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"Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus" – so lautet das jüngst im Suhrkamp Verlag erschienene Buch von Olga Shparaga[1], in dem die belarusische Philosophin die aktuelle Protestbewegung in ihrer Heimat analysiert. Wie schon der Titel verrät, steht dabei die Rolle der Frauen im Fokus. Sie sind es, die das Bild der revolution-in-progress, wie Shparaga die Ereignisse in Belarus seit den gefälschten Wahlen vom Sommer 2020 nennt, maßgeblich bestimmen.Auch in Polen ist es eine Frau, die das Bild der belarusischen Proteste prägt und es damit in den letzten Wochen regelmäßig auf die Titelseiten der polnischen und internationalen Zeitungen geschafft hat. Die Rede ist von der Künstlerin und Aktivistin Jana Shostak aus Hrodna in Belarus. Stets in ein weiß-rot-weißes Kleid gekleidet – den Farben, die für den Widerstand gegen das Regime von Alexander Lukaschenko stehen – macht sie zudem mit ihrer Aktion "Krzyk dla Białorusi" ("Schrei für Belarus") unermüdlich auf die politische Situation in ihrer Heimat aufmerksam. Eine Minute lang dauert ihre Aktion, die mittlerweile unter dem Hashtag #globalscream bekannt ist. Eine Minute schreit sie mit voller Lautstärke und lädt die Herumstehenden zur Teilnahme ein. Shostak nannte es zuletzt eine "krzykoterapia" – eine "Schreitherapie". Diese bringe das Wechselbad der Emotionen zum Ausdruck, die durch die hoffnungsvollen Proteste und die blutigen Gegenreaktionen des Lukaschenko-Regimes hervorgerufen werden. In Kunstkreisen ist Shostak, die aus einer belarusisch-polnischen Familie stammt und 2010 zum Kunststudium nach Polen kam, schon seit einigen Jahren bekannt und ist regelmäßig auf zahlreichen polnischen und europäischen Ausstellungen vertreten. Zuletzt war sie auf Schönheitswettbewerben in Polen unterwegs, die sie als Plattform für künstlerische Projekte nutzt. Erstmals Aufmerksamkeit erregte sie 2017 mit ihrer Abschlussarbeit, die im Atelier des bekannten Installationskünstlers Mirosław Bałka an der Warschauer Kunstakademie entstand und als Gegenentwurf zur restriktiven Flüchtlingspolitik der Regierung gelesen werden kann.Sensibilisiert durch ihren eigenen Migrationshintergrund begab sich Shostak hier auf die Suche nach einer Alternative für das polnische Wort "uchodźca", zu Deutsch "Flüchtling".In Gesprächen mit in Polen lebenden Ausländer:innen, polnischen Bürger:innen und Sprachwissenschaftler:innen ging sie der Bedeutung des Begriffs "Flüchtling" nach. Um die mit diesem Wort verbundene stigmatisierende Wirkung in eine positive Assoziation zu wandeln, schlug sie vor, "Flüchtling" mit "Nowak" zu ersetzten – also mit dem in Polen am häufigsten vorkommenden Nachnamen, der ins Deutsche mit "Neuling", ins Englische mit "newcomer" übersetzt werden kann. Dies diskutierte sie auch in der beliebten TV-Show "Słownik Polsko-Polski" ("Polnisch-Polnisches Wörterbuch") und präsentierte ihre Ergebnisse öffentlich im beliebten Warschauer Einkaufszentrum "Złote Tarasy". Shostaks Ziel ist es, die polnische Sprache nachhaltig zu verändern und auch andere zum Gebrauch der neuen Wortschöpfung zu bewegen. Zu diesem Zweck benutzt sie seitdem in allen Interviews und öffentlichen Auftritten konsequent die Substantive "Nowak, Nowaczka, Nowacy", wenn sie von Flüchtlingen spricht und zählt darüber hinaus zum kleinen Kreis von Verfechter:innen einer gendersensiblen Sprache in Polen.[2] Seit dem Beginn der Protestbewegung gegen das Regime von Alexander Lukaschenko setzt sich Jana Shostak nun vor allem für ihre aus Belarus geflüchteten Landsleute ein. Mit ihrer einminütigen Schrei-Aktion appellierte sie im Herbst 2020 mehrere Dutzend Mal im musealen Kontext und vor dem Warschauer Büro der Europäischen Kommission für mehr Aufmerksamkeit für die Probleme von Belarus:innen. Angefangen hat sie mit dieser performativen Aktion bereits Ende August, als sie aus ihrer belarusischen Heimatstadt Hrodna von den Protesten nach der gefälschten Wahl nach Warschau zurückkehrte. Zudem engagiert sich Shostak seitdem bei der praktischen Organisation von Unterstützung für die nach Polen vor Repressionen und Folter Geflüchteten und fordert von der polnischen Politik die Einhaltung der versprochenen Hilfeleistungen. Erfolgreich war die mittlerweile 28-Jährige damit bereits im September 2020. Während eines Treffens zwischen dem polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki mit der belarusischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja konnte Jana Shostak auf die formellen Visa-Probleme aufmerksam machen, mit denen die belarusischen Flüchtlinge zu diesem Zeitpunkt zu kämpfen hatten. Nachdem sie bei einem offiziellen Spaziergang durch die Warschauer Innenstadt lautstark ihre Stimme erhoben hatte, suchte der Amtschef des polnischen Ministerpräsidenten das Gespräch mit ihr. Shostak erreichte, dass die Ausgabe von Touristenvisa für Belarusen wieder aufgenommen und den Inhabern von humanitären Visa der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wurde. Zuvor hatte sie ohne Ergebnis versucht, andere Abgeordnete sowie die Helsinki- Stiftung für Menschenrechte in Polen mit Sitz in Warschau zu kontaktieren. "Dank des Trainings durch meine Schrei-Minute (…) habe ich mir eine starke Stimme erarbeitet", erklärte sie ihren Erfolg im Nachhinein der Presse und setzte so auch diese Aktion in Bezug zu ihrem Schrei-Protest für Belarus.