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Studiogast zum Thema "Ältere Arbeitnehmer – Warum viele Betriebe jetzt erfahrene Senioren halten wollen" im Politikmagazin "Zur Sache Rheinland-Pfalz" (SWR-Fernsehen) am 04.05.2023➔ Video Dazu auch dieser Beitrag des SWR: Immer mehr Ältere in Rheinland-Pfalz arbeiten länger (04.05.2023)
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Müssen Lehrkräfte und Wissenschaftler schon jetzt täglich ihre Arbeitszeit erfassen? Geht es nach dem Ministerium von Hubertus Heil, lautet die Antwort ja – unabhängig davon, wie es mit der feststeckenden Novelle des Arbeitszeitgesetzes weitergeht.
ES WAREN ARBEITSRECHTLICHE PAUKENSCHLÄGE. 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die gesamte geleistete Arbeitszeit von Arbeitnehmern stets aktuell aufzuzeichnen ist. Im September 2022 konkretisierte das Bundesarbeitsgericht für Deutschland: Das EuGH-Urteil gelte nicht irgendwann in der Zukunft, sondern bereits heute. Grundlage sei das geltende Arbeitsschutzgesetz: Alle Arbeitgeber seien verpflichtet, umgehend ein entsprechendes System zur Zeiterfassung einzurichten und zu nutzen.
Seitdem läuft auf der politischen Bühne das Gerangel um mögliche Ausnahmen. Für die Wissenschaft hatte etwa der damalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Peter-André Alt, schon vor vier Jahren eine Sonderregelung gefordert, direkt nach Bekanntwerden des EuGH-Urteils.
Um Rechtssicherheit zu schaffen, arbeitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) seit Monaten an einer Reform des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG). Ein Referentenentwurf kursierte bereits – und verursachte gerade in der Wissenschaft neue Aufregung, weil sie offenbar doch wie andere Branchen auch behandelt werden soll. Die Kultusminister sorgen sich ebenso: Müssen künftig sogar die Lehrkräfte jede Arbeitsstunde akribisch dokumentieren? Wie soll das überhaupt gehen? Und was würde das für die Attraktivität des Berufs in Zeiten des Pädagogenmangels bedeuten?
KMK-Präsidentin Günther-Wünsch: Pflicht zur Zeiterfassung gefährdet Attraktivität des Lehrerberufs
Grund für Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), zurzeit Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), einen Brief an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zu schreiben, in dem sie doch noch gesetzliche Sonderregelungen für Lehrkräfte und für die Wissenschaft einfordert. Die Antwort, die sie kürzlich aus Heils Ministerium erhalten hat und die mir ebenfalls vorliegt, dürfte Günther-Wünsch freilich nicht gefallen. Kurz gefasst lautet sie: Bei der Pflicht zur Zeiterfassung kann es nach Meinung des BMAS keine grundsätzliche Ausnahme geben, weder für Schulen noch für Hochschulen oder sonstige Wissenschaftseinrichtungen, und auch Beamte fallen unter die Regelung. Folgt man der Logik des Ministeriums, hieße das sogar: Lehrkräfte könnten theoretisch schon jetzt jederzeit eine Zeiterfassung einklagen.
In ihrem Schreiben vom 11. Juli hatte KMK-Präsidentin Günther-Wünsch kritisiert, der gegenwärtige Referentenentwurf zum Arbeitszeitgesetz trage der "besondere(n) Situation der Lehrkräfte" nicht Rechnung. Diese bestehe darin, dass die Arbeitszeit von Lehrkräften, ob Beamte oder nicht, nur zu einem Teil messbar sei, und zwar in Form der erteilten Unterrichtsstunden, "während sie im Übrigen hinsichtlich der zahlreichen außenunterrichtlichen Tätigkeiten (Unterrichtsvorteil- und Nachbereitung, Korrekturen, Eltern- und Schülerbesprechungen, Verwaltungsarbeiten, Vertretungen, Aufsichten, Konferenzen, Schulausflüge, Klassenfahrten etc.) nicht im Einzelnen im Vorfeld prognostiziert und auch nicht arbeitgeberseitig überprüft werden kann." Es gehöre zum Berufsbild der Lehrkraft, "dass diese ihre Aufgaben eigenverantwortlich und selbstständig ausübt".
