Lasst sie unterrichten!
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Die NRW-Initiative "Lehrkräfte Plus" will geflüchtete Lehrkräfte für den Einsatz in deutschen Schulen vorbereiten. Aber klappt das auch? Ein Interview.
2017 ging die Initiative an den Start: Lehrkräfte Plus. Ein Programm, das nach Deutschland geflüchtete Lehrkräfte für den Unterricht in Deutschland fitmachen soll. Zu den Initiatoren
zählte damals die Bertelsmann-Stiftung. Warum, Frau Müncher?
Angela Müncher: Wir haben uns gedacht: Wenn so viele Menschen zu uns kommen, dann müssen darunter doch auch Lehrkräfte sein. Die nichts lieber tun würden, als wieder zu
unterrichten. Und zwar die Kinder und Jugendlichen, die wie sie geflüchtet sind. Wir haben nach Potsdam geschaut, wo die Universität schon damals das bundesweit erste
Programm zur Qualifizierung geflüchteter Lehrkräfte aufgebaut hatte. Und haben gesagt: So etwas brauchen wir in Nordrhein-Westfalen (NRW) auch. Zu unserer Freude hat sich das
Schulministerium sehr offen gezeigt. Wir haben das dann mit ihm, der Landesweiten Koordinierungsstelle für Kommunale Integrationszentren und der Universität Bielefeld aufgesetzt, dann kamen die
Stiftung Mercator und die Ruhr-Universität Bochum dazu. Inzwischen sind insgesamt fünf Universitäten und alle Bezirksregierungen von NRW an Bord – gefördert werden die Universitäten seit 2020 vom
NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft.
Angela Müncher ist Senior Project Manager im Programm Bildung und Next Generation der Bertelsmann Stiftung, Dirk Richter
ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung an der Universität Potsdam und hat zusammen mit Kolleg:innen das Programm "Lehrkräfte Plus" wissenschaftlich begleitet.
Ihren Abschlussbericht finden Sie hier.
Fotos: Bertelsmann Stiftung/Die Hoffotografen GmbH.
Gut gedacht ist noch nicht gut gemacht.
Dirk Richter: Das ist richtig. Doch die Initiatoren wollten es von Anfang an genau wissen. In den ersten drei Projektjahren hat das Beratungsunternehmen Syspons "Lehrkräfte Plus" evaluiert; als Universität
Potsdam haben wir das Programm wissenschaftlich
begleitet, nachdem es auf insgesamt fünf Universitäten ausgeweitet wurde. Im ersten Jahr danach haben 110 von 128 Teilnehmenden ein Abschluss-Zertifikat erworben. Das ist eine phänomenale
Absolventenquote von 86 Prozent. Da kommt kein Lehramtsstudiengang ran.
"Außenstehenden ist manchmal gar nicht
richtig klar, was es bedeutet, innerhalb
kürzester Zeit von praktisch keinen
Deutschkenntnissen auf einen Level zu
kommen, der das Unterrichten ermöglicht."
Die Zahl allein sagt noch nichts über die erworbenen Qualifikationen und den daraus resultierenden beruflichen Werdegang.
Müncher: Sie zeigt aber das enorme Engagement der geflüchteten Lehrkräfte. Ein Jahr haben sie in Vollzeit Deutsch gelernt, eine pädagogisch-interkulturelle Qualifizierung
durchlaufen, Seminare zu allgemeiner und Fachdidaktik absolviert, dazu an einem Schulpraktikum teilgenommen. Und das, obwohl die meisten Familie und Kinder und viele soziale Verpflichtungen
haben. Sie sind alle extrem motiviert. Außenstehenden ist manchmal gar nicht richtig klar, was es bedeutet, innerhalb kürzester Zeit von praktisch keinen Deutschkenntnissen auf einen Level zu
kommen, der das Unterrichten ermöglicht.
Richter: Dieser Sprung um durchschnittlich zwei Sprachkompetenzstufen in einem Jahr ist bemerkenswert. Man merkt: Die Leute wollen schnell in die Schule, das ist ihr großes Ziel.
92 Prozent geben an, dass sie dauerhaft in Deutschland als Lehrkraft tätig sein wollen. Auch das ist eine Zahl, wie wir sie bei normalen Lehramtsabsolventen wohl nicht bekommen würden.
Und was können sie fachlich und pädagogisch nach dem "Lehrkräfte Plus"-Jahr?
