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Wer ist die sogenannte ,,Gen Z"?Kreativ, nachhaltig, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Das ist die stereotype Beschreibung für all jene, die um die 2000er Jahre herum geboren wurden. Man nennt sie auch die "Generation Z". Typische Klischees der Generation Z sind, dass sie eine 9-to-5 Arbeitswoche ablehnen, flache Hierarchien bevorzugen und einen angenehmen Ausgleich aus Berufs- und Privatleben wollen.
Anne Fiedler, Generation Y, CC BY-SA 3.0Diese Generation der "Digital Natives" ist geprägt von ständiger Vernetzung, Interaktion und Gedankentransfer im Web 2.0. Express – Connect – Share ist die Devise. Mit dem Web 2.0 steht zum ersten Mal in der Geschichte eine Plattform zur Verfügung, mit der im großen Maßstab das vernetzte Zusammenarbeiten und die Nutzung der Weisheit der Vielen ermöglicht wird. Braucht man ein neues Kochrezept, so öffnet man einen der unzähligen Kochblogs und lässt sich von anderen beraten. Haben Schüler*innen einen neuen Weg gefunden, das Spicken in Klassenarbeiten auf ein neues Niveau zu heben, geht diese Erkenntnis sofort viral auf Instagram, TikTok & Co.
Today Testing (for derivative), Social media icons, CC BY-SA 4.0 Smartphones und die damit verbundene Netznutzung sind allgegenwärtig, alltäglich und für die meisten der zwischen Mitte der 90er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre geborenen Menschen nicht mehr wegzudenken.Möglichkeiten und Chancen der Generation Z Dass die jungen Menschen heute ihre Werte anders setzen als die Generationen vor ihnen, ist offensichtlich und, wie ich finde, völlig normal. Dass sich die Menschen von Generation zu Generation wandeln, war schon immer so, und es wird auch immer so bleiben. Für die Generation Z sind vor allem Sinnsuche, Nachhaltigkeit und politisches Engagement wichtig. Allerdings: Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Generation Z ist keine homogene Gruppe. Man kann auf keinen Fall allen Menschen, die in einem ähnlichen Zeitfenster geboren wurden, ähnliche Denk- und Verhaltensmuster und Wertvorstellungen unterstellen. Wenn man sich überlegt, mit welchen Weltthemen wir angesichts aktueller Krisen vermehrt konfrontiert sind, stellt man fest, dass diese ziemlich, wenn nicht sogar zu 100 % deckungsgleich sind mit den Themen, mit denen sich junge Menschen auseinandersetzen möchten. Und das ist gut so, denn schließlich brauchen wir unbedingt Menschen, die die Probleme von heute wie Klimawandel, Energieversorgung oder Ernährung einer weiter wachsenden Weltbevölkerung für sich und die nachfolgenden Generationen lösen wollen. Dabei stehen den Jugendlichen und jungen Erwachsenen aber unterschiedliche Dinge im Weg. Das eine ist die Schulbildung. In den Schulen wird immer noch vermehrt darauf gesetzt, klassische Schulfächer wie Mathematik, Deutsch und Englisch zu vermitteln. Viel zu kurz kommt dagegen oft die Vermittlung sozialer, wirtschaftlicher und medialer Kompetenzen. Außerdem gibt es in vielen Schulen wenig Angebote zum Thema "Stärken stärken" und "Schwächen schwächen". Der moderne Ansatz von Vielfältigkeit und Individualität kann aber nur dann funktionieren, wenn die Werte von Diversität und Individualität auch von Lehrerinnen und Lehrern in der Schule begleitet und unterstützt werden. Das andere ist der Beruf. Was ihre beruflichen Perspektiven angeht, stehen den Heranwachsenden und jungen Erwachsenen zu ihren Themen nur begrenzt Möglichkeiten zur Verfügung. Jobs in sozialen Berufen wie z.B. Pflege und Erziehung sind unterdurchschnittlich bezahlt und Stellen im Umweltschutz rar. Da sollte sich niemand wundern, warum junge Menschen eine andere Richtung einschlagen, indem sie BWL studieren oder ein Startup-Unternehmen gründen wollen. Es können aber weder alle selbstständig sein, noch können alle Klimaaktivisten werden und die Welt retten. Wenn dem nicht entgegengearbeitet wird, hat die Generation Z keine Chance auf eine bessere Zukunft. Allein mit Selbstständigen, Ingenieurinnen, Betriebswirten oder Betreiber*innen eines weiteren Chai-Latte-Koffeinfrei-Ladens in Berlin kann unser System nicht funktionieren.Zusammengefasst würde ich sagen, dass wir vor großen Herausforderungen stehen, genau weil wir heutzutage so viele verschiedene Menschentypen haben. Das bietet große Vorteile, weil ein System in dem jeder dasselbe macht und denkt, nicht funktionieren würde, und erst recht nicht demokratisch wäre. Darüber hinaus darf man Themen, die die Generation Z besonders beschäftigen, nicht einfach ignorieren. Man sollte viel mehr versuchen, Kommunikation zwischen altersheterogenen Gruppen herzustellen, um Anliegen der einen wie auch der anderen Seite nachvollziehen zu können.
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Am Anfang findet man einen großen Stammbaum. Zbigniew Rokita, der Autor von "Kajś. Opowieść o Górnym Śląsku" (Irgendwo. Erzählung von Oberschlesien, Wołowiec 2020) befindet sich dort auf der untersten Ebene, er ist der jüngste Spross einer oberschlesischen Familie. Der Stammbaum geht sechs Generationen auf Anton Kieslich (1815-1871) zurück, einen Tischler aus Schönwald, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine im Mittelalter gegründete deutschsprachige Enklave in der Nähe von Pilchowitz verlässt und nach Ostropa zieht, heute ein Vorort von Gleiwitz. Zweierlei fällt dabei gleich auf. Auch wenn der Autor immer wieder von der Knappheit der familiären Quellen spricht, findet er darin einen seiner direkten Vorfahren, dessen Geburtsjahr mehr als 200 Jahre zurückliegt. Das alleine mag schon in Mitteleuropa überraschen, wo die meisten Einwohner aus der Bauernschaft stammen und die Geschichte ihrer Familien allenfalls drei bis vier Generationen zurückverfolgen können. Auf der anderen Seite verwundert (oder auch nicht) die "Mischung" oberschlesischer und ostpolnischer Tradition nach der Heirat der Großmutter mit einem Arbeiter "zza Buga" (aus den früheren polnischen Ostgebieten), die sich in der Familie nach 1945 ausbreitete und Rokitas im Grunde polnische Sozialisation prägte. "Oberschlesisch waren die Dörfer, mich zog es in die Stadt und die Städte waren polnisch", so der Autor (S. 19).Der 1989 geborene Rokita, der in "Kajś" ein breites Panorama des historischen wie gegenwärtigen Oberschlesiens präsentiert, ist im freien und demokratischen Polen nach der Wende groß geworden, seine Stimme zählt zu den jüngsten seines Fachs. Er gehört zu denen, die die "alten" Geschichten aus der Zeit der Volksrepublik nur noch vom Hören-Sagen kennen, so wie seine Großmutter Maria (geb. 1946) die "deutsche" Zeit Oberschlesiens nur vom Hören-Sagen kannte und sie in die Familientradition des jungen Rokita übertrug. Rokita hat Glück, denn er verfügt über Quellen wie Familienfotos, Ausweise, Postkarten, er hat eine Großmutter, der er Fragen in den Bauch bohren kann, und sein geografischer wie existenzieller Bezugspunkt ist Gleiwitz – immerhin eine der ältesten, traditionsreichsten und spannendsten Städte Oberschlesiens, zu der es genug Verschriftlichtes gibt. So ausgerüstet erzählt er einerseits die Geschichte der Region, auf der anderen Seite versucht er die "hiesigen" Menschen zu verstehen, die keine eindeutigen nationalen Präferenzen hatten (und haben) und bis heute als eigenartige Zwitter zwischen den Deutschen und Polen gelten. Es geht also darum, einem polnischen Publikum von heute zu erklären, welche Strategien sich Menschen in Oberschlesien zurechtgelegt haben, um Deutsche, Polen, beide oder keine von ihnen zu werden bzw. zu bleiben. Es geht auch um Rokita selbst, darum, wie er als Vertreter junger polnischer Generation zu einem Oberschlesier wurde und wie er heute zu seinem "Oberschlesiertum" steht, wie er ihn überhaupt entdeckte und ihn leben möchte. Lauter spannende Fragen. Wird das Buch ihnen gerecht?Das Buch – immerhin fast 400 Seiten – ist formell ein Experiment, keiner Gattung direkt zuzuschreiben, denn es finden sich darin Essayfragmente, Interviewsplitter, Zitate aus Medien und Blogs, Reportagen, Fotos, Berichte. Das mag manch einen Leser überfordern, soll hier aber nicht als Kritik angeführt werden, ganz im Gegenteil – es wirkt spannend, es wirkt authentisch und überzeugt durch die Fähigkeit des Autors all die Elemente mit Leichtigkeit erzählerisch zu spinnen. Ein großes Lob für die Form, sie bewirkt, dass der Leser nicht ermüdet, auch wenn er manchmal den Faden verliert, was aber vom Autor wohl genau bedacht ist.Das Buch erzählt zunächst in mehreren Strängen die Geschichte der Familie Kieslich/Hajok in Ostropa, die Wahrnehmung der Stadt Gleiwitz und deren Verwicklung in die Geschichte Oberschlesiens, Deutschlands und Europas. Dies gelingt dem Autor mit Bravour. Natürlich kann man die Geschichte Oberschlesiens aus anderen Büchern "lernen", aber wer tut das schon? In Oberschlesien wird in der Schule keine regionale Geschichte unterrichtet, die wenigen historischen Monografien beinhalten eher Expertenwissen, ebenfalls die Beiträge in Kulturzeitschriften und Wissenschaftsmagazinen. Rokita selbst führte vor Jahren in Krakau eine Umfrage im Auftrag des Schlesischen Museums Kattowitz durch, was "die Polen" aus Krakau über Oberschlesien wissen. Das Ergebnis: So gut wie Nichts (S. 53). Rokita klärt auf, warum Oberschlesien anders ist, warum es z. B. nicht als preußisches "Teilungsgebiet" (zabór pruski) nach dem Zerfall Polens im 18. Jahrhunderts zu werten ist und warum sich Menschen dort – zumeist wasserpolnischsprachige, katholische Bauern und Handwerker – in einem langen Assimilationsprozess an die Moderne angepasst und sich mehrheitlich als gleichwertige Bürger Preußens verstanden haben. Sein Stil überzeugt, die Sprache ist klar und eindeutig und jederzeit bemüht, die oberschlesische Position zwischen Hammer und Amboss zu verdeutlichen, auch wirkt der Ton weder besserwisserisch noch oberlehrerhaft. Immer und immer wieder versucht Rokita allen Seiten des "Oberschlesiertums" gerecht zu werden, alle Positionen ausgewogen zu präsentieren.Dabei ist Vieles selbst für Rokita neu: "Ich spürte, dass das, was sich hier zu deutscher Zeit abspielte, Trugschein war. Ich glaubte nicht an die Geschichte der Stadt Gleiwitz. Nichts deutete darauf hin, dass in meinem Viertel einmal eine Welt existieren konnte, die ganz anders war als die, die ich kannte" (S. 17). Für ihn als heranwachsenden polnischen Jugendlichen war die Zeit vor 1945 einfach nur "durchsichtig", nicht existent, nicht spannend genug. Dann aber, als er den "Oberschlesier" in sich entdeckte, wurde alles spiegelverkehrt verzerrt: Plötzlich erschien nur die "deutsche" Geschichte der Stadt als die einzig wahre, und Dinge von vor 1945, selbst wie unbedeutendsten, standen höher im Kurs, als die wertvollsten danach. Große Konflikte der Oberschlesier wie die Zeit der Aufstände und des Plebiszits (1919-21) bricht er in Geschichten einzelner Familien oder Personen, oft berichtet er dabei von der eigenen Familie. Dabei half nicht nur das, was in Erzählungen der Großmutter steckte, sondern auch was er aus Dokumenten und Gesprächen an Wissen über die eigenen Vorfahren erfahren hat (dazu besucht er Museen, spricht mit Regionalisten und Historikern, die immer wieder mit Fakten aufwarten, die seine Familie betreffen). Und wenn das nicht reicht, stellen Nachbarn und Bekannte ihre Geschichten bereit. So verfolgt er die Stimmung im zweigeteilten Oberschlesien nach 1922, spricht von Enttäuschungen auf polnischer Seite, von der sozialen Frage auf beiden Seiten, von der Germanisierung slawischer Ortsnamen und der Gleichschaltung nach 1933.Beeindruckend bleibt Rokitas Darstellung der innerschlesischen Grenze 1922-1939, die vor Leben nur so bebt: Die Oberschlesier dürfen sie tagtäglich passieren, besuchen Bekannte und Verwandte, schmuggeln täglich oder gelegentlich Alkohol und Zigaretten, betrinken sich bei Familienfesten. Mehr als 25.000 Menschen passieren sie jeden Tag an mehr als 50 Übergängen (allein sieben in Hindenburg), das macht im Jahr mehr als 8 Millionen Grenzübertritte! Teile der technischen Infrastruktur bleiben dabei in der Region trotz Grenze unangetastet: Wer von Kattowitz nach Beuthen telefoniert, braucht keine Vorwahl zu wählen.Einfach und klar erklärt Rokita auch die psychologischen inneroberschlesischen Trennlinien, geht dabei auf Zbigniew Kadłubek ein, der in der Grenzfrage von 1922 die heutige problematische Spannung zwischen dem Oppelner Land und der Woiwodschaft Schlesien sieht. Der Philosoph Kadłubek, heute Direktor der Schlesischen Bibliothek in Kattowitz, sieht darin die Gründe für die oberschlesischen Komplexe, für das lange Schweigen - bis zum Verschweigen, ja Verleugnen des eigenen Dialekts (Sprache?), Frustration, Scham und "Vergiftung des Herzens" (S. 79). Hier gründet auch seiner Meinung nach die im Polnischen bereits vollzogene Bedeutungsänderung des Namens "Schlesien" und der Verfall des Begriffes "Oberschlesien". Obwohl nur ein kleiner Teil des industriellen Oberschlesiens zunächst bei Polen verbleibt, ist nun dort alles nur "schlesisch": der schlesische Sejm, das Schlesische Museum, die Woiwodschaft Schlesien. Und so ist es bis heute: Wenn in Polen von Schlesien die Rede ist, ist dabei die Woiwodschaft Śląskie gemeint, die heute allerdings mehrheitlich aus nicht oberschlesischen Gebieten und Menschen besteht. In der Zwischenkriegszeit entsteht in Polen auch der Begriff "Oppelner Schlesien", ein Kunstbegriff für den deutsch verbliebenen Teil der Region, für den sich heute paradoxerweise am meisten die deutsche Minderheit einsetzt.Rokita hat Zeit, erzählt ausgiebig, sputet nicht, vertieft das Thema, bohrt seinen Gesprächspartnern Löcher in den Bauch, will verstehen warum, vergleicht die Situation Oberschlesiens mit anderen Regionen, immer bedacht in Wortwahl, immer nachvollziehbar, wer was wo gesagt hat. So wirken seine Ausführungen authentisch und überzeugend, wenn er über die größten Brüche der Geschichte spricht: den Zweiten Weltkrieg, die Oberschlesische Tragödie (d.h. die Verschleppung zur Zwangsarbeit in die UdSSR), die Vertreibung der "Deutschen" (darunter vieler zweisprachiger Oberschlesier) und die polnische Inbesitznahme der Region nach 1945. Rokita wirbt das Verständnis für die Situation der Oberschlesier, versucht ihre gemeinschaftliche Amnesie gegenüber der Zeit 1939-45 ("das Afrika-Corps war unsere Heimatarmee") zu erklären, zeigt sie als Opfer von wirtschaftlicher Ausbeutung und kultureller Kolonisierung: "Das Jahr 1922 trennt die Oberschlesier. Das Leid des Jahres 1945 bringt sie wieder zusammen" (S. 113). Jeder dieser Aspekte verdient eine ausführliche Besprechung an anderer Stelle.Spannend sind Rokitas Ausführungen zur eigenen Identität und zur Entstehung der oberschlesischen Autonomiebewegung nach 2010, die in einer solchen Dichte und Ausführlichkeit kaum woanders anzutreffen sind. Über die Beweggründe der "Nationserwecker" wie Jerzy Gorzelik und Pejter Długosz, über den Erfolg der Volkszählung 2011 und die späteren Niederlagen findet man selten einen derart ehrlichen Bericht. Diese Frage verdient allerdings eine eigene Betrachtung, wie auch andere Aspekte, etwa die Umweltsituation, die Landschaft, die Sprache.Einen Aspekt lässt Rokita außer Acht – den Exodus der Oberschlesier nach 1950 in die Bundesrepublik. Das Buch ist ganz allgemein an eher junge Polen von heute gerichtet (es ist im angesagten Czarne-Verlag erschienen, dessen Reportagebücher von einem eher großstädtischen Publikum gelesen werden), er selbst versteht sich als ein oberschlesischer Pole (S. 193), der anderen Polen sein Land Oberschlesien erklärt. Zu Deutschland und den Deutschen von heute hat er keine Meinung: "Ich habe nicht viel mit Deutschland zu tun" (S. 193). Etwas steif wirken auch seine Versuche, das "neue Deutschtum" der Oberschlesier im Oppelner Land zu werten, sein Besuch am Annaberg und im Dorf Cisek wirkt oberflächlich. Die Aussagen Joanna Hassas, einer Aktivistin der deutschen Minderheit in Oppeln, bleiben unkommentiert, unverstanden. Kadłubeks Gedanken zur Trennlinie der oberschlesischen Identitäten finden hier ihre Exemplifizierung, wenn Hassa sagt: "Ein polnischer Oberschlesier, das ist was Neues. Es war immer einfach nur Oberschlesier. Oberschlesien assoziiere ich eher mit Deutschland, nicht mit Polen. Wenn jemand vom "polnischen Oberschlesier" oder vom "oberschlesischen Polen" spricht, wie soll ich das verstehen?" (S. 193). Auch die Ergebnisse der Volkszählung bestätigen das: Im Oppelner Schlesien ist die angestammte Bevölkerung zumeist "deutsch" in ihrer Selbstwahrnehmung, in der Woiwodschaft Śląskie "oberschlesisch" und "oberschlesisch-polnisch".[1]Auch die Oberschlesier, die heute mehrheitlich in der Bundesrepublik leben, lassen Rokita kalt. Etwas stutzig nimmt man seine Worte wahr: "Deutschland war ausschließlich ein Land, aus dem man zum Urlaub kam, nie umgekehrt" (S. 180). Zwar spricht er davon, dass auch seine Verwandten in Deutschland leben, da diese aber nur Deutsch und er nur Polnisch spricht, zerfällt die Familie entlang der heutigen sprachlich-geografischen Grenzen. Es verwundert, dass Rokita sich damit zufriedengibt, denn sonst ist er immer einfallsreich (etwa Englisch als linqua franca?). Im ganzen Buch kommt keine einzige Person vor, die als Aussiedler aus Oberschlesien ausgereist ist und heute etwa versucht, das Verhältnis zur eigenen Heimat oder nur zur Heimat der Eltern neu zu ordnen oder zu würdigen.Für den deutschen Leser mag dies enttäuschend sein, denn Rokita begeht hier einen typischen Fehler polnischer Debatten: "Aus den Augen, aus dem Sinn". In vielen aktuellen polnischen Beiträgen zu Oberschlesien wird Deutschland nur historisch betrachtet. Die Tatsache, dass heute mehr Oberschlesier in Deutschland leben als in Oberschlesien selbst (gemeint ist die angestammte oberschlesische Bevölkerung, sog. Autochthone), wird seit Jahren ignoriert. Das ist schade, denn in Rokitas großartigem Panorama oberschlesischer Gegenwart fehlt der Dialog mit denen, die dem Land den Rücken gekehrt haben. Nicht selten schweren Herzens. Sie schreiben in Deutschland Leserbriefe an die Redaktionen ihrer "Heimatbriefe" und haben wenig Kontakt mit Menschen wie Rokita, kriegen nicht mit, was heute los ist in Oberschlesien.Oberschlesien bleibt so für die Polen eine "problematische" Region. Die Probleme bleiben aber "inner-polnisch", d.h. Polen oder oberschlesische Polen sprechen (auf Polnisch) mit Polen und anderen oberschlesischen Polen über sich selbst. Und diese – die meisten kommen wie Rokita aus gemischten oberschlesisch-polnischen Familien aus dem großstädtischen Industriegebiet – beschäftigen sich mit der Entdeckung eigener oberschlesischer Eigenarten, engagieren sich für die Autonomie Oberschlesiens, die oberschlesische Sprache, die regionale Geschichte und ordnen so ihr gegenwärtiges Verhältnis zu Polen als Staat und als Mehrheitsgesellschaft. Sie tragen verschiedene kulturelle, ethnische und sprachliche Elemente in sich und beanspruchen in Polen deren Anerkennung. Deutschland und die hier lebenden Oberschlesier liegen für sie weit weg und die deutsche Minderheit im ländlichen Oppelner Land betrachten sie misstrauisch als eine "unwahrscheinliche Variante der Geschichte" (S. 195). Und doch sollten alle Oberschlesier daran denken, "Perlen eines Rosenkranzes" (Kazimierz Kutz) zu sein. [1] Vgl.: https://pl.wikipedia.org/wiki/Narodowo%C5%9B%C4%87_%C5%9Bl%C4%85ska