Außerdem, führte Günther-Wünsch aus, drohe eine Ungleichbehandlung, weil die geplante Novelle des Arbeitszeitgesetzes die Erfassungspflicht nur für tarifbeschäftigte Lehrkräfte festlegen würde. Eine solche Ungleichbehandlung widerspreche aber dem europäischen Arbeitnehmerbegriff. Und die KMK-Präsidentin warnte: Inmitten des Lehrkräftemangels hänge die Attraktivität des Lehrerberufs "maßgeblich mit der Flexibilität der zeitlichen Arbeitseinteilung zusammen".
Arbeitsministerium: Nachteil einer Aufteilungspflicht in Schulen und Hochschulen "nicht ersichtlich"
Die Antwort aus dem BMAS wurde von Heils beamteter Staatssekretärin Lilian Tschan verfasst, und sie gibt Günther-Wünsch Recht – aber mit anderen Konsequenzen als von dieser erhofft: "Wie Sie richtig darstellen", schrieb Tschan Anfang August, schließe der europäische Arbeitnehmerbegriff Beamte ein. Daher müssten auch die für das Beamtenrecht zuständigen Innenministerien des Bundes under Länder die Auswirkungen der EuGH-Entscheidung von 2019 prüfen.
Soll heißen: Die von Günther-Wünsch geforderte Gleichbehandlung besteht nach BMAS-Auffassung darin, dass wahrscheinlich auch Beamte ihre Arbeitszeit erfassen müssten, womit es tatsächlich zwischen angestellten und verbeamteten Lehrern keinen Unterschied mehr gäbe. Tschan macht das mit Verweis auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2022 nochmal explizit: "Auch das vom BAG in Bezug genommene Arbeitsschutzgesetz findet auf Beamtinnen und Beamte Anwendung."
Bleibt der Streitpunkt Wissenschaft. Auch hierauf war KMK-Präsidentin Günther-Wünsch in ihrem Brief an Heil eingegangen und hatte gefordert, dass "die Besonderheiten eines Arbeitnehmers im Bereich der Forschung und Lehre" in der geplanten Novelle Berücksichtigung finden sollten. Andernfalls drohe hier eine weitere Ungleichbehandlung: Zum einen seien da die Professoren, die auch unabhängig von einer Verbeamtung wegen der Besonderheit und Eigenständigkeit ihrer Tätigkeit nicht unter die Arbeitszeiterfassung fielen, zum anderen gebe es den Akademische Mittelbau, für den sich "künftig Fragen insbesondere in Bezug auf die einzelnen Personalkategorien" ergeben könnten.
Deshalb bitte sie um Prüfung, ob für die Wissenschaft die Ausnahmevorschrift der Europäische Arbeitszeitrichtlinie angewandt werden könne. Diese nehme Personen von der Zeiterfassung aus, "deren Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt werden kann, sowie Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis".
Doch auch hier lautet die Antwort auf dem BMAS: Njet. Tschan schrieb: "Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zu Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten sind heute schon für Arbeitnehmerinnen in Schulen und Hochschulen einzuhalten und werden durch die Arbeitszeiterfassung nicht verändert. Daher sind für mich nachteilige Auswirkungen der Aufzeichnungspflicht nicht ersichtlich."
Pocht das Arbeitsministerium so auf der geltenden Rechtslage, weil die Novelle nicht vorankommt?
Außerdem werde die von Günther-Wünsch erwähnte Ausnahmeregelung der EU-Arbeitszeitrichtlinie vom EuGH "eng ausgelegt", ergänzt Tschan. "Die Vorschrift kann daher nur in Bezug auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genutzt werden, bei denen die gesamte Arbeitszeit (Dauer und Lage) wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann." Sie finde hingegen keine Anwendung, wenn die Arbeitszeit nur teilweise nicht gemessen oder nicht im Voraus festlegt oder nur zum Teil selbst festgelegt werden könne. "Der Umstand, dass der konkrete Umfang der Arbeitszeit nicht in jedem Fall im Voraus feststeht, steht einer nachträglichen Dokumentation am Ende des Arbeitstages nicht entgegen."