[3]Viral ging ihr Schrei-Protest, als sie bei der vom EU-Parlamentarier Robert Biedroń einberufenen Pressekonferenz nach der Gefangennahme des Bloggers und Journalisten Roman Protasewitsch teilnehmen durfte. Am 24. Mai, einen Tag nach dem Vorfall, kamen in Warschau vor der Botschaft der Republik Belarus Politiker:innen zusammen; auch in Polen lebende belarusische Oppositionelle waren bei der Pressekonferenz dabei. Shostak, wie immer in ihrem weiß-rot-weißen Kleid und diesmal mit einem Pappschild mit SOS-Schriftzug in den Händen, beendete ihren verzweifelten Appell an die EU mit dem einminütigen Schrei. Nicht nur hielt die internationale Presse diesen eindrücklichen Moment fest, in Polen erregte vor allem ihr Dekolleté oder vielmehr die Tatsache, dass sie unter ihrem Kleid keinen BH trägt, große Aufmerksamkeit.Dabei kam die Kritik nicht, wie zu erwarten wäre, vonseiten der rechtskonservativen Kreise, sondern von der Linken-Abgeordneten Anna-Maria Żukowska. Auf Twitter postete diese unter dem Foto von Shostaks Aktion einen inzwischen gelöschten Kommentar: "Warum habe ich nicht das Gefühl, dass es ihr tatsächlich um Belarus geht?"[4] Die mit der linken Zeitschrift Krytyka Polityczna verbundene Journalistin Wiktoria Bieliaszyn repostete sofort: "Jana Shostak reißt sich seit Monaten die Beine aus, ihre ganze Zeit opfert sie dem Aktivismus und realen Hilfeleistungen für Belarusen und die Opfer des Regimes. Anna-Maria Żukowska, angeblich eine Abgeordnete der Linken, sieht einen Bildschirm, auf dem man sich abzeichnende Brustwarzen sieht, also veröffentlicht sie einen blöden, ordinären, sexistischen und misogynischen Kommentar. Würden männliche Brustwarzen bei Ihnen auch so viele Emotionen hervorrufen? Schäm dich, Linke!"[5] #DekoltDlaBiałorusi – ein Dekolleté für Belarus Es folgten heftige Reaktionen in den sozialen Medien und eine große Solidarisierungwelle. Künstler:innen und Aktivist:innen organisieren seitdem in ganz Polen Schrei-Aktionen für Belarus. Besonders aktiv ist der Künstler Arek Pasożyt in Toruń. Bartosz Bielenia, der Hauptdarsteller des Oscar-nominierten Films "Corpus Christi" nutze wiederum eine offizielle Preisverleihung im Europarlament für seinen Schrei für Belarus.Shostak selbst drang in Warschau sogar bis in den Senat vor[6] und nutze die ihr zuteilwerdende Aufmerksamkeit: Über ihre sozialen und inoffiziellen Netzwerke initiierte sie die Aktion #DekoltDlaBiałorusi. Hierfür kam sie erneut vor dem Warschauer Büro der Europäischen Kommission mit einer Gruppe von Künstlerinnen und Aktivistinnen zusammen, die nur mit einem BH bekleidet oder mit ganz nacktem Oberkörper ihre Schrei-Performance begleiteten. Alle hatten dabei mit schwarzer Schrift auf dem Dekolleté die Namen von polnischen und internationalen Firmen stehen, die weiterhin mit dem Regime von Alexander Lukaschenko zusammenarbeiten. Abb. Mit freundlicher Erlaubnis von Künstlerin und vom Fotografen Die Aktion erinnert auf den ersten Blick an die Femen-Proteste – also an die in der Ukraine entstandene und mittlerweile von Frankreich aus weltweit tätige Aktivistinnen-Gruppe, die mit entblößten Brüsten und auf die Haut gemalten Sprüchen nicht unumstritten auf Frauenunterdrückung und Sexismus aufmerksam macht. #DekoltDlaBiałorusi wirkt allerdings vorsichtiger und durch die Mischung von bekleideten und obenherum entblößten Frauen weniger provokant. So ist auch zu erwähnen, dass die Brustwarzen der obenherum unbekleideten Frauen abgeklebt waren, um so die Zensur durch die sozialen Medien zu umgehen und die Weiterverbreitung der Aktion nicht zu gefährden.Nichtsdestotrotz ist es auch hier der nackte Frauenkörper in Verbindung mit dem lauten Schrei, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fordert und so Veränderung – in diesem Fall die Aufgabe der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem belarusischen Diktator – erreichen will. #DekoltDlaBiałorusi im Kontext der feministsichen Kunst und des Frauenstreiks in Polen Die Aktion #DekoltDlaBiałorusi hat folglich offensichtliche feministische Elemente. Im polnischen Kontext geht der Einsatz des nackten Frauenkörpers als Werkzeug des politischen und gesellschaftlichen Protests bereits auf die 1970er und frühen 1980er Jahre zurück. So kann die Aktion #DekoltDlaBiałorusi auch in die Tradition der Arbeiten der polnischen Performancekünstlerin Ewa Partum gestellt werden. Die seit 1983 in Berlin lebende Partum, die heute als Pionierin der feministischen Kunst Ostmitteleuropas gilt, schuf 1980 unter dem Titel "Samoidentyfikacja" ("Selbstidentifikation") einen Zyklus von Fotomontagen. In diesen komponierte sie ihren eigenen nackten Körper in Fotografien des grauen, sozialistischen Warschauer Alltags hinein, so dass es wirkt, als würde sie unbekleidet durch die Innenstadt laufen.Partums so in Szene gesetzte Nacktheit wird zu einem Moment der Kritik gegenüber dem kommunistischen System. Adressiert wird in der Serie "Selbstidentifikation" allerdings ebenso die konservative polnische Gesellschaft samt ihrer politischen Opposition, die mit ihrer Nähe zur katholischen Kirche ein traditionelles Frauenbild propagierte. Letzteres führte schließlich auch dazu, dass die seit 1956 geltende liberale Regelung auf Abtreibung 1993 im Sinne der Wiederherstellung der nationalen polnischen Ordnung und Überwindung des kommunistischen Systems verschärft wurde. Ab da war Abtreibung nur in Ausnahmefällen möglich.