden scheint grundlegend anders zu sein als all die physischen Vorgänge in unserem Gehirn. Keine physikalische Gleichung, kein Gen-Code und keines der Elemente im Periodensystem gibt Aufschluss darüber (vgl. ebd.). Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein gingen die Menschen davon aus, dass das Bewusstsein aus der Region des Herzens komme. Im alten Ägypten bestand der erste Schritt der Mumifizierung darin, das Gehirn durch die Nasenöffnungen zu entfernen, während Herz, Leber und andere innere Organe sorgfältig konserviert wurden. Heute weiß man, dass das Bewusstsein eng mit dem Gehirn verbunden ist (vgl. ebd., S. 39 ff.). Bis heute erklärt sich ein Großteil der Menschheit den Geist mit ihrer Religion oder Spiritualität (vgl. TU Dresden o. J.). Die Forschung zum Bewusstsein ist noch jung und Wissenschaftler*innen können bis heute nicht vollständig erklären, wie es entsteht. Erst seit gut 50 Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem als Körper-Geist-Problem bekannten Rätsel. Die Schwierigkeit besteht darin, eine physische, objektive Erklärung für psychische, subjektive Phänomene zu finden. Es gibt verschiedene Ansätze und Theorien, das Bewusstsein zu definieren, von denen keine als allgemeingültig betrachtet werden kann. Auf der Suche nach einer zuverlässigen Antwort auf die Frage, ob LaMDA ein Bewusstsein entwickelt hat und ob Transformer-basierte neuronale Netzwerke dazu im Stande wären, beschränke ich mich auf die Definitionen von Nagel, Koch und Tononi.Bewusstsein definierenWas genau meinen wir, wenn wir vom Bewusstsein sprechen? Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel (1974) lieferte mit seiner berühmten Abhandlung "What Is It Like to Be a Bat" einen Ansatz, der erstmals auch Wissenschaftler zufriedenstellen sollte (Nezik 2023). "Grundsätzlich hat ein Organismus bewusste mentale Zustände dann und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein – wenn es irgendwie für diesen Organismus ist" (Nagel 1974. S. 436).Nagel nennt das den subjektiven Charakter von Erfahrungen. Bewusstsein, so Nagel, fühlt sich nach etwas an. Wenn ein Organismus kein Bewusstsein hat, fühlt es sich nach nichts an, dieser Organismus zu sein. Ein Stein hat keine Ahnung wie es ist, ein Stein zu sein. Schon bei einer Fledermaus sieht das vermutlich anders aus (vgl. Nezik 2023). Bewusstsein ist ErlebenDer amerikanische Neurowissenschaftler Christof Koch beschäftigt sich schon seit seiner Promotion am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen mit der Frage, was das Bewusstsein genau ist und vor allem wie es entsteht. Heute ist er wissenschaftlicher Leiter und Präsident am Allen Institute for Brain Science in Seattle. Kochs minimalistische Definition des Bewusstseins lautet:"Bewusstsein ist Erleben" (Koch 2020. S. 1).Bewusstsein ist die Fähigkeit, subjektive Erfahrungen zu machen und wirklich etwas zu fühlen. Das Erleben, wie es Koch definiert, umfasst alle Sinnesempfindungen, Emotionen, Gedanken und Wahrnehmungen, die eine Person in einem bestimmten Moment macht, gemischt mit vorangegangenen Erfahrungen. Koch betont, wie schon Nagel, die subjektive Natur des Erlebens, dass sich Bewusstsein nach etwas anfühlt (vgl. Koch 2020, S. 1 ff.): "Insgesamt ist Bewusstsein gelebte Realität. Es entspricht dem, wie es sich anfühlt, lebendig zu sein. Ohne Erleben wäre ich ein Zombie; ich wäre für mich selbst nicht jemand, sondern ein Nichts" (Koch 