Die Botschaft aus dem BMAS scheint damit klar: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt nach Auffassung des Ministeriums schon heute umfassend für alle Lehrkräfte in den Schulen, die Kultusministerien müssten sie jetzt umsetzen. Ob Gerichte das genauso sehen, bleibt abzuwarten. Doch erste entsprechende Klagen könnten jederzeit kommen.
In der Wissenschaft ist die Lage ähnlich: Auch für sie lehnt das BMAS eine Bereichsausnahme ab. Wie die Hochschulen und Forschungsorganisationen darauf reagieren, die seit Jahren genau eine solche Regelung fordern, wird spannend. Zumal die Unsicherheiten an der Stelle bleiben – verweigert das Arbeitsministerium in seiner sonst so klaren Antwort doch eine eindeutige Positionierung, ob zumindest Profs auch künftig nicht ihre Arbeitszeit erfassen müssen.
Vielleicht pocht man im BMAS ja deshalb so auf die vermeintlich bereits geltende Rechtslage, weil die Gesetzesnovelle festzustecken scheint. Nach Bekanntwerden des Referentenentwurfs ist nicht mehr viel passiert, weil die Bundesministerien untereinander im Clinch liegen sollen. Vor allem die FDP stehe auf der Bremse, heißt es in der Ampel-Koalition. Offiziell teilt das Arbeitsministerium auf Anfrage lediglich mit, dass der Gesetzentwurf sich "derzeit in der regierungsinternen Abstimmung befindet. Alles Weitere bleibt abzuwarten."
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Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nur durch Steigerung erhalten kann (siehe Vortrag von Hartmut Rosa), die also von Wachstum abhängig ist. Die steigende Produktion muss aber auch Abnehmer finden. Würden wir nur das kaufen und konsumieren, was wir benötigen, wäre das Ende der Fahnenstange schnell erreicht. Und hier kommt die Konsumgesellschaft ins Spiel. Wer diese Gesellschaftsformation, die sich in den USA etwas früher, in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet und in den 1980er Jahren vollständig durchgesetzt hat, verstehen will, dem sei die Lektüre von Zygmunt Baumans 2007 erschienenen Buchs "Consuming Life" empfohlen, das auch in deutscher Übersetzung vorliegt: Zygmunt Bauman (2009), Leben als Konsum, Hamburger Edition. Dieses Buch und damit eine Analyse zentraler Elemente der Konsumgesellschaft wird im folgenden Text vorgestellt. Alle nicht anderweitig gekennzeichneten Zitate stammen daraus.
Kennzeichen der Konsumgesellschaft
Die in der Gesellschaft der Produzenten aufgewachsenen Älteren unter uns sind an folgendes Szenarium gewöhnt: Es gibt auf der einen Seite Objekte, die gewählt bzw. gekauft und konsumiert werden, und auf der anderen Seite Subjekte, die wählen, kaufen, konsumieren. Oder anders ausgedrückt: Waren und Käufer. Wenn man dieses Modell auf die Konsumgesellschaft überträgt, geht man an der Wirklichkeit vorbei, weil in ihr jeder Käufer (Subjekt) gleichzeitig Ware (Objekt) ist.
Wenn junge Menschen im Internet ihre persönlichen Daten, Merkmale und Gewohnheiten preisgeben, dann deshalb, weil sie (vielleicht unbewusst) verstanden haben, dass sie Ware sind. Wer unsichtbar bleibt, verschwindet als Ladenhüter in den Magazinen. Als Ware ist der Mensch z.B. potentieller Lebensgefährte oder Arbeitnehmer. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden somit zu Begegnungen zwischen Käufern und Waren. Dabei muss der Einzelne darauf achten, sich so zu präsentieren, dass er als Ware attraktiv ist.
Ein Arbeitsuchender z.B. ist für einen Personalchef attraktiv, wenn er so ungebunden und flexibel wie möglich ist, anpassungsfähig und immer bereit für neue Aufgaben, und den die Firma entlassen kann, ohne viel Geschrei oder gar Rechtsstreitigkeiten fürchten zu müssen.