[7] Hatten die Frauen in Polen dies noch weitestgehend stillschweigend akzeptiert und waren feministische Stimmen wie die Ewa Partums noch eine Seltenheit, kommt es seit 2016 zu regelmäßigen Protesten gegen Versuche der weiteren Verschärfung des Rechts auf Abtreibung. Als das regierungsfreundliche Verfassungsgericht in Polen schließlich am 22. Oktober 2020 durchsetzte, dass fortan Schwangerschaftsabbrüche auch aufgrund schwerer Fehlbildungen des Fötus als verfassungswidrig gelten, überzog eine Welle von Protestaktionen das Land. Bis heute flammen diese immer wieder auf und haben sich zu einem zivilgesellschaftlichen Gegengewicht zur offiziellen Politik der PiS-Partei entwickelt. Geprägt sind die Proteste von performativen Aktionen und visuellen Symbolen wie dem roten Blitz, der zum Erkennungszeichen der Bewegung geworden ist. Sowohl im öffentlichen Raum wie auch in den sozialen Medien sind diese anzutreffen und stehen für die Forderung nach körperlicher Selbstbestimmung. Auch in diesem Kontext sind die Aktionen #DekoltDlaBiałorusi und #globalscream zu sehen. So soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass das gemeinsame Schreien bereits im Kontext des Frauenstreiks eine Form des Protests darstellte.[8] Nun allerdings von der internationalen Empörung getragen, die die perfide Verhaftung Roman Protasewitsch auslöste, hat der #globalscream durch Jana Shostak in Polen eine Erweiterung und gleichzeitig Neu-Kontextualisierung erhalten. Ohne Zweifel geht es allen, die sich aktuell daran beteiligen, hauptsächlich um Aufmerksamkeit für die Situation in Belarus und Hilfe für die aus dem Land Geflüchteten. So wurde insbesondere durch die Verbindung mit der Aktion #DekoltDlaBiałorusi auch vermehrte Aufmerksamkeit auf den ebenfalls vor dem vor dem Warschauer Büro der Europäischen Kommission Anfang Juni parallel andauernden Hungerstreik der Belarusinen Stasia Glinnik, Bażena Szamowicz und Karalina Sauka gelenkt, die ähnliche Ziele wie die Schreienden verfolgten und Sanktionen der EU gegen das Lukaschenko-Regime forderten.Abb. Mit freundlicher Erlaubnis vom Künstler und vom Fotografen Aber wäre die Kritik an Jana Shostaks Dekolleté auch so viral gegangen, bestünde aktuell weniger Sensibilität für feministische Themen, zu denen auch die selbstbestimmte Wahl der Kleidung gehört? Hätte sie auch dann soviel Solidarität und Aufmerksamkeit für ihr Anliegen bekommen? Wäre es Jana Shostak ohne ihr bestehendes Netzwerk in der polnischen Kunstszene gelungen, so viele Menschen für die Solidarität mit Belarus zu mobilisieren und damit auch die Politik zum Handeln aufzufordern?Zwischen Kunst und politischem Aktivismus Neben Personen aus der belarusischen Diaspora handelt es sich nämlich bei vielen der Protagonist:innen, die Shostak bei ihren aktuellen Aktionen unterstützen, um Aktivist:innen und Künstler:innen, die auch den Frauenstreik mitprägen. Auch Jana Shostak selbst gehört zu jenen, die den Frauenstreik unterstützen und die sich ebenso immer wieder für Klimaschutz, gegen Rassismus und Homophobie einsetzen. Dabei werden jenseits der parteigelenkten Politik "postartistische", meist performative Praktiken an der Grenze von Kunstbetrieb und politischem Aktivismus entwickelt. Diese überwinden den musealen Kontext und gemeinsam mit einer breiten Masse wird für Minderheitenrechte und gegen Diskriminierung in Polen und weltweit eingestanden.Shostaks Engagement in dieser Sache offenbart nicht nur ihr eingangs erwähntes Projekt "Nowak, Nowaczka, Nowacy". Deutlich wurde dies zuletzt auch während der "Parada Równości", der "Pride-Parade", die am 19. Juni 2021 in Warschau stattfand. Hier taten sich Vertreter:innen des Frauenstreiks mit den belarusischen Aktivist:innen zusammen und demonstrierten gemeinsam mit der LGBTQI-Community friedlich gegen die von der Regierung mitbefeuerte Homophobie. Shostak appellierte dabei auch an die belarusische Oppositionsbewegung, bei den eigenen Bemühungen um die europäischen Werte und Rechte selbst auch keine Minderheiten auszugrenzen. Dafür musste sie wiederum Stimmen der Kritik von der oftmals konservative Werte vertretenden belarussischen Diaspora hinnehmen. Abb. Facebook-Screenshot mit freundlicher Erlaubnis der Künstlerin [1] Olga Shparaga: Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus, Berlin 2021.
[3] Maciek Piasecki: Historia jednego protestu: nakrzyczała na Morawieckiego i wywalczyła pomoc dla Białorusinów, oko.press vom 3. Oktober 2020, https://oko.press/nakrzyczala-na-morawieckiego-i-wywalczyla-pomoc/ (29.6.2021)
[4] Anna Maria Żukowska komentuje zdjęcie aktywistki. "Dlaczego nie mam wrażenia, że naprawdę chodzi jej o Białoruś?", wprost.pl vom 25. Mai 2021, https://www.wprost.pl/polityka/10450242/jan-shostak-wzniosla-krzyk-rozpaczy-anna-maria-zukowska-krytykuje-aktywistke.html (29.6.2021).
[6] "Łukaszenka uczynił z polskiej mniejszości kozła ofiarnego", TVN 24 Polska vom 11. Juni 2021,https://tvn24.pl/polska/senat-debata-na-temat-dzialan-polskiego-rzadu-w-sprawie-bialorusi-5118137 (29.6.2021).