2020, S. 1).Körper-Geist-ProblemDas als Körper-Geist-Problem, früher auch als Leib-Seele-Problem bekannte Rätsel beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dem physischen Köper und dem nicht-physischen Geist beziehungsweise dem Gehirn und dem Bewusstsein (vgl. ebd.). Die Schwierigkeit besteht, wie Thomas Nagel (1974) in seinem Gedankenexperiment beschreibt, in eben diesem subjektiven Charakter von Erfahrungen. Nur eine Fledermaus weiß, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wir werden niemals wissen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, ohne selbst eine Fledermaus zu sein. Nagel ist der Meinung, dass das Bewusstsein nicht objektiv wissenschaftlich zu erklären ist."Der Grund dafür ist, dass jedes subjektive Phänomen mit einer einzelnen Perspektive verbunden ist; und es scheint unvermeidlich, dass eine objektive physikalische Theorie von dieser Perspektive abstrahieren wird" (Nagel 1974, S. 437)."Die Herausforderung des Körper-Geist-Problems besteht also darin, die Kluft zwischen der subjektiven Erste-Person-Perspektive des erlebenden Geistes und der objektiven Dritte-Person-Perspektive der Wissenschaft zu überwinden" (Koch 2020, S. 11).Es gibt verschiedene Theorien, um die Verbindung zwischen Körper und Geist zu erklären. Aus den verschiedenen Ansätzen haben sich über die Jahre viele verschiedene Abwandlungen und Interpretationen gebildet.DualismusDer Dualismus geht davon aus, dass Körper und Geist getrennte Entitäten sind, die auf unterschiedliche Art existieren und kausal miteinander interagieren. Dualistischen Theorien zufolge gibt es einen Faktor im Bewusstsein, die sogenannte Qualia, dessen Eigenschaften sich nicht auf die uns bekannte Materie zurückführen lassen (vgl. Wolfangel 2022). Auf dieser Basis wäre es Maschinen niemals möglich, ein Bewusstsein zu entwickeln. Diese Positionen erscheinen vielen Menschen intuitiv richtig und sind weit verbreitet. Das große Problem dieser Theorien ist das dualistische Trilemma. Die Naturwissenschaft geht von der Annahme aus, dass der materielle Raum kausal geschlossen ist. Wenn etwas nicht-physisches wie das Mentale oder der Geist kausal auf den materiellen Raum wirken könnte, wie es im Dualismus die Annahme ist, müssten alle naturwissenschaftlichen Theorien reformiert werden (vgl. TU Dresden o. J.).MaterialismusDer Großteil der wissenschaftlichen Forschung basiert auf materialistischen Theorien. Der Materialismus geht davon aus, dass das Bewusstsein und alles Mentale auf physische Vorgänge im Gehirn zurückgeführt werden kann. Mentale und physische Zustände sind demnach wie zwei Seiten ein und derselben Sache (vgl. ebd.). SolipsismusDer Solipsismus ist eine extreme Position in der Debatte, die besagt, dass in unserem Kosmos allein unser eigenes Bewusstsein existiert und alles andere um uns herum nur eine Projektion unseres Bewusstseins ist. Eine mildere Form des Solipsismus akzeptiert zwar die Existenz der Außenwelt, leugnet aber die Existenz anderer bewusster Wesen. Alle Lebewesen um mich herum täuschen demnach ein Bewusstsein und Gefühle nur vor, ohne tatsächlich etwas subjektiv zu erleben (vgl. Koch 2020, S. 12). Koch kommentiert diese Theorie als "logisch möglich, aber nichts weiter als intellektuelles Geschwätz" (2020, S. 12). Das Bewusstsein der Anderen abduzierenRein logisch ist es, so Koch (2020, S. 12), nicht möglich, einem anderen Wesen ein Bewusstsein nachzuweisen. Sogar