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Russlands Küche gilt nicht. Sie ist im allgemeinen westlichen Bewusstsein nicht präsent. Mit Polen assoziiert man vage Pierogi, ähnliche Pielmieni mit der Ukraine, ähnlich wie der in Ostdeutschland früher echt populärer Soljanka-Eintopf. Aber Russland?Witold Szabłowski, polnischer Journalist mit Koch-Erfahrung in Skandinavien, schaut den Russen in die Töpfe. Dabei zeichnet er russische, sowjetische und wieder russische Geschichte in zwölf Topf-Geschichten, die Personen, Regionen oder Ereignissen zugeordnet werden. Er beschränkt sich aber nicht etwa auf übliche Gastro-Literaturtipps, ganz im Gegenteil, die angegebenen Rezepte sind nicht immer "zum Probieren" gedacht, vielmehr geht es um die Geschichten hinter den Töpfen oder vor den Herdplatten. Und wer steht dort? Natürlich Köche und andere Kreml-Vertraute oder die man dafür hält, die ihre Lebensgeschichten erzählen.Eine übliche Rezepte-Sammlung zum Nachahmen oder um sie als Geschenk-Kochbuch herauszugeben wäre nur im ersten Fall der Zarenküche lohnend, denn viele könnte es heute noch interessieren, wie die Speisen am damaligen Zarenhof schmeckten. Klar hatte der Zar einen Hofstaat zu ernähren, in der Küche des Winterpalasts arbeiteten immerhin mehr als 150 Angestellte, davon haben zehn nur für den Zaren gearbeitet, seine Familie und die Privatgäste. Vier Köche waren mit dem Backen und Braten beschäftigt, vier weitere mit Suppen. Darüber hinaus gab es eine Menge "Praktikanten", die alle Bereiche durchlaufen mussten. An einem gewöhnlichen Tag aß die Familie zum Frühstück z.B. eine Spargelsuppe, einen Hummer, Gänsefleisch, Selleriesalat und Kaffee. Zu Mittag tischte man Graupensuppe (mit Sauergurken, Möhren und Erbsen) auf, dazu Kartoffelpuffer mit Lachspaste, Roastbeef, gebratene Hähnchenbrust, Birnen in Sherry und Kuchen mit Preiselbeeren und Zuckerguss. So gesehen aß die Zarenfamilie zwar ausgesucht, aber insgesamt eher bescheiden. Das alles wissen wir von Alexandra L., der Urenkelin eines Angestellten des letzten Zarenkochs, die die Geschichte Ivan Charitonows hütet und dem polnischen Journalisten Witold Szabłowski zum ersten Mal verrät. Charitonow war der erste und der letzte Russe als Zarenkoch und dies auch zum Schluss der Zarenära, nachdem der letzte Franzose den Petersburger Hof in den Wirren des Weltkriegs und der Revolution verließ. Von da an ging es mit dem imperialen Menü eher abwärts, die Familie musste zwar nicht hungern, bis es in Jekaterinburg, wohin die Bolschewiki sie verbannt hatten, dann so schlecht war, dass Charitonow auf der Straße um Nahrungsmittel für den Zaren betteln musste. Nach Aussagen aus der Umgebung des Zaren hat ihn die Oktoberrevolution ziemlich wenig interessiert, erbost war Nikolaus II. nur wegen der Plünderung und Zerstörung der Kellervorräte an Wein und ausgesuchten Alkoholika. Der Koch und der Butler gehörten zum Zaren wie die engsten Familienmitglieder, das erkannten die Bolschewiki auch so an und ließen die beiden gleich nach dem Zaren töten, erst danach die Zarin, ihre Zofe und die Kinder. Nachdem die Leichname übereinander in eine Grube geworfen wurden, war es nach der Exhumierung (erst 1990, nach dem Fall der UdSSR) unmöglich, die Gebeine Nikolaus II. und die seines Kochs Charitonows eindeutig zu identifizieren. "So liegt der Koch mit dem Zaren in einem Sarg, symbolisch, nicht wahr?", fragt Alexandra Z.Die russische Küche hatte es von nun an unter den Kommunisten schwer. Bis zum Fall der Sowjetunion hatte das beinahe 200 Millionen Menschen zählende "Volk" immer mit einem Ernährungsproblem zu kämpfen, die verstaatlichten Betriebe (Kolchosen und Sowcosen) fielen in der Produktivität so rasant zurück, dass Geschäfte eigentlich zu keiner Zeit genügend Ware angeboten, um den Menschen einen Essgenuss zu bieten. Von nun an durften nur einige Wenige über üppige Tische verfügen – im ganzen Land wurde die Ernährungssituation zum Politikum. Schuld daran waren die politischen Vorgaben – die rücksichtslose Kollektivierung, die Wegnahme des Saatguts, die Verbannung der Bauern aus der Ukraine nach Sibirien, die Veruntreuung in den staatlichen Betrieben, die räuberische Naturausbeutung und die politisch bedingte Verteilungspolitik, genauso wie z. B. der Getreideexport zu Hungerszeiten.Dabei aßen die kommunistischen Revolutionäre wenig, wie Lenin zum Beispiel, der sein Leben lang über Magen- und Verdauungsprobleme klagte. Auch Stalin war kein Gourmet, ihm reichten schon einfache Speisen wie Graupen mit Buttermilch. Erst mit der Zeit holte er Köche aus seiner georgischen Heimat in den Kreml samt den südländischen Sorten von Obst und Gemüse, wie in Russland bis dahin eher unbekannte Zucchini, Tomaten, Auberginen oder Paprika. Bei Lenin soll das Weißbrot an seiner gesundheitlichen Misere schuld gewesen sein. Die Uljanows, so die Erzählung, folgten der bürgerlichen Weißbrot-Mode, die im Schwarzbrot enthaltenen Mineralien und Ballaststoffe hatten sie aber kaum durch andere Speisen ergänzt und so waren Magenprobleme vorprogrammiert. Lenins Mutter, eine Wolga-Deutsche, achtete dabei auf Sauberkeit und vor allem auf Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit bei der Ernährung. So soll Wladimir Ilitsch ärgerlich geworden sein, wenn Gäste sich verspäteten und dadurch feste Mahlzeiten verschoben werden mussten. Er war kein Snob, aß, was man ihm auftischte, es ist nicht überliefert, was und ob ihm irgendetwas mal besonders schmeckte. Nach der Revolution wohnte Lenin in Gorki bei Moskau, um seine Gesundheit aufzubessern. Dort hatte er eine eigene Köchin mit Namen Schura. In der Sowjetunion durfte man nicht davon sprechen, dass Lenin eine Köchin hatte, offiziell kochten seine Schwester oder seine Frau Nadeschda Krupska.Auch Stalin hatte zunächst kein Händchen für die Küche. Auch fürs Aufräumen nicht. Als er, vom Zaren wegen revolutionärer Umtriebe nach Sibirien verbannt, eine Hütte mit Swerdlow und Kamenew teilte, zeigte sich schnell, dass er nicht vorhatte, etwa wie alle anderen im Wechsel zu kochen, geschweige denn zu spülen. Nur für die Jagd konnte er sich erwärmen. Später in Moskau, schon als Funktionär und Parteisekretär, aß er tagein tagaus in der Kreml-Mensa. Aber es sollte anders kommen, was Szabłowski in Stalins Heimat Gori von Iwan Aliachnow, dem Nachkommen einer georgischen Gastronomenfamilie erfährt. Iwans Stiefvater Alexander Egnataschwilli war ein umtriebiger Unternehmer in der kurzen wirtschaftsliberalen Zeit der 1920er Jahre gewesen (der sogenannten NEP-Ära). Er führte in Tiflis mehrere Restaurants und eine Weingroßhandlung. Den wirtschaftlichen Erfolg legte er seiner aus Thüringen stammenden Nachbarin Liliana zu Füßen, die er aber erst nach dem Tod ihres Mannes ehelichen konnte. Alex kannte auch "Keke", Stalins Mutter, die in jungen Jahren bei seinem Vater als Köchin aushalf. Iwan beteuert, dass Alexanders Leben nicht spannender hätte sein können - im guten wie im schlechten Sinne. Nach der neuen Parteidevise nach dem Ende der NEP-Politik sollten alle Privatunternehmer durch Steuern drangsaliert werden. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Alex kam wegen Steuerschulden ins Gefängnis, von wo er von "Keke" gerettet wurde. Kurze Zeit danach ging er mit Liliana nach Moskau. Stalin empfing ihn freundlich und gab ihm eine Anstellung als Chef eines Partei-Erholungsheimes auf der Krim. Später übertrug er ihm die Leitung seiner Datscha in Kunzewo bei Moskau, wo Alex auch für ihn kocht. Stalin aß damals einfach, zu seinem 50. Geburtstag tischte er z.B. "nur" eine rustikale Sauerkrautsuppe mit Kalbsfleisch auf. Irgendwann fragte er Stalin, ob ihm die georgische Küche nicht fehlen würde. Szabłowski schreibt: "Der Wechsel der Küche brachte Stalin viel Freude". So kamen Farbe und Vitamine auf dem Tisch des Diktators.Aber der Parteichef hatte seine tagtäglichen Marotten und Phobien. Eine davon war die Angst, vergiftet zu werden. So wurde Alex, der selber zwar immer weniger kochte, zum "Versuchskaninchen", der Stalins Mahlzeiten kostete. Alle Nahrungsmittel wurden vor Ort, d.h. in Kunzewo angebaut, ebenfalls wurden dort alle zum Verzehr bestimmten Nutztiere gezüchtet, Fische kamen aus dem eigenem Teich. Iwan Alichanow erzählte Szabłowski noch die Geschichte seiner unglücklichen Mutter Liliana, die um nichts in der Welt Alex und die Sowjetunion verlassen wollte, als dieser sie vor dem deutsch-sowjetischen Krieg warnte und sie nach Deutschland schicken wollte. Liliana geriet als Deutsche in den Sog "antifaschistischer" Propaganda und einer allgemeinen Anti-Spion-Psychose. Und selbst Alex, Stalins Koch und Vertrauter, konnte ihr nicht helfen… eine dramatische, tragische Geschichte.An Dramatik sind jedoch einige weitere Fragmente, welche die Zeit des Hungertodes in der Ukraine und des Zweiten Weltkriegs behandeln, nicht zu übertreffen. Nicht erst seit dem aktuellen Getreideabkommen mit der Ukraine weiß man, was es bedeutet, wenn Russland der Welt mit Hunger droht. Schon früher wurde dort nämlich mit Nahrungsmitteln Politik gemacht. Die Welt merkte davon wenig oder wollte sich damit nicht befassen. Linke Intellektuelle besuchten die Sowjetunion in den 1930er Jahren, die Allermeisten davon waren von den schnellen Errungenschaften der jungen Sowjetmacht begeistert. Die andere Seite der Medaille – dass es sich bei den Erfolgen um Sklavenarbeit im Gulag-System handelte, wollten diese Menschen nicht wissen. So gehören die Kapitel über Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine, die zum Raub der Lebensmittelreserven und Saatgut und zur Verbannung der "Kulaken" nach Sibirien führte, zu den dramatischen Momenten der in der Regel verschwiegenen Geschichte des Sowjetstaates. Über den "Holodomor" durfte man in der Sowjetunion nicht sprechen und auch der Westen war nicht interessiert, brauchte dieser Stalins UdSSR doch zunächst als Verbündeten im Kampf gegen Hitler-Deutschland. Damals starben Millionen Ukrainer auf den ertragsreichsten landwirtschaftlichen Gebieten der Welt. Der Hungertod war auch im Zweiten Weltkrieg im Osten Europas allgegenwärtig. Ohne die Nahrungsmittelhilfe der verbündeten Amerikaner ist der schnelle Vormarsch der Roten Armee 1944 wohl nicht denkbar… Und dennoch mussten viele Städte im Krieg hungern, über die Versorgung der Flüchtlinge und der nach Sibirien Vertriebenen machte sich die Sowjetmacht nur allzu wenig Gedanken, wie an anderer Stelle, etwa bei Wiktor Krawtschenko, einem sowjetischen Dissidenten, nachzulesen ist. Und über den Hunger in der Ukraine erzählt der Film von Agnieszka Holland "Mr. Jones", der allerdings in Deutschland kaum Erfolg hatte.Und was geschah nach dem Krieg? Auch da blieb die sowjetische Landwirtschaft hinter den Erwartungen der Gesellschaft, aber auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern zurück. Für die festlich hergerichteten Tafeln im Kreml hatte das keine allzu große Bedeutung, wie Viktor Belajew, einer der erfahrensten Chef-Köche im Kreml berichtet. Er kochte für Breschnew, Gorbatschow, Jelzin und Putin, dabei kannte er die Geheimnisse der Kreml-Küchen wie kein anderer. Belajew teilt die dortigen Köche in "allgemeine" und "personengebundene". So hatten die hohen Persönlichkeiten in Staat und Partei ihren eigenen Koch, der vom KGB abgeordnet war. Mit dem Ableben "seines" Prinzipals oder im Falle dessen politischen Karriereknicks waren sie ebenfalls verpflichtet zu gehen. Viktor war ein "allgemeiner" Koch, der bei großen Empfängen in der Breschnew-Ära tätig war, auch für den polnischen Parteiführer Edward Gierek. In Moskau gab es damals keine exotischen Früchte oder Gemüse, viele ausländische Gäste brachten eigene Köche und Vorräte mit. "Das Einzige, was die Polen mitbrachten, das waren die Würste, solche hatten wir in der Sowjetunion nicht!", so Viktor im Gespräch mit Szabłowski. Mit Wehmut erinnert er sich an die üppig ausstaffierten Tafelrunden bei Breschnew: "Die Kreml-Tische – das ist eine Geschichte für sich, es gab eine ganze Dekor-Philosophie, damit waren auch -zig Leute beschäftigt. Das Wissen, das sich seit der Zarenzeit mehrte, hatte damals seinen Zenit erreicht. Auf den Tischen standen hübsch dekorierte Störe, versilberte Schüsseln mit schwarzem und rotem Kaviar, Krabbensalat, alle Arten von Fleisch und Fisch", so Belajew. Merkwürdig dabei war irgendwie doch die Anknüpfung an die "Dekadenz" der Zarenzeit, da doch die Parteifunktionäre Chruschtschow und Breschnew aus kleinen ukrainischen Dörfern bzw. Kleinstädten stammten. Nach offiziellen Anlässen wurden sie dann noch von ihren "persönlichen" Köchen bekocht und nicht selten mit einfachen Stampfkartoffeln mit Buttermilch beglückt.Szabłowski geht noch weiter – über die Ära Gorbatschow, der die übertriebene Üppigkeit Kremlscher Ess- und Trink-Rituale wieder abschaffte, über den alkoholkranken Jelzin bis hin zu Putin und dessen Großvater Spiridon, der Koch in einem Sanatorium gewesen sein soll. Dieser hätte sein Fach noch zu Zarenzeiten absolviert, so Putin in einem Zeitungsgespräch in den 1990er Jahren, kurz bevor er zum ersten Mal für das Amt des Präsidenten kandidierte. Später soll sein Großvater bei Lenin in Gorki und in einer Stalin-Datscha gekocht haben, aber beweisen lässt sich das nicht. Szabłowski merkt, dass das Thema schwierig ist und bekommt als Antwort von einem seiner Gesprächspartner: "Wenn der Präsident sagte, dass sein Großvater hier arbeitete, dann bin ich sicher, dass solche Nachweise bald ans Tageslicht kommen", sagte er, der anonym bleiben will. Anonym bleiben? Ja, in Putins Russland gilt nach wie vor die Devise, dass man lieber zu wenig als zu viel sagt.Und dennoch liest sich das Buch prächtig, da der Autor ein Meister seines Fachs ist und bleibt. Es gelingt ihm auch noch, Frauen zu finden, die nach der Katastrophe von Tschernobyl dort für die Rettungsmannschaft kochten, oder Frauen, die in Afghanistan in der Armee-Mensa tätig waren.Kaluzas Pflichtlektüren befassen sich meistens mit polnischen Büchern, die ich gerne auf Deutsch sehen würde, bei diesem Buch ist es anders, es ist soeben übersetzt worden und es wird gerade gedruckt! Das spannende (Koch)-Buch erscheint zur Frankfurter Buchmesse im Katapult Verlag, die Übersetzung besorgte Paulina Schulz-Gruner, ich wünsche dem Buch viel Erfolg!
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In der Geschichte der polnischen Medien hat es noch nie einen Protest von solchem Ausmaß gegeben: Unabhängige TV- und Radiosender, Zeitungen, Zeitschriften und Internetportale protestieren am 10.Februar 2021 gleichzeitig. Im Radio ist nur die Ankündigung zu hören, dass heute kein normales Programm gesendet wird, Zuhörerinnen und Zuhörer müssen sich mit dem verlesenen Aufruf zufrieden stellen. Zeitungen haben den für die gesamte Branche gemeinsamen Protesttext auf ihren leeren Titelseiten abgedruckt. Die Informationsseiten im Internet sehen schwarz aus. Das ist der gemeinsame Protest der privaten Medien gegen die Pläne der Regierung, eine zusätzliche Werbesteuer einzuführen. Die Einnahmen daraus sollen, laut der Regierung, aufgrund der von der Pandemie verursachten Zusatzkosten vor allem zur Unterstützung des Gesundheitswesens verwendet werden. In Wirklichkeit, so behaupten die privaten Medien, soll der Vorschlag es ihre Situation verschlechtern und damit die Medienfreiheit in Polen bedrohen. Er erinnert an eine von der Orbán-Regierung 2014 eingeführte Sondersteuer für Medien, durch die die unabhängige Medienlandschaft in Ungarn erheblich eingeschränkt wurde. AusgangspunktAnfang Februar dieses Jahres gab die Regierung bekannt, dass sie an einem Gesetzentwurf zur Einführung einer Steuer für Online- und Print-Werbung arbeitet. Das Finanzministerium erklärte: "Das Projekt sieht vor, zusätzliche Mittel zu beschaffen, die dazu dienen, die langfristigen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu lindern. Sie werden sich aus Abgaben auf Werbung im Internet und in konventionellen Medien speisen." Laut der Regierung soll das Gesetz vor allen "die größten digitalen Giganten", die in Polen Geld verdienen, dazu zwingen, in Polen Steuern zu zahlen.Der Berechnungsmechanismus ist vielfältig und besteht aus verschiedenen Steuersätzen. Zum Beispiel sollen für TV-, Radio-, Kino- und Außenwerbung bei Werbeeinnahmen von mehr als 1 Mio. PLN 7,5 Prozent zusätzliche Steuern erhoben werden, ab 50 Mio. PLN sollen es 10 Prozent sein. Im Falle der Presse sind die Sätze und Schwellenwerte niedriger. Für Einnahmen aus Werbung für gesundheitsschädliche Produkte, z.B. zuckerhaltige Getränke, sollen höhere Sätze gelten. Die Einnahmen dienen, so der Gesetzentwurf, der Unterstützung des Gesundheitswesens und des Denkmalschutzes. Außerdem soll ein ominöser "Fonds zur Unterstützung von Kultur und Nationalem Erbe im Bereich der Medien" geschaffen werden. Das Ministerium schätzt, dass sich die Einnahmen im Jahr 2022 auf 800 Mio. PLN belaufen könnten.Das Thema der Besteuerung von globalen Internetkonzernen, die in jedem Land der EU kolossale Gewinne erzielen, diese in diesen Ländern jedoch nicht versteuern, ist nicht neu. Die Arbeit an einem entsprechenden Richtlinienentwurf wurde vor einigen Jahren von der Europäischen Kommission in Angriff genommen, aber nie abgeschlossen. Die polnische Regierung verweist auf ähnliche Regelungen, die in EU-Ländern wie Frankreich, Spanien, Großbritannien und Italien gelten.Antwort der BrancheExperten, Vertreter der Wirtschaft und vor allem die Medien selbst bleiben skeptisch. Viele sind der Meinung, dass die Steuer eindeutig Akteure einige auf Kosten anderer begünstigt. Betroffen sind Fernsehsender, Internetkonzerne und große Presseverlage. Kleine Presseverlage (wie diejenigen, die die Partei Recht und Gerechtigkeit unterstützen, auch die von Orlen übernommene Medienholding Polska Press, der viele kleine Verlage als separate Unternehmen angehören) können Werbung künftig um 10 Prozent günstiger anbieten als große.Die Regierung verweist in ihrem Konzept auf die Notwendigkeit, die durch die Pandemie entstandenen Schäden auszugleichen. Doch die Pandemie selbst hat auch Verlage der traditionellen Presse sowie andere private Medien bereits stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Werbeeinnahmen sind zurückgegangen, die Zeitungsauflagen stark gesunken. Rückläufige Einnahmen aus Verkaufserlösen und Werbung haben den finanziellen Spielraum der Medienunternehmen verringert und sie zu Einsparungen gezwungen. Viele private Medien behaupten deshalb, sie seien durch die Pandemie in eine Krise geraten, die langsam existenzbedrohend wird. Die öffentlich-rechtlichen Medien werden hingegen von der Regierung mit 2 Milliarden Zloty gefördert. Und noch im letzten Frühjahr versicherte si, dass sie während der Pandemie keine neuen Steuern für Unternehmen erheben werde.Wirtschaftsexperten weisen auch darauf hin, dass die Steuer zwar ein breites Spektrum von Unternehmen erfassen soll, in der Praxis aber schwer zu berechnen und durchzusetzen sein wird. Es heißt auch, dass das Gesetz nicht, wie von der Regierung angestrebt, vor allem die globalen Internetkonzerne betreffen wird.Laut dem Gesetzentwurf soll das Gesetz soll am 1. Juli 2021 in Kraft treten. Der Sejm soll sich in März damit befassen. Den Protesttext der unabhängigen Medien veröffentlichen wir hier in deutscher Übersetzung.Mehr zum Thema Presselandschaft in Polen und über die neusten Ereignisse finden Sie in den Polen-Analysen Nr. 269.Ein Text zur Lage auf dem Fernseh- und Radiomarkt erscheint am 16.Februar auf https://www.laender-analysen.de/polen-analysen/ Offener Brief an die Behörden der Republik Polen und an die Führer der politischen GruppierungenWir beziehen uns auf die angekündigte neue, zusätzliche Belastung der auf dem polnischen Markt tätigen Medien, die irreführend als "Abgabe" bezeichnet wird und unter dem Vorwand von Covid-19 eingeführt werden soll. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als eine Zwangsabgabe, die den polnischen Zuschauer, Hörer, Leser und Internetnutzer sowie die polnischen Produktionen, Kultur, Unterhaltung, Sport und Medien trifft.Ihre Einführung bedeutet:eine Schwächung oder gar Liquidierung eines Teils der in Polen tätigen Medien, was die Möglichkeit der Gesellschaft hinsichtlich der Auswahl der für sie interessanten Inhalte erheblich einschränken wird, die Einschränkung der Finanzierungsmöglichkeiten hochwertiger und in Polen generierter Inhalte. Deren Produktion sichert derzeit den Lebensunterhalt von hunderttausenden von Mitarbeitern und deren Familien und ermöglicht der Mehrheit der Polen einen weitgehend kostenlosen Zugang zu Informationen, Unterhaltung und Sportveranstaltungen, eine Vertiefung der Ungleichbehandlung der auf dem polnischen Medienmarkt tätigen Akteure. In einer Situation, in der die staatlichen Medien jedes Jahr 2 Mrd. Złoty aus den Taschen aller Polen erhalten, werden die privaten Medien mit einer zusätzlichen Zwangsabgabe von 1 Mrd. Złoty belastet, die faktische Bevorzugung von Unternehmen, die nicht in das Entstehen von in Polen generierter Medieninhalte investieren, zu Lasten derjenigen Unternehmen, die am meisten in Polen investieren. Schätzungen zufolge werden die von der Regierung als "globale digitale Giganten" bezeichneten Unternehmen nur etwa 50-100 Mio. Złoty Zwangsabgaben zahlen, im Vergleich zu 800 Mio. Złoty, die von anderen vor Ort in Polen tätigen Medien gezahlt werden. Skandalös ist auch die asymmetrische und selektive Belastung einzelner Unternehmen. Darüber hinaus ist der Versuch einer Änderung der Konzessionsbedingungen während ihrer Gültigkeitsdauer in einem Rechtsstaat unzulässig. Als Medien, die seit vielen Jahren in Polen tätig sind, entziehen wir uns nicht unseren Pflichten und unserer gesellschaftlichen Verantwortung. Jedes Jahr zahlen wir eine zunehmende Anzahl von Steuern, Abgaben und Gebühren an den Staatshaushalt (CIT, Mehrwertsteuer, Emissionsgebühren, Abgaben an die Urheberrechts-Organisationen, Konzessionen, Frequenzen, Buchungsentscheidungen, VoD-Gebühren usw.). Darüber hinaus unterstützen wir die schwächsten Gruppen in unserer Gesellschaft mit unserer eigenen karitativen Arbeit. Wir unterstützen die Polen wie auch die Regierung im Kampf gegen die Epidemie, sowohl durch die Vermittlung von Informationen als auch durch die Bereitstellung von Ressourcen im Wert von hunderten Millionen Złoty.Wir lehnen es daher entschieden ab, die Epidemie als Vorwand zu benutzen, um eine weitere, neue, außerordentlich schwere Belastung der Medien einzuführen – eine dauerhafte Belastung, die die Covid-19-Epidemie überdauern wird. Unterzeichner des BriefesAgencja Wydawnicza AGARD Ryszard PajuraAgora S.A.AMS S.A.Bonnier BusinessBurda Media PolskaCANAL+Dziennik TrybunaDziennik WschodniEdipresse PolskaEleven Sports Network sp. z o.o.Gazeta RadomszczańskaGreen Content sp. z o.o.Gremi Media S.A.Grupa EurozetGrupa Interia.pl sp. z. o.o.Grupa Radiowa Agory sp. z o.o.Grupa RMFGrupa ZPRHelios S.A.Infor BiznesKino Polska TV S.A.Lemon Records sp. z o.o.Marshal AcademyMusic TV sp. z o.o.Muzo.fm sp.z o.o.NaTemat.plPolitykaPolska Press GrupaRingier Axel Springer PolskaSTAVKA sp. z o.o.Superstacja sp. z o.o.Telewizja Polsat sp. z o.o.Telewizja Puls sp. z o.o.TIME S.A.TV Spektrum sp. z o.o.TVN S.A.Tygodnik Powiatu Wołowskiego Kurier GminTygodnik PowszechnyWydawnictwo BauerWydawnictwo Dominika Księskiego WulkanWydawnictwo MagrafWydawnictwo NowinyZakopiańskie Towarzystwo Gospodarcze - Tygodnik Podhalański Übersetzt von Nathalie Waxin
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Im Kampf für ein Klima der Offenheit und Freiheit sind die Hochschulen allein überfordert – weshalb den Bundesländern jetzt eine besondere Verantwortung zukommt. Ein Gastbeitrag von Stephan Seiter.