[7] Vgl. Stephan Raabe (unter Mitarbeit von Janina Härtel): Zur Korrektur eines Klischees: Abtreibung in Polen Zahlen und Schätzungen, Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen, 9. Mai 2007, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=4f270774-45bc-a804-cf3c-49183e68ca6f&groupId=252038 (29.6.2021)
[8] Akcja "Global Scream" w Poznaniu - minuta krzyku kobiet na Półwiejskiej, in: Polska Times (Onlineausgabe) vom 9. März 2019. https://polskatimes.pl//akcja-global-scream-w-poznaniu-minuta-krzyku-kobiet-na-polwiejskiej-zdjecia-wideo/ar/13949883 (29.6.2021). In Berlin organisiert das mit dem polnischen Frauenstreik verbundene Kollektiv Dziewuchy Berlin seit 2019 auch #globalscream-Aktionen. Vgl. HERstoria współczesna – o Global Scream, https://www.dziewuchyberlin.org/2021/06/19/herstoria-wspolczesna-o-global-scream/?fbclid=IwAR3iqp1iYEpz3fW_3NUWEBRCGzJpmhI0rnDl0H67qYF_e9bZIhiItxJMREI (29.6.2021)
Background: In recent years, health care has increasingly become the focus of public interest, politics, health insurance companies, and research. This includes the development of therapeutic concepts that can respond individually to patients' resources in order to improve coping with chronic diseases. Research into psychosocial and biological resilience factors is very important and the basic objective of the present work. I studied patients with fibromyalgia syndrome (FMS), who suffer among others from chronic pain, fatigue, sleep and gastrointestinal problems. This patient cohort is characterized by a pronounced heterogeneity in terms of clinical outcome, degree in disability and coping. FMS has a prevalence of 3 – 8 % in the Western population and has a significant socio-economic impact. Validated psychosocial resilience factors include optimism, humor, coherence, self-efficacy, awareness with one's own resources and the ability to apply them profitably (coping), and a healthy social environment with positive relationships. Studies in patients with cancer revealed religiosity as positive and negative factor on the health outcome, but there is little data on religious aspects of pain resilience. Various genetic polymorphisms and anti-inflammatory cytokines are known as biological resilience factors. Various microRNA (miRNA) were detected to contribute to resilience in the context of stress and psychiatric disorders. Objective: The underlying research question of this work is to understand the factors that make some FMS patients resilient and others not, even though they suffer from the same disease. The long-term aim was to understand mechanisms and influencing factors of resilience to design preventive and resource-oriented therapies for FMS patients. Material and Methods: Three studies examined religious, physiological, biological, and psychosocial factors which may contribute to resilience in FMS patients. Study one combined data of questionnaires, a psychosocial interview, and regression analyses to investigate the relevance of religiosity for coping and resilience. Study two examined variance explaining factors and defined clusters among FMS patients by their differences in coping, pain phenotype and disability. The factor analysis used variables derived from questionnaires and qPCR of cytokines in white blood samples (WBC) of patients and healthy controls. Study three assessed cluster-wise miRNA signatures which may underly differences in behaviour, emotional and physiological disability, and resilience among patient clusters. A cluster-specific speculative model of a miRNA-mediated regulatory cycle was proposed and its potential targets verified by an online tool. Results: The data from the first study revealed a not very religious patient cohort, which was rather ambivalent towards the institution church, but described itself as a believer. The degree of religiosity played a role in the choice of coping strategy but had no effect on psychological parameters or health outcomes. The coping strategy "reinterpretation", which is closely related iv to the religious coping "reappraisal", had the highest influence on FMS related disability. Cognitive active coping strategies such as reappraisal which belongs to religious coping had the highest effect on FMS related disability (resilience) and could be trained by a therapist. Results from the second study showed high variances of all measured cytokines within the patient group and no difference between patient and control group. The high dispersion indicated cluster among patients. Factor analysis extracted four variance-explaining factors named as affective load, coping, pain, and pro-inflammatory cytokines. Psychological factors such as depression were the most decisive factors of everyday stress in life and represented the greatest influence on the variance of the data. Study two identified four clusters with respective differences in the factors and characterized them as poorly adapted (maladaptive), well adapted (adaptive), vulnerable and resilient. Their naming was based on characteristics of both resilience concepts, indicated by patients who were less stress-sensitive and impaired as a personal characteristic and by patients who emerged as more resilient from a learning and adaptive process. The data from the variance analysis suggests that problem- and emotion-focused coping strategies and a more anti-inflammatory cytokine pattern are associated with low impairment and contribute to resilience. Additional favorable factors include low anxiety, acceptance, and persistence. Some cluster-specific intervention proposals were created that combine existing concepts of behavioral and mindfulness therapies with alternative therapies such as vitamin D supplementation and a healthy intestinal flora. The results of the third study revealed lower relative gene expression of miR103a-3p, miR107, and miR130a-3p in the FMS cohort compared to the healthy controls with a large effect size. The adaptive cluster had the highest gene expression of miR103a-3p and tendentially of miR107, which was correlated with the subscale score "physical abuse" of the trauma questionnaire. Further correlations were found in particular with pain catastrophizing and FMS-related disability. MiR103a-3p and miR107 form a miRNA-family. Based on this, we proposed a miR103a/107 regulated model of an adaptive process to stress, inflammation and pain by targeting genetic factors which are included in different anti-inflammatory and stress-regulating pathways. Conclusion: All three studies provide new insights into resilience in FMS patients. Cognitive coping (reappraisal/reinterpretation) plays a central role and thus offers therapeutic targets (reframing in the context of behavioral therapy). Religosity as a resilience factor was only partially valid for our patient cohort. Basically, the use of resource-oriented therapy in large institutions still requires research and interdisciplinary cooperation to create a consensus between the humanities, natural sciences and humanism. ; Hintergrund: Die Gesunderhaltung ist in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus des Interesses der Öffentlichkeit, Politik, Krankenkassen und Forschung gerückt. Dazu zählt auch die Entwicklung von Therapiekonzepten, die individuell auf die Bedürfnisse und