Diese Dissertation beschreibt die Entwicklung und Anwendung des Klimawirkungsmoduls des ICLIPS-Modells, eines integrierten Modells des Klimawandels ('Integrated Assessment'-Modell). Vorangestellt ist eine Diskussion des gesellschaftspolitischen Kontexts, in dem modellbasiertes 'Integrated Assessment' stattfindet, aus der wichtige Anforderungen an die Spezifikation des Klimawirkungsmoduls abgeleitet werden. Das 'Integrated Assessment' des Klimawandels umfasst eine weiten Bereich von Aktivitäten zur wissenschaftsbasierten Unterstützung klimapolitischer Entscheidungen. Hierbei wird eine Vielzahl von Ansätzen verfolgt, um politikrelevante Informationen über die erwarteten Auswirkungen des Klimawandels zu berücksichtigen. Wichtige Herausforderungen in diesem Bereich sind die große Bandbreite der relevanten räumlichen und zeitlichen Skalen, die multifaktorielle Verursachung vieler 'Klimafolgen', erhebliche wissenschaftliche Unsicherheiten sowie die Mehrdeutigkeit unvermeidlicher Werturteile. Die Entwicklung eines hierarchischen Konzeptmodells erlaubt die Strukturierung der verschiedenen Ansätze sowie die Darstellung eines mehrstufigen Entwicklungsprozesses, der sich in der Praxis und der zu Grunde liegenden Theorie von Studien zur Vulnerabilität hinsichtlich des Klimawandels wiederspiegelt. 'Integrated Assessment'-Modelle des Klimawandels sind wissenschaftliche Werkzeuge, welche eine vereinfachte Beschreibung des gekoppelten Mensch-Klima-Systems enthalten. Die wichtigsten entscheidungstheoretischen Ansätze im Bereich des modellbasierten 'Integrated Assessment' werden im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur adäquaten Darstellung klimapolitischer Entscheidungsprobleme bewertet. Dabei stellt der 'Leitplankenansatz' eine 'inverse' Herangehensweise zur Unterstützung klimapolitischer Entscheidungen dar, bei der versucht wird, die Gesamtheit der klimapolitischen Strategien zu bestimmen, die mit einer Reihe von zuvor normativ bestimmten Mindestkriterien (den sogenannten 'Leitplanken') verträglich sind. Dieser Ansatz verbindet bis zu einem gewissen Grad die wissenschaftliche Strenge und Objektivität simulationsbasierter Ansätze mit der Fähigkeit von Optimierungsansätzen, die Gesamtheit aller Entscheidungsoptionen zu berücksichtigen. Das ICLIPS-Modell ist das erste 'Integrated Assessment'-Modell des Klimawandels, welches den Leitplankenansatz implementiert. Die Darstellung von Klimafolgen ist eine wichtige Herausforderung für 'Integrated Assessment'-Modelle des Klimawandels. Eine Betrachtung bestehender 'Integrated Assessment'-Modelle offenbart große Unterschiede in der Berücksichtigung verschiedener vom Klimawandel betroffenen Sektoren, in der Wahl des bzw. der Indikatoren zur Darstellung von Klimafolgen, in der Berücksichtigung nicht-klimatischer Entwicklungen einschließlich gezielter Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel, in der Behandlung von Unsicherheiten und in der Berücksichtigung von 'singulären' Ereignissen. 'Integrated Assessment'-Modelle, die auf einem Inversansatz beruhen, stellen besondere Anforderungen an die Darstellung von Klimafolgen. Einerseits muss der Detaillierungsgrad hinreichend sein, um Leitplanken für Klimafolgen sinnvoll definieren zu können; andererseits muss die Darstellung effizient genug sein, um die Gesamtheit der möglichen klimapolitischen Strategien erkunden zu können. Großräumige Singularitäten können häufig durch vereinfachte dynamische Modelle abgebildet werden. Diese Methode ist jedoch weniger geeignet für reguläre Klimafolgen, bei denen die Bestimmung relevanter Ergebnisse in der Regel die Berücksichtigung der Heterogenität von klimatischen, naturräumlichen und sozialen Faktoren auf der lokalen oder regionalen Ebene erfordert. Klimawirkungsfunktionen stellen sich als die geeignetste Darstellung regulärer Klimafolgen im ICLIPS-Modell heraus. Eine Klimawirkungsfunktion beschreibt in aggregierter Form die Reaktion eines klimasensitiven Systems, wie sie von einem geographisch expliziten Klimawirkungsmodell für eine repräsentative Teilmenge möglicher zukünftiger Entwicklungen simuliert wurde. Die in dieser Arbeit vorgestellten Klimawirkungsfunktionen nutzen die globale Mitteltemperatur sowie die atmosphärische CO2-Konzentration als Prädiktoren für global und regional aggregierte Auswirkungen des Klimawandels auf natürliche Ökosysteme, die landwirtschaftliche Produktion und die Wasserverfügbarkeit. Die Anwendung einer 'Musterskalierungstechnik' ermöglicht hierbei die Berücksichtigung der regionalen und saisonalen Muster des Klimaänderungssignals aus allgemeinen Zirkulationsmodellen, ohne die Effizienz der dynamischen Modellkomponenten zu beeinträchtigen. Bemühungen zur quantitativen Abschätzung zukünftiger Klimafolgen sehen sich bei der Wahl geeigneter Indikatoren in der Regel einem Zielkonflikt zwischen der Relevanz eines Indikators für Entscheidungsträger und der Zuverlässigkeit, mit der dieser bestimmt werden kann, gegenüber. Eine Reihe von nichtmonetären Indikatoren zur aggregierten Darstellung von Klimafolgen in Klimawirkungsfunktionen wird präsentiert, welche eine Balance zwischen diesen beiden Zielen anstreben und gleichzeitig die Beschränkungen berücksichtigen, die sich aus anderen Komponenten des ICLIPS-Modells ergeben. Klimawirkungsfunktionen werden durch verschiedene Typen von Diagrammen visualisiert, welche jeweils unterschiedliche Perspektiven auf die Ergebnismenge der Klimawirkungssimulationen erlauben. Die schiere Anzahl von Klimawirkungsfunktionen verhindert ihre umfassende Darstellung in dieser Arbeit. Ausgewählte Ergebnisse zu Veränderungen in der räumlichen Ausdehnung von Biomen, im landwirtschaftlichen Potential verschiedener Länder und in der Wasserverfügbarkeit in mehreren großen Einzugsgebieten werden diskutiert. Die Gesamtheit der Klimawirkungsfunktionen wird zugänglich gemacht durch das 'ICLIPS Impacts Tool', eine graphische Benutzeroberfläche, die einen bequemen Zugriff auf über 100.000 Klimawirkungsdiagramme ermöglicht. Die technischen Aspekte der Software sowie die zugehörige Datenbasis wird beschrieben. Die wichtigste Anwendung von Klimawirkungsfunktionen ist im 'Inversmodus', wo sie genutzt werden, um Leitplanken zur Begrenzung von Klimafolgen in gleichzeitige Randbedingungen für Variablen aus dem optimierenden ICLIPS-Klima-Weltwirtschafts-Modell zu übersetzen. Diese Übersetzung wird ermöglicht durch Algorithmen zur Bestimmung von Mengen erreichbarer Klimazustände ('reachable climate domains') sowie zur parametrisierten Approximation zulässiger Klimafenster ('admissible climate windows'), die aus Klimawirkungsfunktionen abgeleitet werden. Der umfassende Bestand an Klimawirkungsfunktionen zusammen mit diesen Algorithmen ermöglicht es dem integrierten ICLIPS-Modell, in flexibler Weise diejenigen klimapolitischen Strategien zu bestimmen, welche bestimmte in biophysikalischen Einheiten ausgedrückte Begrenzungen von Klimafolgen explizit berücksichtigen. Diese Möglichkeit bietet kein anderes intertemporal optimierendes 'Integrated Assessment'-Modell. Eine Leitplankenanalyse mit dem integrierten ICLIPS-Modell unter Anwendung ausgewählter Klimawirkungsfunktionen für Veränderungen natürlicher Ökosysteme wird beschrieben. In dieser Analyse werden so genannte 'notwendige Emissionskorridore' berechnet, die vorgegebene Beschränkungen hinsichtlich der maximal zulässigen globalen Vegetationsveränderungen und der regionalen Klimaschutzkosten berücksichtigen. Dies geschieht sowohl für eine 'Standardkombination' der drei gewählten Kriterien als auch für deren systematische Variation. Eine abschließende Diskussion aktueller Entwicklungen in der 'Integrated Assessment'-Modellierung stellt diese Arbeit mit anderen einschlägigen Bemühungen in Beziehung. ; This thesis describes the development and application of the impacts module of the ICLIPS model, a global integrated assessment model of climate change. The presentation of the technical aspects of this model component is preceded by a discussion of the sociopolitical context for model-based integrated assessments, which defines important requirements for the specification of the model. Integrated assessment of climate change comprises a broad range of scientific efforts to support the decision-making about objectives and measures for climate policy, whereby many different approaches have been followed to provide policy-relevant information about climate impacts. Major challenges in this context are the large diversity of the relevant spatial and temporal scales, the multifactorial causation of many climate impacts', considerable scientific uncertainties, and the ambiguity associated with unavoidable normative evaluations. A hierarchical framework is presented for structuring climate impact assessments that reflects the evolution of their practice and of the underlying theory. Integrated assessment models of climate change (IAMs) are scientific tools that contain simplified representations of the relevant components of the coupled society-climate system. The major decision-analytical frameworks for IAMs are evaluated according to their ability to address important aspects of the pertinent social decision problem. The guardrail approach is presented as an inverse' framework for climate change decision support, which aims to identify the whole set of policy strategies that are compatible with a set of normatively specified constraints (guardrails'). This approach combines, to a certain degree, the scientific rigour and objectivity typical of predictive approaches with the ability to consider virtually all decision options that is at the core of optimization approaches. The ICLIPS model is described as the first IAM that implements the guardrail approach. The representation of climate impacts is a key concern in any IAM. A review of existing IAMs reveals large differences in the coverage of impact sectors, in the choice of the impact numeraire(s), in the consideration of non-climatic developments, including purposeful adaptation, in the handling of uncertainty, and in the inclusion of singular events. IAMs based on an inverse approach impose specific requirements to the representation of climate impacts. This representation needs to combine a level of detail and reliability that is sufficient for the specification of impact guardrails with the conciseness and efficiency that allows for an exploration of the complete domain of plausible climate protection strategies. Large-scale singular events can often be represented by dynamic reduced-form models. This approach, however, is less appropriate for regular impacts where the determination of policy-relevant results generally needs to consider the heterogeneity of climatic, environmental, and socioeconomic factors at the local or regional scale. Climate impact response functions (CIRFs) are identified as the most suitable reduced-form representation of regular climate impacts in the ICLIPS model. A CIRF depicts the aggregated response of a climate-sensitive system or sector as simulated by a spatially explicit sectoral impact model for a representative subset of plausible futures. In the CIRFs presented here, global mean temperature and atmospheric CO2 concentration are used as predictors for global and regional impacts on natural vegetation, agricultural crop production, and water availability. Application of a pattern scaling technique makes it possible to consider the regional and seasonal patterns in the climate anomalies