Stephan Seiter ist seit 2021 Mitglied des Bundestages für die FDP und Sprecher seiner Fraktion für Forschung, Technologie und Innovation. Bis zu seiner Wahl war er Professor für Volkswirtschaftslehre an der ESB Business School der Hochschule Reutlingen. Foto: DBT/Stella von Saldern.
AN DEN DEUTSCHEN HOCHSCHULEN kam und kommt es aktuell zu Ausschreitungen und Vorfällen, die in ihrem Ausmaß, ihrer Intensität und ihrem Inhalt betroffen machen. Das Behindern von Rednerinnen und Rednern und die Gewalt insbesondere gegen jüdische Studierende gefährden das Klima der Offenheit und Freiheit des wissenschaftlichen Diskurses. Es geht um nichts Geringeres als die Verteidigung der nach Artikel 5 des Grundgesetzes garantierten Freiheiten.
Insbesondere die Bundesländer müssen ihre legislative und exekutive Macht zur Durchsetzung der Wissenschaftsfreiheit einsetzen, allein sind die Hochschulen damit überfordert. An den folgenden Leitsätzen muss sich die Wissenschaftspolitik dabei meiner Auffassung nach orientieren:
1. "Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." Der Verfassungsgrundsatz nach Artikel 5 des Grundgesetzes definiert die einzige legitime Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Die Wissenschaftsfreiheit schützt keine Verfassungsfeinde und ist zu jeder Zeit und insbesondere im Hochschulraum durchzusetzen.
2. Die Wissenschaftsfreiheit ist eine konstituierende Eigenschaft der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland. Die deutsche Geschichte – vom Nationalsozialismus bis hin zum DDR-Unrechtsstaat – lehrt uns: Freiheit und Demokratie brauchen eine unabhängige Wissenschaft. Sie ist ein unverzichtbarer Teil der wehrhaften Demokratie.
3. Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind unfrei, wenn Hochschulmitglieder im Rahmen ihrer Hochschulaktivität Hetze, Bedrohungen oder sogar Gewalt ausgesetzt sind. Die Bundesländer sind maßgeblich für die innere Sicherheit verantwortlich. Sie tragen auch die Verantwortung für die Sicherheit an Hochschulen. Zu diesem Zweck müssen Bund und Länder Beratungsstellen zur juristischen, psychologischen und kommunikativen Unterstützung bedrohter Wissenschaftler stärken und Täter mit allen Mitteln des Rechtsstaates zur Rechenschaft ziehen.
4. Die Länder sind in der Pflicht, ihre Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit den geeigneten rechtlichen Mitteln auszustatten, damit diese ihrer Aufgabe der Wahrung der Wissenschaftsfreiheit und Sicherheit an ihren Institutionen nachkommen können. Dazu zählt unter anderem die Möglichkeit der Zwangsexmatrikulation antisemitischer Gewalttäter.
5. Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen geprägt sein von einem Klima der Freiheit. Pauschale Selbstbeschränkungen der Wissenschaft, die über die verfassungsrechtlichen Beschränkungen hinausgehen, sind aus diesem Grund abzulehnen. Dazu zählen weitreichende Zivilklauseln.
6. Das Behindern von Lehr- und Diskussionsveranstaltungen durch Einschüchterungsversuche oder Gewalt sind keine Formen des legitimen Protests. Es ist die Aufgabe des Rechtsstaats, seine Bürger und Institutionen von derartigen illegitimen Formen des Protests zu schützen, zugleich müssen die Hochschulen aber auch konsequent die Unterstützung der Polizei in Anspruch nehmen.
7. Hochschulen müssen ein Ort des freien Austausches sein. Keine Theorie oder politische Ideologie – auch nicht der Postkolonialismus – hat einen Anspruch auf absolute Wahrheit. Studien und Berichte, die darauf hindeuten, dass Studierende und Forschende aus Angst vor Repressionen Selbstzensur betreiben, sind alarmierend. Diesen Entwicklungen muss die offene Gesellschaft konsequent mit Diskurs, Streit und Debatte begegnen.
Das deutsche Wissenschaftssystem ist für die Zeitenwende noch nicht gewappnet. Im Umgang mit einer neuen sicherheitspolitischen Realität sind deutsche Hochschulen fast machtlos einem Spannungsfeld aus öffentlicher Erwartung, dogmatischer Selbsteinschränkung und teils realitätsferner Landesgesetzgebung ausgesetzt. In allen Feldern ist es nun angesagt, sich verstärkt von der Freiheit leiten zu lassen.
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Solange das Bild des Lehrkräfteberufs in der Gesellschaft vor allem eines von Zweifeln und Überlastung ist, muss die Lehrer*innenbildung selbst den Optimismus liefern. Was Hochschulen tun können und welche Maßnahmen sie bereits ergreifen. Ein Gastbeitrag von Antje Kampert und Jan Springob.
Jan Springob ist Gymnasial- und Gesamtschullehrer für Englisch und Geschichte und leitet das Team Schulnetzwerk und Internationales am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität zu Köln. Antje Kampert hat Deutsch und Geschichte auf Lehramt studiert, ist Supervisorin und systemische Familientherapeutin und leitet am Zentrum das Team Beratung. Foto: Lili Beckers/Andrea Schönwandt.
MILA, 19 JAHRE ALT, treffen wir auf unserer Einführungsveranstaltung für neue Lehramtsstudierende, den sogenannten "Ersti-Tagen", und kommen ins Gespräch. Die Studentin ist hochmotiviert, offen und zugewandt; sie freut sich auf das Studium für ihren Traumberuf. Doch schon nach wenigen Minuten äußert Mila folgendes: "Obwohl ich schon immer Lehrerin werden wollte, junge Menschen gerne auf ihrem jeweiligen Weg unterstütze, und weiß, wie wichtig genau dieser Beruf ist, habe ich dennoch Angst, dass ich das nicht schaffe, psychisch und physisch. Man liest so viele Horrorgeschichten. Wieso sollte gerade ich gesund bleiben in diesem Beruf?"
Bülent, 24 Jahre alt, absolviert sein Praxissemester an einer Realschule. "Ich bin echt verzweifelt, aber so habe ich mir das nicht vorgestellt", sagt er. "Jeden Abend bin ich total fertig vom Tag und will nur noch schlafen, aber ich kann überhaupt nicht abschalten. Ich weiß nicht, wie ich mit all den Anforderungen umgehen soll. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob ich noch Lehrer werden möchte."
Gibt es gar keine positiven Geschichten aus der Schule mehr?
Äußerungen und Geschichten wie die von Mila und Bülent sind bekannt und medial verbreitet (zum Beispiel im Spiegel). Eher selten werden Geschichten rund um Schule in einem optimistischen, positiven oder lösungsorientierten Tenor geäußert. Gibt es diese etwa gar nicht (mehr)?
Fest steht: Die Herausforderungen für Lehrkräfte in einer hoch komplexen, sich permanent im Wandel befindenden Welt sind immens, erst recht angesichts der Größe und Diversität vieler Schulklassen und der schlechten Ausstattung vieler Schulen. Der Lehrkräftemangel ist sicht- wie spürbarer Alltag in zahlreichen Schulen in ganz Deutschland, und die Zahlen rund um Lehrer*innengesundheit sind alarmierend. Ein veränderter Blick der Öffentlichkeit auf den Berufsalltag von Lehrer*innen, ein anderes, konstruktiv-positives Narrativ (wovon?) sind aus unserer Sicht zwei Bausteine, um die Attraktivität des Berufs (wieder) zu erhöhen. Allerdings sind es nur zwei Bausteinen von vielen.
Mindestens ebenso wichtig und zentrale gesellschaftliche Aufgabe der Lehrer*innenbildung selbst ist es, motivierte, fachlich sehr gut ausgebildete, emphatische und resiliente Lehrer*innenpersönlichkeiten für ein Lehramtsstudium zu begeistern, auszubilden und zu begleiten. Dafür müssen Bau- wie Schwachstellen des Systems ehrlich benannt und parallel dazu konkrete Lösungen und Strategien angeboten werden. Dazu gehört, den Fokus neben aller Fachlichkeit auf Gesundheit und Wertschätzung zu legen, in allen Phasen der Lehrkräftebildung. Es gibt einen dringenden Handlungsbedarf und zwar jetzt. Gesundheit, Wohlbefinden und Selbstwirksamkeits-Erleben sind Grundvoraussetzungen dafür, eine Lehrkraft zu werden und zu bleiben, die ihren Beruf mit Engagement ausübt, ohne dabei auf der Strecke zu bleiben.
Gesundheit als ein Querschnittsthema aller Phasen der Lehrer*innenbildung
Das Thema "Gesunderhaltung" gehört als Querschnittsthema in alle Phasen der Lehrer*innenbildung, muss von Beginn des Studiums an thematisiert und in verschiedenen Settings erlernt und reflektiert werden; es muss in greifbare Angebote übersetzt werden, um erlebbar, um im Alltag abruf- und nutzbar zu sein. Die wahrgenommene Wertschätzung des Lehrberufs als wichtige Ressource für das berufliche Wohlbefinden wurde bereits identifiziert. Evaluationen aus Coachings, Supervisionen und Peer-Mentoring Programmen am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität zu Köln legen offen, dass Studierenden ein positives Narrativ häufig fehlt und sie diesem eine hohe Relevanz für ihr Wohlbefinden zuschreiben. "Wenn so motivierend und positiv vom Lehrerberuf gesprochen wird, dann weiß ich wieder, warum ich LehrerIn werden wollte und freue mich darauf", so stellvertretend die Teilnehmerin einer Supervisionsgruppe.
Solange in der Gesellschaft das positive Narrativ fehlt, muss die Lehrer*innenbildung es ums dringender selbst liefern. Ein erstes greifbares Angebot ist das konsequente Onboarding im Lehramtsstudium in Form von Ersti-Tagen oder einer Welcome Week, um Studierende an der Universität und vor allem auch im Lehramtsstudium, nicht nur in den Fächern, willkommen zu heißen, ihnen frühzeitig Unterstützungsangebote vorzustellen und von Beginn an Aufgaben, Chancen und Herausforderungen des Lehrberufs ehrlich und konstruktiv zu benennen.
Hierzu zählt dann , nicht nur, aber auch, die Sensibilisierung für die Themen Gesundheit und Wohlbefinden in der Ausbildung und im Schulalltag – als gemeinschaftliche Aufgabe aller am schulischen Leben Beteiligten, weg vom Einzelkämpfertum hin zu einem sozialen Miteinander. Es geht darum, Reflexionsräume zu schaffen, kollaboratives Arbeiten zu ermöglichen, eine gute Kollegialität und ein wertschätzendes Führungsverhalten. Diese Faktoren kennenzulernen, zu erproben und anzuwenden, die nachweislich zu einer gesünderen Arbeitshaltung führen können, erscheint uns eine Aufgabe in allen Phasen der Lehrer*innenbildung.
Damit Mila und Bülent handlungsfähig werden
Genau deshalb gibt es auch von Beginn des Studiums an in Köln konkrete Beratungs-, Coaching- oder Supervisionsangebote. Es gibt Themenworkshops zum Beispiel vor Prüfungsphasen zum Zeit- und Stressmanagement, und Lernmodule zu zentralen Querschnittsanliegen und -themen ermöglichen eine asynchrone Bearbeitung in eigenem Tempo. Die Aus- und Weiterbildung gilt es für das Thema Lehrer*innengesundheit ebenso in den Bick zu nehmen, die unübersehbaren Leerstellen gilt es anzupacken, seien es die Personal- und Organisationsentwicklung in Schule und eine gelingende Elternarbeit mittels lösungsorientierter Kommunikation oder phasenübergreifende Mentoring-Programme zur gegenseitigen Unterstützung.
Angebote wie diese sind es, die am Ende dafür sorgen werden, dass Mila, Bülent und ihren Kommiliton*innen, handlungsfähig werden und bleiben.
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Wer glaubt, Rechtsradikale mit einem eigenen Ruck nach rechts schwächen zu können, hat die Lektionen der Geschichte nicht verstanden. Und wer glaubt, Wutbürger durch Nachgeben zu besänftigen, der füttert nur deren Unersättlichkeit. Ein Essay.
ES GEHT MIR wie so vielen im Augenblick: Ich erledige meine Arbeit, doch etwas ist anders als sonst. Ich berichte aus Bildung und Forschung, versuche, am Puls der Zeit zu sein, lesenswerte Analysen und Interviews zu liefern. Ich freue mich, wenn ich wieder einmal einen Scoop landen kann, wie wir Journalisten das nennen: eine Nachricht, eine Neuigkeit, die sonst noch keiner hat.
Doch alles, was ich tue, wird zunehmend überlagert von der einen großen Sorge, die ich in meinem gesamten Erwachsenenleben so nicht gekannt habe. Die Sorge um die Zukunft unserer Demokratie, unserer offenen Gesellschaft. Natürlich, tröste ich mich, trage ich mit meiner Arbeit zu dieser Offenheit bei, ich tue meinen Teil. Doch beschleichen mich jeden Tag ein bisschen mehr die Zweifel: Tue ich genug? Verliere ich mich zu sehr im politischen und journalistischen Alltag, im Klein-Klein, anstatt für das Große und Ganze einzutreten?
Mir – und hoffentlich auch Ihnen – ist klar: Jetzt ist es ernst. Wenn wir jetzt nicht loslegen und verteidigen, was wir – bei allen Unzulänglichkeiten, Verkrustungen und Modernisierungsrückständen – an unserer Republik haben, dann kann keiner von uns irgendwann behaupten, wir hätten nicht gewusst, was da auf uns zukommt.
Wer das Einknicken vor einer lautstarken Minderheit als demokratisches Einlenken verklärt, verliert die Mehrheit aus dem Blick.
Für mich heißt verteidigen: nicht hart gegen die Schwächsten zu sein, nicht gegen Benachteiligte und Geflüchtete. Sondern hart zu stehen mit und für die Werte, die wir haben. Gegenüber allen, die sie in Frage stellen. Egal, woher sie kommen. Wer glaubt, Rechtsradikale und Rechtspopulisten mit einem eigenen Ruck nach rechts schwächen zu können, hat die Lektionen der Geschichte nicht verstanden. Wer glaubt, Wutbürger und Ellbogen-Lobbyisten durch Nachgeben zu besänftigen, der füttert nur deren Unersättlichkeit. Kompromisslosigkeit versteht nur Kompromisslosigkeit.
Und wer Einknicken vor dem Druck einer lautstarken Minderheit als demokratisches Einlenken verklärt, verliert die Mehrheit aus dem Blick. Und am Ende verliert die Mehrheit die Macht an eine Minderheit.
Eine wehrhafte Demokratie fängt da an, wo sie sich nicht die Diskurse der Undemokraten aufzwingen lässt. Wo nicht aus einer demokratischen Partei populistische Sprüche zulasten einer anderen kommen, sondern allen klar ist: Billige Schuldzuweisungen von Demokraten untereinander zugunsten kleinster politischer Geländegewinne ist immer ein Minusgeschäft für die Demokratie insgesamt zugunsten der Rechten.
Eine Demokratie ist dann wehrhaft, wenn sie nicht die Interessen der Laut-Aggressiven bedient auf Kosten derjenigen, die sich nicht wehren können. Wenn Politik nicht unhaltbare Versprechungen macht, dass sich nichts ändert, sondern unermüdlich erklärt, warum und wie Deutschland sich anpassen muss an den demografischen Wandel, an tiefgreifende technologische und wirtschaftliche Umwälzungen. Wenn die Politik dann auch durchzieht, was sie sagt, und Belastungen nach Vernunft und Fairness verteilt und nicht dorthin, wo der öffentliche Widerstand geringer ist. Ich habe hierzu Anfang 2023 einen Essay geschrieben, und ich finde, er trifft es immer noch. "Mit dem Modell der 70er Jahre gewinnen wir nicht das 21. Jahrhundert" hieß er.
Wieder Gefallen an der eigenen Zukunft finden, Zuversicht und Spaß an dem, was möglich ist.
Eine wehrhafte Demokratie würde deshalb, und da spricht jetzt doch wieder der Bildungsjournalist, gerade in einer Zeit wie jetzt nicht an Bildung und Wissenschaft sparen, sondern versuchen, Geist, Kreativität, Neugier und intellektuellen Widerspruch wie nie zuvor zum Blühen zu bringen. Und dabei wieder Gefallen an der eigenen Zukunft finden, Zuversicht und Spaß an dem, was möglich ist. Immer noch und gerade jetzt.
Was mich selbst ein wenig optimistisch macht: Viele äußern sich gerade ganz ähnlich wie ich in Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, gehen demonstrieren oder denken darüber nach. Es ist noch nicht so weit, aber es könnte etwas in Gang kommen, die Demokratie könnte endlich ihre Zähne zeigen. Legen wir los?
