Der Staat als Gesamtbetrieb: auf dem Weg in die neue formierte Gesellschaft
In: Vorgänge: Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Band 48, Heft 2, S. 60-71
ISSN: 0507-4150
Während die Finanz- und Wirtschaftskrise von vielen sehr konkret erfahren wird, vollzieht sich die Krise der Demokratie eher diffus. Etwa seit den 80er Jahren wird das Bild vom Staat als Gesamtbetrieb im Sinne L. Erhards, so die Verfasserin, mit einem Weichzeichner behandelt. Es zeigt ihn mit verwischten Konturen als großen Kommunikator. Gesellschaft und Staat gehen als kooperatives Netzwerk in Analogie zu neuen, antihierarchischen Managementtechniken eine Symbiose ein. Nun sind Verhandeln, Deliberieren, Kooperieren, Kommunizieren zweifellos wünschenswertere Vorgehensweisen als Konfrontation und Gewalt. Dies verleiht ihnen a priori eine (schein- )demokratische Aura und lässt die Frage gar nicht erst aufkommen, wer mit wem kooperiert und was daran fragwürdig sein könnte. Die Krise der Repräsentation wird nicht von den üblichen Verdächtigen am linken oder rechten Rand ausgelöst, sondern ist ein Elitenprojekt, bei dem, analog zur Deregulierung der Wirtschaft seit den 80er Jahren, auch staatliches Handeln dereguliert, in formalisiert und enthierarchisiert wird. An die Stelle einer parlamentarisch-demokratischen Legitimation tritt die post-parlamentarische und expertenbasierte Deliberation. Der Wohlfahrtsstaat wird in Deutschland nicht mit Keynes in Verbindung gebracht, sondern mit einer Doktrin, die auf dem Primat der Geldwertstabilität und eines paternalistischen Wohlfahrtsstaates beruhte. Nicht technokratischer Planungsoptimismus stand Pate, sondern die katholische Soziallehre. Nun hatten die Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft, so die These, ihren dritten Weg höchst missverständlich Neoliberalismus genannt, ein Begriff, der heute negative, von den Autoren nicht intendierte Assoziationen hervorruft. Seit den 80er Jahren steht Neoliberalismus für Thatcherismus, Reaganomics und Marktfundamentalismus, kurz: für eine Rückkehr zu dem, was die Soziale Marktwirtschaft gerade überwinden wollte. Man muss also zunächst semantische Aufräumarbeit leisten, um das "Dritte" an diesem dritten Weg freizulegen. (ICF2)