simulated by several general circulation models while ensuring the efficiency of the dynamic model components. Efforts to provide quantitative estimates of future climate impacts generally face a trade-off between the relevance of an indicator for stakeholders and the exactness with which it can be determined. A number of non-monetary aggregated impact indicators for the CIRFs is presented, which aim to strike the balance between these two conflicting goals while taking into account additional constraints of the ICLIPS modelling framework. Various types of impact diagrams are used for the visualization of CIRFs, each of which provides a different perspective on the impact result space. The sheer number of CIRFs computed for the ICLIPS model precludes their comprehensive presentation in this thesis. Selected results referring to changes in the distribution of biomes in different biogeographical regions, in the agricultural potential of various countries, and in the water availability in selected major catchments are discussed. The full set of CIRFs is accessible via the ICLIPS Impacts Tool, a graphical user interface that provides convenient access to more than 100,000 impact diagrams developed for the ICLIPS model. The technical aspects of the software are described as well as the accompanying database of CIRFs. The most important application of CIRFs is in inverse' mode, where they are used to translate impact guardrails into simultaneous constraints for variables from the optimizing ICLIPS climate-economy model. This translation is facilitated by algorithms for the computation of reachable climate domains and for the parameterized approximation of admissible climate windows derived from CIRFs. The comprehensive set of CIRFs, together with these algorithms, enables the ICLIPS model to flexibly explore sets of climate policy strategies that explicitly comply with impact guardrails specified in biophysical units. This feature is not found in any other intertemporally optimizing IAM. A guardrail analysis with the integrated ICLIPS model is described that applies selected CIRFs for ecosystem changes. So-called necessary carbon emission corridors' are determined for a default choice of normative constraints that limit global vegetation impacts as well as regional mitigation costs, and for systematic variations of these constraints. A brief discussion of recent developments in integrated assessment modelling of climate change connects the work presented here with related efforts.
Die eherne Mauer und die Aktualität der Herbartschen Ethik Von Renato Pettoello »Dem Inhalte [und .] der Methode nach [.] ist mit diesem Systeme ein ganz neues Bildungsmittel in die Philosophie der Gegenwart gekommen.« (I. H. Fichte, Ein Wort über die "Zukunft" der Philosophie, in "Zeitschrift f. Phil. u. philos. Kritik" XXI (1852), p. 239). Das Problem ist immer wieder dasselbe: Ist es möglich, eine feste Grundlegung für die Moral zu finden? Bzw. ist es möglich, ein Prinzip oder mehrere Prinzipien auszumachen, die es uns gestatten, zwischen Gut und Böse zu wählen? Die Schlange der Versuchung verspricht Adam und Eva keine immensen Reichtümer oder unendliche Macht; außer der Unsterblichkeit verspricht sie ihnen, wenn sie die Frucht des verbotenen Baumes essen, daß sie sein werden »wie Gott«, d.h. daß sie wissen werden, »was gut und böse ist.« Der Mensch ist also im selben Augenblick, in dem er zum Menschen wird, d.h. in dem Augenblick, in dem er seine Unschuld verliert, sozusagen dazu gezwungen, sich zu fragen, ob das, was er tut, gut oder böse sei. Einzig der Mensch besitzt diese gleichzeitig göttliche und teuflische Fähigkeit. In seiner Unschuld kann sich das Tier dieses Problem nicht einmal stellen; mit Ausnahme vielleicht der höheren Primaten hat es kein Bewußtsein von dem, was es tut. Das Tier kann unschuldigerweise grausam sein, der Mensch nicht. Doch was sind denn eigentlich Gut und Böse? Wie können wir feststellen, ob dies eine gute oder böse Sache ist? Und ob sie immer gut ist oder nur unter gewissen Umständen, unter anderen aber nicht? Sicherlich können wir das Problem nicht dadurch lösen, daß wir einfach behaupten, dies sei gut, dies hingegen böse. Schon Platon hatte dies mit großer Klarheit erkannt und im Menon den Sokrates folgendes sagen lassen: »Das Gleiche gilt denn auch von den Tugenden. Mag es ihrer auch viele und mancherlei geben, so stehen sie doch alle unter ein und derselben Begriffsbestimmung, die den Grund dafür enthält, daß sie Tugenden sind, und der Antwortende tut gewiß gut, auf diese sein Augenmerk zu richten, um so dem Fragenden Auskunft zu geben über das Wesen der Tugend.« Ähnlich steht es auch im Euthyphron zu lesen: »Erinnerst du dich nun, daß ich dich nicht dazu aufforderte, mich über eine oder zwei der vielen frommen Handlungen zu belehren, sondern über das Wesen selbst, durch welches alles Fromme fromm ist?« »Das Wesen der Tugend«. Ich kann mir vorstellen, daß viele der Anwesenden hier schon die Nase gerümpft haben und diesen Ausdruck für abstrakt und vielleicht sogar für verdächtig halten. Und dies mit Recht. Denn es liegt ja auf der Hand, daß Platon die von der griechischen Polis und mehr noch die von Athen anerkannten Tugenden im Sinne hatte und von diesen nun verlangte, daß sie universalen Wert besäßen. – Wir sind uns der Übel nur allzu bewußt, welche in der Vergangenheit – und vielleicht auch noch heute – von der Überzeugung verursacht wurden, die einzig mögliche Kultur sei die europäische. Aufgrund dieser Überzeugung haben wir uns dazu ermächtigt gefühlt, unser Model von Kultur und Sittlichkeit ganzen Volksgruppen auf dem Planeten aufzuzwingen und dies oft mit Gewalt. Heute akzeptieren wir zumindest formal, daß unterschiedliche Modelle nebeneinander existieren können und wir hüten uns davor – oder zumindest sollten wir uns hüten –, einen erneuten Kulturkolonialismus zu betreiben. Zum Glück. Und doch hat sich gerade unter den Personen, welche sich der Unterschiede stark bewußt sind und sie am meisten respektieren (zu denen ich hoffe, auch mich selbst zählen zu dürfen), oft eine Art von ethischem Relativismus verbreitet, der, wenn man genauer hinsieht, widersprüchlich ist und oft das Gegenteil erreicht. Oft nämlich endet es auf diese Weise mit der Verwechslung von Anthropologie und Ethik. Natürlich steht es außer Frage, daß jede Kultur das Recht hat, ihre eigenen ethischen Regeln selbständig zum Ausdruck zu bringen und wir haben die Pflicht, sie zu respektieren. Doch gilt dies immer und in jedem Fall? Während nämlich der Anthropologe sich darauf beschränken muß, Sitten und Traditionen ohne Wertung aufzuzeichnen, liegen die Dinge in der Ethik nicht so. Hier hat man das Recht/die Pflicht, Werturteile zu fällen. Der Kindermord an den Mädchen, gewisse schreckliche Praktiken, wie Infibulation, die Ausbeutung der Kinder, die Sklaverei, die Folter, die Todesstrafe – um nur einige Beispiele zu nennen, doch leider könnte man noch sehr viele andere hinzusetzen – sind Praktiken, welche bei einigen Kulturen als moralisch gleichgültig betrachtet werden, wenn nicht sogar als moralisch akzeptabel; können derartige Praktiken uns im Namen eines falsch verstandenen Relativismus gleichgültig sein? Und wenn sie uns nicht gleichgültig sind und uns sogar empören und unseren Protest erregen, aufgrund welcher Prinzipien fühlen wir uns dazu ermächtigt? Es könnte nun jemand einfach und einsichtig antworten: aufgrund der Anerkennung der menschlichen Würde. Wenn aber jemand sie ablehnt? Wenn aber, wie einer der Gesprächspartnern in einem Herbartschen Dialog in platonischem Stil über das Böse sagt, welcher das Kantische Prinzip diskutiert, demzufolge man stets so handeln soll, daß man die Menschen »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« behandelt, wenn also »jemand sich dessen weigert; wird nun das Böse unmittelbar anschaulich seyn, das daraus entsteht? Oder kann der, welcher den Andern als Maschine gebraucht, auch noch fragen: was denn darin Schlimmes liege?« (IV, 490). Es ist immer wieder dasselbe, werden Sie sagen: die Philosophen (und zudem noch die italienischen) müssen immer alles unnötigerweise kompliziert machen. Warum sollte man nach einer festen Grundlage suchen, soweit es eine solche überhaupt gibt, wenn der gesunde Menschenverstand und die Menschlichkeit ausreichen, um uns bei der Bewertung von Gut und Böse zu leiten? Einmal abgesehen davon, daß Philosophie sich nicht mit dem gesunden Menschenverstand zufriedengeben kann und seit je nach einem festeren und sichereren Wissen strebt, sind wir uns denn wirklich so sicher, daß uns der Gemeinsinn eine zuverlässige Führung bietet? Außerdem bringen die mit der Ethik zusammenhängenden Probleme wichtige Auswirkungen im juristischen und, allgemeiner, im politischen Bereich mit sich, welche, so denke ich, eine aufmerksame Reflexion und eine feste Grundlage verdienen. Es ist auf der anderen Seite auch klar, daß die Grundlage, die wir suchen, allgemeine Gültigkeit haben muß, ohne deshalb bloß abstrakt zu sein, denn sonst bliebe sie in der Schwebe und im Leeren, ohne als Anleitung für den wirklichen Menschen fungieren zu können. Sie wird ebenfalls die fundamentalen Prinzipien der Moral auf klare und endgültige Weise zu definieren haben, ohne deshalb jedoch die Existenz unterschiedlicher moralischer Normen auszuschließen. Es ist nicht schwer zu sehen, daß sowohl diachronisch im Verlauf der Geschichte als auch synchronisch in den verschiedenen heutigen Gesellschaften unterschiedliche moralische Regeln existiert haben und existieren, die zu respektieren sind, solange sie nicht mit den Prinzipien in Konflikt geraten (sicherlich hat es keinen Sinn und ist vielmehr beleidigend und demütigend, den Masai-Kriegern die Unterhosen aufzuzwingen, wie es das viktorianische England getan hat); im gegenteiligen Falle jedoch sind sie in aller Schärfe anzuprangern. Zwei Beispiele: Der im alten Griechenland und in Rom verbreitete Brauch, die Neugeborenen auszusetzen, ist aus dem historischen Blickwinkel heraus eine einfache Tatsache, aus ethischer Sicht aber ein Greuel. Wer würde dies heute wieder einführen wollen? Die Verurteilung zum Tode durch Steinigung einer Frau, weil sie einem unehelichen Sohn das Leben geschenkt hat, nachdem sie vergewaltigt wurde, ist nicht nur ein juristisches Ungeheuer, sondern auch moralisch inakzeptabel. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei klargestellt, daß wir uns hier auf einer ausschließlich ethischen Ebene bewegen, die in keiner Weise Formen der Aufzwingung zuläßt. Ich bin mir auf der anderen Seite auch vollkommen der komplexen Implikationen, welche all dies mit sich bringen könnte und des Konflikts bewußt, der zwischen traditionalen Formen von Kultur und ethischen Prinzipien aufkommen könnte, doch denke ich auch, daß wir uns nicht hinter derartigen Schwierigkeiten verstecken können. In jedem Fall lassen wir für den Moment diese Probleme außer Acht und konzentrieren uns auf das Hauptproblem: Die Grundlage. Ich bin davon überzeugt, daß Herbarts Philosophie bei dieser Suche in die richtige Richtung führen kann und daß sie uns auch heute noch wichtige Anregungen auch im ethischen Bereich zu bieten hat. Bevor wir uns jedoch in Herbarts Reflexionen zur Moral vertiefen, ist es notwendig, vorher noch schnell auf Kant zu sprechen zu kommen, der für Herbart konstanter Bezugspunkt ist und auch für das zeitgenössische Denken einen unausweichlichen Probierstein darstellt. Natürlich werde ich nur auf einige wenige zentrale Punkte der Kantschen Ethik zu sprechen kommen. Ich fürchte, eine etwas technische Terminologie nicht vollkommen vermeiden zu können, doch ich hoffe, mich trotzdem klar verständlich zu machen. Welche Eigenschaften muß ein moralisches Prinzip besitzen, um wahrhaft universal zu sein? Vor allem müssen hier die Grenzen geklärt werden, indem das moralische Prinzip klar und deutlich von den theoretischen Prinzipien unterschieden wird, da der Gegenstand, mit dem diese sich beschäftigen ein grundlegend anderer ist. Dies bedeutet, daß die Moral der Metaphysik, der Psychologie usw. gegenüber autonom ist. Wenn wir wollen, daß das Prinzip, welches wir suchen, auch wirklich universal ist, ist es des weiteren notwendig, daß es nicht auf subjektiven Elementen fußt oder auf solchen, die nicht verallgemeinerbar sind, und daß es absolut autonom ist, d.h. seine Rechtfertigung nicht von fremden Elementen erhält. Die subjektiven Neigungen, die Gefühle, die Leidenschaften usw. können also die Moral nicht fundieren. Dies heißt allerdings nicht, daß sie an sich böse wären, sondern nur, daß sie das Prinzip subjektiv beeinflussen, welches dementsprechend keine universale Geltung mehr besäße. Dies eben ist Kant zufolge die Grenze aller vergangenen Versuche, die Moral zu begründen. Sie suchten die Grundlage der Moral nämlich in materiellen und heteronomen Prinzipien, wie der Glückseligkeit oder dem Nützlichen – doch meine Glückseligkeit, mein Nützliches kann das Unglück und den Schaden eines anderen bedeuten –; die Vollkommenheit oder das höchste Gute – welche jedoch entweder vergängliche Begriffe sind oder von der Geschichtsepoche bzw. der Gesellschaft beeinflußt wurden, welche sie hervorgebracht hat. Man kann also auch nicht, wie Platon es wollte, mit der Definition des Guten und des Bösen beginnen: Böse und Gut sind lediglich Gegenstände der praktischen Vernunft, ja eigentlich »die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft.« Schließlich kann auch die Religion die Moral nicht begründen, sondern eher das Gegenteil: Die Religion ist eventuell eine moralische Forderung. Andernfalls gründete Moral sich auf ein heteronomes Prinzip, d.h. ihre Rechtfertigung käme von außen. Das Prinzip, das wir suchen, muß also folgende Eigenschaften haben: Es muß autonom, bedingungslos und formal sein. Der Sitz, um uns so auszudrücken, dieses Prinzips kann nirgendwo anders als in der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch liegen. Im Gegensatz zu dem, was immer wieder wiederholt wird, ist die Kritik der praktischen Vernunft in keiner Weise eine "Moral", eine Tugendlehre; sie ist vielmehr eine Art von Metaethik. Sie bewegt sich sozusagen auf einer zweiten Ebene, auf einer metanormativen Ebene, welche eben die Moral als ihren Gegenstand hat. Genauso wie die theoretische Vernunft die Mathematik und die Physik zum Gegenstand hat, oder genauer: so wie sie die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft untersucht, so fragt die praktische Vernunft nach den Bedingungen der Möglichkeit der Moral, d.h. einer Modalität von Erfahrung, welche ihre spezifische Selbständigkeit besitzt. Die Philosophie, sagt Kant, muß sich darauf beschränken, »eine neue Formel« der Moral zu entwerfen; weder kann sie noch soll sie beanspruchen, eine neue Moral zu erfinden. Dies erklärt auch eine gewisse Bestürzung, die bei einer ersten, oberflächlichen Lektüre des Werkes aufkommen kann. Wie denn – will man sagen – am Ende all dieser Mühsal weiß ich nicht einmal, ob ich gut handle, wenn ich einer alten Dame helfe, die Straße zu überqueren. Der Grund hierfür besteht darin, daß dies nicht die Aufgabe der Kritik der praktischen Vernunft ist. Das Problem der Normen und der Regeln wird sich natürlich stellen, doch hierfür muß man andere Werke Kants heranziehen, wie etwa die Metaphysik der Sitten. Objektivität der Moral bedeutet für Kant allgemeine Gültigkeit dessen, was er das moralische Gesetz nennt und dieses Gesetz ist ein »Faktum der Vernunft«, weil es seit je in den vernünftigen Wesen vorhanden ist, d.h. in den Menschen als Menschen. Das moralische Gesetz bedarf keinerlei philosophischer Rechtfertigung; es ist hier eine Grundlegung weder möglich noch notwendig. Und zwar deshalb, weil es sein Fundament in sich selbst findet bzw. weil es an sich gültig ist und sich uns gegenüber von selbst durchsetzt. Diese Behauptung nun scheint paradox. Was heißt das, das moralische Gesetz brauche keine Grundlegung? Die Antwort auf diese Frage finden wir in der Kritik der reinen Vernunft, wo zu lesen ist: »Von der Eigenthümlichkeit unsers Verstandes aber […] läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.« Es hat demnach keinen Sinn, nach einer weiteren Grundlage der Grundlage zu suchen: wir müssen uns mit diesem Faktum begnügen. In den Menschen tritt das moralische Gesetz als Imperativ auf, der berühmte kategorische Imperativ: Du sollst, weil du sollst. Nicht: Du sollst dieses oder jenes tun, sondern du sollst das moralische Gesetz befolgen. Aber aufgepaßt, das moralische Gesetz und der kategorische Imperativ stimmen keineswegs überein. Sie scheinen nur für den Menschen übereinzustimmen, welcher nicht nur ein Vernunftwesen, nicht reine Vernunft ist, sondern der auch (zum Glück) ein sinnliches Wesen ist, das Neigungen, Wünschen, Impulsen usw. unterliegt. All diese Gefühle sind natürlich legitim, aber sie können nicht, wie wir gesehen haben, zur Grundlegung der Moral beitragen. Für einen Engel etwa wäre der Imperativ absolut nicht notwendig, weil sein Wille vollkommen mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen würde. Dem kategorischen Imperativ stehen wie bekannt die hypothetischen Imperative entgegen; Wenn du dies tun willst, wenn du das erreichen willst, mußt du dies oder jenes tun. Sie können jedoch keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Doch auch in diesem Fall müssen vereinfachende Banalisierungen vermieden werden. Der Gegensatz zwischen kategorischem Imperativ und hypothetischen Imperativen ist nicht der Gegensatz zwischen Moralität und Unmoralität. Freilich ist es wahr, daß der kategorische Imperativ der moralische Imperativ ist, doch das bedeutet nicht, daß der hypothetische Imperativ notwendigerweise unmoralisch sein muß. Auch ist die sinnliche Natur des Menschen nicht schon als solche ein Übel; sie wird dazu erst in dem Moment, in dem sie mit dem moralischen Gesetz in Konflikt gerät. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Vorstellung scheint mir Kant eine rigorose, aber keine rigoristische Moral vorzuschlagen, die sich der Grenzen des Menschlichen und seiner Rechte als sinnliches Wesen vollkommen bewußt ist. Aus dem Faktum des moralischen Gesetzes wird die Willensfreiheit abgeleitet. Die Freiheit, sagt Kant, ist »allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes« bzw. die Bedingung der Wirklichkeit des moralischen Gesetzes. Wäre der Mensch nicht frei, könnte man von Moral überhaupt nicht sprechen, denn er wäre dann wie die Tiere. Auf der anderen Seite ist das moralische Gesetz »die ratio cognoscendi der Freiheit« , d.h. das, was es uns erlaubt, die Freiheit zuzulassen. Nur so können wir verstehen, daß wir einen freien Willen haben. Noch einmal, die transzendentale Freiheit, von der Kant hier spricht, ist nicht so sehr die Freiheit, dieses oder jenes zu tun, als vielmehr die Möglichkeit selbst von Freiheit, eine Freiheit als solche und absolut unbedingt. Ich entschuldige mich für diese allzu kurze und schematische Darstellung der Kantschen Morallehre, die notwendigerweise eine ganze Reihe von wichtigen Problemen außer Acht gelassen hat. Doch war es meines Erachtens notwendig, einige zentrale Themen dieser Theorie wieder ins Gedächtnis zu rufen, um nun Herbarts Position verstehen zu können. Seine Stellung ist, um die Wahrheit zu sagen, komplex und zweideutig, denn seine Kritiken an Kant, und nicht nur diejenigen im moralischen Bereich, sind oft ungerechtfertigt und doch ist er gerade in diesen Fällen besonders anregend. Bevor ich jedoch endlich zu Herbart komme, sei es mir erlaubt, Sie noch einmal auf die Wichtigkeit des ethischen Formalismus Kants aufmerksam zu machen, denn eben hier kann man meines Erachtens die Aktualität der Herbartschen Ethik voll und ganz ausmessen. Das ethische Prinzip, haben wir gesagt, muß formal sein, da es sonst durch materielle Elemente bedingt wäre, welche seine Universalität herabsetzen würden, weil es »von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden [kann], ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde.« In diesem Sinne ist der meines Erachtens fehlgeschlagene Versuch von John Rawls bezeichnend, der eine Metaethik verwirklichen wollte ohne den Formalismus, wie auch immer man ihn verstehen will, oder auf jeden Fall durch seine Schwächung. In der Tat ist er in den Werken nach A Theory of Justice dazu gezwungen, seine Position zu revidieren, den Anspruch auf Universalität seiner Moral zu verleugnen und ihre Geltung auf die industrialisierten Gesellschaften des Abendlandes einzuschränken. Der Kantische Formalismus allerdings impliziert keineswegs Leere. Esi ist mir klar, daß die allgemeine Form sehr wohl ohne Inhalte erkannt werden kann, doch das heißt noch lange nicht, daß sie der Inhalte entbehrt. Die Form gibt es in Wahrheit nie ohne die Inhalte, doch bedeutet das nicht, daß man sie nicht unabhängig von ihnen betrachten kann. Wie bekannt riefen der vorgebliche Rigorismus Kants und der Formalismus seiner Ethik unmittelbar negative Reaktionen hervor. Man denke, nur um einige Namen zu nennen, an Schiller und Hegel, an Fichte und Schleiermacher. In einer seiner Xenien schreibt Goethe sogar sarkastisch: »Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung | Und so wurmt mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.« Doch die Diskussion setzte sich weit über das eben vergangene 18. Jahrhundert hinaus fort. So hat Husserl, der eine formale Ethik in Analogie zur Logik aufbauen wollte, Kant kritisiert, weil seine Ethik nicht formal genug sei, während Max Scheler, der im Gegenteil eine materielle Wertethik begründen wollte, den Kantschen Formalismus glattweg ablehnte. Doch nun ist es Zeit, zu Herbart überzugehen, der ja auch als Inspirationsquelle und als Bezugspunkt allen Hauptdarstellern dieser Debatte gegenwärtig ist, H. Cohen ebenso wie Vorländer, die meines Erachtens entscheidende Beiträge zum ethischen Formalismus Kants geliefert haben , Scheler ebenso wie, auf vermittelte Weise, Husserl. Auch Herbart reiht sich in den Chor der Kritiken ein. Auch er weist den Kantschen Formalismus zurück, weil er ihm leer erscheint und deshalb unfähig, wirklich vom Besonderen Rechenschaft zu geben, das sich im Allgemeinen verliert. Des weiteren lehnt er die transzendentale Freiheit (auch wegen ihrer unheilvollen pädagogischen Konsequenzen) und den kategorischen Imperativ ohne Vorbehalt ab, da sie für ihn nichts anderes sind, als begriffliche Absurditäten. Natürlich hat auch für ihn die Pflichtmäßigkeit eine zentrale Funktion in der Behandlung der Moral; doch der kategorische Imperativ und die Kantschen Pflichten sind am Ende eben wegen ihres leeren Formcharakters dazu gezwungen, auf eine höhere Autorität zu rekurrieren, auf einen ewigen Herrn. Allerdings erkennt er an, daß mit Kant »der wichtige Theil der Reform, welche die Sittenlehre treffen mußte.