Ressourcen der Patienten zugeschnitten sind, um den Umgang mit insbesondere chronischen Erkrankungen zu verbessern. Die Erforschung von psychosozialen und biologischen Resilienzfaktoren ist hierfür sehr wichtig, und das grundlegende Ziel der vorliegenden Arbeit. Zielgruppe sind Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS). Symptome des FMS sind u.a. chronischer Schmerz, Erschöpfung, Schlaf und Magen-, Darmprobleme. Die Patientengruppe erscheint in der Klinik als sehr heterogene mit unterschiedlichen Beeinträchtigungsgraden und verschiedenen Strategien, mit den Auswirkungen der Erkrankung umzugehen. Die Prävalenz des FMS liegt bei 3 – 8% in der westlichen Bevölkerung und ist somit von erheblicher gesellschaftlicher und sozioökonomischer Bedeutung. Validierte psychosoziale Resilienzfaktoren sind u.a. Optimismus, Humor, Kohärenzgefühl, Selbstwirksamkeit, Bewusstsein der eigenen Ressourcen und die Fähigkeit diese gewinnbringend anzuwenden (Coping) und ein gesundes soziales Umfeld mit positiven Beziehungen. Studien an Krebspatienten ergaben unterschiedliche Effekte von Religiosität als Copingstrategie und Resilienzfaktor. Im Allgemeinen liegen wenige Daten vor zum Thema Religiosität / als Schutzfaktor bei Schmerzpatienten. Als biologische Resilienzfaktoren sind verschiedene genetische Polymophismen, anti-inflammatorische Zytokine und microRNA (miRNA) bekannt, die zur Resilienz bei chronischem Stress und psychiatrischen Krankheitsbildern beitragen. Ziel: Die zugrundeliegende Forschungsfrage dieser vorliegenden Arbeit ist, welche Faktoren dazu beitragen, dass manche Patienten resilienter sind als andere, obwohl sie unter derselben Erkrankung leiden. Das langfristige Ziel dieser Forschung ist es, Mechanismen und Einflussfaktoren der Resilienz zu verstehen, um präventive und gezielte Ressourcen-orientierte Therapien für FMS Patienten zu entwickeln. Material und Methoden: Insgesamt drei Studien untersuchten explorativ eine Reihe von religiösen, physiologischen, biologischen und psychosozialen Faktoren und ihre Rolle als Schutzfaktor bei Patienten mit FMS. Studie 1 kombinierte Daten von Fragebögen, einem psychologischen Interview und Regressionsanalysen, um die Relevanz von Religiosität für das Coping und Resilienz zu untersuchen. Studie 2 versuchte mit einer explorativen Faktorenanalyse Einflussfaktoren zu ermitteln, die für die heterogene Datenlage der Patienten verantwortlich sind. Mithilfe einer Clusteranalyse wurden Subgruppen anhand ihrer Unterschiede in mentaler Gesundheit, Coping, Schmerzphänotyp und Beeinträchtigung definiert. Die Faktorenanalyse verwendete Daten der Fragebögen und Genexpressionsanalysen ausgewählter Zytokine aus Blutproben der Patienten und einer gesunden Kontrollgruppe. Zuletzt wurden Cluster-spezifische Therapievorschläge auf der Basis bereits bekannter Therapien zusammengestellt. Studie 3 bestimmte Cluster-charakteristische miRNA Signaturen, die verantwortlich für die Cluster-spezifischen Unterschiede in Verhalten (coping), emotionaler und körperlicher Beeinträchtigung, und Resilienz sein können. Die Ergebnisse wurden in einem Regulationsschema zusammengefasst und schlagen einen möglichen miRNA-regulierten Mechanismus von adaptivem Verhalten vor. Die potentiellen genetischen Targets wurden mittels eines online Tools "Target Scan Human" verifiziert. Ergebnisse: Die Daten der ersten Studie zeigten eine wenig religiöse Patientenkohorte, die der Institution Kirche eher ambivalent gegenüberstand, sich jedoch dennoch als gläubig beschrieb. Der Grad der Religiosität spielte eine Rolle bei der Wahl der Copingstrategie, hatte jedoch keinen Einfluss auf psychologische Parameter oder die Gesundheit. Die Copingstrategie "Reinterpretation", welche auch nah verwandt mit dem religiösen Coping "reappraisal" ist, hatte einen signifikanten Einfluss auf die Beeinträchtigung, und könnte innerhalb einer Verhaltenstherapie erlernt werden. Ergebnisse der zweiten Studie zeigen hohe Varianzen aller gemessenen Zytokine innerhalb der Patientengruppe und keinen signifikanten Unterschied zwischen Patienten- und Kontrollgruppe. Die hohe Streuung deutete auf Subgruppen innerhalb der FMS Kohorte hin. Mittels einer Faktorenanalyse wurden vier Faktoren ermittelt, die dieser Varianz zugrunde liegen, welche absteigend als affektive Belastung, Coping, Schmerz und pro-inflammatorische Zytokine benannt wurden. Interessant ist, dass psychische Faktoren wie Depression den höchsten Einfluss auf die Belastung im Alltag darstellten und auch den größten Einfluss auf die Varianz der Daten abbildete. Studie 2 konnte vier Subgruppen mit jeweiligen Unterschieden in den charakterisierten Faktoren ermitteln und diese als schlecht angepasst (maladaptive), gut angepasst (adaptive), vulnerabel und resilient charakterisieren. Ihre Benennung basierte auf Charakteristika beider Resilienzkonzepte. Es gab Anzeichen für Patienten, die weniger stresssensibel und beeinträchtigt waren aufgrund von Persönlichkeitsstrukturen sowie Patienten, die aus einem Lern- und Anpassungsprozess nun resilienter hervorgingen. Die Daten der Varianzanalyse legten nahe, dass problem- und emotionsfokussierte Copingstrategien und ein eher antiinflammatorisches Zytokinmuster mit einer niedrigen Beeinträchtigung assoziiert sind und eher zur Resilienz beitragen. Zusätzliche begünstigende Faktoren sind niedrige Angstwerte, Akzeptanz und Durchhaltevermögen. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurden einige Subgruppen-spezifische Interventionsvorschläge vorgestellt, welche bereits existierende Konzepte der Verhaltens- und Achtsamkeitstherapien mit alternativen Therapien wie Supplementierung von Vitamin D und eine gesunde Darmflora miteinander kombinieren. Die Ergebnisse der dritten Studie zeigten eine niedrigere relative Genexpression von miR103a-3p, miR107 und miR130a-3p in der FMS Kohorte verglichen mit der gesunden Kontrollkohorte mit einer großen Effektstärke. Die höchste relative Genexpression zeigte miR103a im adaptiven Cluster, das Cluster mit der niedrigsten Beeinträchtigung. MiR107 tendierte zu einer leicht erhöhten relativen Expression im adaptiven Cluster und war mit dem Subskalenscore "körperlicher Missbrauch" des Traumafragebogens korreliert. Weitere Korrelationen fanden sich insbesondere mit den Variablen psychologischer Fragebögen zu Schmerz Katastrophisieren und FMS-bezogene Beeinträchtigung. MiR103a-3p und miR107 bilden zuammen eine miRNA Familie mit gleichen physiologischen Funktionen. Basierend auf diesen Erkenntnissen, schlugen wir ein Model der miR103a/107 regulierten Anpassung an Stress, Entzündung und Schmerz unter Einbezug verifizierter Gene, vor. Schlussfolgerung: Zusammenfassend geben alle drei Studien neue Einblicke in die Resilienzfaktoren von FMS Patienten. Dabei kommt dem kognitiven Coping (reappraisal / reinterpretation) eine zentrale Rolle zu, was therapeutische Ansatzpunkte (reframing innerhalb einer Verhaltenstherapie) bietet. Religiosität konnte sich in der hier untersuchten Kohorte als Schutzfaktor nur bedingt validieren. Grundsätzlich benötigt der Einsatz von ressourcenorientierter Therapie innerhalb großer Kliniken noch einiges an Forschung und interdisziplinärer Zusammenarbeit, die einen Konsens zwischen Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Humanismus schafft.