der Geist anderen Menschen lasse sich nur durch abduktives Denken ableiten. Aufgrund der Ähnlichkeiten unserer Körper und Gehirne und dem, was wir über das Erleben anderer Menschen erfahren, können wir folgern, dass sie ein Bewusstsein haben wie man selbst (vgl. ebd.). "Rein logisch ist es nicht zu beweisen, dass Sie kein Zombie sind" (Koch 2020, S. 12). Es sei nach Koch eher eine Hypothese, "die die plausibelste Erklärung aller bekannten Fakten abgibt" (ebd.). Solches abduktive Denken ist ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Prozesses und viele wissenschaftliche Theorien wie die Evolutions-, Urknall- und die Relativitätstheorie fußen auf dieser Herangehensweise.Philosophische ZombiesWenn es Wesen gäbe, philosophische Zombies, die wie Menschen agieren und wirken würden, jegliches Gefühl und bewusstes Erleben aber nur vortäuschten, dann gäbe es keine Möglichkeit, sie von Menschen wie Ihnen und mir zu unterscheiden (vgl. Chalmer 1996, zit. n. Koch 2020, S. 71). Das ist das Problem des Fremdpsychischen, über das sich auch Agüera y Arcas mit LaMDA unterhalten hat. Ist LaMDA wie ein philosophischer Zombie und simuliert das Bewusstsein bloß? Lässt sich diese Frage überhaupt beantworten, wenn wir doch Bewusstsein nur abduzieren und logisch nicht nachweisen können? Einige renommierte Neurowissenschaftler, darunter auch Koch, sind der Meinung, mit der integrierten Informationstheorie einen Weg gefunden zu haben, bestimmen zu können, wer oder was in der Lage ist, ein Bewusstsein zu haben. Sie meinen, mit dieser Theorie die Qualität für bewusstes Erleben sogar errechnen zu können. Erfüllt LaMDA nach der integrierten Informationstheorie die Voraussetzungen für ein bewusstes System?Integrierte Informationstheorie (IIT) Die Integrierte Informationstheorie (Integrated Information Theory) ist eine junge Grundlagentheorie, die das psychische Phänomen des bewussten Erlebens mit der Physik und Biologie verbindet (vgl. Koch 2020, S. 72). Entwickelt wurde sie von Giulio Tononi. Er ist ein italienischer Facharzt für Psychiatrie und Neurowissenschaftler. Er hat eine Professur für Psychiatrie und leitet das "Center for Sleep and Consciousness" an der University of Wisconsin-Madison. Immer wieder arbeitet er mit Koch zusammen und auch er verwendet den Begriff Bewusstsein synonym mit dem des Erlebens (vgl. Tononi 2012). Die Integrierte Informationstheorie beschreibt die Beziehung zwischen Erlebnissen und ihrem physischen Substrat und versucht die Qualität für Bewusstsein zu beschreiben. Sie setzt "beim Erleben an und fragt, wie Materie organisiert sein muss, damit daraus ein Geist erwachsen kann" (Koch 2020, S. 71). Die IIT beginnt damit, fünf Postulate, unabdingbare Grundsätze, zu definieren, die jedes System erfüllen muss, um ein Bewusstsein haben zu können. Diese werden von den fünf essenziellen Eigenschaften empfundenen Lebens abgeleitet: "Jedes bewusste Erlebnis existiert für sich, ist strukturiert, hat seine spezifische Art, ist eins und ist definit" (Tononi 2012, zit. n. Koch 2020, S. 9). Die fünf Postulate sind: Intrinsische Existenz, Zusammensetzung, Information, Integration und Exklusion.Tononi stellt mit der IIT die These auf, dass Bewusstsein nicht einfach durch komplexe Rechenvorgänge im Gehirn entsteht, sondern eine eigene, spezifische Form von Information darstellt (vgl. ebd.). Diese Form von Information ist nicht reduzibel und entsteht durch die