Die Gesellschaft von Produzenten ist auf Langfristigkeit, Dauerhaftigkeit und Sicherheit angelegt. Man übt Bedürfnisverzicht in der Gegenwart, um sich in der Zukunft dafür etwas leisten zu können, das einem wichtiger ist. Man spart z.B. auf ein Haus oder ein Auto. In der Konsumgesellschaft ist das sofortige Befriedigen momentaner Bedürfnisse zum Lebensmittelpunkt geworden. Man nimmt z.B. Schulden auf, um mit einem attraktiven neuen Auto losfahren zu können. Damit einher geht ein von Wirtschaft und Werbung gefördertes Hasten zu immer neuen und größeren Wünschen.
In einer solchen Gesellschaft ändert sich die Vorstellung von Zeit. Bisher hat man sich die Zeit als eine ununterbrochene Linie vorgestellt, die aus der Vergangenheit kommt, die Gegenwart durchläuft und sich in die Zukunft hineinbegibt. Für die Zeitvorstellung der Konsumgesellschaft sind die Begriffe "pointillistische Zeit" und "gebrochene Zeit" geprägt worden. Man muss sie sich nicht als eine Linie vorstellen, sondern als unverbundene Punkte.
"Pointillistische Zeit ist zersplittert, ja geradezu pulverisiert zu einer Vielzahl von "ewigen Augenblicken" – Ereignissen, Zwischenfällen, Unfällen, Abenteuern, Episoden." (S. 46) "(Das Leben ist) eine Abfolge von Gegenwart, eine Verknüpfung von Augenblicken, die mehr oder weniger intensiv erlebt werden." (S. 47) "Würde man eine Karte des pointillistischen Lebens zeichnen, so hätte sie eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit einem Friedhof für imaginäre, eingebildete oder fahrlässig vernachlässigte und unerfüllt gebliebene Möglichkeiten." (S. 47) Für das menschliche Verhalten hat das gravierende Folgen. Man lebt ausschließlich in der Gegenwart, versucht, diese so gut wie möglich zu nutzen (carpe diem), und kümmert sich weder um die Erfahrungen der Vergangenheit, noch um die Konsequenzen seiner Handlungen in der Zukunft, und schon gar nicht um die Ewigkeit (memento mori). Und man empfindet diese Handlungsweise als Ausdruck seiner individuellen Freiheit.
Bei einem Fehlschlag hätte man früher (in der Gesellschaft der Produzenten) einen neuen Anlauf genommen, sich mehr angestrengt oder konzentriert und vielleicht mit einem verbesserten Werkzeug gearbeitet. In der Konsumgesellschaft wird der Plan fallengelassen. Wenn es sich um eine Beziehung handelt, wird diese kurzerhand beendet. Der Ausruf Fausts "Könnt ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön!" stößt in der Konsumgesellschaft auf Unverständnis. Es wäre so, als wolle man einen Punkt der pointillistischen Zeit zu einer Geraden verlängern wollen.
Der Übergang von der Gesellschaft der Produzenten zur Konsumgesellschaft wird als Entwicklung hin zu persönlicher Freiheit verstanden, der den Menschen von vielfältigen Zwängen (Routine, verpflichtende Verhaltensmuster, Bindungen) befreit und ihm endlich die Wahl lässt, sich zu verhalten, wie er will. Diese angeblich freie Wahl aber ist eine Illusion. Der Mensch kommt vom Regen in die Traufe. Er kann moralische Zwänge abwerfen, unterliegt aber neuen Zwängen. Es sind die Zwänge des Konsumgütermarktes, deren Gesetze nun zu Lebensgrundsätzen werden.
Man erwartet von denen, die sich diesen Regeln unterwerfen, "dass sie sich auf dem Markt anbieten und in Konkurrenz zu den übrigen Mitgliedern einen möglichst hohen "Marktwert" anstreben." (S. 83) Sie müssen unter den angebotenen Waren "jene Werkzeuge und Rohstoffe (…) finden, die sie benutzen können (und müssen), um dafür Sorge zu tragen, dass sie selbst "für den Konsum geeignet" und damit markttauglich sind." (S .83) Wer sich diesem Spiel verweigert, wird mit Exklusion bestraft.