The introduction of computer technology into modern societies has enabled unprecedented possibilities of communication and data processing. While its applications are always intended for - and generally succeed in - improving the living standards, there can be inherent risks of new technologies that need extra attention and consciousness to be thwarted. In particular, one risk coming with the possibilities of vast data processing is data security. Unlike data in the pre-digital ages that could be tracked and controlled relatively easily due to the tangible nature of its carrying media like paper, data in the digital age appears much more elusive to the human senses. Furthermore, the pace at which data is transmitted and processed has surpassed what anybody could naturally perceive or comprehend. Even experts of computer science can only operate the hardware through several levels of abstraction. This leaves computer laypersons in the situation that they can just as little as the experts perceive what is going on inside the chips and networks, but they are furthermore lacking the expert's intuition and ability to conceptually descend from the higher to lower abstraction levels. They must therefore rely on the expert testimony particularly when it comes to the security of their data within the black box as which a computer system appears to them. If there is a lack of trust in the expert's testimony regarding data security, one could say that laypersons have lost their power of informational self-determination. This thesis is a step towards re-empowering citizens of modern societies with this sovereignty, by contributing to an increased trust in computer systems. Most of the author's research contributions have been in the specific field of physically unclonable functions (PUFs). However, the author has also been involved in scientific exchange with researchers from other disciplines to see his work in a broader context. A result of this exchange has been the so-called Digital Cloak of Invisibility (DCI). This thesis does therefore not only describe the author's work regarding PUFs but also describes the DCI concept in more detail than published before. A link between these two parts is that PUFs can be one of the components to implement the DCI. The DCI is the result of an ongoing inter-disciplinary cooperation of the author with not just computer scientists but also philosophers, economists and lawyers. It essentially constitutes a separation of powers for the collection, storage and analysis of personal data. The most vivid example for this would be privacy-preserving video surveillance, in which individual-related data is automatically erased from the recorded images. This erasure, however, is done in a cryptographic manner such that it could later be revoked using a specific key. This key is in possession of a party not suspicious of secretly collaborating with those in possession of the anonymised recordings. After elaborating on the DCI, this thesis continues to present the author's work on PUFs. With their property to increase trust in devices, PUFs can play a vital role in a DCI implementation. Because even if the hardware of a DCI device (e.g. a surveillance camera) is designed properly, it has to remain trusted for its entire life cycle. A PUF provides an alternative to storing secret keys in the memory of a circuit. Instead, the keys are derived from physical characteristics at runtime that are unique to each individual chip. Such PUF-generated keys are not just harder to extract from a circuit through hardware attacks, they are also sensitive to such tampering attempts. Because malicious changes to the hardware can impact the physical characteristics from which the keys are derived and thereby alter the key in the process of extracting it. In his work, the author focused on the implementation of delay-based PUFs on Intel field programmable gate arrays (FPGAs). Delay-based PUFs take the delays of signal lines as the chip-specific characteristics from which the keys are derived. FPGAs, due to their flexibility and relatively low costs, are both well suited for the implementation of delay based PUFs and a promising technology for DCI implementations. Among the author's main contributions has been the elaboration of how to implement and refine Ring-Oscillator (RO)-PUFs using the Intel FPGA architecture and design tools. Furthermore, he has shown the existence of location-specific biases in the FPGA fabric leading to a lowered uniqueness of the PUF-generated keys and has presented post-processing methods to compensate this. All of this has been done with the help of newly developed metrics and culminated in the creation of a new kind of RO-PUF using programmable delay lines (PDLs) to enable a far superior area efficiency. Such technologies are capable of implementing a DCI system and make it trustworthy. Future work will have to investigate the social and political requirements for its establishment in society. E.g. how can the hardware's trustworthiness be conveyed to laypersons in a traceable and transparent way? Who can act as the different parties in the separation of powers constituted by a DCI and what makes them trustworthy to the populace? At the end of such a research and development process, the implementation of DCIs could enable citizens of modern societies to reclaim sovereignty over their sensitive data, that is to take the power back! ; Der Einzug von Computertechnik in moderne Gesellschaften hat nie da gewesene Möglichkeiten in Kommunikation und Datenverarbeitung ermöglicht. Obwohl die Anwendungen immer zum Ziel haben - und dies auch meistens erreichen -, den Lebensstandard zu verbessern, können sie inhärente Risiken mit sich bringen, deren Abwehr besonderer Aufmerksamkeit und Achtsamkeit bedarf. Ein besonderes Risiko, das durch die Möglichkeiten massiver Datenverarbeitung entstanden ist, ist Datensicherheit. Im Gegensatz zu pre-digitalen Zeitaltern, wo die Weitergabe