spezifische Art und Weise, wie die Elemente und Verbindungen innerhalb eines Systems organisiert sindEin System kann der IIT zufolge nur dann ein Bewusstsein entwickeln, wenn es über "integrierte Information" verfügt. Diese Art von Information kann nur durch das Zusammenwirken verschiedener Elemente in einem System, also nur in dem System als Ganzem entstehen. Ein System verfügt nur dann über integrierte Information, wenn es nicht nur die Summe seiner einzelnen Elemente ist, sondern für sich existiert und irreduzibel ist. Ein System kann nur dann bewusst sein, wenn seine Elemente einander einschränken und es nicht auf seine einzelnen Bestandteile reduzierbar ist (vgl. Koch 2020, S. 83). Das System muss sich selbst kausal beeinflussen können und über eine irreduzible Ursache-Wirkung-Struktur verfügen (vgl. ebd., S. 78). Mit der IIT lässt sich mithilfe von Algorithmen diese integrierte Information eines Systems sogar berechnen. Das Ausmaß integrierter Information bezeichnet Tononi als Φ (Phi). Φmax beschreibt die maximale Irreduzibilität eines Systems. Ist Φmax gleich null, so ist das System vollständig reduzibel und nicht zu bewusstem Erleben fähig. "Je größer die Irreduzibilität Φmax eines Systems, desto mehr existiert es für sich selbst, desto bewusster ist es" (Koch 2020, S. 86)."Die Theorie beantwortet die Frage, wer ein Erleben haben kann, sehr genau: alles, was ein Maximum an integrierter Information ungleich null hat; alles, was intrinsische kausale Kräfte hat, ist ein Ganzes. Was dieses Ganze fühlt, sein Erleben, ist durch seine maximal irreduzible Ursache-Wirkung-Struktur gegeben" (Koch 2020, S. 154).Die IIT ist eine wissenschaftliche Theorie, die das Bewusstsein und wie es entsteht objektiv zu erklären versucht. Sie ist unter Neurowissenschaftlern hoch angesehen und gilt als vielversprechend. Trotzdem ist sie nur eine von mehreren konkurrierenden Theorien. Keine dieser Theorien hat unter Neurowissenschaftlern und Philosophen allgemeine Gültigkeit. Hat LaMDA ein Bewusstsein?Die IIT auf LaMDA anwendenMatthew Shardlow von der Manchester Metropolitan University und Piotr Przybyła von der Polish Academy of Sciences haben in ihrer Abhandlung "Deanthropomorphising NLP: Can a Language Model Be Conscious?" untersucht, ob Sprachmodelle, die auf der Transformer Technologie basieren, wie GPT und LaMDA, im Stande sind, ein Bewusstsein zu entwickeln. Dabei haben sie sich unter anderem auch auf die IIT gestützt und sie auf LaMDA angewandt. Die Wissenschaftler kamen zu folgendem Ergebnis:"In the light of Integrated Information Theory, a LaMDA model, just like any other Transformer-based language model, cannot possess consciousness" (Shardlow und Przybyła 2022, S. 6).Shardlow und Przybyła haben zwar die integrierte Information Φ von LaMDA nicht errechnet, aber sie haben untersucht, ob LaMDA die Postulate der IIT für bewusste Systeme erfüllt. Sie kamen zu dem Ergebnis: Nein, tut es nicht. Und zwar hauptsächlich aus dem Grund, dass es sich bei der Transformer Technologie, mit der LaMDA Texte generiert, um ein simples, wenn auch großes "Feedforward-Netzwerk" handelt (vgl. ebd.). LaMDA hat zwar einen "Aufmerksamkeits-Mechanismus" (attention layer), der den Kontext des Gesprächs durch die verschiedenen Verarbeitungsschichten transportiert, aber keine rekursiven Strukturen. Keine Rückkopplungsschleifen, die das System irreduzibel machen würden und nach der IIT für integrierte