« (III, 235) abgeschlossen wurde. Kant hat das Verdienst, die Selbständigkeit der Moral klar erkannt zu haben: selbständig gegenüber dem Gegenstand, der nicht mit dem der theoretischen Vernunft verwechselt werden darf und selbständig gegenüber der Form, welche nach Kants Absicht von jeder Bestimmung unabhängig sein sollte, es sei denn der des reinen Wollens in seiner Universalität. Kant wird also auf der einen Seite das Verdienst zuerkannt, Ethik und Metaphysik klar voneinander getrennt zu haben: Der verfehlte Ausdruck Metaphysik der Sitten – sagt Herbart – ist lediglich eine unglückliche Redensart, die der Tatsache keinen Abbruch tut, daß Kant die ursprüngliche, besondere und absolute Evidenz des moralischen Elements erkannt hat, welches keiner äußeren Stützen bedarf (XII, 348). Auf der anderen Seite kommt ihm das Verdienst zu, »gleichsam eine eherne Mauer« (III, 70) zwischen der Totalität der materiellen Prinzipien des Wollens und den formalen Prinzipien aufgerichtet zu haben. Das Bestreben Herbarts besteht also in folgendem: ein moralisches Prinzip oder besser moralische Prinzipien ausmachen, welche allgemeinen Wert haben, jedoch gleichzeitig das Besondere wahren; welche formal sind, aber nicht leer, ohne deshalb von materiellen Elementen bedingt zu sein. Wie sollen wir uns also bewegen? Zunächst einmal ist klar, daß das ethische Urteil, welches der Herbartschen Moral zugrunde liegt, keinen Anspruch darauf erheben kann, im logischen Sinne universal zu sein, da es auf diese Weise das Besondere vollkommen aus dem Auge verlöre; auch kann es keineswegs auf dem Wege der Abstraktion erreicht werden, wie es die Empiristen möchten, da es auf diese Weise die Allgemeingültigkeit verlöre. Des weiteren muß man sich davor hüten, um alles in der Welt ein einziges Prinzip zu suchen, das es nicht gibt und das auch nicht gesucht werden soll. Wir werden also eine Vielfalt von Prinzipien vor uns haben, ähnlich dem, was in der Metaphysik auch passiert. Ein einziges Prinzip ist eine reine Abstraktion, welches das richtige Verhältnis zwischen Gegebenem und Prinzipien umkehrt. Zuerst werden die einzelnen Werturteile gefällt und dann wird künstlich ein einziges Prinzip aufgestellt. So läßt Herbart in seinen Gesprächen über das Böse, die ich schon erwähnt habe, einen seiner Gesprächspartner, und zwar Otto, zu einem anderen, der die Thesen Fichtes vertritt, sagen: »Sie tadeln erst den Streit, und alsdann aus diesem Grunde die Trägheit; Sie verurtheilen den Hass, und darum hintennach das, was Sie als Quelle des Hasses ansehen, und so weiter.« (IV, 491) Doch was geschieht nun eigentlich, wenn wir ein moralisches Urteil fällen oder wenn wir sagen, dies sei gut, das sei schlecht? Um welche Form von Urteil handelt es sich? Und betrifft das Urteil die Form oder den Inhalt? Zunächst leuchtet ein, daß das Urteil (A ist B zum Beispiel) eine Beziehung vorsieht und das gilt auch für das Werturteil: Ein einzelnes materielles Element ist moralisch indifferent, es ist weder gut noch böse. Hat man einmal eine Güterlehre ausgeschlossen und das Problem des Werts oder Unwerts für den Willen gestellt, dann kann dieser letztere, da er von allen Beziehungen zu den Dingen befreit ist, sich einzig durch die Form der Beziehung charakterisieren, welche er angenommen hat: »Jede Zusammenfassung – so Herbart -, welche als solche eine neue Bedeutung erlangt, ergiebt eine Form; im Gegensatze gegen die bloße Summe dessen, was zusammengefasst wird, welche Summe in sofern Materie heißt. Also kann nur der Form des Wollens ein Werth oder Unwerth beygelegt werden.« (X, 348) Das Geschmacksurteil betrifft also lediglich die Form, nicht den Inhalt und ist doch nicht abstrakt: Es ist nichts anderes als der Name für besondere Beziehungsurteile. Doch muß sich die praktische Philosophie keineswegs schämen, keine solche Universalität erreichen zu können, welche alle Tatsachen des Lebens vollkommen erfassen könnte: »das menschliche Leben ist viel zu bunt, als daß die einfachen Willensverhältnisse im Voraus wissen könnten, wie sie einander darin begegnen werden.« (II, 351) Das Werturteil, welches für die Ästhetik und mehr noch für die Ethik bezeichnend ist, stellt sich als Geschmacksurteil dar, welches unmittelbar Billigung oder Mißbilligung auslöst. Aus dem Geschmacksurteil muß jeder subjektive Gemütszustand ausgeschlossen werden. Es handelt sich um ein reines Urteil und das unterscheidet Herbart sicherlich klar von den englischen Moralisten, mit denen er trotzdem, wie wir gleich sehen werden, bedeutsame Punkte gemein hat. In Über die ästhetische Darstellung der Welt schreibt er denn auch, indem er sich ausdrücklich auf Platon beruft: Die ästhetische, und das heißt für Herbart auch die ethische Notwendigkeit »charakterisiert sich dadurch, daß sie in lauter absoluten Urtheilen, ganz ohne Beweis, spricht, ohne übrigens Gewalt in ihre Forderung zu legen. Auf die Neigung nimmt sie gar keine Rücksicht; sie begünstigt und bestreitet sie nicht. Sie entsteht beym vollendeten Vorstellen ihres Gegenstandes.« (I, 264) Die ethischen Urteile müssen demnach absolut und unbedingt sein und können deshalb nicht im Willen als einer subjektiven Wirklichkeit gesucht werden, sondern einzig in einer objektiven Wirklichkeit, die – wie wir gleich sehen werden – in den praktischen Ideen ihren Ausdruck findet, welche typische Willensverhältnisse sind, die mit ihrer Beispielhaftigkeit notwendige Urteile hervorrufen. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Obschon wir uns in der Heimatstadt dieses großen Denkers befinden (meines Erachtens sicherlich einer der größten Denker nach Kant), ist nicht gesagt, daß auch alle seine Ethik aus der Nähe kennen. Deshalb scheint es, so hoffe ich, nicht unnütz, kurz die wichtigsten Züge darzustellen. Herbart lehnt also, wie gesehen wurde, Kants Formalismus ab, dem er einen Formalismus entgegenzusetzen beabsichtigt, welcher ein solcher nur deshalb ist, weil er vom besonderen Inhalt der menschlichen Handlungen absieht, allerdings die typischen Verhältnisse, welche diese Handlungen aufweisen, einschließt. Die Absolutheit, die mit dem Formalismus eng verbunden ist, wird dann Herbart zufolge nicht im Willen als einer subjektiven Wirklichkeit gesucht (in Herbarts Augen wäre dies der Kantsche gute Wille), sondern in einer objektiven Wirklichkeit, in unwillkürlichen Urteilen der Billigung oder Mißbilligung, welche jeden Aspekt des menschlichen Lebens einbeziehen. Die moralische Pflichtmäßigkeit besteht aus absoluten, atheoretischen Urteilen. Die Haltung des urteilenden Subjekts muß also der des reinen Beobachters entsprechen oder, wie er mit evidentem Bezug auf Adam Smiths "interesselosen Zuschauer" auch sagt, der des »inneren Zuschauers.« (I, 118, siehe auch X, 338-340) Die praktischen Ideen sind eben Ausdruck von typischen Willensverhältnissen und rufen mit ihrer Beispielhaftigkeit unwillkürliche Urteile der Billigung oder Mißbilligung hervor. Die moralische Pflichtmäßigkeit wird also durch die unmittelbare Notwendigkeit des "ästhetischen" Urteils garantiert, eine Notwendigkeit, die sich den Menschen aufdrängt; eine Notwendigkeit, die aus dem objektiven "Wert" herkommt, der in jenen Urteilen beschlossen liegt, die in ihm ihren Inhalt finden und der stark an den Respekt erinnert, den Kant zufolge das moralische Gesetz unmittelbar und notwendig hervorruft, aber auch an den "ästhetischen Geschmack" der englischen Moralisten. Allerdings sind es nicht die Ideen, welche unmittelbar Gehorsam verlangen; die Pflicht vielmehr, die aus ihnen herkommt, fordert ihn. Das Gebieterische der Pflicht leitet sich eben gerade von der Billigung oder Mißbilligung her, welche die Urteile gegenüber den moralischen Ideen zum Ausdruck bringen, insoweit sie als objektiv gültige und universale anerkannt sind und dies unabhängig von der Befriedigung, die daraus entstehen kann. Ursprünglich jedenfalls ist nicht die Pflicht. Erst wenn man sich seiner eigenen Verpflichtung bewußt wird, indem man einer Richtschnur folgt, hat man es mit dem Begriff der Pflicht zu tun, wodurch man nun wirklich in die Moralität eintritt. Der Begriff der Pflicht kann nicht das erste Fundament der moralischen Wissenschaft sein, denn, wäre dem so, dann müßte eine unmittelbare Sicherheit bestehen für den Wert eines ursprünglichen Befehls. Doch dies ist nicht möglich, denn befehlen bedeutet wollen, und sollte der Befehl einen ursprünglichen Wert haben, dann käme ein Konflikt zwischen den unterschiedlichen Willen auf, wobei die einen untergeordnet, der andere herrschend wäre; doch jedes Wollen ist als Wollen jedem anderen gleich und keines kann sich über das andere erheben. Die Grundlage der Ethik besteht also weder im Begriff der Pflicht noch in dem des Guten und auch nicht in dem der Tugend, sondern einzig in einer spontanen Reaktion gegenüber den jeweiligen Situationen, welche erst in der Folge moralisch wird, wenn man von den reinen ethischen Ideen übergeht zu den moralischen Maximen. Die ethischen Ideen sind also natürlich anerkannte "Werte", die angemessene Handlungen anraten, weil sie ein gemeinsames Gut der menschlichen Natur sind, dem man widerspricht, wenn man nicht gehorcht. Die ursprünglichen praktischen Ideen sind fünf und nicht gegenseitig auseinander deduzierbar; das wahrhaft moralische Urteil muß alle fünf Ideen vereinigen. Keine von ihnen kann isoliert und von den anderen getrennt genommen werden. Die erste praktische Idee ist die »Idee der inneren Freiheit«, die in keiner Weise mit der transzendentalen Freiheit verwechselt werden darf. Es handelt sich vielmehr, wie Herbart schreibt, um »diejenige Freyheit der Wahl, die wir alle in uns finden, welche wir als die schönste Erscheinung unsrer selbst ehren, und welche wir unter den andern Erscheinungen unsrer selbst hervorheben möchten« (I, 261). Herbart zieht also die Beziehung in Betracht, welche die innere Kohärenz bei der Bewertung des Willens betrifft bzw. die Beziehung zwischen dem Willensakt und dem Werturteil. Ihr Zusammenstimmen ist eben die Idee der inneren Freiheit, der innigen und tiefen Einheit der einzelnen Personen mit sich selbst. Dieses Zusammenstimmen ruft unmittelbar Billigung hervor, während im Falle, daß der Wille nicht mit den Forderungen des Werturteils übereinstimmt, sich eine Beziehung einstellt, welche unmittelbar mißfällt. Die zweite praktische Idee ist die »Idee der Vollkommenheit« und sie beschäftigt sich mit den Beziehungen der einzelnen Willensakte untereinander. Die dritte praktische Idee ist die »Idee des Wohlwollens.« Mit dieser Idee befinden wir uns in einer mittleren Stellung zwischen der Betrachtung eines einzelnen Willens und der Beziehung zwischen mehreren Willen. Die Idee des Wohlwollens nämlich setzt einen einzelnen Willen mit einem anderen in Beziehung, insoweit er von jenem vorgestellt wird. Das Wohlwollen besteht somit in der Harmonie des eigenen Willens mit einem anderen, insoweit er vorgestellt wird. Dieses Verhältnis ruft unmittelbar Billigung hervor, während das Gegenteil, d.h. der intentionale Kontrast zwischen zwei Willen mißfällt. Die vierte praktische Idee ist die »Idee des Rechts.« Ein weiteres Mal schwimmt Herbart gegen den Strom, denn er unterscheidet nicht zwischen Moralphilosophie und Philosophie des Rechts; mehr noch, er denkt, daß einige der grundlegenden Fehler der Philosophie des Rechts seiner Zeit eben in dieser Trennung zu suchen seien. Und wir Italiener können davon eine Geschichte erzählen. Das Recht, behauptet Herbart, ist das Zusammenstimmen mehrerer Willen, welches als Regel verstanden wird, um dem Konflikt zuvorzukommen. Die Idee des Rechts hat also die Aufgabe, Kontraste, die zwischen zwei realen, in Beziehung stehenden Willen aufkommen, zu vermeiden oder zu überwinden, wobei beide diese Idee als Einschränkung ihrer Willkür spontan und wie eine Notwendigkeit akzeptieren. Die fünfte und letzte praktische Idee ist die »Idee der Billigkeit.