Richter: Das haben wir nicht abgeprüft, aber wir haben die Absolventinnen und Absolventen befragt, wie gut sie sich selbst auf die unterschiedlichen Aufgaben einer Lehrkraft in
Deutschland vorbereitet fühlen. Das Ergebnis: Die Befragten schätzen ihre eigenen Kompetenzen als sehr hoch ein – was erfreulich ist, aber auch nicht besonders überraschend bei derartigen
Selbsteinschätzungen. Unabhängig von dem bei "Lehrkräfte Plus" Gelernten bringen die Betreffenden vieles mit, was sie für unsere Schulen unglaublich wertvoll macht. Sie sind Rollenvorbilder für
alle Schüler, nicht nur für die aus ihrer eigenen Kultur. Sie bereichern die Kollegien, deren mangelnde Diversität ein umso größeres Problem darstellt, je heterogener die Schülerschaft
wird.
Klingt gut. Aber will unser System diese Bereicherung auch? Konkret gefragt: Was machen die erfolgreichen "Lehrkräfte Plus"-Absolventen jetzt?
Müncher: 73 Prozent von ihnen sind direkt weiter ins Anschlussprogramm "Internationale Lehrkräfte fördern" (ILF) gegangen. Mit dem werden sie für zwei Jahre befristet an einer
Schule angestellt, qualifizieren sich allgemeinpädagogisch, methodisch und didaktisch weiter und werden schrittweise ans eigenverantwortliche Unterrichten herangeführt.
Moment. "Lehrkräfte Plus" bringt allein also keinerlei Unterrichtsberechtigung?
Müncher: "Lehrkräfte Plus" ist ja ein universitäres Programm, das allein keine Unterrichtsberechtigung vergeben kann – es kann nur eine Brücke sein. Eine Anerkennung des
Lehramtsabschlusses bekommen sie dadurch nicht. Die dürfte die Universität auch gar nicht ausstellen.
"Schule und Unterricht in Deutschland kennenzulernen, ist ein Wert an sich. Aber noch wichtiger ist, dass das Geleistete etwas zählt für den weiteren
Werdegang."
So werden inklusive ILF aus einem Jahr Qualifizierung drei. Und ILF endet dann ebenfalls ohne klare Perspektive. Für Menschen, die in vielen Fällen in ihrer Heimat bereits voll
ausgebildete und respektierte Lehrkräfte waren.
Müncher: Für viele bieten diese insgesamt drei Jahre die Chance, in einem geschützten Raum sich pädagogisch und sprachlich zu entwickeln und Erfahrungen im deutschen Schulsystem
zu sammeln. Andere "Lehrkräfte Plus"-Absolventen bewerben sich direkt als Seiteneinsteiger für den Schuldienst und durchlaufen beispielsweise die sogenannte "Pädagogische Einführung", die bei
Erfolg nach einem Jahr die Erteilung der Unterrichtserlaubnis für das studierte Fach bedeutet. Was in einigen Regionen und Fächern ganz gut klappt, weil es im Augenblick in vielen Fächern einen
so großen Mangel gibt. Die Absolventen können auch ein normales Lehramtsstudium aufnehmen, Lehrkraft für den herkunftssprachlichen Unterricht werden oder ein zweites Fach studieren.
Richter: Klar ist es gut, dass die Leute Zeit haben, sich im Rahmen der Programme auf die Arbeit im deutschen Schulsystem vorzubereiten. Man muss aber schon ehrlich sagen: Die
Übergangsquote von 73 Prozent ins ILF-Programm bedeutet, dass viele eben keinen Platz als Seiteneinsteiger bekommen. Insofern wäre eine stärkere Verbindlichkeit, dass das Zertifikat von
"Lehrkräfte Plus" den Einstieg ins Lehramt bedeutet, wünschenswert – und auch ILF sollte mehr zählen. Schule und Unterricht in Deutschland kennenzulernen, ist ein Wert an sich. Aber noch
wichtiger ist, dass das Geleistete etwas zählt für den weiteren Werdegang.
Der erste Jahrgang war inklusive ILF 2020 fertig. Wie viele haben jetzt eine unbefristete Stelle im Schuldienst?