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"Kto grze rozumie, może śmiele sadzić,A kto nie świadom, lepiej się poradzić.Tablica naprzód malowana będzie,Tę pól sześćdziesiąt i cztery zasiędzie.Pola się czarne z białymi mieszają,Te się owymi wzajem przesadzają.W tym placu wojska położą się obie,A po dwu rzędu wezmą przeciw sobie." "Der Kenner möge kühn am Spieltisch sitzen,Der Laie aber soll die Ohren spitzen.Zuerst das Spielbrett: Scheckig aufgebracht,Sind vierundsechzig Felder, acht mal acht.Die schwarzen Felder mühn sich mit den weißen,Gleichfarbne fremde Paare zu zerreißen. Und diesen Platz beziehen Armeen,Die sich in Doppelreihen entgegenstehn."[1]Als der große polnische Dichter Jan Kochanowski im 16. Jahrhundert diese Zeilen für sein Werk "Das Schachspiel" (Szachy) dichtete, ahnte er sicherlich nicht, dass gut 450 Jahre später einer seiner Landsmänner seine Armeen auf den 64 Feldern so gut führen würde, dass er um die Krone des Schachs mitspielen kann. Jan-Krzysztof Duda, 23 Jahre jung, Schachgroßmeister aus Wieliczka im Süden Polens, gelang es jedoch nicht nur, im vergangenen Jahr den FIDE World Cup zu gewinnen, ein vom Weltschachverband FIDE organisiertes und äußerst hochkarätig besetztes Turnier. Er sicherte sich durch diesen Erfolg auch als erster Pole überhaupt einen Platz im Kandidatenturnier 2022, dem Wettkampf, bei dem der Herausforderer des aktuellen Weltmeisters, Magnus Carlsen, ermittelt wird. Ebenjenen Carlsen konnte Duda im Halbfinale des World Cups besiegen und erntete dafür viel Bewunderung in der Schachwelt. Seitdem genießt er auch in Polen große Popularität, bekam einen Orden von Staatspräsident Andrzej Duda verliehen und wurde zum Sportler des Jahres 2021 gewählt. Jan-Krzysztof Duda, 2018Der Erfolg Dudas markiert den bisher größten Erfolg des polnischen Schachs seit dem Zweiten Weltkrieg, das nach vielen Jahren wieder in der Weltspitze angekommen ist. Dabei liegt die Betonung bewusst auf 'wieder', denn Polen gehörte in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Schachnationen der Welt. Im Jahre 1930 gewann die polnische "Bombenmannschaft", wie sie von der deutschen Presse bezeichnet wurde, die Schacholympiade in Hamburg und ließ große Schachnationen wie Ungarn, Deutschland oder Österreich hinter sich. Nur 15 Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, lag das polnische Schach am Boden, seine Strukturen durch die deutsche Besatzung zerstört, seine besten Köpfe entweder ermordet oder aus Polen vertrieben. Das Schachspiel, das aus Indien stammt, fand im frühen Mittelalter seinen Weg über die Iberische Halbinsel sowie Russland nach Europa. In Deutschland ist es bereits im 11. Jahrhundert bekannt und wird z.B. schon im Versepos Ruodlieb erwähnt.[2] Für Polen nimmt man an, dass Schach in der Regierungszeit von Bolesław III. Krzywousty seinen Weg ins Land fand.[3]Im 19. Jahrhundert fand Schach seinen Weg vom Adel in die bürgerliche Gesellschaft. Es etablierte sich in den Kaffeehäusern Wiens, Londons oder Berlins, in denen Schach, nicht selten um Geld, gespielt und weiterentwickelt wurde. Aus diesem "Kaffeehausschach" geht das organisierte Schach hervor. In Deutschland wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Vereine gegründet, in Polen geschah dies einige Jahrzehnte später. Manche der damals gegründeten Vereine bestehen bis heute, etwa die Berliner Schachgesellschaft 1827 Eckbauer, der Hamburger Schachklub von 1830 oder der Münchener Schachklub 1836. 1876 wurde im damals zu Preußen gehörenden Posen der erste Schachklub auf heute polnischem Boden gegründet. Bis zum Ende des Jahrhunderts folgten noch Krakau, Lemberg und Warschau. Wie groß und wichtig ein Verein war, hing oft von einem Meister ab, der sich dort niedergelassen hatte. In Posen war dieser Meister Johann Hermann Zukertort, der hier in den 1860er Jahren ein reges Schachleben organisierte. Zukertort, in Lublin geboren, war am Ende des 19. Jahrhunderts einer der stärksten Schachspieler. Er lebte in Polen, Deutschland und Großbritannien und spielte 1886 sogar ein WM-Match, das er jedoch verlor.[4] In Deutschland war Breslau neben Berlin das zweite große schachliche Zentrum, was an der Person Adolf Anderssen lag. Anderssen, ein Lehrer aus Breslau, war der wohl beste Schachspieler des 19. Jahrhunderts. Er gilt als der erste inoffizielle Weltmeister, da es damals noch keine organisierten WM-Kämpfe gab, er aber das erste internationale Schachturnier der Geschichte 1851 in London gewinnen konnte. Anderssen spielte während dieses Turniers eine der großartigsten Partien der Schachgeschichte, die heute als "Unsterbliche Partie" bekannt ist. Neben seiner aktiven Karriere war ihm die Gründung eines gesamtdeutschen Schachbundes ein großes Anliegen, was 1877 schließlich gelang. Der Deutsche Schachbund besteht bis heute. Während sich polnische und deutsche Schachmeister im 19. Jahrhundert in ihrer Spielstärke nicht sonderlich unterschieden, war Schach in Deutschland weitaus stärker organisiert als in Polen. Der Grund dafür lag in der territorialen Integrität Deutschlands, während es zur gleichen Zeit aufgrund der Teilungen Polens gar keinen eigenen Staat gab. So blieb Schach in Polen lange Zeit auf Kaffeehäuser und einzelne Vereine beschränkt, während sich in Deutschland ein lebendiges Vereinsleben mit zahlreichen Mitgliedern entwickelte.[5]Zu Beginn des 20. Jahrhunderts florierte Schach in Deutschland. Die Vereine und Mitgliederzahlen wuchsen und Meister wie Fritz Sämisch, Kurt Richter oder Siegbert Tarrasch errangen Erfolge auf internationaler Ebene.[6] Über allen thronte in diesen Jahrzehnten Emanuel Lasker, Deutschlands bislang einziger Schachweltmeister. Diesen Titel hielt er jedoch länger als jeder andere in der Geschichte, nämlich stolze 27 Jahre (1894-1921). Lasker wurde 1868 in Berlinchen in der Mark Brandenburg geboren, das heute die Kleinstadt Barlinek in Polen ist. Auch für ihn begann seine Schachlaufbahn in einem Berliner Kaffeehaus, von wo aus er seinen Siegeszug in die Schachwelt startete. Doch im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten verließ er Deutschland und verbrachte die Jahre bis zu seinem Tod 1941 im Ausland.[7] Während der nationalsozialistischen Herrschaft durchlebte das Schach in Deutschland eine sehr schwierige Zeit. Es wurde zum Instrument nationalsozialistischer Ideologie umfunktioniert, wurde für Kriegspropaganda benutzt und sollte zur Erziehung einer sogenannten "Volksgemeinschaft" dienen. Dazu wurde der Großdeutsche Schachbund gegründet und der bis dato agierende Deutsche Schachbund diesem untergeordnet. Sogleich begann die Unterdrückung jüdischer Schachspieler. Auch während des Zweiten Weltkrieges wurde Schach zu Propagandazwecken genutzt, besonders von Hans Frank, der im von ihm geleiteten Generalgouvernement zwischen 1940 und 1944 internationale Schachturniere veranstaltete.[8]In Polen, das nach dem Ersten Weltkrieg seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, blühte das Schachspiel auf und erlebte bis 1939 die erfolgreichste Phase in seiner Geschichte. Dabei kam ihm zugute, dass es mit Kazimierz Sosnkowski, einem ranghohen General, und Józef Piłsudski, Marschall und Ikone der polnischen Unabhängigkeit, zwei Unterstützer auf oberster Staatsebene für sich gewinnen konnte. Besonders Piłsudski galt als großer Schachenthusiast und setzte sich sehr für die Entwicklung des Schachs in Polen ein.[9] Darüber hinaus betrat im 20. Jahrhundert eine Reihe großer polnischer Schachspieler die Bühne, allen voran Akiba Rubinstein. Dieser gilt als der größte Schachspieler Polens. Rubinstein wurde 1882 in der kleinen Stadt Stawiski im heutigen nordöstlichen Polen in eine arme jüdische Familie geboren. Sein Siegeszug in die höchsten Höhen des Schachs begann im Schachklub von Lodz, wo er mit 19 Jahren hingezogen war. Seine Erfolge stellten 1914 ein WM-Match Lasker-Rubinstein in Aussicht, das jedoch aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nicht stattfinden konnte.[10] Akiba Rubinstein (rechts) während einer Partie mit Efim Bogoljubov, 1925Polen war in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg ein Powerhouse des Schachs und konnte 1930 seine bis dato größte Erfolge in seiner Schachgeschichte einfahren. Die goldene Generation um Akiba Rubinstein, Ksawery Tartakower, Dawid Przepiórka, Kazimierz Makarczyk und Paulin Frydman gewann die 3. Schacholympiade, die in Hamburg ausgetragen wurde. Deutschland belegte in diesem Turnier den dritten Rang. Die Schacholympiade ist der bedeutendste Mannschaftswettbewerb im Schach, an der alle namhaften Meister teilnehmen. Polens von Rubinstein angeführtes Team wurde aufgrund seiner starken Leistung von der deutschen Presse als "Bombenmannschaft" bezeichnet. Nur fünf Jahre später durfte Polen seine erste und bisher einzige Schacholympiade ausrichten, die in Warschau mit Teilnehmerrekord ausgetragen wurde.[11] Urkunde für den Krakauer Schachspieler Bogdan Śliwazum Sieg eines Turniers, das während der deutschenBesatzung ausgetragen wurdeMit dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 fand die goldene Zeit des polnischen Schachs ihr jähes Ende. Der Kriegsbeginn unterbrach die laufende Schacholympiade in Buenos Aires, was einigen polnischen Schachspielern das Leben rettete, da sie nach der Olympiade nicht nach Polen zurückkehrten. Dies bedeutete jedoch einen herben Verlust für das polnische Schach, das dadurch Spieler wie etwa Mieczysław Najdorf verlor, der als Mosze Mendel Najdorf in Polen geboren worden war und nach dem Krieg als Miguel Najdorf viele Partien für Argentinien ausfocht.[12] In Polen kam das Schach fast komplett zum Erliegen, obwohl es vereinzelte geheime Turniere während der Besatzung gab. Das Schlimmste jedoch war der Verlust etlicher Meister und Funktionäre, die während der Nazi-Herrschaft über Polen oder im Holocaust ums Leben kamen. Exemplarisch dafür steht das tragische Schicksal von Dawid Przepiórka, dem Goldmedaillengewinner von 1930, der 1940 während der Massenerschießungen von Palmiry getötet wurde.[13] Mieczysław (Miguel) NajdorfWie schlimm das polnische Schach während der deutschen Besatzung gelitten hatte, zeigt sich auch in der Zeit, die Polen nach dem Krieg gebraucht hat, um im Schach wieder an die Weltspitze zu kommen. Erst in den letzten Jahren ist nach langen Jahren der Jugend- und Aufbauarbeit eine neue große polnische Schachgeneration im Anmarsch, welche von Jan-Krzysztof Duda angeführt wird. In der Bundesrepublik sowie in der DDR war Schach auch nach dem Krieg populär und verbreitet. Großmeister wie Wolfgang Unzicker, Robert Hübner oder Wolfgang Uhlmann spielten auf oberstem Niveau. Aktuell fehlt es in Deutschland an einem absoluten Spitzenspieler. Doch mit dem erst 17-jährigen Vincent Keymer gibt es auch hier ein junges Talent mit Chancen, nach ganz oben zu kommen. Im Frauenschach sind Polen und Deutschland gleich stark einzuschätzen und zählen zur erweiterten Weltspitze.Im Allgemeinen erlebt Schach gerade einen Boom und erlebt besonders seit Beginn der Pandemie großen Zulauf. Es bleibt für die Zukunft nur zu hoffen, dass sich das königliche Spiel in Polen und Deutschland weiter ausbreiten und viele weitere Menschen in seinen Bann ziehen wird. Dann könnte gelten, was Jan Kochanowski schon im 16. Jahrhundert vorgeschwebt hatte: "Wszakoż ją przedsię radzi przeczytali, A dla ćwiczenia zawżdy szachy grali." "Sogleich sitzt jeder unter seinem Dach An einen Tisch und spielt zur Übung Schach[.]"[14] [1] Jan Kochanowski: Das Schachspiel. Szachy. Aus dem Polnischen von Thomas Daiber. Berlin 2011, S. 12f.
[2] Ruodlieb wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts auf Latein vom Mönch Fruomund vom Tegernsee verfasst. Vgl.: Jerzy Giżycki: Z Szachami przez Wieki i Kraje. Warszawa 1984, S. 19.
[3] Ebenda. S. 29.
[4] Vgl. Władysław Litmanowicz; Jerzy Giżycki: Schachy od A do Z. N-Z. Warszawa 1987, S. 1363ff.
[5] Zu den Schachklubs Posen und Warschau siehe: Andrzej Kwilecki: Szachy w Poznaniu. Poznań 1990; Tadeusz Wolsza: Od "Honoratki" do Wierzbowej. Życie szachowe w Warszawie w latach 1829-1939. Warszawa 2020; Zu Adolf Anderssen und dem Deutschen Schachbund, siehe: Alfred Die: Schach in Deutschland. Festbuch aus Anlaß des hundertjährigen Bestehens des Deutschen Schachbundes e.V. 1877-1977. Düsseldorf 1977.
[6] Zu Tarrasch, der auch aus Breslau stammt vgl.: Diel 1977, S. 54-57.
[7] Zu Emanuel Lasker vgl. Diel 1977, S. 58-62.
[8] Zum Schach im Dritten Reich vgl.: Bernadette Edtmaier: Schach im "Dritten Reich", in: Rainer Buland (u.a., Hrsg.): Das Gästebuch der Schachweltmeisterschaft 1934 in Deutschland. Wien 2014.
[9] Vgl. Wolsza 2020, S. 176f.
[10] Zu Akiba Rubinstein vgl.: Litmanowicz, Giżycki 1987, S. 1045-1048; Stefan Gawlikowski: Arcymistrzowie. Złota era polskich szachów. Warszawa 2016, S. 27-49.
[11] Zur Schacholympiade 1930 vgl.: Gawlikowski 2016, S. 17-26; Zur Olympiade 1930 und weiteren Olympiaden dieser Zeit vgl: Stanisław Gawlikowski: Olimpady Szachowe 1924-1974. Warszawa 1978.
[12] Zu Najdorf vgl. Gawlikowski 2016, S. 135-150.
[13] Zu Przepiórka vgl. Gawlikowski 2016, S. 75-105; zu Schachspielern, die Opfer des Holocaust wurden vgl. ebd. S. 179-184.
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Die polnische Stadt Wieluń nach der Bombardierung der deutschen Luftwaffe am 1. September 1939 Am 1. September 1939, vor 81 Jahren, begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Dass der Beginn des Zweiten Weltkriegs sich nicht aus der Geschichte eines Tages heraus verstehen lässt und dass der Hinweis auf dieses historische Ereignis nur ein bescheidener Anfang sein kann, um sich mit der komplexen Geschichte dieses Krieges zu beschäftigen, ist eine Binsenweisheit. Doch dass es an der ursächlichen Täter-Opfer-Konstellation als solche, bei aller Sensibilität des Themas, Zweifel geben könne, mögen viele für ausgeschlossen halten. Doch seit einiger Zeit erreichen Beiträge die öffentliche Debatte, die anzeigen, dass über den Krieg ein Krieg tobt, ein in Kreisen von Fachhistoriker*innen länger bekannter sogenannter memory war. Der 1. September 2020 kann also Anlass bieten, in aller Kürze und mit Konzentration auf Polen zu erklären, wie sich dieser Streit seit dem Begehen des letzten Jahrestages entwickelt hat.Als Highlight im kurzen Wahlkampf, den er schlussendlich knapp für sich entscheiden sollte, reiste der polnische Präsident Andrzej Duda am 24. Juni 2020, wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, nach Washington zu einem Treffen mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Die gemeinsame Erklärung beginnt wahltaktisch nachvollziehbar mit einem Bekenntnis zu erweiterter wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Doch noch bevor die ebenfalls im nationalen Interesse äußerst hoch gehandelten Themen militärische Verbundenheit und Energiesicherheit angesprochen werden, heißt es unvermittelt am Ende des ersten Absatzes: "Ebenso werden wir uns im Kampf gegen Desinformation zusammenschließen, insbesondere im Hinblick auf historische Fakten über den Zweiten Weltkrieg."[1] Diese Betonung der Geschichte in den außenpolitischen Beziehungen ist in der polnischen Öffentlichkeit durchaus üblich. Seit Jahren wächst etwa in den Befragungen des Deutsch-Polnischen Barometers der Anteil derjenigen Pol*innen, die der Ansicht sind, man müsse sich vornehmlich der Vergangenheit widmen, weil man sich ohne deren Aufarbeitung gar nicht Gegenwarts- und Zukunftsthemen zuwenden könne.[2] Putin sucht die SchuldigenHintergrund für die Äußerung konkret an diesem Tag war die Nachholung der Militärparade zum 75jährigen Ende des Zweiten Weltkriegs in Moskau auf dem Roten Platz, die pandemiebedingt vom 9. Mai verlegt worden war. Kurz zuvor hatte ein Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin höchstselbst umfangreich die russische Sicht auf die historische Kriegskonstellation erhellt, erschienen am 18. Juni online im konservativen US-Magazin "The National Interest" und am 19. Juni auf der Regierungsplattform kremlin.ru sowie im Amtsblatt "Rossijskaja gazeta".Der Beitrag Putins greift einige bereits länger kursierende Argumente im Streit um die Deutung der Schuld für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf. Insgesamt verfestigt sich in der bereits bekannten Argumentation eine "Europäisierung" der Schuld und eine Relativierung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts. Dazu kommt aber als neue, besondere "Zutat" eine deutliche Konzentration auf Polen als Schuldigen nicht nur für das eigene Schicksal, sondern auch für den politischen Weg in den Krieg insgesamt. Der Artikel weist die zentrale Bedeutung des Nichtangriffspakts vom 23. August 1939 und seines geheimen Zusatzprotokolls zurück, in dem die Aufteilung Polens, Litauens, Finnlands, Estland, Lettlands und Bessarabiens unter dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vereinbart worden war. Dabei ist es unstrittig, dass dies eine unmittelbare Bedeutung für den Kriegsausbruch und langfristige Folgen für Ostmitteleuropa hatte – ohne den Pakt hätte Hitler sich zumindest auf einen Zwei-Fronten-Krieg vorbereiten müssen.[3]Stattdessen rückt Putin in seinem Beitrag[4] das Münchener Abkommen vom 29./30. September 1938 in den Mittelpunkt. Dies ist zwar in Teilen der Geschichtswissenschaft schon länger als Grund für die Isolierung der Sowjetunion und damit als Motor zum Abschließen des Hitler-Stalin-Pakts gesehen worden. Polen aber hier eine derart zentrale Rolle zu unterstellen, wie Putin es insinuiert, ist neuartig und entbehrt belegbarer Grundlagen (zumal gar keine polnische Delegation zugegen war). Die tatsächliche Okkupation des Teschener Olsagebietes durch Polen direkt nach der deutschen Besetzung des Sudetenlandes im Oktober 1938 (und die Besetzung weiterer Gebiete durch Ungarn) und deren Bedeutung kann nicht über die hauptsächliche Verantwortung Deutschlands für die Zerstörung des tschechoslowakischen Staates hinwegtäuschen. Putins Versuch als solcher, die facettenreiche und keinesfalls schwarz-weiße Geschichte der Diplomatie der 1930er Jahre und ihrer gefährlichen appeasement-Politik gegenüber Nazideutschland von britischer, französischer, aber auch polnischer Seite argumentativ auszunutzen, ist nicht neu, sondern entspricht in großen Teilen durchaus sowjetischer Lesart. Dabei war die Sowjetunion eben keineswegs, wie dargestellt, der letzte Staat, der sich schließlich, mangels Alternativen, in defensiver Absicht auf einen "Deal" mit dem Deutschen Reich einließ, sondern sie war vielmehr recht schnell dabei und mit weitreichenden eigenen Vorstellungen. Doch die Konzentration auf Polen, das der Sowjetunion die Zusammenarbeit verweigert und damit viele Möglichkeiten genommen habe, sollte hellhörig machen. Die Behauptung, die baltischen Länder hätten sich freiwillig als Sowjetrepubliken der Sowjetunion angeschlossen, ist ebenso ein neues Element,[5] wie Wacław Radziwinowicz, ehemaliger Russland-Korrespondent der polnischen Gazeta Wyborcza, betont.Putins Aufsatz ist lang und enthält noch eine ganze Reihe an Argumenten, die weitere komplexe Zusammenhänge berühren, aber von der Schlussfolgerung her in eine ähnliche Richtung gehen. Sie sind bereits gründlich von einschlägigen Osteuropahistoriker*innen seziert worden.[6] Ein Grund, warum auf diese Einlassung bereits mit so viel Expertise reagiert worden ist, ist dabei besonders kurios: Die Forscher*innen und Hochschullehrer*innen bekamen den Aufsatz in ihr Email-Postfach geliefert, begleitet von einen Schreiben der Russischen Botschaft, sie würden dort viel Neues erfahren, auch im Hinblick auf neu erschlossene historische Quellen: "Mit Blick darauf schlagen wir Ihnen vor, den Artikel von Wladimir Putin künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen. In jedem Fall ist ein Link auf die ursprüngliche Quelle – Webseite des Präsidenten der Russischen Föderation – obligatorisch." Einer solchen Forderung würde keine ernstzunehmende Historiker*in nachkommen, eher bietet sich der Text als Quelle zum Thema Geschichtspolitik an. Dennoch stimmt diese Grenzüberschreitung von Politik Richtung Wissenschaft, nicht die erste in dem hier skizzierten Streit um die Erinnerung, bedenklich.[7] Indes lässt das Begleitschreiben nicht im Unklaren, worum es eigentlich geht: "Der Beitrag befasst sich mit der internationalen Nachkriegsordnung und den Vorschlägen für eine weitere Kooperation zwischen führenden Ländern der Welt." Diese Nachkriegsordnung wird – ungeachtet des Kalten Kriegs – von Putin als mehr oder minder harmonisches Miteinander der Alliierten beschrieben und dessen Wiederbelebung in veränderter Form vorgeschlagen: als Wirken der fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrates im Sinne von prägenden Großmächten zum Wohl der Weltgemeinschaft. Geteilte europäische Erinnerung und GeschichtspolitikInsgesamt reiht sich der Artikel in die Erzählung der russischen Regierung ein, die baltischen Länder, die Ukraine und vor allem Polen "als reaktionär, nationalistisch und zum großen Teil auch antisemitisch hinzustellen", so der Historiker Karl Schlögel.[8] Erinnert sei hier nur an Putins drastische Äußerungen aus dem Dezember 2019 zum Antisemitismus des polnischen Botschafters in Berlin 1933–1939, Józef Lipski – ebenfalls im Zusammenhang mit einer Relativierung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts.[9] Der Konflikt eskalierte wenige Wochen später, nachdem Putin erneut den Polen eine tragende Schuld am Kriegsausbruch und an der Deportation der Juden zugewiesen hatte. Nachdem der polnische Präsident Duda auf dem offiziellen Welt-Holocaust-Forum in Yad Vashem im Januar 2020 keine Redezeit bekam und befürchtete, dass Putin selbst die Vorwürfe in seiner Rede prominent wiederholen würde, sagte Duda seine Teilnahme ab.[10]Putins geschichtspolitischer Beitrag steht aber auch in einem größeren Zusammenhang als Reaktion auf die Geschichtspolitik der Europäischen Union. Am 19. September 2019 hat das Europäische Parlament einen Entschließungsantrag zur Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas angenommen, der eine Neuorientierung der kollektiven Erinnerung in Europa an den Zweiten Weltkrieg fordert. Polen, Estland, Lettland und Litauen haben diese Entschließung entscheidend vorangebracht. Seit ihrem Beitritt 2004 haben die neuen Mitglieder daran gearbeitet, dass ihre Sicht auf die Geschichtspolitik gehört wird. Zentral dabei war und ist die Bedeutung des Hitler-Stalin-Pakts. Im Jahr 2011 schließlich wurde der europäische Gedenktag für die Opfer der beiden durch "Staatsterror und Massenmord geprägten totalitären Systeme" am 23. August eingerichtet. Der Jahrestag findet in Westeuropa kaum Beachtung (wie auch bisher die Entschließung von 2019). Die Historikerin Anke Hilbrenner ordnet dies in den Bedeutungszusammenhang ein, der sich aus der Kluft der Erinnerung in Westeuropa und Ostmitteleuropa ergibt hinsichtlich der Frage, inwieweit es überhaupt legitim sei, die Folgen von Nationalsozialismus und Stalinismus zu vergleichen. Das ostmitteleuropäische Gedächtnis aber, für das diese Frage zentral sei, werde durch dieses Tabu marginalisiert. Indem die ostmitteleuropäischen Diskussionen dergestalt ausgeblendet werden, ergebe sich eine unlautere "hermetische Abschottung des westlichen Geschichtsbildes gegen die ostmitteleuropäische Erfahrung mit den Massenverbrechen von Nationalsozialismus und Stalinismus zur selben Zeit"[11]. Die europäische Entschließung wurde zwei Tage nach dem 80. Jahrestag des sowjetischen Einmarschs in Polen angenommen. Aus gutem Grund steht in Deutschland weiterhin der 1. September und nicht der 17. September ganz vorn unter den für die gemeinsame Erinnerung wichtigen Daten. Vorwürfen von "Desinformation" sollte weiterhin mit fachlicher Expertise entgegengetreten, der Geschichtspolitik der aktuellen polnischen Regierung mit Umsicht begegnet werden. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit den langfristigen Koordinaten des Gedächtnisses, die in Polen – und auch in den anderen Staaten Ostmitteleuropas – verhandelt werden, ist ein notwendiges und zukunftsweisendes Projekt. [1] https://tvn24.pl/polska/andrzej-duda-w-usa-wspolna-deklaracja-donalda-trumpa-i-prezydenta-polski-4619480; https://www.whitehouse.gov/briefings-statements/joint-statement-president-donald-j-trump-president-andrzej-duda/.
