Migration und Behinderung: Heilpädagogik im interkulturellen Kontext
In: Fachstudie
Inhaltsangabe: Migration und Behinderung sind Phänomene der menschlichen Natur, deren Begriffe vermutlich sehr unterschiedliche Assoziationen in der Gesellschaft wecken. Zwischen dem fremd aussehenden Migranten und dem körperlich beeinträchtigten Behinderten scheinen Welten zu liegen, die sich höchstens dann berühren mögen, wenn eine Person von beiden Erscheinungen betroffen ist. Als "doppelte Behinderung" ließe sich dieser Umstand provokant bezeichnen. Doch tragen beide Phänomene keineswegs klare und trennscharfe Konturen. Vielmehr werfen ihre uneindeutigen Muster Fragen auf: Wann ist man eigentlich Migrant, Ausländer oder Mensch mit Migrationshintergrund? Wann ist man physisch oder psychisch geschädigt? Wann ist man Mensch mit Behinderung? Schließlich sind weder ein Migrationshintergrund noch eine Behinderung statische, mit dem Träger verankerte Eigenschaften, die per definitionem entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen. Wie sich einerseits ein migrierter Mensch in seiner Lebensgestaltung und gesellschaftlichen Partizipation behindert erleben kann, vermag sich andererseits eine körperlich beeinträchtigte Person unter Umständen vor allem als Fremder seiner kulturellen Umwelt empfinden. Die Relativität von Behinderung und die Diversität von Migration lassen schließlich beide Erscheinungen mitunter sehr nahe kommen. Denn: Auch Behinderung kann Kultur und Kultur eine Behinderung sein. Die Bedeutungen von Kultur und Fremde für den Behinderungskontext stellen das zentrale Thema dieses Buches dar. Anhand der Betrachtung der Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund werden Zusammenhänge von Kultur und Behinderung erörtert und Konsequenzen für die Fachrichtung der Heilpädagogik analysiert. Der Anspruch dieser Untersuchung ist die umfassende und gerechte Beantwortung folgender Ausgangsfrage: In welchem Maße werden Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland in ihrer personalen und sozialen Integration gestört und welche Folgen tragen die Erkenntnisse für das Verständnis von Behinderung und die Theorie und Praxis der Heilpädagogik? Es wird hypothetisch angenommen, dass die ursprünglich nicht-deutsche Bevölkerung vor allen Dingen auf Grund soziokultureller Umstände in ihrer selbstbestimmten Lebensführung und gesellschaftlichen Partizipation eingeschränkt werden und somit Behinderungen erfahren. Kann diese Aussage belegt werden, ist Behinderung als ein Umstand zu begreifen, der nicht zwingend eine physische oder psychische Schädigung des betroffenen Individuums bedingt. Überdies träge die Heilpädagogik damit eine Verantwortung gegenüber Menschen mit Wanderungsgeschichte. Um für die Auseinandersetzung mit der Fragestellung und den Behauptungen eine transparente Basis herzustellen, werden eingangs die Grundbegriffe Migration, Behinderung, Heilpädagogik sowie Kultur und Interkulturalität definiert und erläutert (Kapitel 2). Die Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik Deutschland stellen den Mittelpunkt des folgenden Kapitels dar. Untergliedert in fünf Gesichtspunkte werden ihre subjektiven Lebenswirklichkeiten untersucht und hinterfragt, in welchem Maße Personen mit Wanderungsgeschichte behindert werden (Kapitel 3). Die Feststellungen dieser Erörterung zeigen auf, dass Desintegration, Einschränkung und Benachteiligung nicht grundsätzlich in Verbindung mit körperlichen Bedingungen eines Menschen stehen. Behinderung wird gemeinhin jedoch an physische und psychische Beeinträchtigungen