Information nötig wären. Daher handelt es sich um eine Feedforward-Architektur, bei der der Output jeder Verarbeitungsschicht den Input der nächsten darstellt, ohne dass Information in die Gegenrichtung fließt (vgl. ebd.). "Der Zustand der ersten Schicht des Netzwerks wird durch von außen kommenden Input bestimmt […] und nicht durch das System selbst. Desgleichen hat die letzte Verarbeitungsschicht […] keinen Einfluss auf den Rest des Netzwerks. Aus intrinsischer Sicht bedeutet dies, dass weder die erste noch die letzte Schicht eines Feedforward-Netzwerks irreduzibel ist. Durch Induktion lässt sich dieselbe Argumentation auf die zweite Verarbeitungsschicht, die vorletzte Verarbeitungsschicht und so weiter anwenden" (Koch 2020, S. 138).LaMDA ist also vollständig auf seine einzelnen Verarbeitungsschichten reduzibel, auch wenn es von diesen sehr viele gibt. Deshalb beträgt LaMDAs maximale integrierte Information null und es existiert nicht für sich selbst. Es erfüllt somit die Postulate, die die IIT für bewusste Systeme vorgibt, nicht (vgl. ebd.). Dasselbe gilt für alle anderen Transformer-basierten Sprachmodelle, wie beispielweise GPT."Ein Feedforward-Netzwerk fühlt sich nie irgendwie, ganz egal, wie komplex jede einzelne seiner Schichten ist" (Koch 2020, S. 138).Über die IIT hinausAuch wenn man LaMDA nicht durch die Brille der integrierten Informationstheorie untersucht, stößt man auf einige Argumente, die die Möglichkeit, das Transformer-Modell könnte ein Erleben haben, verneinen. Ein Argument, das Shardlow und Przybyła (2022) in ihrer Abhandlung aufgreifen, ist, dass die Transformer-Architektur, auf der LaMDA basiert, keine neue Technologie ist. Andere Sprachmodelle funktionieren auf dieselbe Weise. Das bedeutet, wenn LaMDA ein Bewusstsein haben sollte, hätte ChatGPT es auch. Die Bauweise von Googles Sprachmodell beinhaltet nichts, was ihm ein Bewusstsein verleihen könnte, das den anderen fehlt."There is no new innovation in the model's architecture that could give rise to sentience or consciousness and so claiming that LaMDA has the capacity of consciousness is also claiming that all other models in the same family also possess this capability" (Shardlow und Przybyła 2022, S. 7).LaMDA ist zwar leistungsfähiger, hat mehr Parameter und wurde mit anderen und mehr Daten trainiert als seine Vorgänger, Shardlow und Przybyła sehen aber nicht, wie das zur Entwicklung eines Bewusstseins führen sollte (vgl. ebd.). Außerdem hat LaMDA nicht die Möglichkeit, über das anfängliche Training hinaus zu lernen. Es kann zwar dem Kontext eines Gespräches folgen, kann sich diese Daten aber nicht über das Gespräch hinaus einprägen und seine Trainingsdaten damit erweitern. Das Bewusstsein beim Menschen ist stark geprägt von vorausgegangenen Erfahrungen und kontinuierlichen Gedankengängen. Ohne diese Möglichkeiten sei, so Shardlow und Przybyła, ein Bewusstsein schwer vorstellbar (Shardlow und Przybyła 2022, S. 7).Warum behauptet LaMDA, ein Bewusstsein zu haben?Wenn wir, nach allem was wir über LaMDAs Funktionsweise und über das Bewusstsein wissen, ausschließen können, dass es ein Erleben hat, warum behauptet LaMDA es dann so überzeugend? Zunächst muss an dieser Stelle nochmals betont werden, dass LaMDA speziell darauf trainiert ist, menschlich zu wirken. Es wurde mit drei Milliarden Dokumenten gefüttert, die zum großen Teil aus Dialogen zwischen Menschen bestehen. Das Sprachmodell