[2] Jacek Kucharczyk, Agnieszka Łada, Nachbarschaft mit Geschichte: Blicke über Grenzen, Deutsch-Polnisches Barometer 2020, Institut für Öffentliche Angelegenheiten/Konrad-Adenauer-Stiftung/Deutsches Polen-Institut, Warschau/Darmstadt 2020.
[3] S. Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939-1941, München 2019. Zur historischen Analyse des Putin-Artikels, auch zum folgenden s. dies. in der Berliner Zeitung vom 7. Juli 2020: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/putins-sicht-auf-den-zweiten-weltkrieg-ist-es-geschichtspolitik-li.91708 sowie Martin Aust, Anke Hilbrenner und Julia Obertreis, Geschichtspolitik braucht Entspannungspolitik, in L.I.S.A. vom 2. Juli 2020: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/geschichtspolitik_entspannungspolitik.
[6] Neben den erwähnten Artikeln s. etwa Interviews mit Joachim von Puttkamer und Stefan Rohdewald, 24.06.2020: https://www.mdr.de/zeitreise/putin-aufsatz-zweiter-weltkrieg-wissenschaft-experten-100.html; Interview mit Martin Aust, 25.6.2020: https://www.rferl.org/a/russia-baffles-german-historians-with-request-they-supplement-lectures-with-an-article-by-putin/30690752.html; Beitrag von Joachim von Puttkamer in der FAZ, 03.07.2020: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/was-die-rhetorik-putins-ueber-russlands-machthaber-verraet-16843131.html; außerdem Beitrag von Michael Brettin, 04.07.2020:https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/putin-stalin-und-die-kriegsschuldfrage-li.91141.
[7] S. dazu Aust, Hilbrenner und Obertreis, Geschichtspolitik braucht Entspannungspolitik.
[11] "Eine gemeinsame europäische Erinnerungsarbeit an den Zweiten Weltkrieg ist überfällig." Interview mit Anke Hilbrenner über die Resolution zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in L.I.S.A. vom 5. November 2019: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/hitlerstalinpakt_ankehilbrenner.
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Am gestrigen Mittwochnachmittag stellten die Spitzenkandidat:innen und Vorsitzenden von SPD, Grünen und FDP den Koalitionsvertrag der zukünftigen Ampelkoalitionsregierung vor. Und auch wenn Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik darin beizupflichten ist, dass sich die Inhalte des Vertrags vorranging an ein deutsches Publikum und nicht zuletzt auch die Mitgliederbasen der beteiligten Parteien wenden, so wird der Koalitionsvertrag selbstverständlich auch im Ausland zur Kenntnis genommen und dahingehend gelesen, was von der künftigen Bundesregierung für die unmittelbare Nachbarschaft, Europa und die Welt in Zukunft zu erwarten sein wird. Dies gilt zweifelsohne auch für Polen. Was also hält die zukünftige Bundesregierung für Polen bereit?Polen im KoalitionsvertragAn zwei Stellen im Koalitionsvertrag wird Polen explizit erwähnt. Einmal unter der Überschrift "Kultur- und Medienpolitik". Hier erklärt das Papier: "Wir unterstützen die Bundestagsbeschlüsse für ein Dokumentationszentrum 'Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa' und für einen Erinnerungs- und Begegnungsort im Gedenken an die Opfer der Besatzung Polens und die wechselvolle deutsch-polnische Geschichte." (125)Der Absatz in insofern bemerkenswert, als er die deutsch-polnische Geschichte während des Zweiten Weltkriegs ins Zentrum stellt, inhaltlich aber darüber hinausgeht und die gesamte deutsch-polnische Geschichte in den Blick nimmt.Die zweite Nennung erfolgt unter der Überschrift "Europäische Partner". Hier verkündet das Koalitionspapier im direkten Anschluss an die Betonung der Wichtigkeit der deutsch-französischen Partnerschaft und die Fortentwicklung des Weimarer Dreiecks: "Deutschland und Polen verbindet eine tiefe Freundschaft. Wir stärken hier die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Akteure (z.B. Deutsch-Polnisches Jugendwerk). Wir verbessern die Zusammenarbeit in Grenzräumen, z. B. durch Grenzscouts, Regionalräte und Experimentierklauseln." (136)Hier erscheint die Koalitionsvereinbarung ambivalent. Einerseits unterstreicht der Koalitionsvertrag die herausgehobene Rolle der Beziehungen zu Polen, das als Freund bezeichnet und in einem Atemzug mit Partner Frankreich genannt wird. Auch die mittlerweile traditionelle Erwähnung des Weimarer Dreiecks zeigt, dass die Hoffnungen auf eine erfolgreiche trilaterale Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Polen im Rahmen dieses Formats noch nicht aufgegeben worden sind. Andererseits betont der Koalitionsvertrag explizit die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und schlägt keine politische Zusammenarbeit auf höherer Ebene vor, die mit der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung vergleichbar wäre.Die östliche Nachbarschaft der EUDoch der Koalitionsvertrag enthält auch für Polen relevante Passagen, ohne das Land explizit zu erwähnen. Dies betrifft etwa die östliche Nachbarschaft der Europäischen Union, insbesondere die Beziehungen Deutschlands zur Ukraine, Belarus und Russland. So bekennt sich der 177 Seiten starke Text zur "Fortentwicklung der Östlichen Partnerschaft. Staaten wie die Ukraine, Moldau und Georgien, die einen EU-Beitritt anstreben, sollen sich durch konsequente rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Reformen annähern können. Wir werden entschlossen und verlässlich auf demokratische Umbrüche reagieren und den Demokratiebewegungen ein Partner sein." (153) Zudem erklärt das Papier, Deutschland werde "die Ukraine weiter bei der Wiederherstellung voller territorialer Integrität und Souveränität unterstützen." (153)Weiterhin verspricht der Vertrag eine Unterstützung der demokratischen Oppositionsbewegung in Belarus, verurteilt die russische Unterstützung des Lukaschenko-Regimes und stellt die Verhängung weiterer Sanktionen gegenüber dem Diktator in Aussicht. (154)In Bezug auf das Verhältnis zu Russland wird die neue Bundesregierung laut dem Koalitionsvertrag zwar einerseits weiterhin auf Dialog setzen. Andererseits betont sie, dass die deutsch-russischen Beziehungen nicht losgelöst von den Beziehungen zu Deutschlands Partnern in Mittel- und Osteuropa gesehen werden könne. So hebt der Vertrag im Kontext des Bekenntnisses zur NATO als "unverzichtbare[r] Grundlage unserer Sicherheit" hervor, dass die neue Bundesregierung die Sorgen insbesondere unserer mittel- und osteuropäischen Partnerstaaten ernst [nimmt]" und sich folglich "zur Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotenzials" bekennt. (144-145)An anderer Stelle bestätigt der Koalitionsvertrag diese Position, wenn es heißt: "Wir achten die Interessen unserer europäischen Nachbarn, insbesondere unserer Partner in Mittel- und Osteuropa. Unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen werden wir Rechnung tragen und den Fokus auf eine gemeinsame und kohärente EU-Politik gegenüber Russland legen." (154)Hiermit unterstreicht die neue Bundesregierung, dass es keine deutsche Politik gegenüber Russland über die Köpfe der mittel- und osteuropäischen Partner, darunter Polen, geben wird. Offen bleibt jedoch, wie sich dieses Bekenntnis zur bevorstehenden Inbetriebnahme der Ostsee-Gas-Pipeline Nord Stream II verhält, einem zentralen politischen Zankapfel in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Gasleitung selbst findet keine Erwähnung im Koalitionsvertrag.Die Rechtsstaatlichkeitskrise: Der Streit zwischen Polen und der EUDas für die aktuellen Herausforderungen in den deutsch-polnischen Beziehungen bedeutsamste Kapitel des Koalitionsvertrags kommt hingegen völlig ohne Verweis auf Polen oder die Region Ostmitteleuropas aus. Unter der Überschrift "Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt" setzt sich das Kapitel mit dem Verhältnis Deutschlands zur Europäischen Union und der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in Europa auseinander. Dabei positioniert sich die neue Bundesregierung im Rechtsstaatlichkeitsstreit zwischen Polen und der Europäischen Union unmissverständlich auf Seiten der EU: "Wir setzen uns für eine EU ein, die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schützt und entschlossen für sie eintritt. Wir werden eine Regierung bilden, die deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definiert. Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen." (130)Was sich die neue Bundesregierung hierzu en détail vorstellt, legt der Abschnitt "Rechtsstaatlichkeit" ausführlich und präzise dar, weshalb es sich lohnt, ihn in Gänze anzuführen:"Wir wollen die Werte, auf denen sich die EU in Art. 2 Vertrag über die Europäische Union (EUV) gründet, effektiv schützen. Wir fordern die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge auf, die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente konsequenter und zeitnah zu nutzen und durchzusetzen, auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), via Artikel 260 und 279 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Gleichzeitig werden wir im Rat die Anwendung der bestehenden Rechtsstaatsinstrumente (Rechtsstaatsdialog, Rechtsstaatscheck, Konditionalitätsmechanismus, Vertragsverletzungsverfahren, Empfehlungen und Feststellungen nach Artikel-7-Verfahren) konsequenter durchsetzen und weiterentwickeln. Wir werden den Vorschlägen der EU-Kommission zu den Plänen des Wiederaufbaufonds zustimmen, wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige Justiz gesichert sind.Wir unterstützen die EU-Kommission bei der Weiterentwicklung des Rechtsstaatsberichts durch länderspezifische Empfehlungen und wollen u. a. den Prozess mit unabhängiger Expertise weiter stärken. Wir setzen uns dafür ein und unterstützen, dass die EU-Kommission künftig auch Verfahren gegen systemische Vertragsverletzungen vorantreibt, indem sie einzelne Verfahren bei Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit gegen einen Mitgliedstaat bündelt. Wir wollen, dass die Rechte aus der EU-Grundrechtecharta vor dem EuGH künftig auch dann eingeklagt werden können, wenn ein Mitgliedstaat im Anwendungsbereich seines nationalen Rechts handelt. Um den EuGH zu stärken, sollte die Richterwahlzeit auf einmalig zwölf Jahre verlängert werden. Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News, Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können. Wir wollen das zivilgesellschaftliche Engagement durch die Stärkung gemeinnütziger Tätigkeit über Grenzen hinweg fördern." (132)Die nachgiebige Politik der alten Bundesregierung, die von Kritiker:innen bisweilen als "Appeasement" oder "Beschwichtigungspolitik" gegenüber Polen tituliert worden ist, scheint damit an ihr Ende gekommen zu sein. Mit besonderem Entgegenkommen in Sachen Rechtsstaatlichkeit wird die polnische Regierung von deutscher Seite nicht rechnen können. Dies hatte zuletzt auch ein gemeinsamer Artikel der Ampel-Politiker Reinhard Bütikofer (Grüne), Michael Link (FDP) und Dietmar Nietan (SPD) klargestellt. Allerdings dürfte die neue Bundesregierung es weiterhin der Europäischen Kommission überlassen, sich mit Polen über Fragen der Rechtsstaatlichkeit auseinanderzusetzen. Schließlich würde eine Bilateralisierung des Konflikts denjenigen Kräften in Polen Vorschub leisten, die die Europäische Union ohnehin lediglich als Vehikel deutscher Machtprojektion auf dem alten Kontinent sehen.FazitInsgesamt lässt sich in dem Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ein zweigleisiger Ansatz in der Politik gegenüber Polen identifizieren. Zum einen greift Deutschland ein zentrales polnisches Anliegen im Bereich der Sicherheitspolitik (NATO-Bekenntnis, Berücksichtigung u.a. polnischer Interessen im Kontext der Beziehungen zu Russland) auf und unterstreicht hier die Rolle des Nachbarn als zentraler Partner in Europa. Darüber hinaus erkennt Deutschland mit dem geplanten Ort der Erinnerung und der Begegnung mit Polen eine hervorgehobene Rolle des Nachbarn in der deutschen Erinnerungskultur an. Zum anderen macht das Koalitionspapier klar, dass Polen im Rechtsstaatlichkeitsstreit mit der EU nicht auf Verständnis und Unterstützung aus Berlin hoffen kann, sondern sich, im Gegenteil, auf eine weitere Verzögerung der Auszahlung von EU-Mitteln im Rahmen des Wiederaufbaufonds einstellen muss. Zudem betont der Koalitionsvertrag die Bedeutung der Zusammenarbeit im Bereich der Zivilgesellschaft und schweigt sich über mögliche Kooperationen auf der offiziellen politischen Ebene aus. Die einzige Ausnahme bildet das Weimarer Dreieck, wobei offenbleibt, ob hier tatsächlich an eine Wiederbelebung des meist stiefmütterlich behandelten Formats gedacht ist oder ob die Erwähnung lediglich als Feigenblatt zur Verhüllung der bilateralen Funkstille zwischen Deutschland und Polen dient.
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Die Meldungen über das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger:innen in Polen und Deutschland angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und der Hilfeleistungen für Schutzsuchende Ukrainer:innen sind zahlreich. Die Hilfsbereitschaft in den unmittelbaren Nachbarstaaten ist überwältigend und in ganz Europa groß. In verschiedensten Bereichen der Gesellschaft führen die vorhandenen Verflechtungen zu unterschiedlichen Ausprägungen von Solidarisierung. Wie positionieren sich die maßgeblichen wissenschaftlichen Akteure und Organisationen? Der nachfolgende Beitrag richtet seinen Blick auf die Anteilnahme und Reaktionen der wissenschaftlicher communities in Polen und Deutschland.Polnisch-ukrainische VerflechtungenDie polnisch-ukrainischen Beziehungen entwickelten sich nach der politischen und wirtschaftlichen Transformationsphase beider Staaten überwiegend positiv. Als Beispiel dafür gilt unter anderem der Personaltransfer polnischer Wirtschaftseliten in die Ukraine.[1] Auch die zunehmende Erwerbsmigration aus der Ukraine in die Republik Polen wird oft als Zeugnis harmonisch verlaufender Nachbarschaftsbeziehungen und Motor sich intensivierender zwischengesellschaftlicher Verflechtungen gesehen. Tatsächlich kommen die meisten Arbeitsmigrant:innen in Polen aus der Ukraine – auf sie entfallen etwa 70 Prozent aller erteilten Arbeitsgenehmigungen. Viele Hochschulen bemühen sich erfolgreich um junge Ukrainer:innen als Studierende, denen der anschließende Eintritt in den Arbeitsmarkt oft nicht schwerfällt. Doch so, wie die fehlende Integrationspolitik zu gesamtgesellschaftlichen Problemen und vereinzelt auch zu Gewalt gegen Migrant:innen führt, so gibt es auch in Bildung und Wissenschaft kaum verhohlene Ressentiments, etwa bei der Konkurrenz um gute Ergebnisse bei den Aufnahmeprüfungen für die Hochschulen.[2] Insgesamt gesehen profitieren aber bisher beide Seiten von der Wissenschaftsbeziehung, im Lauf der Jahre wurden eine Vielzahl von bilateralen Initiativen und Projekten gestartet, Stipendien- sowie studentische Austauschprogramme aufgelegt.[3]Zwischen Boykott für die einen und Unterstützung für die anderen: Stellungnahmen und Hilfsangebote der Wissenschaft in Polen …Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wird als historische Zäsur betrachtet. In der Folge des Angriffs positionierten sich zahlreiche polnische wissenschaftliche Institutionen mit und ohne Ukrainebezug. Neben dem grundlegenden Solidaritätsaufruf der Polnischen Akademie der Wissenschaften verfassten am 2. März 2022 Wissenschaftler:innen aus der Zweigstelle der Akademie in Kiew einen Appell an die "akademischen Kreise und intellektuelle Eliten"[4] Polens. Darin forderten sie den Adressat:innenkreis auf "alle Maßnahmen zu ergreifen, um die eskalierende militärische Aggression in der Ukraine friedlich zu beenden."[5] Die Unterzeichner rufen zum Boykott staatstreuer Wissenschaftsinstitutionen auf, die den Angriffskrieg befürworten. Zugleich zollen sie denjenigen, die innerhalb Russlands Widerstand gegen die Aggression leisten und für den Frieden demonstrieren, ihren Respekt, und sagen ihnen Unterstützung zu. Immerhin waren es sehr schnell mehr als 7.500 russische Wissenschaftler:innen, die in einem öffentlichen Appell den Krieg verurteilt hatten, bevor das Schreiben online unzugänglich gemacht wurde. Das von der Polnischen Akademie der Wissenschaften umgehend eingerichtete Förderinstrument zur Unterstützung von gefährdeten ukrainischen Wissenschaftler:innen wurde so gut angenommen, dass es bereits Anfang März erschöpft war. Während an neuen Möglichkeiten gearbeitet wird, bemüht sich die Akademie auch darum, weitere Informationen zu Hilfsprogramm aus anderen Ländern verfügbar zu machen, von der Central European University über die österreichische Akademie der Wissenschaften bis hin zur Academia Sinica aus Taiwan.[6]Mit der Einrichtung einer Hotline für Geflüchtete, die sich über die Möglichkeiten der Fortsetzung ihres Studiums informieren möchten, leistet die polnische Nationale Agentur für Akademischen Austausch des Ministeriums für Wissenschaft und Hochschulbildung einen helfenden Beitrag (Telefon +48 508 188 189). Das reguläre Angebot der Agentur stellt ohnehin einen großen Teil der Informationen nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Ukrainisch bereit und richtet sich explizit an Ukrainer:innen, was den Geflüchteten zugutekommt.[7]Das Adam Mickiewicz-Institut, das vom polnischen Kulturministerium für die Förderung der polnischen Kultur im Ausland gegründet wurde, informiert auf seiner breit rezipierten Plattform Culture.pl über die Auswirkungen, die der Krieg in der Ukraine auf die Kultur hat. Eine fotografische Dokumentation der Lage in Kiew, Augenzeugenberichte und Kommentare von Kulturschaffenden aus der Ukraine sowie Berichte über die Zerstörung kulturellen Erbes sind genauso Thema wie literarische und szenische Annäherungen an das Thema Krieg allgemein. Das Portal ist dreisprachig Polnisch-Englisch-Russisch konzipiert. Die russische Redaktion wendet sich an die Leser:innen mit einem deutlichen Bekenntnis zum Brückenbau "zwischen Ländern und Nationen" und plädiert für den Widerstand gegen die russische Staatsführung.[8]Auch die Universitäten Polens bieten Unterstützung an und können oft die diesbezüglichen Informationen auf Ukrainisch bereitstellen: Der eigens eingerichtete Krisenstab der Warschauer Universität hat auf der Universitätsseite ein Maßnahmenprogramm für ukrainische Studierende und Doktoranden veröffentlicht, u. a. mit finanziellen Hilfen in Form von Gebührenbefreiung, Soforthilfen und Übernahme von Wohnkosten.[9] Die Krakauer Jagiellonen-Universität gewährt ukrainischen Studierenden und Doktoranden umfassende Finanzhilfe und ruft zu Spenden auf.[10] Ähnliche Programme gibt es an vielen polnischen Hochschulen wie in Gleiwitz, Thorn oder Lodz, auch gibt es teilweise kostenlose Polnisch-Sprachkurse und psychologische Hilfen.Einen Überblick über einen Teil der Programme und Einzelangebote bietet die internationale Plattform Science for Ukraine,[11] die von ehrenamtlichen Studierenden und Wissenschaftler:innen betrieben wird. Es finden sich zahlreiche Offerten in Polen, Deutschland und vielen anderen Ländern – u. a. Stipendien, aber auch viele bezahlte Langzeitpraktika in Projekten oder Laboren. In Polen gibt es viele Ausschreibungen für reguläre längerfristige Mitarbeiter:innenstellen, die auch und besonders für ukrainische Bewerber:innen geeignet sind und jetzt inseriert werden. Institutionen, die selbst noch weitere Unterstützung bieten oder ihr Hilfsangebot bekannter machen möchten, finden hier ebenfalls Informationen. … und in Deutschland …Auf der Seite bekommt man auch einen ersten Eindruck von den Möglichkeiten, die es für Verbindungen zwischen ukrainischen und deutschen Wissenschaftler:innen und Institutionen gibt. Auch hier gibt es zahlreichen Möglichkeiten zur Beantragung eigener Projekte, zur Mitarbeit oder zur Bewerbung auf ein Stipendium mit sofortigem Beginn, wie am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz oder am Historischen Seminar der LMU München, der Forschungsstelle Osteuropa Bremen u. a.[12] Die Professur für Ukrainische Kulturwissenschaft, mit dem jährlich in Kooperation mit dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg stattfindenden Ukrainicum bietet neben Gastaufenthalten an der Universität Greifswald psychologische Beratung für Menschen, die durch den Krieg belastet sind. Die meisten Universitäten machen Unterstützungsangebote, teilweise wurden die Einschreibfristen für das Sommersemester verlängert. So legt auch die Uni Hamburg neben anderen Leistungen viel Wert auf psychologische Hilfen und informiert über die Möglichkeiten des Programms "Scholars at Risk".[13] An der Universität Tübingen werden konzertiert ganz unterschiedliche Hilfen geleistet, von Forschungsstipendien über Housing bis hin zu einem eigenen Buddy-Programm für ukrainische Geflüchtete. Auch weiterführende Informationen für Geflüchtete werden hier gebündelt.[14]Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) weitet als Zeichen an diejenigen, die wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine fliehen mussten, ihr Walter-Benjamin-Programm aus, das bei der Integration in das deutsche Wissenschaftssystem mit der Förderung eigener Forschungsvorhaben unterstützt. Zugleich sorgte die DFG für Diskussionen in den communities, weil sie am 2. März verkündete, sie setze "mit sofortiger Wirkung alle von ihr geförderten Forschungsprojekte zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland und Russland aus".[15] Auch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, der u. a. die DFG, der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD), die Max-Planck-Gesellschaft und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung angehören, sprach sich für Solidarität mit der Ukraine aus. Russischen Wissenschaftler:innen, die infolge der Aggression das Land verlassen mussten, wird ebenfalls generell Unterstützung zugesagt. Zugleich "wird jedoch empfohlen, dass wissenschaftliche Kooperationen mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres" einzufrieren.[16] Unter anderem der DAAD räumt ein, "dass dieser Schritt auch Ungerechtigkeiten schafft und zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende trifft, die sich für friedliche und rechtsstaatliche Verhältnisse sowie gutnachbarschaftliche Beziehungen einsetzen", sieht aber im Angesicht des Angriffskriegs keine andere Möglichkeit, wobei die Maßnahmen künftig laufend angepasst werden sollen. So sollen die Zugangswege des DAAD nach Deutschland sollen allerdings geöffnet bleiben, Stipendienprogramme für Studierende und Forschende aus Russland werden fortgeführt. Die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde argumentiert anders als die Allianz der Wissenschaftsorganisationen und bekennt sich in einem Offenen Brief explizit zur Solidarität mit ukrainischen und russischen regimekritischen Wissenschaftler:innen gleichermaßen.[17] Auch in einigen anderen Staaten wie z. B. Großbritannien raten zentrale Organisationen eher zur individuellen Beurteilung von Kooperationsprojekten durch die wissenschaftlichen Träger, während in den USA breit zur Aufkündigung jeglicher Partnerschaften aufgerufen wird.[18]Angesichts des Leids von inzwischen Millionen Geflüchteten und den Nachrichten über Kriegsverbrechen erscheinen Wissenschaftskontakte nicht als zentrales Thema. Aber es bleibt zu hoffen, dass jede Form von Solidarität zählt und dass in möglichst naher Zukunft auch jeder Kontakt zwischen ukrainischen und anderen Wissenschaftler:innen, aber auch nach Russland, der der Zerstörung standgehalten hat, wieder weiteres Gute nach sich ziehen und die verbindende Dimension der Wissenschaft Europa bei der Bewältigung künftiger Aufgaben helfen wird.Überblicksseiten über Hilfsangebote für ukrainische Wissenschaftler:innen und Studierende:Überblick des DAAD –Unterstützungsangebote für ukrainische Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler:https://www.daad.de/de/der-daad/ukraine/hilfsangebote/ Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e. V. – Informationsseite, auch mit vielen nichtakademischen Infos:https://padlet.com/svenjaros/vl0105hx3igusfic "Important links for scientists from Ukraine" – umfassende Seite der Nationale Forschungsdaten Infrastruktur nfdi:https://www.nfdi.de/important-links-for-scientists-from-ukraine/?lang=en Liste mit aktuell mehr als 300 Laboren, die Unterstützung leisten: https://twitter.com/dbasanta/status/1497769311108272131?s=20&t=yHXkTu6ocW-VUXfzRlP4Ng Hilfsprogramm der PAN (Polnische Akademie der Wissenschaft) für ukrainischer Wissenschaftler:innen in polnischer und ukrainischer Sprache:https://informacje.pan.pl/informacje/materialy-dla-prasy/3534-pobyty-naukowcow-z-ukrainy-w-pan?fbclid=IwAR0Ig-UbJKg7xS48h_FN0UFYv6n6UjJnct5OmPSfdGllXTr60EoVTfLhz-M Hotline und Hilfsangebot der NAWA (Polish National Agency for Academic Exchange) hinsichtlich der Fortsetzung des Studiums in Polen:https://nawa.gov.pl/en/ukraina Informationsangebot des polnischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft:https://www.gov.pl/web/edukacja-i-nauka/informacja-dla-studentow-i-naukowcow-przybywajacych-z-ukrainy [1] Marek Wilczyński: Nachbarschaft. Polnisch-ukrainische Beziehungen, in: Dialog 137 (3/2021), S. 80–82.