von Daten wegen der materiellen Natur ihrer Trägermedien wie Papier noch relativ leicht zu verfolgen und zu kontrollieren war, zeigen sich Daten im digitalen Zeitalter (Digital Age) den menschlichen Sinnen gegenüber als sehr viel schwerer zu fassen. Darüber hinaus übersteigt die Geschwindigkeit, mit der die Datenübertragung und -verarbeitung stattfindet, bei weitem alles, was man noch auf natürliche Weise wahrnehmen könnte. Auch Computerexperten können die Hardware nur beherrschen, indem etliche Abstraktionsebenen das tatsächliche Geschehen auf fassbare Begriffe herunter brechen. Für Computerlaien bedeutet das, dass sie ebenso wenig wie ein Experte das tatsächliche Geschehen in den Chips und Netzwerken wahrnehmen können, ihnen darüber hinaus aber auch die Intuition des Experten fehlt und dessen Fähigkeit, den Weg von den höheren Abstraktionsebenen zu den niedrigeren nachzuvollziehen. Sie müssen sich also auf die Aussagen der Experten verlassen, insbesondere dann wenn es um die Sicherheit ihrer Daten geht. Man könnte somit sagen, dass sie ein Stück weit die Souveränität über ihre informationelle Selbstbestimmung eingebüßt haben. Diese Dissertation ist ein Schritt in die Richtung, Bürgern moderner Gesellschaften einen Teil dieser Souveränität zurück zu geben, indem sie zu gesteigertem Vertrauen in Computersysteme beiträgt. Die meisten wissenschaftlichen Beiträge des Autors sind im speziellen Forschungsbereich der Physically Unclonable Functions (PUFs) angesiedelt. Dabei stand der Autor allerdings auch immer in wissenschaftlichem Austausch mit Forschern anderer Disziplinen, um seine Arbeit in einem größeren Kontext zu betrachten. Ein Ergebnis dieses Austauschs ist die sogenannte "Digitale Tarnkappe" (Digital Cloak of Invisibility, DCI). Diese Dissertation stellt daher nicht nur die Arbeiten des Autors zum Thema PUFs vor, sondern beschreibt auch das DCI-Konzept in einem bisher nicht veröffentlichten Detaillierungsgrad. Die Verknüpfung der beiden Teile ist, dass PUFs eine der Komponenten einer DCI-Implementierung sein können. Die DCI ist das Ergebnis einer andauernden Kooperation mit Philosophen, Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen. Im wesentlichen konstituiert sie eine Gewaltenteilung für das Sammeln, Speichern und Analysieren von personenbezogenen Daten. Am besten lässt sich ihr Prinzip am Beispiel digitalisierter Videoüberwachung illustrieren, die um die Funktionalität erweitert wird, dass Personen automatisch aus den aufgezeichneten Bildern entfernt werden. Dieses Entfernen erfolgt allerdings unter Verwendung von Kryptographie, so dass sie später rückgängig gemacht werden kann, wenn ein bestimmter Schlüssel bekannt ist. Dieser Schlüssel befindet sich im Besitz einer Instanz, die nicht im Verdacht steht, heimlich mit den Besitzern der anonymisierten Aufzeichnungen zu kollaborieren. Nachdem die DCI ausführlich beschrieben wurde, fährt die Dissertation damit fort, die Forschungsergebnisse des Autors zu PUFs zu präsentieren. Durch ihre Eigenschaft, Vertrauen in Geräte zu erhöhen, können PUFs eine wesentliche Rolle bei einer DCI-Implementierung spielen. Denn selbst wenn die Hardware eines DCI-Geräts (z.B. einer Kamera) angemessen entworfen ist, muss sicher gestellt werden, dass ihm über seine gesamte Einsatzzeit vertraut werden kann. Eine PUF bietet eine Alternative zum Speichern von geheimen Schlüsseln im Speicher eines Geräts. Stattdessen werden die Schlüssel aus physikalischen Eigenschaften abgeleitet, die für jeden individuellen Chip einzigartig sind. Solche PUF-generierten Schlüssel sind nicht nur schwieriger durch Angriffe auf die Hardware zu extrahieren, sie sind auch empfindlich gegenüber solchen Manipulationsversuchen. Denn böswillige Änderungen an der Hardware können die physikalischen Eigenschaften beeinflussen, von denen der Schlüssel abgeleitet wird, und somit auch unbeabsichtigt den Schlüssel verfälschen, der extrahiert werden soll. In seiner Arbeit hat sich der Autor auf die Implementierung von delay-basierten PUFs auf Intel Field Programmable Gate Arrays (FPGAs) konzentriert. Delay-basierte PUFs verwenden die Verzögerungszeiten einzelner Leitungen als chip-spezifische Charakteristika, aus denen die Schlüssel abgeleitet werden. FPGAs sind wegen ihrer Flexibilität und relativ niedriger Kosten gut geeignet, um sowohl delay-basierte PUFs auf ihnen zu implementieren als auch in DCI-Implementierungen zum Einsatz zu kommen. Zu den Beiträgen des Autors zählt das Ausarbeiten von Methoden, wie Ring-Oszillator (RO)-PUFs mit der Intel FPGA-Architektur und den zugehörigen Design-Tools implementiert und verfeinert werden können. Darüber hinaus hat er die Existenz von ortsspezifischen Delay-Biases in der FPGA-Chipsubstanz aufgezeigt, die zu verminderter Einzigartigkeit der PUF-generierten Schlüssel führen, und post-processing Methoden präsentiert, um diese zu kompensieren. Sämtliche Arbeiten wurde unter Verwendung von neu entwickelten Metriken durchgeführt und kulminierten schließlich in der Entwicklung einer neuen Art von RO-PUF, bei der programmable delay lines (PDLs) zum Einsatz kommen, um eine weit überlegene Flächeneffizienz zu erreichen. Solche Technologien ermöglichen es, ein DCI-System zu implementieren und dieses vertrauenswürdig zu machen. Zukünftige Arbeiten werden zu untersuchen haben, welche sozialen und politischen Voraussetzungen nötig sind, um DCI-Systeme in der Gesellschaft zu etablieren. Z.B. wie kann die Vertrauenswürdigkeit der Hardware auf nachvollziehbare und transparente Weise an Laien vermittelt werden? Wer agiert als die verschiedenen Instanzen in der durch die DCI konstituierten Gewaltenteilung, und was macht sie gegenüber der Öffentlichkeit vertrauenswürdig? Am Ende eines solchen Forschungs- und Entwicklungsprozesses könnte die Implementierung von DCIs es den Bürgern moderner Gesellschaften ermöglichen, einen Teil der Souveränität über ihre sensiblen Daten zurück zu erlangen. Daher rührt auch der Titel dieser Dissertation: Take the power back!