Müncher: Uns liegen nur Informationen bis zum Juni 2021 vor. Bis dahin haben lediglich die neun Lehrkräfte, die an der Pilotierung teilgenommen hatten, das Programm auch
abgeschlossen. Sie haben anschließend auch eine Anstellung im Rahmen des Seiteneinstiegs erhalten. Für die Zeit danach habe ich keine Daten zu den Anschlüssen. Meine Vermutung wäre, dass der
Seiteneinstieg weiterhin die für die Lehrkräfte attraktivste Option ist. Allerdings sind gerade für den Einstieg mit einem Fach die Zugänge auf die Regionen und Fächer mit einem Lehrkräftemangel
begrenzt. Deshalb werden einige Absolvent:innen auch als Vertretungslehrkräfte arbeiten. Und wieder andere machen etwas ganz Anderes.
So viel zum Thema politische Wertschätzung für geflüchtete Lehrkräfte. Und das trotz des dramatischen Lehrkräftemangels.
Müncher: Ich glaube, dass es sich hier nicht speziell um die mangelnde Wertschätzung geflüchteter Lehrkräfte handelt, sondern um einen weiteren Beleg dafür, dass unser
Schulsystem auf Diversität kaum eingestellt ist. Mehrsprachigkeit wird nicht wirklich als Mehrwert begriffen, obwohl sie eine große Bereicherung für den Lernerfolg vieler Schülerinnen und Schüler
bedeuten würde. Genau an der Stelle könnten geflüchtete Lehrkräfte so viel erreichen. Und nicht nur in Sachen Mehrsprachigkeit. Der Mentor eines syrischen Mathelehrers aus unserem Programm
erzählte mir einmal, dass dieser seinen Kolleginnen und Kollegen am Gymnasium in seinem Fachwissen deutlich überlegen sei – und teilweise eine ganz andere Herangehensweise für die Lösung
mathematischer Aufgaben mitbringe. Wir sollten uns als Gesellschaft fragen, ob es nicht höchste Zeit ist, insgesamt an unserem Bild von Schule zu drehen.
Gelingt das jetzt vielleicht durch den neuen Zustrom von Geflüchteten aus der Ukraine? Immerhin brüsten sich Kultusminister damit, unbürokratisch jede Menge geflüchtete ukrainische
Lehrkräfte angestellt zu haben.
Müncher: Da würde ich dann gern wissen, wie viele von diesen Lehrkräften auf vollwertigen Stellen arbeiten oder doch nur als Unterrichtshelfer eingesetzt werden. Was es den aus
der Ukraine Geflüchteten leichter machen dürfte, sind die bei vielen bereits vorhandenen Deutschkenntnisse, dadurch wird der Vergleich mit den Absolventinnen und Absolventen von "Lehrkräfte Plus"
schwierig.
"Man kann Lehrkräfte durchaus für ein
einzelnes Unterrichtsfach sehr schnell
qualifizieren und in die Schulen bringen."
Und Sie glauben nicht, dass – Stichwort Ethnozentrismus – die Bildungspolitik mit zweierlei Maß misst und es den ukrainischen Lehrkräften leichter macht als denen aus Syrien, der Türkei
oder Afghanistan?
Müncher: Was das Beispiel Ukraine zumindest zeigt: Es ist möglich, sehr kurzfristig zugewanderte Lehrkräfte einzustellen.
Richter: Und was wir umgekehrt durch "Lehrkräfte Plus" und ähnliche Initiativen gelernt haben: Man kann Lehrkräfte durchaus für ein einzelnes Unterrichtsfach sehr schnell
qualifizieren und in die Schulen bringen. Genau darüber gibt es in der Lehrkräftebildung seit Jahren eine große Kontroverse, ob das geht. Mein Eindruck ist: Wir sollten angesichts des
Lehrkräftemangels diese Diskussionen endlich hinter uns lassen und die Ein-Fach-Lehramtsoption dauerhaft für alle installieren.
Was wird jetzt aus "Lehrkräfte Plus", Frau Müncher?
Müncher: Die Initiative geht weiter, das Land hat die Finanzierung übernommen. Allerdings läuft die immer befristet von Förderphase zu Förderphase – aktuell bis 2027. Wir haben
uns als Stiftung schon 2020 zurückgezogen und unterstützen nur noch die Evaluation und den Austausch über die Ergebnisse.
Richter: NRW ist ja zum Glück nicht das einzige Land. Brandenburg kam zuerst, später unter anderem auch Schleswig-Holstein und Hamburg. Was ich mir wünschen würde: dass Programme
wie "Lehrkräfte Plus" in allen Bundesländern zugänglich wären – und es nicht vom Wohnort und dem Problembewusstsein des jeweiligen Bildungsministeriums abhängt, ob geflüchtete Pädagogen ihrer
Berufung folgen können oder nicht.
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