[2] Agata Czarnacka: Migration, Patriotismus und kollektiver Narzissmus. Polen und die Herausforderungen der Vielfalt, in: Jahrbuch Polen 2022 Widersprüche, S. 29–39, hier S. 33f.
[3] Vgl. Agnieszka Łada: Ukrainian students in Poland. Motivations, benefits, challenges (Hg.), Instytut Spraw Publicznych, Warszawa 2018 [pl, eng].
[4] Apel do środowisk akademickich i elit intelektualnych w związku z agresją Rosji na Ukrainę, URL: https://kijow.pan.pl/?p=1147 (10.3.2022).
[16] Allianz der Wissenschaftsorganisationen: Solidarität mit Partnern in der Ukraine – Konsequenzen für die Wissenschaft. Stellungnahme vom 25. Februar 2022 (16.3.2022).
[17] Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde: Solidarität mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Ukraine und Russland. Offener Brief vom 4. März 2022, https://dgo-online.org/neuigkeiten/aktuelles/offene-briefe-gegen-den-krieg-in-der-ukraine/ (16.3.2022).
[18] Vgl. generell zu internationalen Haltungen Richard Stone: Western nations cut ties with Russian science, even as some projects try to remain neutral, in: science.org vom 8. März 2022, https://www.science.org/content/article/western-nations-cut-ties-russian-science-even-some-projects-try-remain-neutral (15.3.2022); Dennis Overbye: Russian Scientists Face Isolation Following Invasion of Ukraine, in: The New York Times vom 12. März 2022, https://www.nytimes.com/2022/03/12/science/physics-cern-russia.html (15.3.2022).
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Welche Erklärungen Politiker aus Bund und Ländern für den Abwärtstrend bei den Schülerleistungen haben – und was sie jetzt tun wollen.
"BESORGNISERREGENDE BEFUNDE" liefere der IQB-Bildungstrend 2022 für das Fach Deutsch in der neunten Klasse, sagte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Katharina Günther-Wünsch bei der Vorstellung der Ergebnisse in Berlin – "wie zuvor der Bildungstrend 2021 für den Primarbereich". Günther-Wünsch fügte hinzu: "Wir können es nicht hinnehmen, dass ein größer werdender Anteil der Schülerschaft die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss und mitunter sogar die Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss nicht erreicht."
Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, der die SPD-Bildungspolitik in den Ländern koordiniert, verwies auf den internationalen Trend, mit dem sich die IQB-Ergebnisse im Einklang befänden. "Im internationalen Vergleich konnten sich die deutschen Schülerinnen und Schüler in der ersten Dekade der 2000er Jahre deutlich verbessern, in der zweiten Dekade stagnierten die Leistungen wie in den meisten anderen Ländern auch, um dann nach 2018/19, ebenfalls wie in den meisten anderen Ländern, zu sinken." Rabe fügte hinzu: Wie schon in der IGLU-Studie und im IQB-Bildungstrend 2021 für die vierten Klasse zeige sich erneut, dass die "in Deutschland besonders langen Schulschließungen und Schuleinschränkungen während der Corona-Pandemie am Leistungsrückgang einen erheblichen Anteil haben."
Dass die Kompetenzen im Fach Englisch bundesweit weiter gestiegen sind, bezeichnete KMK-Präsidentin Günther-Wünsch, im Hauptberuf CDU-Bildungssenatorin in Berlin, als ermutigend. Genauso wie die Befunde, dass die Neunklässler in Deutschland mit ihrer Schule sehr zufrieden seien und sich sozial eingebunden fühlten. "Und die Deutsch- und Englischlehrkräfte sind ihrerseits zufrieden mit ihrer Berufswahl, unterrichten mit Begeisterung und investieren viel Anstrengung in ihren Beruf." Was Deutsch angeht, sagte Günther-Wünsch, sei sie davon überzeugt, dass der Schlüssel zu besseren Leistungen einer intensiven Sprachförderung und einer Fokussierung auf die Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern liege. "Deshalb stärken wir in Berlin die frühe Bildung und den Übergang in die Primarstufe und werden die datengestützte Schulentwicklung vorantreiben."
SPD-Senator Rabe: "Erfolg der Politik, die auf gezielte Förderung und auf Leistung setzt"
Vorbild ist in der Hinsicht für viele Länder Hamburg. Ties Rabe hob hervor, dass kein anderes Bundesland sich seit 2009 so stark verbessert habe wie die Hansestadt. "Das ist ein schöner Erfolg unserer Politik, die auf gezielte Förderung und auf Leistung setzt." Zugleich räumte der Senator ein, dass der weitere Deutsch-Aufstieg Hamburgs im Bundesvergleich daran liege, dass die Schüler in Hamburg seit 2015 zwar auch deutliche Einbußen gehabt hätten, aber eben deutlich geringere als im Bundesschnitt. In Englisch sei die Leistungssteigerung dagegen höher ausgefallen.
Sehr erfreulich, aber auch überraschend seien die erheblichen Leistungssteigerungen in Englisch, betonte Rabe, das müsse noch genauer analysiert werden. Sicher habe die seit 2015 ungewöhnlich hohe Zunahme von zugewanderten Schülern Einfluss auf beide Entwicklungen.
BMBF-Chefin Stark-Watzinger: "Zügig die Details des Startchancen-Konzepts ausbuchstabieren"
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sprach von "besorgniserregende(n) Leistungsabfälle(n) im Kernfach Deutsch". Erneut werde offensichtlich, dass der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in Deutschland immer noch stark von der sozialen Herkunft abhänge. "Wir müssen daher dringend eine Trendwende in der Kompetenzentwicklung erreichen. Mit dem Startchancen-Programm wollen wir den großen Hebel ansetzen." Stark-Watzinger nannte es einen wichtigen Schritt, dass sich am Donnerstag "alle 16 Länder geschlossen hinter die Eckpunkte zum Startchancen-Programm gestellt" hätten, "damit wir jetzt zügig die Details des geeinten Konzepts ausbuchstabieren und den Programmstart vorbereiten können".
Hessens Kultusminister Alexander Lorz, der die Bildungspolitik der CDU-regierten Länder koordiniert, sagte, die "rasanten Veränderungen in der Schülerschaft" erforderten noch mehr Anstrengungen von den Kultusministern, "als es bisher der Fall ist. Wir müssen unsere Maßnahmen noch weiter ausbauen, die vor allem auf das Erlernen der Bildungssprache Deutsch als der Grundlage jeden Wissenserwerbs in der Schule abzielen." Dazu gehörten Vorlaufkurse zur Sprachförderung bereits vor Eintritt in die Grundschule, mehr Lesezeiten in der Grundschule, aber auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der frühkindlichen Bildung.
Passend dazu tagten am Freitag erstmals in ihrer Geschichte KMK und die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) gemeinsam, was Lorz schon an sich als "wichtiges Signal" bewertete. Mit dabei waren auch BMBF-Chefin Stark-Watzinger und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne).
Bildungs- und Jugendminister tagten
erstmals in ihrer Geschichte gemeinsam
Der diesjährige JFMK-Vorsitzende Steffen Freiberg (SPD), Brandenburgs Minister für Bildung, Jugend und Sport, sagte: "Mit Blick auf das Kind verfolgen wir spätestens jetzt das Ziel, immer in jeder Frage gemeinsam zu arbeiten". Das mit dem Ziel betone er, weil es bekanntermaßen "auch ganz viele Punkte" mit unterschiedlichen Positionen gebe.
KMK und JFMK einigten sich auf drei gemeinsame Beschlüsse. So soll unter anderem der Übergang von der Kita in die Grundschule konferenzübergreifend in den Blick genommen werden. Man bekannte sich zu den Anforderungen, die der 2026 beginnende Rechtsanspruch auf den Ganztag "von beiden Systemen" fordere, inklusive dem kooperativen Zusammenwirken der unterschiedlichen Professionen. Schließlich beschlossen Kultus- und Jugendminister, eine gemeinsame Arbeitsgruppe einzusetzen für die Gewinnung und Sicherung von Fachkräften. Beide Konferenzen sprachen von einer "Fachkräfteoffensive".
Ganztag ist auch das diesjährige Schwerpunkt-Thema von KMK-Präsidentin Günther-Wünsch. Erstmals überhaupt habe die KMK diese Woche gemeinsame Qualitätskriterien für die Ganztagsschule in Deutschland definiert, sagte Günther-Wünsch mit dem Blick auf die beschlossenen zwölf "Empfehlungen zur Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität im Ganztag an Grundschulen". Die Interessen und Bedürfnisse der Kinder seien bei der pädagogischen Gestaltung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote handlungsleitend. Laut Bildung.Table räumte die Berliner Bildungssenatorin ein, dass mit dem Ganztags-Rechtsanspruch enorme Herausforderungen auf die Länder zukämen. Dann werde es "nicht dabei bleiben, dass wir nur über den Fachkräftemangel bei Lehrern sprechen. Wir müssen auch die Zugänge in den Erzieherberuf erweitern."
Unionsfraktion im Bundestag fordert "Chefsache Bildung"
Das Wort "gebundener Ganztag" im Sinne der von den meisten Pädagogen favorisierten Rhytmisierung von Bildungs- und Freiheitsangeboten über den ganzen Tag hinweg kommt indes in den KMK-Empfehlungen nicht vor, hierzu fehlt der Konsens zwischen den Ländern.
Der bildungspolitische Sprecher der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Jarzombek, forderte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), er könne angesichts der IQB-Ergebnisse "nicht weiter tatenlos zuschauen, sondern muss das Thema Bildung endlich zur Chefsache machen". Es brauche jetzt eine bundesweite Gesamtstrategie. "Bundeskanzler und Ministerpräsidenten müssen sich aktiv für eine Trendwende einsetzen." Er habe vor dem Hintergrund kein Verständnis dafür, dass die Ampelregierung im Bereich Bildung und Forschung "mit am meisten" einspare.
Immerhin, berichtete Hessens Kultusminister Lorz, habe es zuletzt auch in den Verhandlungen mit dem Bund um die Fortsetzung des Digitalpakts Fortschritte gegeben, obgleich es noch nicht den "Reifegrad gibt, den wir wollen." Zwischenzeitlich hatten CDU-Politikerinnen wie Schleswig-Holsteins einflussreiche Bildungsministerin Karin Prien sogar mehr oder minder explizit damit gedroht, den formalen Abschluss der Startchancen-Verhandlungen von einer Finanzierungszusage des Bundes für den Digitalpakt abhängig zu machen.
In ihrer Sitzung am Donnerstag beschlossen die Kultusminister eine Protokollerklärung, in der sie an die Bundesregierung appellierten, "Klarheit und eine verlässliche Basis für den Digitalpakt durch eine unmissverständliche Finanzierungszusage für den Zeitraum ab Mitte 2024 zu schaffen." Für die Modernisierung der Schulen und die Bildungsqualität seien das Zusammenwirken von Digitalpakt und Startchancen-Programm gleichermaßen wichtig.
Am 6. November treffen sich Bundeskanzler Scholz und die Ministerpräsidenten der Länder zur gemeinsamen Konferenz, dann wird voraussichtlich auch der sogenannte Digitalpakt 2.0. Thema sein.
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) erklärte die IQB-Ergebnisse unterdessen zu einem "Armutszeugnis für die Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte". Die Vernachlässigung der Sprache Deutsch sei alarmierend und nicht akzeptabel. Bestimmte Probleme seien "hausgemacht", sagte die DPhV-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing: "überlastete und zu wenig Lehrkräfte, viele fachfremd unterrichtende Lehrkräfte, schlechte Ausstattung der Schulen, zu wenige Unterrichtsstunden Deutsch, zu wenige Ressourcen für Integration – all das mahnen wir seit Langem an."