So wenig, wie Glück und Freiheit in der Konsumgesellschaft zugenommen haben, so wenig hat das Leid abgenommen, es ist nur anders geworden. Früher galten Moralgesetze mit einer Fülle von Verboten, deren Übertretung zu Schuldgefühlen und im schlimmsten Fall zu Neurosen führten. In der Konsumgesellschaft werden die Neurosen von den Depressionen abgelöst. Sie entstehen dadurch, dass das Übermaß an Möglichkeiten, die die Gesellschaft bietet, zu Angst vor Unzulänglichkeiten (Zeitmangel, Geldknappheit) führt und diese Angst Depressionen auslöst.
Die Konsumgesellschaft wäre nicht, was sie ist, wenn sie nicht auch dagegen ein Heilmittel anböte. Es besteht darin, die Punkte, aus der die Zeit besteht, mit Handlungen zu füllen und von einem Punkt zum nächsten zu eilen.
"Permanente Aktivität, bei der eine dringliche Aufgabe auf die andere folgt, gibt einem die Sicherheit eines erfüllten Lebens oder einer "erfolgreichen Karriere", die einzigen Beweise der Selbstverwirklichung in einer Welt, aus der alle Bezüge auf ein Jenseits verschwunden sind.(…) Allzu oft ist Handeln nur eine Flucht vor dem Selbst, ein Heilmittel gegen den Schmerz." (S.125/126). Wie "funktioniert" die Konsumgesellschaft?
Sie beruht auf einem inneren Widerspruch, den sie mit allen Mitteln kaschieren muss. Auf der einen Seite ist ihr proklamiertes Ziel das glückliche Leben, nicht irgendwann im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt. Auf der anderen Seite muss sie danach trachten, dass ihre Mitglieder dieses Ziel nicht erreichen, weil das den Stillstand im Warenumsatz und damit den Verlust des Fundaments bedeuten würde, auf dem sie aufgebaut ist.
"Die Konsumgesellschaft floriert, solange sie erfolgreich dafür sorgt, dass die Nicht-Befriedigung ihrer Mitglieder (und damit in ihren eigenen Begriffen ihr Unglücklichsein) fortwährend ist." (S. 64) Die Wirtschaft muss um jeden Preis angekurbelt werden. "Schulden zu machen und auf Kredit zu leben, ist in Großbritannien mittlerweile Teil des vom Staat entworfenen, abgesegneten und subventionierten nationalen Lehrplans geworden" (S. 104). Der Wirtschaftskreislauf, der nicht unterbrochen werden darf, besteht darin, Umsatz und Kauflust dadurch anzukurbeln, dass immer neue und (angeblich) bessere Produkte auf den Markt kommen und die Entsorgung der ausgedienten Produkte organisiert wird.
Beispiele für diesen Prozess reichen von den schnurlosen Telefonen, die immer mehr und bessere Funktionen haben müssen, um den Konsumenten davon zu überzeugen, ihre alten Geräte zu ersetzen, bis hin zu Online-Partnervermittlungen, die den Schwerpunkt darauf legen, ihre Kunden dahingehend zu beraten, wie sie unerwünscht gewordene Partner rasch und sicher loswerden können.
Die Folge von alledem ist, dass in einer Gesellschaft mit konsumorientiertem Wirtschaftssystem "Unbehagen und Unglücklichsein, (…) Stress oder Depressionen, lange und sozialunverträgliche Arbeitszeiten, zerfallende Beziehungen, Mangel an Selbstvertrauen" (S. 63) zunehmen. Die Konsumgesellschaft verspricht Glück, macht aber die Menschen unglücklich. Damit ist der "Konsumismus (…) nicht nur eine Ökonomie des Überschusses und des Abfalls, sondern auch eine Ökonomie der Täuschung" (S. 65).
Körperkult in der Konsumgesellschaft
Mit dem Aufkommen der Konsumgesellschaft kann man eine gesteigerte Hinwendung zum Körperlichen beobachten. Sonnenstudios, Fitness-Studios und Schönheitssalons sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Schönheitsoperationen haben in großem Umfang zugenommen. Warum?