« Wenn in der Idee des Rechts das intentionale Element keine Rolle spielte, so ist es hingegen zentral in der Idee der Billigkeit. Herbart versucht die Notwendigkeit klarzumachen, daß zwischen Schuld und Strafe ein genaues Gleichgewicht herrsche. Durch die fünf praktischen Ideen sind Herbart zufolge alle möglichen Grundverhältnisse zwischen Urteil und Willen nach einer klaren Ordnung bestimmt, die vom Einfachen zum Komplexen aufsteigt. Bisher hat er nur die Verhältnisse des Willens einer und derselben Person oder zwischen einzelnen Personen in Betracht gezogen, doch dies schöpft natürlich die Zahl aller möglichen praktischen Verhältnisse nicht aus. Es müssen nun Strukturen von Verhältnissen zwischen mehreren Willen untersucht werden, zwischen einer unbestimmten Vielheit von vernünftigen Wesen. Dieser Übergang von den einzelnen Individuen zur Gesellschaft hat nach Herbart nicht die Notwendigkeit zur Folge, neue Verhältnisse einzuführen: Alle Grundverhältnisse werden von den ursprünglichen moralischen Ideen ausgeschöpft. Lediglich die Komplexität der Verhältnisse zwischen den verschiedenen Willen ist nun größer, von denen wir annehmen müssen, daß sie sich in einem konstanten Fortschritt hin zu einer immer vollkommeneren Einheit befinden. An diesem Punkt nun führt Herbart die abgeleiteten Ideen ein, die den ursprünglichen Ideen entsprechen – auch sie sind fünf an der Zahl, doch keine Angst, ich habe nicht die Absicht, sie hier aufzuzählen –, auch wenn die von ihm angewandte Darstellung in gewisser Weise der vorhergegangenen gegenüber umgekehrt verfährt. Man muß nämlich bei den letzten beiden Verhältnissen beginnen, welche den anderen gegenüber eine weniger vollkommene Kommunikation zwischen den Willen impliziert, um dann zu einer immer größeren Vollkommenheit emporzusteigen. Was aus der Untersuchung dieses Teils des Herbartschen Werks hervorginge, wäre die Feststellung, daß seine Ethik in einer Philosophie der Gesellschaft mündet. Herbart achtet denn auch immer stark auf die praktische Anwendbarkeit seiner Konzeptionen und ist der Überzeugung, daß eine Theorie der Pflichten einzig in der konkreten Wirklichkeit durchgeführt und auf die Probe gestellt werden könne. Herbarts Ideenlehre ist zum Teil auch scharfen Kritiken unterzogen worden. Schon Hartenstein, einer seiner wichtigsten Schüler, hatte aus der Moral die Idee der Vollkommenheit und die daraus abgeleitete der Kultur ausgeschlossen, weil bei ihnen auf den Grad Bezug genommen wird und das bedeutet auf quantitative Beziehungen ; was Adolf Trendelenburg betrifft, so meinte er, daß alle fünf verworfen werden müßten . Doch auch Paul Natorp wird eine aufmerksame und kritische Analyse der praktischen Ideen Herbarts durchführen . Sicherlich ist dies nicht der richtige Ort, um diese Kritiken im Detail zu untersuchen und um zu bewerten, inwieweit sie zutreffen und noch weniger können wir hier bewerten, ob die praktischen Ideen auch wirklich fünf sein müssen und ob es gerade diese fünf sind. Was mich hier interessiert, ist vielmehr die grundlegende Idee, welche Herbarts Theorie beseelt. Die Idee nämlich, daß unter Beibehaltung des Kantschen Prinzips, daß die ethische Grundlage eine formale zu sein hat, welches, wie wir gesehen haben, auch für Herbart die einzige Garantie für die Allgemeingültigkeit der ethischen Prinzipien darstellt, es trotzdem notwendig sei, typische Prinzipien auszumachen, welche verhindern, daß man sich in der reinen Abstraktion verliere und welche als Model dienen, auf dessen Grundlage die einzelnen Normen und die einzelnen Verhaltensweisen bewertet werden können. Heutzutage sind die Bedingungen wahrscheinlich besser, um befriedigendere Resultate in der Richtung zu erzielen, die von Herbart angezeigt wurde. Die besseren anthropologischen, paleoanthropologischen und ethologischen Kenntnisse, die wir der Epoche gegenüber besitzen, in der Herbart lebte, erlauben es, mit größerer Klarheit das typisch Menschliche jenseits aller geschichtlichen und kulturellen Bedingungen zu bestimmen und es mit mehr Bewußtsein beurteilen zu können. Wir können ja auch gar nicht umhin, vorauszusetzen, daß es Elemente gibt, welche für alle Menschen typisch sind, für den Menschen als homo sapiens. Das Gegenteil vorauszusetzen, nämlich daß die Menschen verschieden sind, hätte von diesem Standpunkt aus (auf welcher Grundlage? Auf der Rasse?) gravierende Folgen. Es wäre leicht nachzuweisen, daß die von mir anfangs zitierten Beispiele in klarem Widerspruch zu Herbarts fünf praktischen Ideen stehen und wahrscheinlich auch zu den Prinzipien, die man mit seiner Methode erarbeiten könnte. Es bleiben natürlich noch viele Probleme offen, die ich hier auch absichtlich aus Gründen der Zeit weglasse. An Stelle all dieser Probleme sei dieses eine genannt: Wie können wir die unmoralischen Verhaltensweisen erklären? Wenn das ethische Urteil unmittelbar Billigung oder Mißbilligung hervorruft, warum verhalten sich die Menschen dann so schlecht? Wenn man Herbarts praktische Philosophie detailliert analysieren würde, dann könnte man entdecken, daß sein Ansatz auch von diesem Gesichtspunkt aus überraschend aktuell und fruchtbar ist. Dies jedoch führte uns zu weit und es ist Zeit, daß ich schließe, denn ich habe Ihre Geduld schon viel zu sehr ausgenutzt.
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Quo vadis, EU? Das Projekt, das zu Anfang für Frieden sorgen sollte, hat inzwischen so manches umgesetzt, was in der Gründungszeit, im Mai 1951, für visionär gehalten wurde. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die zu Beginn aus sechs Staaten (Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien) bestand, entwickelte sich schnell weiter: Von einem Gemeinsamen Markt über weitere Mitgliedsländer bis hin zu einer gemeinsamen Währung transformierte sich die einstige Gemeinschaft zur heutigen Europäischen Union."Spill over"-Effekte sorgten dafür, dass ausgehend vom Gemeinsamen Markt auch gemeinsame Arbeitsbereiche außerhalb der Ökonomie entstanden: Das Wirtschaftsprojekt wurde zunehmend politisch und steht heute zwischen Supranationalismus und Intergouvernementalismus. Die EU, so wird gerne gesagt, ist ein System sui generis, weder ganz internationale Organisation noch ganz Staat. Doch gerade weil die EU in machen Belangen staatliche Züge angenommen hat, stellt sich die Frage, ob ihre demokratische Legitimation ausreicht. Angela Merkel drückte das in einer Regierungserklärung von 2006 folgendermaßen aus:"Kurz gesagt muss man feststellen: Europa steht bei den Europäerinnen und Europäern nicht so hoch im Kurs […]. Wir müssen […] den Stand des Projekts Europa kritisch überprüfen. Wir müssen den Bürger in den Mittelpunkt stellen" (Bundesregierung 2006, S. 3f.).Doch worunter leidet die demokratische Legitimation der EU? Und wie könnte man der Union zu mehr Demokratie verhelfen? Diesen Fragen geht der folgende Beitrag nach. Ausgehend vom Aufbau der EU wird das sogenannte Demokratiedefizit in institutioneller und struktureller Hinsicht erläutert. Abschließend werden mögliche Lösungsvorschläge vorgestellt und Kritikpunkte geäußert.Aufbau der EU und DemokratiedefizitDie Aufbau der Union wird häufig als abstrakt und kompliziert erachtet. Auch die ZDF-Satiresendung Die Anstalt greift den komplexen Aufbau der EU zusammen mit dem Demokratiedefizit in der Sendung vom 06.09.2015 auf. Um auf das Demokratiedefizit aufmerksam zu machen, beginnen die Satiriker Claus von Wagner und Max Uthoff so: Claus von Wagner (C.v.W.): "Die meisten Nutzer [gemeint sind hier die Bürger*innen der Europäischen Union] beschweren sich, dass unser Haus [gemeint ist die Europäische Union] nicht den demokratischen Anforderungen entspricht."Max Uthoff (M.U.): "Diese Leute sind doch gar nicht in der Lage, ein so komplexes Haus wie unseres zu verstehen."C. v. W.: "Aber sie sollen drin wohnen ... wie soll denn das gehen?! Vielleicht können Sie's mir erklären, schau'n Sie mal, wir haben da hinten doch den Grundriss von unserem Hotel [gemeint ist hier abermals die Europäische Union]."M. U.: "Ja ... ja, was suchen Sie denn?"C. v. W.: "Na, die Demokratie!"M. U.: "Ach Demokratie ... Demokratie ... was heißt schon Demokratie?"C. v. W.: "Na, das Regieren des Volkes durch das Volk für das Volk." (von Wagner/Uthoff 2016, 00:00:00 – 00:01:00). Wie Markus Preiß, Leiter des ARD-Studios in Brüssel, in seinem #kurzerklärt-Video erläutert, ist die Europäische Union "demokratisch mit Schönheitsfehlern" (Preiß 2019, 00:02:07-00:02:10) und sicherlich weit weg davon, undemokratisch zu sein. Doch über ihr Demokratiedefizit lässt sich schlecht hinwegsehen. Es fußt im Wesentlichen auf zwei Gründen: "zu wenig Bürgerbeteiligung infolge mangelnder Transparenz und eine[r] unzureichende[n] Legitimation der Institutionen der Europäischen Union" (Bollmohr 2018, S. 73). Doch politische Systeme sind auf Legitimation angewiesen, "um Herrschaft dauerhaft zu sichern" (Abels 2019, S. 2). Um dieses Demokratiedefizit besser verstehen zu können, ist eine Beschreibung des Aufbaus der Europäischen Union und ihrer Institutionen unerlässlich. Autor*innen, die die Europäische Union für demokratisierbar halten, begreifen die EU als als ein politisches System, das durch institutionelle und strukturelle Reformen verändert werden kann (vgl. Schäfer 2006, S. 354). Sie gehen hierbei von einem Demokratieverständnis gemäß der Übersetzung des Wortes Demokratie (= Volksherrschaft) aus. Wie in der Inszenierung der Anstalt angeklungen, wird von einer Auslegung des Wortes ausgegangen, das das Regieren des Volkes durch das Volk für das Volk als Grundlage nimmt und auf eine Aussage von Abraham Lincoln zurückgeht ("government of the people, by the people, for the people"). Die EU hat sieben Organe (vgl. Weidenfeld 2013, S. 116). Den Kern bildet dabei das "institutionelle Dreieck" bzw. nach der Inklusion des Europäischen Rates durch den Vertrag von Lissabon das "institutionelle Viereck", bestehend aus dem Europäischen Rat, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union. Zu den Organen gehört darüber hinaus der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof. Beginnend mit dem Europäischen Parlament werden nachfolgend alle Institutionen nach der Reihenfolge aufgelistet, wie sie im Vertrag von Lissabon stehen, und ihr Demokratie- bzw. Legitimationsdefizit erläutert. Europäisches Parlament In das Bewusstsein der europäischen Bevölkerung kam das Europäische Parlament (EP) erst mit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 (vgl.: ebd.). Damit war "[d]er Schritt hin zu einem von den Bürgern legitimierten europäischen Einigungswerk […] getan" (ebd.). Seither gewann das EP an Befugnissen. So wurde beispielsweise mit dem Vertrag von Maastricht (1992) das Mitentscheidungsverfahren eingeführt, "welches das Parlament dem Rat im Gesetzgebungsprozess gleichstellt" (ebd.). Wahlen für das Europäische Parlament finden alle fünf Jahre statt (vgl.: Weidenfeld 2006, S. 65). Insbesondere hinsichtlich des Demokratiedefizits ist es wichtig festzuhalten, dass das EP die einzig direkt gewählte Institution der Europäischen Union darstellt. Als solche stellt sie "die unmittelbare Vertretung der Unionsbürger auf der europäischen Ebene dar" (Weidenfeld 2013, S. 116). Dabei werden die Sitze "degressiv-proportional" verteilt (ebd., S. 117). Dies führt allerdings dazu, dass "ein deutscher Abgeordneter mehr als 13 Mal so viele Bürger vertritt wie ein Parlamentsmitglied aus Luxemburg oder Malta" (ebd.). Von einer gleichen Wahl, wie es das Grundgesetz in der Bundesrepublik Deutschland für die Bundestagswahlen vorgibt, kann nicht gesprochen werden. Die Funktionen und Aufgaben des EP sind vielfältig. Es "fungiert zusammen mit dem Ministerrat der Union als Gesetzgeber" (ebd.) und stellt mit ihm die Haushaltsbehörde dar (vgl. ebd.). Gleichzeitig "kontrolliert [es] die Arbeit der Kommission" (ebd.). Generell kann von fünf Funktionen des EP gesprochen werden: Systemgestaltungsfunktion, Politikgestaltungsfunktion, Wahlfunktion, Kontrollfunktion und Repräsentations- bzw. Artikulationsfunktion (vgl.: ebd., S. 121ff.). Mit der Systemgestaltungsfunktion hat das Europäische Parlament einen, wenn auch geringen, Spielraum zur "konstitutionellen Weiterentwicklung des EU-Systems" (ebd., S. 121). Beispielsweise darf das Parlament "Entwürfe zur Änderung der Verträge [vorlegen]" (ebd.). Außerdem kann eine Erweiterung der Europäischen Union nur mit Zustimmung der Parlaments durchgeführt werden. Die Politikgestaltungsfunktion bezeichnet die Möglichkeit des EP, die Kommission auffordern zu können, eine Gesetzesinitiative zu starten (= indirektes Initiativrecht). Die Kommission muss dieser Bitte innerhalb von drei Monaten nachkommen oder andernfalls ihr Verhalten wohlbegründet erläutern. Das indirekte Initiativrecht teilt sich das EP mit dem Rat. Ebenso teilen sich beide Organe das Haushaltsrecht, wobei das EP in diesem Belang, zumindest auf Ausgabenseite, das letzte Wort behält (vgl.: ebd., S. 122). Die Wahlfunktion wird durch die Wahl des Kommissionpräsidenten erfüllt, der vom Europäischen Rat vorgeschlagen wird. Das EP ist auch an der Bestellung der Kommission beteiligt und muss der Zusammensetzung zustimmen. Die Repräsentations- und Artikulationsfunktion des Europäischen Parlaments wird kritisch gesehen. Aufgrund einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit kann eine Repräsentation der europäischen Bürger*innen nicht in dem Maße stattfinden, wie es in nationalstaatlichen Parlamenten der Fall ist. Das Europäische Parlament arbeitet in Fraktionen, die sich nach der politischen Ausrichtung organisieren und sich aus den Mitgliedern des EP aus den verschiedenen Mitgliedsstaaten zusammensetzen. Im Gegensatz zu nationalen Parlamenten gibt es kein "Regierungs-Oppositions-Schema" (vgl.: ebd., S. 124) und es wird mit Ad-hoc-Mehrheiten gearbeitet. Wie Weidenfeld (2013) klarstellt, bietet diese Herangehensweise "immer wieder neue Möglichkeiten zur persönlichen Einflussnahme […]; [allerdings wird es] für die Öffentlichkeit […] dadurch schwierig, politische Verantwortung zuzuordnen" (ebd.). Auch wenn sich das EP durch verschiedene Vertragsreformen immer weiter an die "Rolle nationaler Parlamente angenähert" (ebd., S. 121) hat, besitzt es nicht alle Funktionen der Parlamente der Mitgliedsstaaten. Bezogen auf das EP werden "drei wesentliche Legitimationsmängel" (Bollmohr 2018, S. 99) aufgezeigt. Einer der Mängel ist der Wahlmodus, denn statt eines "kodifizierten Wahlrechts […] gelten nationale Wahlgesetze mit zum Teil erheblichen Unterschieden" (ebd., S. 86). Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach der degressiven Proportionalität verstärkt die Ungleichheit der Wähler*innenstimmen bei der Europawahl. Zu erwähnen ist hierbei auch, dass es zur Europawahl, anders als bei nationalen Wahlen, kaum einen erkennbaren Wahlkampf gibt. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass es keine europäischen Parteien und deshalb kein parteienspezifisches Wahl- bzw. Parteiprogramm und kaum europäische Themen gibt (vgl.: ebd., S. 86f.). Auswirkungen hat das auf die Arbeitsweise des Europäischen Parlaments. Ohne Parteiprogramm können Mitglieder der Fraktionen lediglich fallbezogen "über Vorgänge beraten und abstimmen, die von der Europäischen Kommission vorgegeben werden", was den Prozess "unvorhersehbar" macht (ebd., S: 87). Ein weiterer Mangel ist die eingeschränkte Gesetzgebungsfunktion. Die Rechtsetzungsverfahren werden, trotz Aufwertung des EP, von den Räten dominiert (vgl.: ebd.). Wie Bollmohr (2018) auf Seite 99 feststellt, ist die Beteiligung an der Gesetzgebung mit unter zehn Prozent noch "zu gering". Zusätzlich wird der fehlende Austausch zwischen Unionsbürger*innen und den Abgeordneten des EP als Mangel gesehen. Das einzige von den Unionsbürgern direkt gewählte Organ hat zwar in den letzten Jahrzehnten an Kompetenzen gewonnen, ist aber in wichtigen Bereichen (Außenpolitik, Steuerpolitik) nach wie vor nicht gleichberechtigt mit den nationalen Regierungen im Rat. Europäischer Rat Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EU und entscheidet im Konsens. Er nimmt formal nicht am Gesetzgebungsprozess teil, sondern hat eine gewichtige Rolle bei der "Systemgestaltung und bei der Besetzung von Schlüsselpositionen" (Weidenfeld 2013, S. 127). Der Europäische Rat hat drei zentrale Funktionen: Lenkungsfunktion, Wahlfunktion und Systemgestaltungsfunktion. Die Lenkungsfunktion erlaubt es dem Europäischen Rat, allgemeine Leitlinien für die Politik der EU, vornehmlich für die Außenpolitik, zu erlassen. Er wählt mit dem Präsidenten des Europäischen Rats und dem Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik die zwei wichtigsten "Vertreter der EU-Außenpolitik" (ebd.). Darüber hinaus nimmt er eine "Schlüsselstellung" in der Systemgestaltung ein (ebd.). Schließlich sind die Mitgliedsstaaten die Herren der Verträge und sie entscheiden, welche Kompetenzen sie an die europäische Ebene abgeben. Rat der EU/Ministerrat"Der Rat [der EU] besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, verbindlich für die Regierung zu handeln" (ebd., S. 129). Er ist nach Fachgebiet in Fachministerräte unterteilt. Zunehmend entscheidet der Rat mit Mehrheit. Halbjährlich wechselt die Präsidentschaft des Rates (vom 01.01.2023-30.06.2023 hat beispielsweise Schweden die Ratspräsidentschaft inne). Der Rat besitzt zentrale Befugnisse in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Daneben ist seine Legislativ- und Exekutivfunktion entscheidend. Inzwischen teilt sich der Rat die Legislativfunktion, genauso wie das Haushaltsrecht, mit dem Europäischen Parlament. Beide Organe besitzen überdies das Recht, auf die Kommission zuzugehen und einen Gesetzentwurf vorzuschlagen. Die Exekutivfunktion nimmt der Rat wahr, "indem er Vorschriften zur Durchführung von Rechtsakten erlässt, die Durchführung selbst ausführt oder sie an die Kommission delegiert" (ebd., S. 132). Der Rat übernimmt gegenüber der Kommission darüber hinaus eine Kontrollfunktion.Die Räte, also der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union, beziehen ihre Legitimation durch die Nationalstaaten. Daraus entsteht dennoch ein Legitimationsmangel bzw. ein Demokratiedefizit, weil der Ministerrat maßgeblich am Gesetzgebungsverfahren in der EU beteiligt, aber nicht auf EU-Ebene legitimiert ist (vgl.: Bollmohr 2018, S. 99). Zusätzlich hält Bollmohr (2018) fest, dass der Rat (der EU) "zwar von den nationalen Parlamenten beeinflusst wird, aber da die qualitative Mehrheit im Rat auch Abstimmungsniederlagen für einzelne Länder nach sich ziehen kann, sind die Möglichkeiten der Parlamente begrenzt" (ebd.). KommissionWie Weidenfeld (2013) auf Seite 135 schreibt, ist die Kommission "vertragsrechtlich auf das allgemeine EU-Interesse verpflichtet und soll unabhängig von den nationalen Regierungen handeln". Während der Europäische Rat das prototypische intergouvernementale Organ darstellt, ist die Kommission die klassische supranationale Institution in der Europäischen Union. Das Kollegium, aus dem sich die Kommission zusammensetzt, besteht aus einem Kommissar pro Mitgliedsland. Es wird "in einem Zusammenspiel zwischen den Staats- und Regierungschefs und dem EP [bestimmt]" (ebd., S. 137). Der/die Kommissionspräsident*in und der Verwaltungsapparat ergänzen die Kommission. Der Europäische Rat schlägt ein*e Kandidat*in für das Amt der/des Kommissionpräsident*in vor, welche*r sich dann einer Wahl im EP unterziehen muss. Bei Ablehnung unterbreitet der Rat einen neuen Vorschlag, bei Annahme schlagen die Staats- und Regierungschefs mit dem/der Präsident*in die weiteren Kommissionsmitglieder vor, die ebenso der Zustimmung des Parlaments bedürfen. Eine Amtsperiode der/des Präsident*in dauert fünf Jahre. Außerdem hat das EP die Befugnis, die Kommission durch ein Misstrauensvotum ihres Amtes zu entheben. Hierfür ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Die Kommission hat vier wichtige Funktionen: Sie fungiert sowohl als Exekutive als auch als Außenvertretung und hat die Legislativ- und Kontrollfunktion inne. Als Exekutive ist die Kommission für die Durchführung von Rechtsakten und die "Umsetzung und Verwaltung der Unionspolitiken verantwortlich, die vom Parlament und vom Rat verabschiedet wurden" (ebd., S. 138). Die Ausführung des vom Europäischen Parlament beschlossenen Haushalts gehört ebenso zu den exekutiven Aufgaben der Kommission. Die Legislativfunktion umfasst das Initiativmonopol. Die Kommission darf als einzige EU-Institution Gesetzesvorschläge einbringen. Sie ist "agenda-setter" (ebd., S. 139) und kann die EU-Integration vorantreiben. Als Hüterin der Verträge ist die Kommission für die Einhaltung des Unionsrechts verantwortlich und kann, bei Verletzung des Unionsrechts, ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. Sie vertritt überdies die vergemeinschaftete Handels- und Entwicklungspolitik nach außen und nimmt "im Namen der EU an den Verhandlungen im Rahmen der WTO teil" (vgl.: ebd., S. 140). Die Mängel der Legitimation der Europäischen Kommission zeigen sich bei der Wahl der Mitglieder und der/des Präsident*in. Kandidat*innen werden von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament bestätigt. Dies ist in den Verträgen zwar so festgehalten, "aber der Legitimationsglaube in die wichtigste Institution der EU ist gering" (Bollmohr 2018, S. 99). Schließlich ist "das EP durch das bestehende Wahlverfahren nur bedingt als legitimiert [anzusehen] […] und der Europäische Rat durch die Nationalparlamente nicht im Eigentlichen für EU-Fragen legitimiert" (ebd., S. 80). Zudem stellt die Kommission eine Art Exekutive, also Regierung dar. Diese ist momentan weder wähl- noch abwählbar. Doch genau das, eine wähl- und abwählbare Regierung, zeichnet eine Demokratie aus, weswegen das Demokratiedefizit der EU an dieser Stelle besonders zum Vorschein kommt. EuGH, Europäische Zentralbank und RechnungshofDer Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg ist verantwortlich für die Wahrung und die Einheitlichkeit des Unionsrechts. Er wird dann aktiv, wenn eine Klage oder eine Anfrage vorliegt und agiert deshalb reaktiv. Gleichzeitig stellt er – wie die Kommission – ein supranationales Organ dar. Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedsstaat, die von "den nationalen Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt [werden]" (Weidenfeld 2013, S. 143). Das Europäische Parlament spielt bei der Ernennung der Richter keine Rolle, was den Gerichtshof von anderen obersten Gerichten, wie dem Supreme Court oder dem Bundesverfassungsgericht, unterscheidet. Zusätzlich unterscheidet ihn vom höchsten Gericht der Bundesrepublik Deutschland, dass eine Wiederwahl der Richter möglich ist. Der Europäische Gerichtshof hat die Befugnis, gegenüber den Mitgliedsstaaten "bindende Urteile [zu] sprechen" (ebd., S. 143). Das hat zur Folge, dass seine Entscheidungen die Bevölkerung der EU direkt betreffen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurden seine Kompetenzen von der supranationalen Säule zudem auf die Innen- und Justizpolitik erweitert (vgl.: ebd.). Entscheidungen fallen meist einvernehmlich oder per einfacher Mehrheit. Der Gerichtshof hat "in der Geschichte der Integration immer wieder eine Motorrolle übernommen" (ebd., S. 145). Seine Urteile fallen überwiegend integrationsfreundlich aus (in dubio pro communitate – (ugf.) im Zweifel für die Europäische Union). Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main wurde 1998 mit der Einführung der gemeinsamen Währung eingerichtet. Sie ist für die Geldpolitik der EU verantwortlich und hat als Organ einen supranationalen Charakter. In ihrer Arbeitsweise ist sie von anderen EU-Organen und von den Mitgliedsstaaten unabhängig. Bei der Währungspolitik arbeitet die EZB mit nationalen Zentralbanken zusammen. Ihr vorrangiges Ziel ist es, Preisstabilität zu sichern. Darüber hinaus unterstützt sie die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. Der Vertrag von Maastricht (1992) hob den Rechnungshof zu einem Organ an. Seine Aufgabe ist die Rechnungsprüfung der EU, was alle Einnahmen und Ausgaben betrifft. Er besteht aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedsstaat, welche vom Rat ernannt werden. Hierbei verfügt das Europäische Parlament über ein Anhörungsrecht. Alle drei Organe, der EuGH, die Zentralbank und der Rechnungshof, werden nicht gewählt, sind aber dennoch in besonderem Maße am Integrationsprozess beteiligt. Dieser Umstand ist keine Besonderheit der EU, sondern auch in Nationalstaaten üblich. Dennoch gibt es Kritik und Reformvorschläge. Die Wiederwahl der Richter am EuGH gilt als besonders problematisch. Ebenso gibt es Forderungen nach mehr Transparenz in allen drei Organen.Die bisher genannten Defizite beziehen sich auf die Institutionen der Europäischen Union und werden deswegen institutionelle Defizite genannt. Daneben gibt es das strukturelle Demokratiedefizit, das die nach wie vor fehlende Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft beschreibt, in der sich eine kollektive Identität herausbildet, etabliert und tradiert (vgl. Graf Kielmannsegg 2003, S. 57ff.). Oder einfacher ausgedrückt: Es mangelt an einer "Wir-Identität", denn es fehlt eine gemeinsame Sprache, es gibt kein gemeinsames Politikverständnis und kein einheitliches Rechtssystem (vgl. Bollmohr 2018, S. 74). Schließlich schafft ein auf Effizienz ausgelegter Gemeinsamer Markt noch keine Demokratie, geschweige denn einen gemeinsamen Demos. Darauf ist der Markt auch gar nicht angewiesen. Das strukturelle Demokratiedefizit macht sich beispielsweise bei den Europawahlen durch eine geringe Wahlbeteiligung bemerkbar (im Jahr 2009 lag die Wahlbeteiligung bei gerade mal 43%, vgl.: Decker 2017, S. 166). Diese Defizite sind nicht neu und seit der zunehmenden Politisierung der Europäischen Union bekannt. Seit Ende der 1980er Jahre ist man auf EU-Ebene bemüht, sie zu beheben (vgl.: Bollmohr 2018, S. 71). Doch wie könnten weitere Schritte in Richtung weniger Demokratiedefizit in einem "Mehrebenensystem ohne einheitlichen Demos […], ohne einheitliche Regierung […] und ohne nennenswerte intermediäre Strukturen" (ebd., S. 73) aussehen? Nachfolgend werden exemplarisch Lösungsvorschläge für das institutionelle und strukturelle Demokratiedefizit vorgestellt. Sie erheben nicht den Anspruch, die Gesamtheit aller Lösungsvorschläge abzudecken. Potenzielle Lösungsansätze für das institutionelle und strukturelle Demokratiedefizit der EUInstitutionelles DemokratiedefizitIn ihrem Beitrag "Neue Governance-Formen als Erweiterung der europäischen Demokratie" (2017) nennt Gesine Schwan eine bessere Zusammenarbeit von europäischen und nationalen Parlamentariern als Stellschraube für mehr demokratische Teilhabe. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen "renationalisierender" und "supranationaler" europäischer Integration hätte einige Vorteile. Beispielsweise bewirke diese "verschränkte Parlamentarisierung" (S. 158), wie sie diese Form der Zusammenarbeit nennt, eine bessere Verständigung über die Perspektiven von nationalen und europäischen Abgeordneten. Außerdem führe der intensivere Austausch zu einer früheren Information der nationalen Parlamentarier über Debatten und Entscheidungen im Europäischen Parlament. Dies hat folgende, demokratiefördernde Konsequenzen: Einerseits gebe es dadurch eine breitere öffentliche Diskussion und eine daraus resultierende Legitimation. Andererseits eine verstärkte parlamentarische Kontrolle. Einen Einbezug von Wissenschaft und Medien hält Schwan für geboten. Zusätzlich fördere dies die grenzüberschreitende Kommunikation und Kooperation. Nach wie vor, bemängelt Schwan, existiere ein Mangel an intermediären Vermittlerstrukturen in der Europäischen Union, was beispielsweise Medien, Parteien und Verbände betrifft. Etwas konkreter wird Frank Decker in seinem Beitrag "Weniger Konsens, mehr Wettbewerb: Ansatzpunkte einer institutionellen Reform" (2017). Er benennt die seiner Meinung nach drei wichtigsten "demokratischen Stellschrauben" (S. 167), um das institutionelle Demokratiedefizit zu beheben. Er sieht im einheitlichen Wahlrecht, in der Wahl des Kommissionspräsidenten und der Bestellung der Gesamtkommission Potenziale, um die Europäische Union institutionell zu legitimieren.Decker moniert, dass gemäß dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, Art. 223 Abs. 1) ein einheitliches Wahlrecht längst hätte erfüllt sein müssen (vgl. Decker 2017, S. 168). Nun gebe es die "paradoxe Situation" (ebd.), dass europäische Parteien zwar den Parlamentsbetrieb bestimmen, bei den Europawahlen aber nach wie vor nur die nationalen Parteien kandidieren (vgl.: ebd.). Eine Aufhebung dieser Tatsache sieht Decker in einer "Einführung eines europaweiten Verhältniswahlsystems mit moderater Sperrklausel" (ebd.). Diese wäre ein starker Anreiz dafür, sich als Parteien zusammenzuschließen, was einerseits der Fragmentierung im Europäischen Parlament entgegenwirken würde und andererseits förderlich für die Arbeitsfähigkeit des EP wäre. Diese Regelung würde zudem zu einer Vereinheitlichung des Wahlsystems innerhalb der Europäischen Union beitragen. Die Mitgliedsstaaten dürften weiterhin selbst entscheiden, wie das Wahlrecht genau geregelt ist und wie die Wahl durchgeführt wird. Unbedingt geboten sei hingegen eine Wahlpflicht oder alternativ eine Verteilung der Sitze nach der Wahlbeteiligung. So würde ein Anreiz für eine hohe Teilnahme geschaffen werden und die Wahlen für das EP könnten ihre Bewertung als Nebenwahl ein wenig verlieren. Jede*r EU-Bürger*in hätte nach wie vor eine Stimme, die er/sie bei der Verhältniswahl mit "starren Listen" vergeben darf (ebd., S. 170). Auf diese Weise, schlussfolgert Decker, könnte mit der heutigen Diskrepanz zwischen Parteiensystem auf der parlamentarischen und elektoralen Ebene gebrochen werden (vgl.: ebd.). Die Wahl der/des Kommissionspräsident*in ist eine weitere Stellschraube, mit der man Decker zufolge das institutionelle Demokratiedefizit der EU schmälern kann. Für zentral hält er die Frage nach dem Verhältnis zwischen Parlament und Regierung. Decker schlägt an dieser Stelle das präsidentielle System vor, mit der Begründung, dass die Bürger*innen selbst die Chance hätten, ihre*n Präsident*in direkt zu wählen. Ob der/die Kommissionspräsident*in mit relativer oder absoluter Mehrheit gewählt wird, müsste geklärt werden. Die Wahl des/der Kommissionspräsident*in auf diese Art zu verändern, würde zum einen dafür sorgen, dass "[d]ie europäische Politik […] endlich ein Gesicht [bekäme]" (ebd., S. 174). Zum anderen würde diese Änderung dazu führen, dass die EU eine wählbare Exekutive hätte, was einer Regierung im nationalstaatlichen Sinn gleichkäme. Ebenso sieht Decker die Bestellung der Kommissare kritisch. Momentan ist das Gremium durch den gleichberechtigten Vertretungsanspruch aller Mitgliedsstaaten zu groß, was negative Auswirkungen auf die Arbeitsweise hat (vgl.: ebd., S. 175). Daneben kann der/die Kommissionspräsident*in kaum Einfluss auf die Auswahl der Kommissare nehmen, was zur Folge hat, dass "[d]ie Zusammensetzung der Kommission […] insofern eher die nationalen Wahlergebnisse [reflektiert] als das Ergebnis der Europawahlen" (ebd.). Deswegen schlägt Decker vor, dem/der direkt gewählten Kommissionspräsident*in das Recht zu erteilen, die Kommissare selbst zu ernennen. Alternativ könnten die Wähler*innen befugt werden, neben dem/der Präsident*in noch die Kommissar*innen zu wählen (vgl.: ebd., S. 176). Dies, so Decker, würde die Kommission nicht nur weiter demokratisch aufwerten, sondern wäre auch ein Beitrag zur Europäisierung der Europawahlen. Antoine Vauchez geht in seinem Beitrag "Die Regierung der 'Unabhängigen': Überlegungen zur Demokratisierung der EU" (2017) auf die mangelnde Transparenz mancher Institutionen der Europäischen Union ein. Er merkt bezüglich der Demokratisierung an:"Um die Stellung dieser Institutionen [gemeint sind hier Kommission, Zentralbank und EuGH, Anm. A.B.] im politischen Prozess neu zu justieren, muss man an den drei Säulen rütteln, auf denen ihre Autorität in der europäischen Politik bislang beruhte: der vollständigen Souveränität in der Auslegung ihres Mandats, dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität in ihren Diagnosen und Urteilen und einem bestimmten Verständnis von Unabhängigkeit als Abgrenzung von den vorhandenen politischen und sozialen Interessen. Diese Trias bildet eine Blockade, die zu durchbrechen jede Demokratisierungsstrategie bemüht sein muss" (Vauchez 2017, S. 187f.). Vauchez prangert Kommission, EuGH und EZB als "Mysterien des Staates" (ebd., S. 188) an. Beispielsweise mische sich die EZB inzwischen in Bereiche wie "das Rentensystem, die Lohnpolitik, das Arbeitsrecht und die Organisation des Staatswesens" ein (ebd.). Ähnliches gilt für den Europäischen Gerichtshof. In diesen Institutionen liege damit auch Regierungsgewalt. Deren Mandate sollten politisch erweitert werden, um dem Demokratiedefizit entgegenzuwirken. Antoine Vauchez vertritt deswegen die Ansicht, dass Themen, die in diesen Institutionen behandelt werden, "das Produkt öffentlicher Debatten und Auseinandersetzungen […] in einer Vielzahl nationaler und transnationaler Arenen [sein sollten]" (ebd.). Er nennt als Beispiel das Europäische Parlament, schließt aber andere politische Mittel, um EuGH und EZB zu überprüfen, wie beispielsweise das Frühwarnsystem, das mit dem Lissabonner Vertrag eingeführt wurde, nicht aus. Hierbei können "[e]ine Mindestzahl von einem Drittel der nationalen Parlamente […] den Entwurf eines Gesetzgebungsaktes vor die Kommission bringen, wenn er die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit missachtet" (ebd., S. 189). Die Kommission sollte die Möglichkeit haben, Entscheidungen von EZB und EuGH für nichtig erklären zu können, sollten "diese den von der Union zu vertretenden 'Werten, Zielen und Interessen' [entgegenstehen]" (ebd.).Um der Intransparenz der Arbeitsweise dieser EU-Institutionen entgegenzuwirken, schlägt Vauchez zudem vor, der Öffentlichkeit Zugang zu Archiven, Daten, vorbereitenden Dokumenten und Beratungsprotokollen zu verschaffen. Auch hier hält er die Schaffung eines öffentlichen Forums für Dissens und Diskussion für notwendig (vgl.: ebd., S. 190). Abschließend hält