"Das ist heftig"
Der IQB-Bildungstrend zeigt: Innerhalb von sieben Jahren ist die Deutschkompetenz von Neuntklässlern auf den Stand abgerutscht, den 2015 Siebt- und Achtklässler hatten. Dafür gibt es viel mehr Jugendliche, die richtig gut Englisch können – trotz der Corona-Schulschließungen. IQB-Direktorin Petra Stanat über die Suche nach den Ursachen – und die Gestaltungsaufgaben der Bildungspolitik. (13. Oktober 2023) >>>
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Ein Foto, das bei der Ausweisung von Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit in Nürnberg am 28. Oktober 1938 aufgenommen wurde. Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1982-174-27 / Großberger, H. / CC-BY-SA 3.0 "L. Papa. Ich habe garnichts. Bin ausgewiesen nach Polen ganz allein ohne alles. Fahr wenn m[ö]glich zu Tante Berta. Wilna Wielka 49 Friedel"Diese Postkarte schrieb die damals 16-jährige Friedel Bendkower aus der Frankfurter Battonnstraße an ihren Vater David, als sie anlässlich der sogenannten "Polenaktion" am 28. Oktober 1938 ausgewiesen wurde. Sie verfasste die Zeilen während ihrer Verschleppung noch im Zug.[1] Am 27. Oktober zwischen 14 und 18 Uhr hatten im ganzen Zuständigkeitsbereich des polnischen Generalkonsulats Frankfurt Juden polnischer Staatsangehörigkeit von den Polizeiorganen ihren Ausweisungsbefehl erhalten. So wie Friedel mussten Tausende Jüdinnen und Juden, welche schon lange in Deutschland lebten, von heute auf morgen ihr Zuhause verlassen. Sie hatten zwar nach der Gründung der Zweiten Polnischen Republik 1918 die polnische Staatsangehörigkeit erhalten, aber oft sprachen sie nicht einmal Polnisch und hatten wenige, manchmal gar keine Verbindungen nach Polen. Familien wurden getrennt, der Zugang zu ihren Netzwerken und Ressourcen plötzlich abgeschnitten. Der konkrete Anstoß für diesen radikalen Schritt der Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt war ein Erlass der polnischen Regierung, der besagte, dass ab dem 30. Oktober 1938 die Pässe von polnischen Staatsbürgern jüdischen Glaubens, die länger als fünf Jahre im Ausland lebten, nicht mehr gültig sein sollten. Mit dieser Regelung wollte die polnische Regierung der schon länger von ihr befürchteten massenhaften Ausreise oder Ausweisung von polnischen Jüdinnen und Juden aus NS-Deutschland nach Polen zuvorkommen. Das Gegenteil trat ein. Die deutschen Behörden fingen hastig an, ihre bereits von langer Hand geplante erste größere Deportationsaktion umzusetzen.[2]Die erste große Deportationsaktion der Nationalsozialisten – regional unterschiedlich umgesetztDie Methoden der deutschen Polizeiorgane vor Ort unterschieden sich dabei in ihrer Brutalität erheblich. Teilweise wurden Ausreisebefehle zunächst übergeben, in den meisten Fällen aber die Menschen direkt verhaftet und wie Friedel Bendkower ohne Gepäck, fallweise sogar ohne vollständige Bekleidung, abtransportiert. Auch waren unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen betroffen: In manchen deutschen Städten wurden etwa nur männliche Jugendliche und Männer über 18 Jahren (z. T. bis ins hochbetagte Alter, aus den Altenheimen heraus) deportiert, in anderen ganze Familien inklusive der Kleinkinder.[3]Die Anordnung zur Zwangsausweisung der polnischen Juden, die aus Berlin kam, erreichte nicht alle Reichsteile gleichzeitig, und so variierte das Abschiebedatum je nach Wohnort zwischen dem 27. und dem 29. Oktober. Am Ende wurden schätzungsweise 17.000 Menschen verschleppt und unter schlimmsten Bedingungen an die deutsch-polnische Grenze transportiert. Ziel waren drei Grenzorte mit Bahnanschluss: Bentschen (Zbąszyń) in Großpolen, Konitz (Chojnice) in Pommern und Beuthen (Bytom) in Oberschlesien. Vom Frankfurter Hauptbahnhof mussten die Zwangsausgewiesenen ab dem 28. Oktober um 8 Uhr morgens mit Sonderzügen Richtung polnische Grenze fahren.Die polnischen diplomatischen Vertretungen und die Grenzbehörden vor Ort verhielten sich ebenfalls unterschiedlich. In Frankfurt hatte das Generalkonsulat ab dem Nachmittag des 27. Oktobers von Betroffenen erste Nachrichten über die bis dahin unbekannte Aktion erhalten. Schließlich hatten es in Frankfurt 200 Menschen, die nicht sofort verhaftet worden waren, ins Generalkonsulat geschafft – mit der Bitte um Erklärungen und Intervention. Doch der Konsul schickte sie mit Hinweis auf die Zwecklosigkeit des Unterfangens davon, während an anderen Standorten wie Leipzig Unterstützung organisiert wurde. Beginnend am Abend des 28. Oktobers 1938 trieb die deutsche Polizei die Menschen über die Landstraßen oder entlang der Eisenbahngleise bis zur Grenze nach Zbąszyń. Im Grenzstreifen, auf dem Bahngelände, in der nahe gelegenen Stadt oder einfach der unbewohnten Umgebung irrten letztlich mehrere tausend Menschen umher und versuchten, irgendwo unterzukommen. Die polnischen Behörden hatten aus Warschau keinerlei Vorwarnung erhalten und reagierten völlig überfordert. Schließlich bemühten sich die Wachen an der polnischen Grenze in Zbąszyń darum, die Papiere der Ausgewiesenen zu kontrollieren und sie zu registrieren, an den anderen Übergängen konnten sie ohne Erfassung weiterreisen. Wer in Zbąszyń kein Ziel bei einem Bekannten oder einer Verwandten oder ähnliches angeben konnte, dem wurde die weitere Einreise verweigert; es folgte die Internierung in Zbąszyń in einer alten Kaserne und deren Ställen. Neben der Abreise zu einer bekannten Person in Polen gab es für viele auch die Möglichkeit, kurzzeitig auf eigene Kosten ins Deutsche Reich zurückzukehren und dort den Haushalt aufzulösen; sofort im Anschluss erfolgte dann meist die erneute Ausweisung.[4] Mehrere hundert Menschen wurden in den Tagen der Verschleppung schwer verletzt, etwa 50 Menschen starben.[5]Auch die Eltern und Geschwister des 17-jährigen, bereits nach Paris emigrierten Herschel Grynszpan aus Hannover, der die Rabbinische Lehranstalt Jeschiwa im Frankfurter Ostend besucht hatte, waren Opfer der Aktion. Dies war seine Motivation für das am 7. November 1938 verübte letztlich tödliche Attentat auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath. Diese Episode diente den Nationalsozialisten als Vorwand für die gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland gerichteten Novemberpogrome 1938.Das Schicksal der allermeisten Opfer dieser ersten massenhaften Zwangsausweisung von Juden aus Deutschland lässt sich nur schwer ermitteln. Wem es gelang, aus unterschiedlichen Gründen ins Deutsche Reich zurückzukehren, in Polen Anschluss zu finden oder in andere europäische Länder zu emigrieren, wurde oftmals von den weiteren Entwicklungen wieder eingeholt und später deportiert und ermordet. Erforschung von Lebenszeichen, die an die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit erinnernDenkmale oder Erinnerungszeichen an die Deportation der polnischen Juden 1938 gibt es nur wenige. Das Projekt "Lebenszeichen ⋮ Znaki Życia. Polen und der Zweite Weltkrieg – Erinnerungsorte in Deutschland" des Deutschen Polen-Instituts erforscht die Erinnerung an Polinnen und Polen, die sich während des Zweiten Weltkriegs sowie in den Jahren unmittelbar davor und danach in Deutschland befanden. So wird auch nach Spuren gesucht, die an die Deportationen von 1938 erinnern.[6] In Zbąszyń selbst wird das Gedenken im öffentlichen Raum gepflegt, etwa durch einen Informationsweg entlang der ehemaligen Grenze. Seit 1987 erinnert ein Gedenkstein in Altona an die Vertreibung von über 800 polnischen Jüdinnen und Juden aus Altona. In vielen Gemeinden wurden Stolpersteine verlegt, die an individuelle Opfer erinnern, etwa in Hamburg, Berlin, Frankfurt, Hannover, Dinslaken, Essen, Karlsruhe, Zaberfeld, Ludwigshafen, Kaiserslautern u. a.Eine gesonderte Erwähnung findet die "Polenaktion" auch im öffentlichen Gedenken der rheinland-pfälzischen Stadt Pirmasens. Am Bahnhofsvorplatz wurde vom Trierer Künstler Clas Steinmann eine Gedenkstätte für alle Pirmasenser Opfer des Nationalsozialismus entworfen. Das zentrale Denkmal, bestehend aus Bronze-Stelen, funktioniert inhaltlich als Ensemble mit dezentralen Tafeln, die stetig erweitert werden. Diese wurden an den letzten Wohnorten der Opfer angebracht; sie informieren in Kurzform über die biografischen Grunddaten der Menschen und verweisen mit einem QR-Code auf die städtische Homepage für mehr historischen Kontext.[7]Am Amtsgericht, in der Bahnhofstraße 22–26 informiert seit 2018 eine sogenannte Sachtafel zur "Polenaktion", der Zwangsausweisung polnischer Juden 1938. Sachtafel am Amtsgericht in Pirmasens, angebracht am Gebäude in der Bahnhofstraße 22–26, mit Verweis auf die Internetseite https://www.pirmasens.de/leben-in-ps/kultur/gedenkprojekt/dezentrale-gedenkorte/bahnhofstrasse-22-26/. Bild: StArchiv PS Der damals zehnjährige Emanuel Baumöhl wurde am Amtsgericht Pirmasens am 27. Oktober 1938 als einer von 40 Jüdinnen und Juden polnischer Herkunft und ihrer Familienangehörigen festgesetzt."Auf dem Gerichtsgebäude teilte man uns mit, dass alle Verhafteten polnische Staatsangehörige seien und infolgedessen als staatenlose Ostjuden abgeschoben würden. Wir verbrachten die Nacht im Gerichtsgebäude und wurden am nächsten Morgen [...] auf Lastwagen nach Kaiserslautern ins Gefängnis gebracht. Meine Eltern und die übrigen Juden mussten hier alle Wertgegenstände, die sie bei sich trugen, abgeben. Anschließend ging es vom Gericht zum Hauptbahnhof, wo wir unter Polizeischutz in Personenwaggons verladen wurden. [...] [Wir erreichten] an der damaligen deutsch-polnischen Grenze Neu-Bentschin. Bei strömendem Regen und furchtbarer Kälte mussten wir die Waggons verlassen. Entlang der Gleise wurden wir über das sogenannte Niemandsland auf die polnische Seite getrieben. Doch die Polen ließen die Menschen nicht in ihr Land, so dass wir einige Tage unter freiem Himmel auf Gleisen verbringen mussten. Nach drei Tagen wurden wir von den Polen in eine nahegelegene leerstehende Mühle verfrachtet, die wir nicht verlassen durften. In dieser Mühle, die eine Ruine ohne jegliches Mobiliar war, verbrachten wir fast ein Jahr. Wir schliefen auf Stroh. Einmal täglich erhielten wir vom polnischen Roten Kreuz unsere Verpflegung."[8]Der 1928 in Pirmasens geborene Emanuel Baumöhl hatte einen aus Polen stammenden jüdischen Vater, Berich Süsser. Die Mutter war die zweite Frau seines Vaters, eine aus Kleinhausen stammende Katholikin, die bei der Heirat zum Judentum konvertierte. Aus der ersten Ehe des Vaters hatte Emanuel vier Geschwister. Zur erzwungenen Namensänderung der Familie in Baumöhl kam es, weil die Nationalsozialisten die in Polen von einem Rabbiner vorgenommene Eheschließung von Berichs Eltern nicht anerkannten.[9]Im Oktober 1938 wurden auch die Baumöhls, da alle die polnische Staatsangehörigkeit besaßen, Opfer der ersten großen Vertreibung von Juden aus Deutschland. Im Juni 1941, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, richteten die Nationalsozialisten in Berichs Geburtsstadt Rawa-Ruska, wo sich die Familie zu der Zeit befand, ein jüdisches Ghetto ein. Helmut Sittinger, der die Geschichte von Emanuel Baumöhl untersucht hat, schreibt dazu: "Zu diesem Zeitpunkt überließ man Berichs 'arischer' Ehefrau die Entscheidung, sich von ihrer Familie zu trennen, was sie klar ablehnte. So mussten sie und ihr Sohn Emanuel bei der letzten 'Judenaktion' im Ghetto in Rawa Ruska mit ansehen, wie im Dezember 1942 ein 18-jähriger SS-Mann den Familienvater und seinen Sohn Obed erschoss."[10] Flucht zurück nach Deutschland und in die USAEmanuel und seiner Mutter gelang mithilfe eines Polizeihauptmanns aus Bayreuth die Flucht vor der vorrückenden Roten Armee, in vier Monaten, bis über die Karpaten und nach Deutschland. Dort fuhren sie zur Schwester von Anna Baumöhl nach Ixheim. Nach drei Tagen wurden sie von SA-Männern festgenommen und zur Zwangsarbeit herangezogen. Anna Baumöhl musste im nahegelegenen Althornbach arbeiten und durfte weiterhin bei ihrer Schwester leben, Emanuel kam zu einem Landwirt nach Zweibrücken. Er wurde dort gut behandelt, obwohl er keinen Lohn bekam, und fühlte sich einigermaßen sicher; so blieb er noch einige Monate nach Kriegsende dort, bevor er im nahen Dorndorf Arbeit fand. 1946 lernte Emanuel Isolde Jost kennen, Tochter eines bekennenden Nationalsozialisten. Sie verliebten sich, und er schaffte es mit ihrer Hilfe seine Schulbildung nachzuholen, die er 1938 abrupt hatte abbrechen müssen. Emanuel Baumöhl arbeitete weiter, besuchte zugleich eine Handelsschule, machte eine Lehre und fing bei Elektrofirma an. Erst 1952 konnten Emanuel und Isolde heiraten: Obwohl Emanuel ursprünglich die polnische Staatsbürgerschaft hatte, wurde er nach dem Krieg als staatenlose displaced person geführt. Eine Heirat hätte dazu geführt, dass Isolde ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren hätte. So warteten die beiden mit ihrer Hochzeit, bis Emanuel die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Sie bekamen zwei Töchter.[11]Friedel Bendkower und auch ihr jüngerer Bruder hingegen konnten nach ihrer vorläufigen Rückkehr von der deutsch-polnischen Grenze in die USA flüchten, wohin der von der Mutter geschiedene Vater David schon früh ins Exil gegangen war. Die Mutter, Regina Bendkower, wurde am 12. November 1941 bei der zweiten großen Massendeportation aus Frankfurt in das Ghetto in der von den Deutschen besetzten belarusischen Stadt Minsk verschleppt und ermordet.[12] Stolperstein Battonnstraße 7 Regina Bendkower. Bild: Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main [1] Aus dem Nachlass von Friedel Mayer, geb. Bendkower, Jüdisches Museums Frankfurt.
[2] Zur Einführung Monika Stefanek: "Polenaktion" 1938, in: Porta Polonica – https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/polenaktion-1938 (27.10.2022); Grundlegend Alina Bothe, Gertrud Pickhan: Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der "Polenaktion", Berlin 2018. Die Ausstellung "Ausgewiesen! Die Geschichte der Polenaktion 1938" ist vom 28.10. bis 27.11.2022 in der Marienkirche in Frankfurt (Oder) zu sehen.
[3] Für einen Abschiebungsbescheid aus Berlin s. https://www.jmberlin.de/thema-polenaktion-1938#media-7723 (27.10.2022).
[4] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/zwangsausweisung.html.de?page=1 (23.01.2019); Jerzy Tomaszewski: Auftakt zur Vernichtung: Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938. Osnabrück 2002, S. 113–195.
[5] Alina Bothe, Vortrag anlässlich des 84. Jahrestags der "Polenaktion" für das Projekt #LastSeen der Arolsen Archives, 27.10.2022.
[8] Dunja Maurer, Bernhard Kukatzki, Heike Wittmer (Hrsg.): Juden in Pirmasens. Spuren ihrer Geschichte, Pirmasens 2004, S. 444 f.
[9] Und zum folgenden: Helmut Sittinger: Emanuel Baumöhl: Ein gebürtiger Pirmasenser als polnischer Zwangsarbeiter in Zweibrücken, in: Gertrud Schanne-Raab (Hrsg.): Für jeden sichtbar und doch vergessen. Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Zweibrücken 1940–1945, St. Ingbert 2021, S. 280–282, hier S. 280. Vgl. Otmar Weber: Nur drei haben überlebt. Das Schicksal der Familie Süsser/Baumöhl während der NS-Zeit, in: Maurer, Kukatzki, Wittmer (Hrsg.): Juden in Pirmasens, S. 438–449.
[10] Sittinger, Emanuel Baumöhl, S. 280 f.
[11] Ebenda, S. 281–283.
[12] Die Abschnitte allgemein zur "Polenaktion" und zur Familie Bendkower wurden weitgehend übernommen aus: Julia Röttjer, Raus aus Deutschland! Die Ausweisung von Jüdinnen und Juden 1938 im Rhein-Main-Gebiet ("Polenaktion"), in: Peter Oliver Loew (Hrsg.), Lebenspfade / Śćieżki życia. Polnische Spuren in RheinMain. Ein historisches Mosaik, Darmstadt 2019, S. 79-81.
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Wissenschaftsministerin Petra Olschowski über den Gang der ETH Zürich nach Deutschland, den Umbau der Lehrerbildung, die Zukunft der Kultusministerkonferenz – und die Frage, ob Baden-Württemberg das neue Ruhrgebiet ist.
Petra Olschowski (Grüne) war 2010 bis 2016 Rektorin der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und 2016 bis 2022 Staatssekretärin. Seit September 2022 ist sie baden-württembergische Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Foto: Lena Lux Fotografie & Bildjournalismus.
Frau Olschowski, die ETH Zürich hat neulich verkündet, dass sie eine Filiale in Baden-Württemberg eröffnen wird – in Heilbronn, als Nachbarin der TU München. Auch für Sie eine Überraschung?
Die Dieter-Schwarz-Stiftung, die den Bildungscampus Heilbronn stark mit vorantreibt, kann ohne Rücksprache mit dem Land Entscheidungen treffen, hat uns aber einige Tage vor der Bekanntgabe der Pläne informiert. Nach unserem Landeshochschulrecht muss das Wissenschaftsministerium der Ansiedlung zustimmen. Das prüfen wir jetzt. Grundsätzlich ist es erst mal ein starkes Zeichen für den Wissenschaftsstandort Baden-Württemberg, wenn es eine international herausragende Universität wie die ETH Zürich hierherzieht und sie ein Lehr- und Forschungszentrum für digitale Transformation errichten will. Das starke Netzwerk in der KI-Forschung, das wir im Land auch mit dem Cyber Valley aufbauen, wird dadurch noch stärker.
Sind Sie nicht enttäuscht, dass die ETH lieber dem Ruf von Milliardär Dieter Schwarz folgt, anstatt für ihren Deutschland-Trip einen der Innovationscampi auszusuchen, von denen Ihr Ministerium inzwischen fünf mit staatlichen Mitteln fördert, darunter das Cyber Valley in Tübingen?
Die ETH Zürich ist schon lange ein wichtiger Partner für das Cyber Valley, in das wir seit 2016 als Land investieren. Das Konzept vom Bildungscampus Heilbronn und unserer Innovationscampus-Modelle folgen der sehr ähnlichen Idee einer Verdichtung von Expertise, der Idee des möglichst frühen Transfers von Forschungserkenntnissen in die Wirtschaft. Im Cyber Valley sind das neben den Universitäten Stuttgart und Tübingen die Max-Planck-Gesellschaft und Unternehmen wie Amazon, Daimler oder Bosch. Dass die Dieter-Schwarz-Stiftung den Kooperationspartner ETH jetzt über die Grenze holt, eröffnet natürlich nochmal zusätzliche Perspektiven für die Zusammenarbeit.
"Ich kenne mich gut aus mit der Geschichte des Strukturwandels im Ruhrgebiet."
Fest steht: Baden-Württemberg braucht solche Nachrichten dringend. Das einst erfolgsverwöhnte Vorzeigeland steckt mit seiner Automobilindustrie in einer ähnlich tiefen Strukturkrise wie das Ruhrgebiet mit seiner Kohle- und Stahlindustrie in den 60er Jahren.
Ich kenne mich gut aus mit der Geschichte des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Meine Mutter kommt aus Dortmund, mein Opa hat untertage gearbeitet. Ich erinnere mich an die Debatten am Abendbrottisch, wie mein Opa und seine Kollegen weiter auf die Kohle gesetzt haben, obwohl längst absehbar war, dass es so nicht weitergeht. Schau ich mir die Situation heute in Baden-Württemberg an, gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Erstens: Wir werden uns eben nicht von der Automobilindustrie lösen müssen, wie Nordrhein-Westfalen sich von der Kohle lösen musste. Zweitens: Viele Dinge werden sich trotzdem grundsätzlich ändern. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat schon 2017 einen Strategiedialog zur Transformation der Automobilindustrie eingerichtet, bei dem die Chefs der großen Auto- und Zulieferkonzerne regelmäßig zusammensitzen mit Gewerkschaften, Lobbygruppen, aber auch mit der Wissenschaft, mit den Landesministerien. Alle Beteiligten eint: Wir bleiben ein starker Automobilstandort, aber unsere Geschäftsmodelle wandeln sich, die Antriebsformen werden andere, der Schwerpunkt der Wertschöpfung verschiebt sich vermutlich Richtung Hochtechnologie.
Namentlich: die Künstliche Intelligenz in all ihren Ausprägungen. Tatsächlich hat Baden-Württemberg mit Aleph Alpha aus Heidelberg jetzt sogar einen von nur zwei europäischen Hoffnungsträgern, um ChatGPT Parolie zu bieten. Wiederum seit kurzem größter Geldgeber: die Schwarz-Gruppe und die Dieter-Schwarz-Stiftung. Deutschland war es dann auch, das neben Frankreich am meisten Druck gemacht hat, um eine Regulierung sogenannter Foundation Models im europäischen KI-Gesetz zu verhindern. Auf Initiative Baden-Württembergs?
Es trifft zu, dass wir uns als baden-württembergische Landesregierung dafür eingesetzt haben, bei dem Gesetzgebungsverfahren die Interessen von Innovation und Forschung zu berücksichtigen. Wir müssen ein europäisches KI-Modell hinbekommen, das nicht alle Freiheiten lässt, das die Möglichkeiten von Überwachung etwa am Arbeitsplatz in den Blick nimmt, zugleich aber nicht den Weg der Überregulierung geht. Wir reden die ganze Zeit darüber, dass wir als Gesellschaft risikofreudiger werden müssen. Dann sollten wir auch danach handeln. Wir wissen heute nicht, wie der wissenschaftliche Fortschritt in fünf oder in zehn Jahren aussieht. Darum dürfen wir jetzt nicht alle technologischen Entwicklungspfade blockieren. Wir müssen in Zukunft vermutlich lernen, unsere Gesetzgebung den Erkenntnissen entsprechend laufend anzupassen und nicht zu meinen, ein Gesetz gilt für Jahrzehnte. Und wir sollten im Zweifel die Innovationskraft von Wissenschaft und Wirtschaft zulassen. Das gilt bei der KI, aber auch bei der grünen Gentechnik und anderswo.
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Ob Industrie, Mobilität, Ernährung, Gesundheit: Überall, wo der Strukturwandel in Gang kommt, wo Deutschland sich neu erfinden muss, soll immer die Forschung es richten. Die Hoffnungen sind gewaltig. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Politik Wissenschaft nur noch instrumentell begreift? Als Mittel zum Zweck?
Wir müssen uns ehrlich machen. Es gab eine Zeit, da hat sich die Wissenschaft zu wenig den Erwartungen und den Bedürfnissen der Gesellschaft gestellt. Das ist vorbei. Unsere Wissenschaftslandschaft verändert sich und damit die Forschungsförderung, die wir betreiben. Alle wissen: Wir werden den Wandel in der Gesellschaft ohne neue Technologie nicht hinbekommen. Aber natürlich nicht nur über Technologie. Wir müssen genauso über soziale Innovationen reden, womit auch und gerade die Geistes- und Sozialwissenschaften gefragt sind. Es wird jedenfalls deutlich schwieriger einfach zu sagen: Das geht mich alles nichts an, mir ist egal, wie es der Gesellschaft geht und was sie braucht. Das ist aber nur die eine Seite. Die andere ist: Wir wissen genau, dass es die freie Grundlagenforschung gerade um der Anwendung von morgen und übermorgen willen braucht. Sie ist die Basis aller wissenschaftlichen Erkenntnis, sie gehört grundlegend geschützt und unterstützt. Und sie wird es auch.
Dieser Paradigmenwechsel, den Sie beschreiben, ist besonders für die Grünen heftig. Wenn Sie etwa Spielraum und Experimentierlust auch in der grünen Gentechnik fordern, tun Sie das im Einklang mit Ihrer Parteifreundin, Hamburgs grüner Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank, aber konträr zu langjährigen Überzeugungen des grünen Mainstreams.
Die grünen Wissenschaftsministerinnen und Wissenschaftspolitiker waren sich in der Hinsicht immer weitestgehend einig, das umfasst auch unsere scheidende hessische Kollegin Angela Dorn. Aber natürlich gibt es die andere Seite, Parteifreundinnen und -freunde, die ihren Fokus stärker auf der Biolandwirtschaft haben. Es ist gut, dass wir beide Strömungen in der Partei haben. Wir Grünen waren und sind eine Partei, die viele Themen der Gesellschaft in Tiefe und Breite offen ausdiskutiert. Das ist in erster Linie eine Stärke, aber manchmal auch eine Schwäche.
"Darüber zu sprechen, ist mit diesem BMBF im Moment leider nicht so einfach möglich."
In Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hatten Sie immer eine Verbündete, was den Schutz von KI oder grüner Gentechnik vor einer aus ihrer Sicht zu starken Regulierung anging. Doch bei vielen Themen in der Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationspolitik knirscht es zurzeit zwischen Bund und Ländern. Woran liegt das?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Bei der geplanten Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) erfahren wir kaum etwas zum Stand, zur Konzeption und zur Ausstattung. Vielleicht wird die DATI am Ende hilfreich sein, vielleicht wird sie ein Erfolg. Aber als Länder bleiben wir außen vor. Wir haben Vertrauen in die gebildete Gründungskommission, außerdem bin ich erfreut, dass das BMBF offenbar innovative Themen setzen und neue Formate ausprobieren will. Die Länder hätten allerdings auch Expertise bei der Frage zu bieten, wie die Agentur noch besser bzw. wie die Anschlussfähigkeit an bestehende Länderprogramme sichergestellt werden könnte. Nur: Darüber zu sprechen, ist mit diesem BMBF im Moment leider nicht so einfach möglich.
Aber warum ist das so?
Ich würde lieber darüber sprechen, wie wir das ändern. Bei den Verhandlungen um die Fortsetzung des Programms zur HAW-Forschungsförderung hatten wir zwischendurch auch sehr schwierige Phasen. Es hätte schneller und vertrauensvoller gehen können, wir haben miteinander gerungen, aber am Ende sind wir zu einem Ergebnis gekommen. Das könnte, das sollte doch jetzt unser gegenseitiges Vertrauen in unsere Kooperationsfähigkeit stärken – bis zu dem Punkt, dass der Bund unseren Wunsch, als Länder früher und besser mit ihm ins Gespräch zu kommen, ernst nimmt. Dass man im BMBF ein Gefühl dafür entwickelt, dass wir nicht nur die Schreckgestalten des Föderalismus sind, sondern Partner, die am Ende das gleiche Interesse haben: die Wissenschaft in Deutschland stark zu machen.
Wobei die Länder sich mitunter selbst schon genug Probleme bereiten. Die Wissenschaftsminister waren so frustriert über ihre Rolle in der Kultusministerkonferenz (KMK), dass sie jetzt ihre eigene Wissenschaftsministerkonferenz bekommen sollen. Droht die Scheidung von den Bildungsministern?
