Handlungsspielräume und Paradoxien bei den "Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt": Fallmanagement im ländlichen Raum
In: Von der "Leutenot" und der "Not der Leute": Armut in Nordostdeutschland, S. 247-268
"Mit Inkrafttreten des SGB II im Jahr 2005 wurde eine Sozialstaatsreform umgesetzt, die Arbeitslosigkeit als Problem der einzelnen Arbeitslosen definiert, sie auf ihre 'Vermittlungshemmnisse' zurückführt. Arbeitslose werden gesetzlich verpflichtet, mithilfe eines/einer Fallmanagerin oder Arbeitsvermittlerin an der Beseitigung der Vermittlungshemmnisse aktiv zu arbeiten. Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Perspektive Fallmanagerinnen, die in Jobcentern im ländlichen Raum Norddeutschlands tätig sind, auf ihre Arbeit mit Langzeitarbeitslosen einnehmen. Ihre handlungsleitenden Orientierungen im Fallmanagement hinsichtlich des Umgangs mit Erwerbslosen werden rekonstruiert. Erkenntnistheoretisch geht die Untersuchung von der Grundannahme der praxeologischen Wissenssoziologie aus, die besagt, dass sich das Handeln der Akteure an atheoretischen Wissensbeständen orientiert, welche für ihre Praxis konstitutiv sind. Mittels der dokumentarischen Methode wird herausgearbeitet, dass die Kategorisierung der Leistungsempfängerinnen für die Praxis der Fallmanagerinnen von hoher Relevanz ist und die Unterteilung der Arbeitslosen in arbeitswillige und arbeitsunwillige Arbeitslose die Leitdifferenz in ihren Orientierungsrahmen darstellt. Weiterhin zeigt sich, dass die Fallmanagerinnen den Arbeitslosen die Verantwortung für ihre Arbeitslosigkeit zuschreiben und mit dem im SGB II artikulierten Bild vom Arbeitslosen mit Aktivierungsbedarf konform gehen. Sie sehen die Erwerbslosen in der passiven Position und fordern von ihnen, aus dieser heraus aktiv zu werden und am Fallmanagement mitzuarbeiten. Paradoxerweise beschränken die Fallmanagerinnen die geforderte Eigeninitiative, indem sie für die Arbeitslosen Entscheidungen treffen. Da die Fallmanagerinnen auch strukturelle Bedingungen von Arbeitslosigkeit erfahren, werden sie in Widersprüche verstrickt, und sie gehen (unterschiedlich deutlich) in Distanz zum SGB II. Die Widersprüche bearbeiten sie, in dem sie strukturelle Ursachen von Arbeitslosigkeit zu Vermittlungshemmnissen aufseiten des Arbeitslosen umdeuten und Paradoxien aus ihrer Arbeit ausblenden bzw. externalisieren. Auf Basis dieser gemeinsamen Orientierungen lassen sich drei verschiedene Fallmanagementtypen, der entwicklungsorientierte, der moralorientierte und der gesetzesorientierte Typ, rekonstruieren. Als zentrales Ergebnis kann gezeigt werden, dass sich die Fallmanagerinnen nicht an professionellen Standards orientieren, sondern große Spielräume bei der Umsetzung des SGB II bestehen, die auf Basis persönlicher Einstellungen und Erfahrungen der Fallmanagerinnen gestaltet werden." (Autorenreferat)