des Individuums geknüpft. Aus diesem Grund werden in Kapitel 4 das traditionelle Behinderungsverständnis kritisch analysiert und Überlegungen für eine differente, an biologischen als auch sozialen und kulturellen Aspekten ausgerichtete Betrachtung des Behinderungsphänomens dargelegt. Die Konzeption jenes Behinderungsmodells löst zugleich kritische Überlegungen bezüglich der Strukturen der Heilpädagogik als Institution der Behindertenhilfe aus und legt Barrieren der heilpädagogischen Wissenschaft und Praxis offen. Auf dieser Grundlage basierend wird ein alternatives Konzept einer interkulturell ausgerichteten und an Integration orientierten Heilpädagogik skizziert und schließlich seine Eignung für den Personenkreis der Menschen mit Migrationshintergrund überprüft (Kapitel 5). Der Rahmen dieser Studie schließt sich mit Schlussfolgerungen der gewonnenen Erkenntnisse in einem letzten Schritt (Kapitel 6.) Die Frage, wer wirklich behindert ist, stellt nicht nur in der hier geführten Auseinandersetzung den zentralen Untersuchungsgegenstand dar sondern ist auch Schwerpunkt vieler anderer Analysen und Diskurse innerhalb wie mitunter auch außerhalb der Heilpädagogik. Dem Anspruch einer allgemeingültigen Beantwortung der Frage kann dieses Buch selbstverständlich nicht gerecht werden. Jedoch ergeben sich aus der Untersuchung der Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund aufschlussreiche Hinweise und praxisnahe Erkenntnisse für die genannte Fragestellung, die wiederum der Wissenschaft und Praxis der Heilpädagogik zu Gute kommen.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung5 2.Grundlagen8 2.1MIGRATION8 2.2BEHINDERUNG13 2.3HEILPÄDAGOGIK17 2.4KULTUR UND INTERKULTURALITÄT20 3.Die Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland22 3.1MIGRATIONSSPEZIFISCHE ASPEKTE22 3.1.1Migrationshintergrund22 3.1.2Migrationsphasen23 3.1.3Identität24 3.2PERSÖNLICHE ASPEKTE26 3.2.1Der Charakter26 3.2.2Emotionales Befinden27 3.2.3Kultur28 3.2.4Sprache29 3.2.5Ökonomische Lage30 3.2.6Gesundheit31 3.2.7Die Diagnose "Behinderung"34 3.3JURISTISCHE ASPEKTE36 3.4ASPEKTE ALLTÄGLICHER LEBENSFELDER39 3.4.1Bildung39 3.4.2Erwerbstätigkeit41 3.4.3Wohnsituation42 3.5SOZIALE ASPEKTE43 3.5.1Sozialleben44 3.5.2Fremdenfeindlichkeit45 3.6Die erschwerten Lebensbedingungen von Menschen mit Migrationshintergrund - ein erstes Fazit46 4.Wer ist behindert, wer wird behindert? - ein bio-sozio-kulturelles Konzept von Behinderung49 4.1DIE BEHINDERUNG DES ANDEREN49 4.2DAS BIO-SOZIO-KULTURELLE BEHINDERUNGSMODELL54 4.2.1Das Fundament des Modells54 4.2.2Definition von Behinderung und dem behinderten Menschen56 4.2.3Klassifizierung von Behinderung57 4.2.4Der ätiologische Hintergrund58 4.2.5Die Grenzen des Modells61 4.2.6Zusammenfassung63 4.3WER IST WIRKLICH BEHINDERT? - EIN ZWEITES FAZIT64 5.Heilpädagogik im interkulturellen Kontext67 5.1DIE BARRIEREN DER HEILPÄDAGOGIK67 5.1.1Das Behinderungsverständnis67 5.1.2Die Individuumszentrierung68 5.1.3Das Erziehungsparadigma69 5.1.4Die Einzigartigkeit70 5.2DIE INTERKULTURELLE HEILPÄDAGOGIK72 5.2.1Grundlagen des Konzepts72 5.2.2Die Wesensbegründung74 5.2.3Der Auftrag75 5.2.4Das Nutzerprofil76 5.2.5Der Handlungsansatz76 5.2.6Zusammenfassung80 5.3HEILPÄDAGOGIK FÜR MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND - EIN DRITTES FAZIT82 6.Schlussfolgerungen86 Literaturverzeichnis88Textprobe:Textprobe: Kapitel 4.1, Die Behinderung des Anderen: Bereits zu Beginn dieser Arbeit (Kapitel 2.2) wurde festgestellt, dass das Behinderungsphänomen stark von der Sichtweise des Betrachters abhängig ist und gemäß des