In der Konsumgesellschaft ist der Mensch selber zur Ware geworden. Den Vergleich mit der hohen Qualität des hergestellten Dings jedoch muss er scheuen. Der Mensch schämt sich wegen der offensichtlichen Unvollkommenheit seines Körpers (prometheische Scham). Und wähnt sich vor die Aufgabe gestellt, seinen Körper zu vervollkommnen. "Als nackt (…) gilt heute nicht mehr der unbekleidete Leib, sondern der "unbearbeitete"" ( S. 80).
Körperkult auf der einen Seite, eine veränderte Haltung zur Zeit auf der anderen haben zu der Überlegung geführt, die unzusammenhängenden Punkte der Zeit dafür zu nutzen, sich neue Identitäten zu schaffen, um damit das Ärgernis zeitlich begrenzten Lebens wenigstens teilweise dadurch aus der Welt zu schaffen, dass man sich mehrere Leben zulegt. Das Mittel dazu ist die körperliche Veränderung durch Schönheitsoperationen, wobei von Anfang an die Möglichkeit von Folgeoperationen ins Kalkül gezogen wird. Es gibt bereits Firmen, die Kundenkarten für Folgeoperationen anbieten. Eine entsprechende Flatrate wird nicht lange auf sich warten lassen.
Der Siegeszug des Fastfood
Wo keine dauerhaften Bindungen entstehen können und auch nicht erwünscht sind, hat die Familie einen schweren Stand. Eines der Integrationselemente ist das gemeinsame Essen meist selbst zubereiteter und manchmal sogar gemeinsam produzierter Speisen. All das schweißte die Gruppe zusammen und ließ Bindungen entstehen. Die Zunahme der Beliebtheit von Fastfood, die natürlich auch – und vielleicht vor allem – auf mangelnde Zeit und/oder Lust zurückzuführen ist, ein Essen selber zu bereiten, hat als Folge, dass Bindungen schwerer entstehen können, kann aber auch als Folge davon gesehen werden, dass Bindungen nicht gewünscht sind. "Fastfood ist dazu da, die Einsamkeit einsamer Konsumenten zu schützen" (S. 103).
Zwischenmenschliche Beziehungen
Wenn der Mensch zur Ware wird, wirkt sich das auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Aus ihnen verschwinden Fürsorge und Verantwortung für den anderen und machen radikalem Egoismus Platz. "Konsum ist alles, was für den "sozialen Wert" und das Selbstwertgefühl des Individuums von Bedeutung ist" (S. 77). In einem Ratgeber ("Der Cinderella Komplex") warnt Colette Dowling: "Im Impuls, für andere zu sorgen, und in der Sehnsucht, von anderen umsorgt zu werden, lauert die schreckliche Gefahr, abhängig zu werden, die Fähigkeit zu verlieren, die Strömung auszuwählen, die sich derzeit am besten zum Surfen eignet, und leichtfüßig von einer Welle zur anderen zu hüpfen, sobald sie die Richtung ändert."
"Der Raum, den flüchtig-moderne Konsumenten brauchen, für den sie, so der Rat von allen Seiten, kämpfen und den sie mit Zähnen und Klauen verteidigen sollen, kann nur dadurch errungen werden, dass man andere Menschen aus ihm hinausbefördert – vor allem jene Art von Menschen, die fürsorglich sind und/oder die es nötig haben könnten, dass man für sie sorgt" (S. 69). Der ideale Konsument
"(Er) lebt von einem Augenblick zum nächsten.(…) Sein Verhalten ist impulsiv, entweder, weil er nicht die Disziplin aufbringen kann, eine gegenwärtige Befriedigung einer zukünftigen zu opfern, oder weil er gar keinen Sinn für Zukunft hat. Vorausschauendes Handeln ist ihm daher völlig fremd; was er nicht sofort konsumieren kann, hat für ihn keinerlei Wert" (S. 175) (Zitat aus dem Buch von Ken Auletta: The Underclass)
Kürzer und genauer könnte man den typischen Vertreter der Konsumgesellschaft nicht charakterisieren. Bei dem Zitat handelt es sich allerdings um die Charakterisierung des Verhaltens eines typischen Vertreters der sogenannten Unterschicht.