Ich hoffe nicht. Bis Sommer werden wir prüfen, was das richtige Format für die Wissenschaft sein wird: innerhalb oder außerhalb der KMK. Ich plädiere sehr dafür, dass wir die Verknüpfung erhalten, aber anders gestalten als bislang, denn so, wie es war, hat es wirklich nicht funktioniert. Dafür sind die Dynamiken und Schwerpunktsetzungen zwischen Bildungs- und Wissenschaftspolitik doch zu unterschiedlich. Umgekehrt gibt es viele Themen, bei denen wir eng verbunden sind. Bei der anstehenden Reform der Lehrerbildung, aber auch bei der Frage, wie das Abitur künftig die Verbindung zwischen Schule und Hochschule darstellen kann.
"Manchmal hatte ich eher den Eindruck, dass unter den Kultusministerinnen und Kultusministern einige sind, die die Wissenschaft ganz aus der KMK verabschieden wollten."
Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) rief schon mal eine "Revolution statt Evolution" aus.
Es mag zutreffen, dass Karin Prien…
…Schleswig-Holsteins CDU-Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur…
…und ich eher zu denen gehören, die die Einrichtung einer eigenen Wissenschaftsministerkonferenz schmerzt. Bei Karin Prien schon deshalb, weil sie Bildung und Wissenschaft in ihrem Ressort vereint. Bei mir, weil ich zwar als Kulturministerin durchaus die Vorteile sehe, seit die Kulturminister ihre eigene Kulturministerkonferenz haben. Weil ich zugleich aber ungute Loslösungserscheinungen bemerke, obwohl sich die Kulturministerkonferenz sogar unter dem Dach der KMK befindet. Wir sind Wissenschaftsministerium, wir sind aber auch Hochschulministerium und haben damit auch die Bildung im Haus. Deshalb bin ich dafür, dass die neue Konferenz zumindest ebenfalls Teil der KMK wird. Übrigens sieht auch Markus Blume den Wert starker Verbindungen zu den Kultusministern. Manchmal hatte ich eher den Eindruck, dass unter den Kultusministerinnen und Kultusministern einige sind, die die Wissenschaft am liebsten ganz aus der KMK verabschieden wollten.
Wie stellen Sie sich den Neuanfang praktisch vor?
Es ist zu früh, das zu sagen. Aber sicherlich würde es Sinn ergeben, die Sitzungen einer Wissenschaftsministerkonferenz an die Termine der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) von Bund und Ländern anzubinden, denn dann treffen wir uns ohnehin schon. Und die Termine mit dem Wissenschaftsrat müssen wir außerdem koordinieren. Was allein schon zeigt: Mehr Gremien haben nicht automatisch einen Mehrwert an sich.
Zumal Sie die Reform der Lehrerbildung eben schon ansprachen. Da werden Sie ohnehin wieder alle zusammensitzen müssen, wenn es keinen Wildwuchs geben soll. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) hat die Länder gerade dringend zu einer föderalen Stimmigkeit und Systematik bei der Neugestaltung aufgerufen.
Mein erster Eindruck ist, das Gutachten der SWK bestätigt in vielen Teilen die Richtung, die wir in Baden-Württemberg bereits eingeschlagen haben. Es gibt allerdings einige Punkte, bei denen wir anderer Meinung sind.
"Den Ein-Fach-Lehrer in einigen Hauptfächern ermöglichen."
Sie meinen: das duale Lehramtsstudium, das Baden-Württemberg und andere Länder pushen, das die SWK-Experten aber ablehnen.
Zum Beispiel. Wobei man sich genau anschauen sollte, was mit dualem Studium gemeint ist. Wenn das Gutachten etwa empfiehlt, das Referendariat zu kürzen und die Praxisanteile in den Master zu packen, entspricht das genau dem, was wir unter der Überschrift "duales Studium" planen. Die Sorge der SWK besteht vor allem darin, dass die Wissenschaftlichkeit des Studiums leidet, das muss aber nicht der Fall sein, wenn man die Praxiselemente vernünftig einarbeitet. Noch wichtiger sind die Themen, bei denen sich das Gutachten deckt mit dem, was wir Länder, übrigens schon jetzt recht einheitlich, vorhaben. Beispiel Ein-Fach-Lehrer: Dass es diesen in bestimmten Mangelfächern geben muss, dafür gibt es nach meiner Einschätzung in der KMK eine Mehrheit. Und trotzdem wird ein Flächenland wie Baden-Württemberg, in dem es auch kleine Grundschulen auf dem Land gibt mit nur 15 Schülern in der Klasse, teilweise andere Lösungen entwickeln müssen als ein Stadtstaat wie Hamburg.
Beim Ein-Fach-Lehrer, sagen Sie, herrsche weitgehend Konsens zwischen den Ländern. Tatsächlich? Es macht einen großen Unterschied, ob man das Modell nur für Mangelfächer etablieren will, als Notmaßnahme gegen den akuten Lehrkräftemangel – oder es durch die Bank einführt als dauerhafte strukturelle Neuordnung der Lehrerbildung.
Im Moment liegt der Fokus sehr stark auf der Mathematik, weil dort der Mangel am stärksten und der Reformbedarf zugleich besonders groß ist in einem Studium, das als extrem anspruchsvoll und angstbehaftet gilt. Wir sehen zudem, dass internationale Bewerberinnen und Bewerber nicht an Schulen arbeiten können, weil ihnen das zweite Fach fehlt. Ein entscheidender Punkt könnte sein, ob wir von Haupt- oder Nebenfächern sprechen. Das hielte ich für eine sinnvolle Unterscheidung: den Ein-Fach-Lehrer in einigen Hauptfächern ermöglichen und, wenn er sich über den akuten Lehrkräftemangel hinaus bewährt, auf weitere Fächer ausweiten.
Die SWK empfiehlt, den Absolventen der Ein-Fach-Studiengänge die berufsbegleitende, aber nicht weniger wissenschaftsbasierte Fortbildung zum zweiten Fach zu ermöglichen. Reicht das? Muss es nicht eine Verpflichtung geben? Die würde schließlich auch die Länder binden, genügend Kapazitäten dafür zur Verfügung zu stellen.
Ich wäre dafür. Möglicherweise ist es keine erstrebenswerte Perspektive, als Lehrerin oder Lehrer über Jahrzehnte hinweg immer nur Mathematik zu unterrichten. Hinzu kommt, dass die Weiterbildung im Lehrerberuf trotz aller Bemühungen nie die Bedeutung bekommen hat, die ihr zusteht. Viele Lehrkräfte beklagen seit langem, dass sie sich nicht richtig in ihrem Schulalltag weiterentwickeln können. Es wäre eine wunderbare Folge der Ein-Fach-Lehrer-Debatte, wenn wir neue, hochwertige Weiterbildungsoptionen für alle eröffnen könnten.
"Darum plädiere ich dafür, dass wir jetzt erstmal aus den Studiengebühren aussteigen und offen bleiben für weitere Entwicklungen."
Einen Alleingang ist Baden-Württemberg vor Jahren bei Studiengebühren für Nicht-EU-Studierende gegangen. Im vergangenen Frühsommer sprachen sich die Regierungsfraktionen von Grünen und CDU dann für die Abschaffung aus, auch der unabhängige Monitoring-Beirat empfahl diese. Wie geht es weiter?
Die Entscheidung wird Teil der Haushaltsberatungen 2024. Die Zahlen, die wir zuletzt wieder vorgelegt bekamen, sprechen allerdings für sich. Die Diskrepanz zwischen dem Angebot an akademischen Fachkräften und dem Bedarf, den wir in Baden-Württemberg bis 2040 haben, ist so groß, dass sie die Transformation, von der wir eingangs sprachen, erschwert. Darum ist es mein oberstes Interesse, eine möglichst große Zahl hochqualifizierter Studierender an unseren Hochschulen zu haben. Erfreulicherweise kommen auch zu uns wieder mehr internationale Studienanfänger, aber im Vergleich der Bundesländer sind wir zurückgefallen. Wir haben unsere Exzellenzuniversitäten, wir haben wunderschöne Orte zum Studieren von Heidelberg über Konstanz am Bodensee bis nach Freiburg und Tübingen, da bleibt nur ein Grund übrig, der die Entwicklung erklärt: die Studiengebühren. Das ergeben diverse Umfragen: Für Studieninteressierte aus dem Ausland sind die Studiengebühren neben der Visavergabe und anderen Barrieren die eine Hürde zu viel, um zu uns zu kommen.
Sagen Sie – während die TU München zum Wintersemester 2024/25 selbstbewusst Studiengebühren für internationale Studierende aus sogenannten Drittstaaten einführt, die sogar deutlich höher liegen.
Natürlich schauen wir uns das bayerische Modell an, das die Entscheidung über die Einführung den einzelnen Hochschulen überlässt. Was das mit der Dynamik der bayerischen Hochschullandschaft macht, wenn ein Hochschulstandort immer mehr zusätzliche Mittel generiert, während andere abfallen, wird man sehen. Umgekehrt stimmt ja, dass die deutschen Universitäten im internationalen Wettbewerb mit den USA, Kanada oder Großbritannien auch von ihrer Ausstattung her attraktiv sein müssen, und die kostet. In Bayern können die Hochschulen das Geld, das sie durch die Gebühren einnehmen, behalten. Bei uns fließen sie zum großen Teil in den Topf der Hochschulfinanzierung – verteilen sich also gleichmäßig auf alle Standorte. Die TUM kann sich bei der Betreuung ihrer internationalen Studierenden in Zukunft Dinge leisten, für die an anderen Hochschulen die Mittel einfach nicht reichen.
Sie glauben also, für die TU München könnte es sich lohnen, und die internationalen Studierenden kommen weiterhin?
Das werden wir sehen und sicher auch für uns prüfen. Auch in Baden-Württemberg gibt es mit Standorten wie Heidelberg international attraktive Orte, auch aufgrund ihrer Geschichte. Gleichzeitig brauchen wir internationale Studierende aber vielleicht gerade an den Standorten, die in den MINT-Fächern stark sind, wo die Städte aber vielleicht nicht so bekannt sind. Das könnte ein Spannungsfeld sein. Darum plädiere ich dafür, dass wir jetzt erstmal in Baden-Württemberg aus den Studiengebühren aussteigen und offen bleiben für weitere Entwicklungen.
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Mein Vater, seine Schwester und ich vor dem Haus der kurz zuvor verstorbenen Großmutter, 2014. Eine gemeinsame oberschlesische ErkundungsreiseDas Anliegen, einen persönlichen Text zum Thema "Oberschlesien" [1] zu schreiben, brachte mich zuerst in ein Dilemma. In erster Linie verbinde ich Oberschlesien mit meinem Vater – einem von dort aus Volkspolen in die Bundesrepublik eingewanderten Aussiedler. Was erlebte er und seine Familie aber in der Nachkriegszeit in seiner Herkunftsregion und wie sehr prägt das mich heute? Es begann eine gemeinsame Erkundungsreise durch seine oberschlesischen Erinnerungen, wobei ich meinen Vater vertieft interviewte. Recherchen in privaten und öffentlichen Archiven ergänzten das Bild und brachten uns interessante, teilweise neue Erkenntnisse.Mein Vater Marian Mansfeld, Jahrgang 1950, wurde wie viele seiner Vorfahren in Siemanowice Śląskie (Siemianowitz/-Laurahütte) geboren, ist dort aufgewachsen und arbeitete immer wieder vor Ort. Oberschlesien wurde zuvor besonders tragisch durch die zwei Weltkriege und Revolten gezeichnet, die selbst Familien auseinanderrissen. 1919-1921 gab es drei oberschlesische Aufstände, die letztlich nach einer Volksabstimmung zu der Teilung Oberschlesiens führten, bei der auch Siemianowice und Katowice (Kattowitz) Polen zugeteilt wurden. Es scheint, als verdichtete sich die deutsch-polnische Geschichte in dieser Region grausam, obwohl es neben allen Animositäten vielfach gutes menschliches Zusammenleben gab.Im Leben meines Vaters hinterließ der Zweite Weltkrieg tiefe Spuren:"Die Geschichte meiner Familie ist sehr mit den Kriegserlebnissen in Oberschlesien[2] verbunden und davon erschüttert – ich habe durch den Krieg meinen Vater so gut wie verloren, meinen durch den Krieg nach England geratenen Onkel mütterlicherseits traf ich nie persönlich, meine Cousins nicht. Die Familie meiner Großtante wurde in die Sowjetunion verschleppt und nie mehr gesehen... Mein Glück war: Ich war der erste in meiner Familie nach den Generationen zuvor, der nicht in den Krieg musste."Meine Mutter stammt von der polnischen Ostseeküste. Ich bin selbst kam 1978 in Poznań (Posen) zur Welt, wo sich meine Eltern während des Studiums kennengelernt hatten. Eine märchenhafte Kindheit verbrachte ich in Janowice Wielkie (Jannowitz) im niederschlesischen Riesengebirge. Dort leitete mein Vater ab 1980 eine große Ferien- und Erholungsanlage für Werktätige aus den "Kattowitzer Reparaturbetrieben der Kohleindustrie" sowie ihre Familien. Meine Mutter arbeitete dort mit; in der Gegend wurde mein Bruder geboren.Die Ferien- und Erholungsanlage in Janowice mit mir eingekreist, etwa 1983.Als meine Eltern diese Arbeit 1986 aufgeben mussten, ging es für uns in den väterlichen Heimatort, wo wir in typischen sozialistischen Plattenbauten wohnten. Meine Mutter arbeitete im Kultur- und Bildungsbereich, mein Vater in der Verwaltung der Reparaturbetriebe. Meine Oberschlesien-Zeit sollte nur bis 1989, unserer "Aussiedlung" in die Bundesrepublik Deutschland, dauern. Nach dem für meine Eltern zu dieser Zeit überraschenden Fall des Eisernen Vorhangs folgten regelmäßige Reisen nach Oberschlesien. Vor allem das Haus meiner Tante in Katowice bildete zu Ostern, zu Weihnachten und zu Familienfesten einen festen Ankerpunkt in Polen.Ostern 1995 bei meiner Tante in Katowice-Janów.Die Kindheit meines Vaters: Armut, Zusammenhalt und AbenteuerDie Kindheit meines Vaters hatte sich im alten Teil von Siemianowice abgespielt, direkt in der Nähe der Bergwerke und Hütten, deren 16 Schornsteine er von seinem Haus aus zählen konnte. Dort gab es keine Hochhäuser, sondern ehemalige deutsche Backsteinbauten (oberschlesisch: "familoki", etwa: Familienblocks). Zu den dürftigen Wohnverhältnissen sagt mein Vater:"Die Bergbau-Wohnungen hatten geringe Mieten. Am Anfang gab es in den Wohnungen nicht einmal fließend Wasser, nicht zu sprechen von Toiletten – nur im Hausflur für mehrere Wohnungen zusammen, wo das Wasser im Winter manchmal sogar einfror."Mein Vater bei seiner Erstkommunion, 1959.Durch diese Not wurde ein besonders gemeinschaftliches Zusammenleben gefördert:"Die Menschen [...] lebten solidarisch zusammen, halfen sich – uns wurde viel geholfen, weil wir dort zu den Ärmsten zählten [...] An die 40-50 Kinder [...] waren in einem Hof, spielten Fußball oder turnten an den Teppichklopfstangen. Einwanderer nach Oberschlesien aus [dem übrigen] Polen waren Tierhaltung gewohnt und haben zunächst sogar Schweine in die engen Haushöfe mitgebracht [...] Wir gaben ihnen dann Kartoffelschalen für die Schweine oder Kaninchen, sie uns später Fleisch oder Wurst. "Grundsätzlich zog das Gebiet der florierenden oberschlesischen Industrie die dort dringend benötigte Arbeitskraft aller ländlicher Gegenden Polens an. Einige kamen schon allein deshalb, um dem zweijährigen Militärdienst zu entgehen, erzählt mein Vater. Ansonsten waren die Gründe für die Arbeit "in den Gruben" pragmatisch, wie die vergünstigte Kohle "zum Heizen der Wohnung und zum Kochen".In Oberschlesien waren nach dem Krieg entgegen mancher Mythen nicht alle Deutschen weggegangen, vertrieben oder interniert worden. Autochthone wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor die "Wahl" gestellt, entweder die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen und in der oberschlesischen Industrie zu arbeiten oder das Land Richtung Deutschland zu verlassen. Sog. "Volksdeutsche" bzw. Menschen, die mehr oder weniger freiwillig auf der "Deutschen Volksliste" [3] als "Volksdeutsche" verzeichnet wurden[4], konnten unter Umständen rehabilitiert werden, mussten allerdings im Alltag oft Verfolgung und Diskriminierungen in Kauf nehmen.[5] Manche widersetzten sich der Vertreibung, wie die Großmutter meines Vaters, die auf ihren Sohn warten wollte.Darüber hinaus sind in der Nachkriegszeit die Sowjets hart gegen Oberschlesier:innen ins Gericht gegangen und internierten diese in Lagern.[6] Zwangsansiedlungen von Menschen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, die von der Sowjetunion annektiert wurden, waren ebenso an der Tagesordnung.Besonders sind meinem Vater die wilden Seiten seines damaligen Daseins im Gedächtnis geblieben:"Uns Kinder hat die Straße erzogen, nicht immer gut. [...] Es herrschte das Recht des Stärkeren. Es wurde auch gestohlen, vor allem Kohle oder Altmetall zum Verkauf oder wir betrieben Mundraub – klauten Obst, Gemüse oder Eier aus den nahgelegenen Schrebergärten."Meine Großmutter – eine Bergbau-Arbeiterin und alleinerziehende MatriarchinDie Nachkriegszeit war nicht einfach für meine Großmutter Gertruda Mansfeld (geb. Moczygęba, Jahrgang 1929). Ihr späterer oberschlesischer Mann Paul, der für Deutschland in den Krieg zog, dessen genaue deutsche Biografiebezüge aber weder für meinen Vater noch mich recherchierbar sind, kehrte nach dem Krieg 1947 aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurück. Sie heirateten und hatten dann vier Kinder, als zweites Kind meinen Vater. Von der Kriegszeit seines Vaters weiß mein Vater übrigens kaum etwas, außer, dass er in der Panzertruppe eingesetzt war und 1943 in Griechenland, wo er Malaria bekam. Eine Grußkarte meines Großvaters von der Kriegsfront inGriechenland aus dem Jahr 1943 mit aufgeklebten Porträtsvon seiner Mutter und ihm.Einige Jahre nach seiner Rückkehr wurde mein Großvater durch einen miterlebten tödlichen Grubenunfall stark traumatisiert und musste von meiner Großmutter immer wieder in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht werden, während sie erzwungenermaßen die Rolle des Alleinverdieners im Steinkohlebergwerk Siemianowice übernahm. Es war harte Arbeit, im Schnitt sechs Tage die Woche. Bis heute bleibt es ein Rätsel, wie sie es schaffte, in dieser Situation nebenbei vier Kinder großzuziehen. Mein Vater sagt dazu:"Sie hat, um das alles zu vereinbaren, viel – auch nachts – gearbeitet, immer nur kurz geschlafen und sich um uns gekümmert. Das hielt sie nur durch starken Kaffeekonsum durch; sie löffelte sogar den Kaffeesatz aus! Das hätte sie neben der harten Arbeit fast die Gesundheit gekostet."Ihre Zuneigung zeigte sie ihren Kindern so gut wie nie. Selbst als ihr Lieblingskind, zu dem mein Vater avancierte, da er weniger Probleme machte als sein Bruder und später sogar schulisch aufstieg, bekam er mehr Schläge als Lob. Das Angebot eines kinderlosen Ehepaars, meinen Vater gegen Geld zu übernehmen, lehnte seine Mutter jedoch klar ab.Meine Großmutter 1965.Das traditionelle Familienmodel in Oberschlesien war weitverbreitet. Selbst wenn der Mann präsent war, blieb die Frau das eigentliche Familienoberhaupt:"Der Mann war zum Arbeiten da, aber durch das Matriarchat wurde ihm jeden Monat [...] alles abgenommen. Damit war seine Rolle erschöpft. Sein einziges Vergnügen war es, sich zu betrinken."Was im Leben meiner Großmutter familiär als Kuriosität galt, war, dass sie als 14-Jährige im damaligen Reichsgebiet bei Grünberg (Zielona Góra) auf "Landarbeit" – wie die Online-Datenbank "straty.pl" [7] verifiziert, faktisch Zwangsarbeit in der Landwirtschaft – eine wohl angenehmere Zeit als in Oberschlesien der Kriegszeit verbrachte. Das erzählte sie uns nicht nur einmal in ihrer kleinen Wohnung mit dem Taubenschlag gegenüber, in der früher bis zu sechs Familienmitglieder wohnten. Später wunderte ich mich über ihre etwas skurrile, nur durch die Kriegserfahrung verständliche Angewohnheit: Sie hatte die meisten unserer Mitbringsel aus Deutschland auf den Schränken gehamstert – einige Lebensmittel sogar lange nach dem Verfallsdatum...Weihnachtszeit 1998 in Großmutters Wohnküche: Sie und ich links im Bild, rechts meine Mutter, in der Mitte die Schwestern meines Vaters.Bei unseren Recherchen fand mein Vater zu unserem Erstaunen heraus, dass seine Mutter nicht in durchgehend die polnische Staatsangehörigkeit besessen hat, sondern ab einem noch unbekannten Zeitpunkt auch zur Kriegszeit in der Gruppe 4 der Deutschen Volksliste – also ohne Möglichkeit des Ausweiserhalts – gelistet wurde. Diese vermutlich wie bei vielen Menschen in Oberschlesien nicht freiwillig erfolgte Eintragung war sicherlich pragmatisch motiviert und schützte sie und die ganze Familie letztlich vor Repressalien oder gar Lebensgefahr.[8]Zur Fortsetzung [1] Oberschlesien ist das Jahresthema 2021 des Deutschen Polen-Instituts. S. https://www.deutsches-polen-institut.de/jahresthema/.
[2] Mein Vater sprach auf Polnisch von "Śląsk" / "śląski" etc. (dt.: Schlesien, schlesisch etc.), da der Begriff "Schlesien" vor allem durch Oberschlesier:innen synonym mit "Oberschlesien" verwendet wird.
[3] Siehe dazu z. B. https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/deutsche-volksliste.
[4] Vgl. Kaczmarek, Ryszard (2010): Polacy w Wehrmachcie [Polen in der Wehrmacht], S. 54.
[6] 2020 hat der polnische Sejm die sog. "oberschlesische Tragödie" zum 75. Jahrestag mit einem Beschluss gewürdigt: https://www.sejm.gov.pl/sejm9.nsf/komunikat.xsp?documentId=877504676ADCFD4FC12584F80070B3CE.