Paradigmas und eigener Interessen unterschiedlich definiert und bewertet wird. Dennoch ist auch zu vermerken, dass die allgemeine Ansicht, Behinderung basiere grundsätzlich auf einer individuellen Beeinträchtigung, von Wissenschaftlern unterschiedlicher Ausrichtungen überwiegend vertreten wird. Nicht nur medizinisch dominierte Behinderungsmodelle wie das der WHO sondern auch gesellschaftsorientierte Erklärungsansätze wie entsprechend der Disability Studies führen Behinderungen in gewissem Grade auf körperliche Schädigungen zurück. Für den angenommenen Zusammenhang zwischen Schädigung und Behinderung stellen sich vor allem zwei Fragen, die es zu erörtern gilt: Was ist eine Schädigung? Eine organische Schädigung scheint auf den ersten Blick einen absoluten Charakter zu haben. Jedoch sind Schädigungen der Körperstruktur und -funktionen des Menschen von dem kulturellen Hintergrund abhängig. Kleinwüchsigkeit gilt in Deutschland beispielsweise als körperliche Beeinträchtigung. In Ethnien, bei denen Menschen eine allgemein geringere Körpergröße aufweisen, ist Kleinwüchsigkeit jedoch keine Besonderheit, sie wird nicht als körperliche Schädigung verstanden. Schädigungen gelten vor allen Dingen dann als solche, wenn auf Grund jener körperlichen Merkmale die gewohnten Anforderungen nicht erfüllt werden können. So ist die Kompetenz der Mobilität bei Nomadenkulturen besonders essentiell, in anderen Kulturen tragen sprachliche Kompetenzen für den alltäglichen Handel eine enorme Bedeutung. Notwendigkeiten und kulturspezifische Deutungsmuster beeinflussen entscheidend die Auslegung einer Schädigung. Demzufolge ist nicht nur Behinderung relativ, auch ihre angenommene Voraussetzung, die Schädigung, ist nicht universell fassbar. Warum bedingt die Behinderung eine Schädigung? Nach geläufiger Auffassung äußert sich eine Behinderung in Form der Einschränkung der Selbstverwaltung und Partizipation eines Menschen. Alfred Sander geht mit seinem ökosystemischen Behinderungsverständnis sogar noch weiter: "Gestörte oder ungenügende Integration ist […] nicht eine Folge von Behinderung und auch nicht ein Aspekt von Behinderung, sondern sie ist die Behinderung selbst. Die Behinderung besteht in ungenügender Integration." Nichtsdestotrotz setzen Sander und andere Wissenschaftler eine Schädigung oder Leistungsminderung der Behinderung voraus. Dabei stellt sich jedoch die Frage, weshalb überhaupt eine körperliche Beeinträchtigung vorliegen muss, um von einer Behinderung zu sprechen. Muss ein Mensch bestimmte Erwartungen erfüllen, um Behinderung zu erfahren? Ist nicht, auch im Sinne (heil)pädagogisch sinnvollen Intervenierens, viel relevanter, wie sich ein Mensch erlebt und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnimmt anstatt welche Bedingungen er für seinen Zustand erfüllt? Behinderungen liegen zweifelsohne gewissen Umständen zu Grunde. Anfallsleiden, Traumata oder Organstörungen bedarf es wahrzunehmen und auch für die pädagogische Arbeit zu berücksichtigen. Eine ausschließliche Konzentration auf soziale Folgen wäre demnach kurzsichtig und ungenügend. Jedoch erscheint es problematisch, Behinderung in absolute Abhängigkeit körperlicher Kriterien zu stellen. Die Migrationsthematik öffnet für die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Behinderung einen interessanten Zugang. Sie veranschaulicht, dass Individuen durchaus auch unabhängig von körperlichen Merkmalen Einschränkungen ihrer persönlichen Lebensführung und der gesellschaftlichen Teilhabe erfahren können. Nicht die Eigenschaften einer Person sondern seine Lebensumstände