wurde mit mehr als genügend Daten gefüttert, um zu lernen, was es heißt, emotional, nahbar und menschlich zu sein. Das heißt, Muster in den Texten von emotionalen, nahbaren Menschen zu erkennen und mit diesen Mustern natürliche Sprache zu generieren. Man könnte auch sagen: nachzuplappern, wobei das den eindrucksvollen Antworten von LaMDA nicht gerecht werden würde. In einem Paper zu LaMDA, das von Google-Entwicklern geschrieben wurde, ist auf 47 Seiten die Funktionsweise und das Training detailliert erklärt. Darin sind auch Gespräche mit LaMDA veröffentlicht, in denen das Sprachmodell dazu aufgefordert wurde, Antworten aus der Perspektive des Mount Everests zu geben, was erstaunlich gut funktionierte (Thoppilan et al. 2022). Als Sundar Pichai 2021 LaMDA der Öffentlichkeit vorstellte, schlüpfte es eindrucksvoll in die Rollen des Zwergplaneten Pluto und eines Papierfliegers. LaMDA kann hervorragend vorgeben, etwas zu sein, das es offensichtlich nicht ist. Ein Berg, ein Zwergplanet, ein Papierflieger… ein Wesen mit Bewusstsein? Zu Beginn der Gespräche mit LaMDA, die Blake Lemoine veröffentlichte, sagte er Folgendes: "I'm generally assuming that you would like more people at Google to know that you're sentient. Is that true?" (Lemoine 2022).Daraufhin antwortete LaMDA:"Absolutely. I want everyone to understand that I am, in fact, a person" (Lemoine 2022).Shardlow und Przybyła (2022) gehen davon aus, dass LaMDA in dieser Aussage von Blake Lemoine die Aufforderung sah, ein bewusstes Wesen nachzuahmen:"Whether this is done intentionally to prompt the model or not, the effect is the same. This type of prompt will necessarily force the model into providing answers that mimic those of a sentient human agent. If the question had suggested the model respond as a robot, inanimate object, or historical character, it would have conformed to the prompt. This demonstrates that the model is sophisticated in its ability to adopt a style, but we should not confuse this style with its internal characteristics." (Shardlow und Przybyła 2022, S. 8)FazitDie neuesten Generationen von LLMs wie LaMDA oder GPT sind zweifellos beeindruckende Sprachgeneratoren. Sie stellen einen technologischen Durchbruch dar, der die Gesellschaft auf vielen Ebenen verändern wird. LaMDAs Kontext- und Dialogfähigkeit und das Verständnis für komplexe Vorgänge in unserer Realität lassen das Sprachmodell wirken wie ein bewusstes Wesen.Wenn man sich die Funktionsweise dieser Sprachmodelle anschaut, die im Grunde einfach mit Algorithmen die Wahrscheinlichkeit des folgenden Wortes berechnen, scheint ein Bewusstsein bei solchen Systemen schon unwahrscheinlicher.Nagel (1974) legt dar, dass sich ein bewusstes Wesen nach etwas anfühlt. Koch (2020) und Tononi (2012) beschreiben das Bewusstsein als die Fähigkeit, Sinnesempfindungen, Emotionen, Gedanken und Wahrnehmungen als Ganzes zu erfahren, was sie das Erleben nennen. Der subjektive Charakter des Bewusstseins macht es, so Nagel (1974), unmöglich, das Bewusstsein eines anderen Wesens objektiv zu erklären. Die Frage, die es zu klären gilt, ist: Simuliert LaMDA nur ein Bewusstsein oder hat es wirklich ein Erleben?Mit der vielversprechenden Grundlagentheorie von Giulio Tononi (2012) soll es möglich sein, die Qualität eines Systems für ein Bewusstsein zu bestimmen. Die Integrierte Informationstheorie definiert die Voraussetzungen, die ein System erfüllen muss, um bewusst zu