es Vauchez für geboten, den repräsentativen Charakter der 'unabhängigen' Institutionen zu stärken. Damit meint er nicht nur die Repräsentanz aller Mitgliedsstaaten, sondern auch die Abbildung der Komplexität und Vielfalt der Bürger*innen der Europäischen Union in den Gremien und Ausschüssen der Institutionen. So, schlussfolgert Vauchez, stelle "man letztlich die Fähigkeit unter Beweis, ein europäisches Allgemeininteresse zu verkörpern" (ebd., S. 191). Institutionelle Reformen, wie sie hier gefordert werden, sind prinzipiell möglich. Doch kann mit ihnen allein das strukturelle Demokratiedefizit nicht behoben werden (vgl. Bartolini 2000, S. 156, zitiert nach: Schäfer 2006, S. 356). Strukturelles Demokratiedefizit Das strukturelle Demokratiedefizit beruht darauf, dass es kein europäisches Wir-Gefühl bzw. kein europäisches Volk im Sinne eines Staatsvolkes gibt. Dabei verfolgt die EU bereits seit geraumer Zeit eine Politik, die identitätsstiftend sein soll (vgl.: Thalmaier 2006, S. 4). Seit den 1970er Jahren haben Parlament und Kommission versucht, die EU-Bürgerschaft voranzutreiben und die europäischen Bürger*innen an europäische Themen heranzuführen (vgl.: Wiener 2006, S. 8). Diese Politik hat bisher jedoch nicht zu einem 'Wir-Gefühl' geführt (vgl.: ebd.). Doch möchte die EU ihr strukturelles Demokratiedefizit schmälern, ist sie auf ebenjenes 'Wir-Gefühl' angewiesen, denn eine Unterstützung wird von den Bürger*innen für die Europäische Union unbedingt gebraucht. Thalmaier (2006) unterscheidet hierbei zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung. Während Bürger*innen ein politisches System spezifisch unterstützen, wenn es Ergebnisse hervorbringt, die den Interessen der Bürger*innen entsprechen, beschreibt die diffuse Unterstützung ein Vertrauen und eine Identifikation mit einem System, auch wenn die eigenen Interessen nicht immer durchgesetzt werden (vgl.: ebd., S. 6). Auf dieses grundsätzliche Vertrauen in das Handeln der Institutionen ist die Europäische Union als politisches System angewiesen. Eine kollektive Identität, die jedoch nicht mit einer nationalen Identität vergleichbar sein soll, ist dabei unerlässlich. Die Behebung des Öffentlichkeitsdefizit ist bei der Herausbildung einer kollektiven Identität erforderlich. Thalmaier schreibt deswegen, dass die "Ausbildung einer europäischen Identität […] entscheidend von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit [abhängt]" (ebd., S. 10). Zu lange habe es eine mangelnde Dynamik in der europapolitischen Kommunikation gegeben. Eine "stärkere Politisierung europäischer Politik" ist geboten, um eine europäische Öffentlichkeit überhaupt herauszubilden (ebd., S. 12). Daneben soll die Identitätserweiterung für eine kollektive Identität sorgen. Sie soll nach Thalmaier über die Schließung von Wissensdefiziten und -lücken über die Europäische Union erreicht werden. Der Schule kommt hier eine tragende Rolle zu. Deren Lehrpläne sollen angepasst und europäisiert werden, sodass die Bildungsinhalte in Fremdsprachen oder auch in sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern die europäische Ebene beleuchten. Dadurch soll zusätzlich die Relevanz der Europäischen Union vermittelt werden. Das minimiere die Fremdheit der EU (vgl.: ebd., S. 10) und könne identitätsstiftend wirken. Schließlich, so Thalmaier, erreiche man eine Reduzierung des strukturellen Demokratiedefizits nicht ohne eine Schaffung von mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger*innen bei Themen, die die Politik der EU betreffen. Neben institutionellen Reformen, die in diesem Beitrag bereits thematisiert wurden, spricht sich Thalmaier für europaweite Referenden aus, beispielsweise bei Angelegenheiten, die das Primärrecht oder EU-Beitritte betreffen. Dazu gehöre ein intensiver Austausch mit den Bürger*innen der Europäischen Union. Bereits im Weißbuch der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006 ist ein Austausch und Dialog in der Dienstleistungsrichtlinie festgeschrieben. Bisher wird sie jedoch wenig genutzt. Thalmaier schlägt deswegen vor, enger in den Austausch mit den EU-Bürger*innen zu gehen. Eine Begründung jedes Projekts in einem öffentlichen Interaktionsprozess sei geboten, genauso sollte um Zustimmung für jede politische Neuerung auf EU-Ebene gerungen werden. Neue Wege der Kommunikation und des Dialogs mit Bürger*innen seien dabei zentral. Mehr Interaktion und Kommunikation schlägt auch Antje Wiener in ihrem Artikel "Bürgerschaft jenseits des Staates" (2006) vor, um die EU-Identität zu stärken und das strukturelle Demokratiedefizit zu mindern. Insbesondere die "Kommunikation über europäische Rechte innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten sowie intra- oder transeuropäisch in den entsprechenden institutionellen beziehungsweise medialen Kontexten, kurz jede Art von öffentlicher Diskussion zum Thema Rechte" (ebd., S. 11), trage dazu bei und mobilisiere auch das "Interesse am europäischen Projekt" (ebd.). Interaktion mit Institutionen, (EU-)Politiker*innen und Mitbürger*innen hätten das Potenzial, zu mehr "Staats- und Gemeinschaftsbildung" (ebd.) zu führen und die Bürger*innen enger an die EU zu binden. Durch Teilhabe und Teilnahme "im öffentlichen Diskurs soll eine zivile republikanische Identität geschaffen werden" (ebd.).Ähnliches fordert Ulrike Guérot, wenn es um die "Ausgestaltung einer europäischen Demokratie geht" (2018, S. 71). Damit "Europa" (ebd., S. 76) entstehe, brauche es Gemeinsames in der Europäischen Union über einheitliche bürgerliche und soziale Rechte. Sie argumentiert: "Es ist die Konvergenz von Recht, die Gemeinsamkeit entstehen lässt. In diesem Fall von Wahlrecht, Steuerrecht und sozialen Anspruchsrechten" (ebd.). Einigkeit und Einheitlichkeit seien auf dem europäischen Markt gegeben, bei den Bürger*innen sei Europa ihrer Ansicht nach aber noch zu fragmentiert. Solle sich daran etwas ändern, müsse mehr Gleichheit geschaffen werden, was am ehesten durch gemeinsame Rechte und Gesetze passiere. Guérot spricht hierbei von einem "Paradigmenwechsel" (ebd., S. 75) hin zu mehr Demokratie. Denn sollte einheitliches europäisches Recht eingeführt werden, wende man sich hin zu einer "Europäischen Republik, bei der die Souveränität bei den Bürger*innen Europas liegt […]" (ebd.). Kritik an diesen Ansätzen einer Demokratisierung der EU Kritiker*innen dieser Vorschläge sehen in einer "politisierte[n] EU eine Lähmung" der Europäischen Union (Schäfer 2006, S. 357). Für sie stellt die EU einen starren Verwaltungsapparat dar, "[e]ine Bürokratie, die sachlich und zielgerichtet arbeitet [und die] vom politischen Tagesgeschäft abgeschottet werden [muss]" (ebd.; Føllesdal/Hix, 2006, S. 538). Kritiker*innen sehen das Problem nicht in einem fehlenden Demos oder mangelnder Beteiligung der Bürger*innen, sondern in "vielfältigen Blockaden" (Schäfer 2006, S. 357) bei der Entscheidungsfindung und -durchsetzung. Ihrer Ansicht nach müsse die Europäische Union effizienter sein, um an Legitimität zu gewinnen, was nicht durch eine Demokratisierung erreicht werden könne (vgl.: ebd.). Schließlich müsse das Gemeinwohl über den Partikularinteressen der aktuellen Regierungen stehen. Für diejenigen, die einer Demokratisierung skeptisch gegenüberstehen, ist die Europäische Union bereits jetzt eine "aufgeklärte Bürokratie, die im Interesse der Bevölkerung entscheidet" (ebd./vgl.: Føllesdal/Hix, 2006, S. 546). Eine Demokratisierung bzw. "Politisierung der Europäischen Union liefe ihrem Aufgabenprofil zuwider" (Schäfer 2006, S. 357). Ebenso merken Kritiker*innen an, dass Macht in der EU geteilt werde und Entscheidungen durch Verhandlungen und nicht durch "Hierarchie" zustande kämen (vgl.: ebd., S. 360). Würde Macht in einem so fragmentierten Raum wie Europa zentralisiert, müsse das "für Minderheiten bedrohlich wirken" (ebd.). Zudem gründe der Erfolg des Konkordanzsystems der EU auf dem "Verzicht auf partizipatorische Entscheidungsverfahren" (ebd.). Gerade das Demokratiedefizit, so die Kritiker*innen, sei deshalb der wesentliche Faktor für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Fazit und Ausblick Das sogenannte Demokratiedefizit existiert in institutioneller und struktureller Form. Das Problem ist dabei nicht unbekannt und es wird auf EU-Ebene durchaus versucht, es zu beheben. Reformvorschläge, beispielsweise von führenden Politikwissenschaftler*innen, gibt es zuhauf. Institutionell wird vorgeschlagen, dass sich verschiedene Organe der EU durch demokratische Wahlen legitimieren. Bei den Lösungsvorschlägen wird hierbei häufig auf die Kommission und die Wahl der/des Präsident*in und die Bestimmung der Beamten eingegangen. Eine (direkte) Wahl der/des Präsident*in und gegebenenfalls der Beamten würde das Interesse an der Europäischen Union stärken und das Demokratiedefizit schmälern. Andere Organe, wie beispielsweise der EuGH und die EZB sollten in ihrer Arbeitsweise transparenter werden, indem sie ihre Vorhaben/Gesetzesinitiativen vorab bekanntgeben, sodass sie in öffentlichen Debatten diskutiert werden können. Ein weniger auf konkrete Organe zugeschnittener Vorschlag ist ein engerer Austausch zwischen nationalen Parlamenten und dem EP. Um das strukturelle Demokratiedefizit zu beheben, ist eine europäische Öffentlichkeit, bzw. deren Herausbildung, von besonderer Bedeutung. Stellschrauben sind hier ein intensiver Austausch mit den EU-Bürger*innen und europaweite Referenden. Eine andere wäre die Europäisierung des Schulcurriculums. Damit könnte die Bedeutung der EU vermittelt und Wissenslücken über sie geschlossen werden. Tiefgreifender sind Forderungen nach gleichen Rechten und Pflichten für EU-Bürger*innen in allen Mitgliedsstaaten. Dies würde sicherlich zu einer höheren Identifikation mit der EU und den Mitbürger*innen führen – und somit zu einem Abbau des strukturellen Demokratiedefizits –, bräuchte jedoch weitreichende institutionelle Veränderungen und somit die Zustimmung der Mitgliedsstaaten zu einer EU in supranationalem Gewand.Kritiker*innen einer Demokratisierung der EU stellen sich deswegen die Frage, ob die EU überhaupt einen Demokratisierungsprozess durchlaufen soll. Für sie ist die Union bereits jetzt eine demokratisch legitimierte Gemeinschaft, die effizient und zielgerichtet arbeitet. Eine Demokratisierung, so die Kritiker*innen, laufe dem Aufgabenprofil der "aufgeklärten Bürokratie" (Føllesdal/Hix, 2006, S. 546) zuwider und ist zwecks Effizienzmangel deshalb gar nicht wünschenswert. Die Europäische Union steht vor einem Dilemma: Einerseits fehlt ihr demokratische Legitimität, wie sie in Nationalstaaten vorhanden ist, beispielsweise durch eine wähl- und abwählbare Regierung, gleiche Wahlen mit bedeutendem, europäischem Wahlkampf und Transparenz. Andererseits ist sie, qua Ursprung, eine effiziente Bürokratie, die dem Ziel des Wohlstandserhalts verpflichtet ist. LiteraturverzeichnisAbels, Gabriele (2020): Legitimität, Legitimation und das Demokratiedefizit der Europäischen Union. In: Becker, Peter/Lippert, Barbara (Hrsg.): Handbuch Europäische Union, SpringerVS: Wiesbaden, S. 175-193.(AEUV) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2009): Sechster Teil: Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften, Titel I: Vorschriften über die Organe, Abschnitt 1: Das Europäische Parlament (Art. 223). Abrufbar unter: https://dejure.org/gesetze/AEUV/223.html [zuletzt abgerufen am 23.01.2023].Andersen, Uwe (Hrsg.) (2014): Das Europa der Bürger. 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