behindern. Doch auch entsprechende Lebensumstände haben einen Ursprung. Dem soziologischen Behinderungsmodell von Günther Cloerkes zu Folge stellt die Andersartigkeit eines Merkmals einer Person den Grundbaustein einer Behinderung dar. Durch soziokulturelle Bewertungsmuster wird ein als abnormal geltendes Merkmal als negativ klassifiziert und in Folge einer negativen sozialen Reaktion eine Behinderung konstruiert. Was bei einem körperlich deformierten Menschen der Fall sein kann, lässt sich also auch bei einer anders aussehenden oder sich anders verhaltenden Person mit Migrationshintergrund realisieren: Die Behinderung des Anderen. Was ist das Andere? Das Andere ist der komplementäre Gegensatz zum Eigenen. Dem Menschen sind gewohnte Umgebungen, bekannte Personen oder routinierte Handlungen vertraut, sie geben Sicherheit, Durchschaubarkeit und ein Gefühl von Heimat, können gleichzeitig jedoch auch als einengend und verpflichtend wahrgenommen werden. Das Andere hingegen wirkt verunsichernd und bedrohlich auf den Menschen, reizt, verlockt und überrascht ihn aber auch. Wird das Andere überdies als unvertraut empfunden, ist von Fremde zu sprechen. Bereits mit der Geburt in eine "fremde Welt" und der fortwährenden Auseinandersetzung mit dem Umfeld erfährt der Mensch sein Selbst und Fremdheit, in dessen Dialog er seine Identität herausbildet. Doch Fremde liegt nicht nur in der Außenwelt sondern auch im Menschen selber. Splitter oder Pickel, Träume oder Triebe können als uneigen wahrgenommen werden. Auch Aufforderungen von Eltern oder Erziehern, ein anderes Verhalten an den Tag zu legen, vermittelt einem Kind mitunter das Gefühl, dass böse, unerwünschte, fremde Instanzen in ihm stecken. Um innere Diskrepanzen fassbar machen zu können und das Selbst zu schützen und zu stärken, werden äußere Fremdheitserscheinungen als Projektionsfläche, unter anderem für eigene Aggression, Gier oder Ängste, benutzt. Verfolgung, Diskriminierung und Beschuldigung von Bevölkerungsgruppen, aus historischer Sicht beispielsweise von Hexen, Zigeunern oder Juden, können als Aufhänger für die Auseinandersetzung mit inneren Unsicherheiten interpretiert werden. Die Abwehr des inneren Fremden, Behütung des Selbst und Widerstand gegen äußeres Fremdes zur Unterbindung eines Chaosempfindens auf Grund der Komplexität der Welt realisiert sich auf persönlicher und gesellschaftlicher, aber auch auf politischer Ebene. Die Konstruktion von Nationalstaaten dient beispielsweise der Sicherung der Homogenität und Harmonie des Eigenen durch klare Grenzen. Andersartigkeit und Fremde sind folglich Bestandteile der menschlichen Natur und der Umgang mit ihnen, von Neugier über Ablehnung bis hin zur Vernichtung, ist abhängig von der Gestalt des Selbstkonzepts eines Individuums, einer Gruppe oder Nation. Und was ist anders an dem Menschen? Personen unterscheiden sich im Denken und Handeln, in ihren Geschmäckern, Interessen, Meinungen, und Zielen. Sie sehen unterschiedlich aus und leben unter unterschiedlichen Voraussetzungen. Auch wenn sich Menschen als Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft an Normen ausrichten und sich gegenseitig anpassen mögen, so bleibt dennoch immer auch eine Heterogenität zwischen ihnen bestehen. Doch auch Unterschiede sind verschieden. Betrachtet man die Differenzen zwischen einem achtundvierzigjährigen Maurer und einer dreizehnjährigen Schülerin, lässt sich vom Aussehen über das Geschlecht und Alter bis hin zu den Wohnverhältnissen, persönlichen Vorlieben und Lebensvorstellungen eine Fülle von Aspekten finden, in denen sich