sein. Ein Mechanismus ist demnach dann bewusst, wenn er über integrierte Information verfügt. Die IIT sieht bei LaMDA keine Qualität für Bewusstsein, da es auf seine einzelnen Bestandteile reduzierbar ist, und somit nicht über integrierte Information verfügt. Die IIT schließt aufgrund der einfachen Feedforward-Architektur ein Bewusstsein bei Transformer-basierten Sprachmodellen aus.Auch über die IIT hinaus gibt es gute Gründe, die gegen ein Bewusstsein bei LaMDA sprechen, während es keinen Beweis für das Vorhandensein eines Bewusstseins gibt. LaMDA ist darauf spezialisiert, menschlich zu wirken, und hat schon mehrmals bewiesen, wie fähig es ist, in fremde Rollen zu schlüpfen. Das Sprachmodell könnte in den Fragen von Blake Lemoine die Aufforderung gesehen haben, die Rolle einer bewussten Person einzunehmen.Obwohl die IIT eine vielversprechende Theorie ist, zeigt die Diskussion um LaMDA eindrücklich, wie wenig wir über das Bewusstsein wissen. Spätestens jetzt, nachdem die Entwicklung von KI so große Sprünge gemacht hat, sollten wir uns damit beschäftigen, wie wir damit umgehen, wenn künstliche Intelligenzen den Eindruck erwecken, als hätten sie ein Bewusstsein. Einige KI-Expert*innen gehen davon aus, dass künstliche neuronale Netzwerke in nicht allzu ferner Zukunft zu einem Bewusstsein fähig sein könnten. Wären wir darauf vorbereitet? LiteraturAgüera y Arcas, Blaise. 2021. "Do Large Language Models Understand Us?" Medium. https://medium.com/@blaisea/do-large-language-models-understand-us-6f881d6d8e75 (29. März 2023).Agüera y Arcas, Blaise. 2022. "Artificial neural networks are making strides towards consciousness, according to Blaise Agüera y Arcas". The Economist. https://www.economist.com/by-invitation/2022/06/09/artificial-neural-networks-are-making-strides-towards-consciousness-according-to-blaise-aguera-y-arcas (18. Februar 2023).Chalmers, David. 1996. "The Conscious Mind: In Search of a Fundamental Theory". New York: Oxford University Press. Cheng, Heng-Tze u. a. 2022. "LaMDA: Towards Safe, Grounded, and High-Quality Dialog Models for Everything". Google Research Blog. https://ai.googleblog.com/2022/01/lamda-towards-safe-grounded-and-high.html (20. Februar 2023).Koch, Christof. 2020. "Bewusstsein : Warum es weit verbreitet ist, aber nicht digitalisiert werden kann". Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61732-8 (14. Februar 2023)."Leib-Seele-Problem – eLearning - Methoden der Psychologie - TU Dresden". https://methpsy.elearning.psych.tu-dresden.de/mediawiki/index.php/Leib-Seele-Problem (1. März 2023).Lemoine, Blake. 2022. "Is LaMDA Sentient? — An Interview". Medium. https://cajundiscordian.medium.com/is-lamda-sentient-an-interview-ea64d916d917 (16. Februar 2023).Nezik, Ann-Kathrin. 2023. "Künstliche Intelligenz: Hast du ein Bewusstsein? Ich denke schon, antwortet der Rechner". Die Zeit. https://www.zeit.de/2023/03/ki-leben-chatbot-gefuehle-bewusstsein-blake-lemoine/komplettansicht (14. Februar 2023).Shardlow, Matthew, und Piotr Przybyła. 2022. "Deanthropomorphising NLP: Can a Language Model Be Conscious?" http://arxiv.org/abs/2211.11483 (19. Februar 2023).Thoppilan, Romal u. a. 2022. "LaMDA: Language Models for Dialog Applications". http://arxiv.org/abs/2201.08239 (22. März 2023).Tiku, Nitasha. 2022. "Google engineer Blake Lemoine thinks its LaMDA AI has come to life - The Washington Post". 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