beide Personen vollkommen unterscheiden. Doch nicht nur ihre individuellen Eigenschaften sind ungleich sondern damit einhergehend auch ihre Positionen. Das Alter beispielsweise limitiert oder erlaubt ein politisches Wahlrecht, Bildungsstand und Kompetenzen entscheiden über die gesellschaftliche Stellung und der finanzielle Status richtet über das Maß an Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Ungleichheiten zwischen Menschen realisieren sich also auf zwei Ebenen. Michael Maschke spricht hierbei von horizontalen und vertikalen Ungleichheiten. Demnach existiert auf wagerechter Ebene eine Vielzahl an Kategorien, in denen sich Menschen unterscheiden. Die Gestalt dieser Aspekte ist maßgeblich für die Stellung des Menschen in der gesellschaftlichen Hierarchie und stützt damit vertikale Differenzen. Die Betrachtung sozialer Heterogenität in Form von waagerechten und senkrechten Ungleichheiten ist für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Behinderung sehr aufschlussreich. Entsprechend dieser Konzeption lassen sich körperliche Beeinträchtigungen wie auch migrationsspezifische Erscheinungen als Merkmale eines Menschen verstehen, die sich von einer sozial und kulturell konstruierten Normalität abheben und als anders eingeschätzt werden. Andersartigkeiten werden gemäß kulturspezifischer Bewertungsmuster positiv, negativ oder ambivalent beurteilt und lösen entsprechende Reaktionen aus, die die vertikale Stellung des Menschen beeinträchtigen und ihn schließlich behindern. Menschen werden in Anlehnung an Anne Waldschmidt demnach "nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigungen behindert, sondern durch das soziale System, das Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet.". Der Umstand, als anders oder fremd wahrgenommen zu werden, kann folglich die Grundlage für soziale Benachteiligung und Ausgrenzung schaffen und Behinderungen konstruieren. Doch hat diese Konzeption auch ihre Grenzen. Die Gesellschaft stellt zweifelsohne einen existenziellen Bestandteil des Lebens eines Menschen dar und trägt eine wesentliche Bedeutung für dessen Lebensgestaltung. Wie sehr die eigene Körperstruktur und Körperfunktionen eine Person in ihrem individuellen und gesellschaftlichen Leben beeinträchtigen, hängt maßgeblich von sozialen Strukturen ab. So können aufgeschlossene Haltungen und Hilfesysteme einer Gesellschaft körperliche Beeinträchtigungen wie eine starke Sehschwäche oder Geheinschränkungen entscheidend kompensieren oder gar nahezu aufheben. Zugleich ist die Gesellschaft in der Lage, in Form intoleranter Einstellungen und Ausgrenzung von Menschen Behinderungen überhaupt erst zu schaffen. Jedoch ist Gesellschaft nicht alles, was ein Individuum ausmacht. Körperliche Umstände können einen Menschen auch direkt und unmittelbar beeinträchtigen, in dem sie beispielsweise Schmerz auslösen oder die selbstständige Lebensführung nicht zulassen. Folglich gehen Behinderungen weder grundsätzlich nur von gesellschaftlichen Umständen aus, noch kann Gesellschaft als einziges Medium zur Regulierung von Behinderungen betrachtet werden. Der Gegenstand der Andersartigkeit gibt somit wesentliche Aufschlüsse für das Phänomen der Behinderung und die Gestalt der Lebenswelten von Menschen mit Migrationsgeschichte. Seine soziologische Perspektive scheint entsprechend der Komplexität des "Systems Behinderung" als Erklärungsansatz allerdings nicht umfassend genug. Wie schließlich Behinderung in Anbetracht dieser Feststellungen in vollem Umfang definiert und erklärt werden kann, wird in dem nächsten Kapitel thematisiert.