Energy is at the heart of the climate crisis—but also at the heart of any efforts for climate change mitigation. Energy consumption is namely responsible for approximately three quarters of global anthropogenic greenhouse gas (GHG) emissions. Therefore, central to any serious plans to stave off a climate catastrophe is a major transformation of the world's energy system, which would move society away from fossil fuels and towards a net-zero energy future. Considering that fossil fuels are also a major source of air pollutant emissions, the energy transition has important implications for air quality as well, and thus also for human and environmental health. Both Europe and Germany have set the goal of becoming GHG neutral by 2050, and moreover have demonstrated their deep commitment to a comprehensive energy transition. Two of the most significant developments in energy policy over the past decade have been the interest in expansion of shale gas and hydrogen, which accordingly have garnered great interest and debate among public, private and political actors. In this context, sound scientific information can play an important role by informing stakeholder dialogue and future research investments, and by supporting evidence-based decision-making. This thesis examines anticipated environmental impacts from possible, relevant changes in the European energy system, in order to impart valuable insight and fill critical gaps in knowledge. Specifically, it investigates possible future shale gas development in Germany and the United Kingdom (UK), as well as a hypothetical, complete transition to hydrogen mobility in Germany. Moreover, it assesses the impacts on GHG and air pollutant emissions, and on tropospheric ozone (O3) air quality. The analysis is facilitated by constructing emission scenarios and performing air quality modeling via the Weather Research and Forecasting model coupled with chemistry (WRF-Chem). The work of this thesis is presented in three research papers. The first paper finds that methane (CH4) leakage rates from upstream shale gas development in Germany and the UK would range between 0.35% and 1.36% in a realistic, business-as-usual case, while they would be significantly lower - between 0.08% and 0.15% - in an optimistic, strict regulation and high compliance case, thus demonstrating the value and potential of measures to substantially reduce emissions. Yet, while the optimistic case is technically feasible, it is unlikely that the practices and technologies assumed would be applied and accomplished on a systematic, regular basis, owing to economics and limited monitoring resources. The realistic CH4 leakage rates estimated in this study are comparable to values reported by studies carried out in the US and elsewhere. In contrast, the optimistic rates are similar to official CH4 leakage data from upstream gas production in Germany and in the UK. Considering that there is a lack of systematic, transparent and independent reports supporting the official values, this study further highlights the need for more research efforts in this direction. Compared with national energy sector emissions, this study suggests that shale gas emissions of volatile organic compounds (VOCs) could be significant, though relatively insignificant for other air pollutants. Similar to CH4, measures could be effective for reducing VOCs emissions. The second paper shows that VOC and nitrogen oxides (NOx) emissions from a future shale gas industry in Germany and the UK have potentially harmful consequences for European O3 air quality on both the local and regional scale. The results indicate a peak increase in maximum daily 8-hour average O3 (MDA8) ranging from 3.7 µg m-3 to 28.3 µg m-3. Findings suggest that shale gas activities could result in additional exceedances of MDA8 at a substantial percentage of regulatory measurement stations both locally and in neighboring and distant countries, with up to circa one third of stations in the UK and one fifth of stations in Germany experiencing additional exceedances. Moreover, the results reveal that the shale gas impact on the cumulative health-related metric SOMO35 (annual Sum of Ozone Means Over 35 ppb) could be substantial, with a maximum increase of circa 28%. Overall, the findings suggest that shale gas VOC emissions could play a critical role in O3 enhancement, while NOx emissions would contribute to a lesser extent. Thus, the results indicate that stringent regulation of VOC emissions would be important in the event of future European shale gas development to minimize deleterious health outcomes. The third paper demonstrates that a hypothetical, complete transition of the German vehicle fleet to hydrogen fuel cell technology could contribute substantially to Germany's climate and air quality goals. The results indicate that if the hydrogen were to be produced via renewable-powered water electrolysis (green hydrogen), German carbon dioxide equivalent (CO2eq) emissions would decrease by 179 MtCO2eq annually, though if electrolysis were powered by the current electricity mix, emissions would instead increase by 95 MtCO2eq annually. The findings generally reveal a notable anticipated decrease in German energy emissions of regulated air pollutants. The results suggest that vehicular hydrogen demand is 1000 PJ annually, which would require between 446 TWh and 525 TWh for electrolysis, hydrogen transport and storage. When only the heavy duty vehicle segment (HDVs) is shifted to green hydrogen, the results of this thesis show that vehicular hydrogen demand drops to 371 PJ, while a deep emissions cut is still realized (-57 MtCO2eq), suggesting that HDVs are a low-hanging fruit for contributing to decarbonization of the German road transport sector with hydrogen energy. ; Energie ist der Kern der Klimakrise—aber auch der Kern jeglicher Bemühungen zur Eindämmung des Klimawandels. Der Energieverbrauch ist heute für ungefähr drei Viertel der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Grundlegend für einen ernsthaft gemeinten Plan eine Klimakatastrophe abzuwenden ist daher eine umfassende Umgestaltung des weltweiten Energiesystems von fossilen Brennstoffen weg in Richtung zukünftige Netto-Null-Emissionen. Angesichts der Tatsache, dass fossile Brennstoffe auch eine Hauptquelle für Luftschadstoffemissionen sind, hat die Energiewende wichtige Auswirkungen auf die Luftqualität und damit auch auf die Gesundheit von Mensch und Umwelt. Sowohl Europa als auch Deutschland haben sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 treibhausgasneutral zu werden und zeigen darüber hinaus ihr tiefes Engagement für eine umfassende Energiewende. Zwei der wichtigsten Entwicklungen in der Energiepolitik im letzten Jahrzehnt waren das Interesse an der Ausweitung von Schiefergas und Wasserstoff, das entsprechend großes Interesse und große Diskussionen in der Öffentlichkeit, im Privaten und in der Politik erzeugt hat. In diesem Zusammenhang können fundierte wissenschaftliche Informationen eine wichtige Rolle spielen, indem sie Interessenvertreter und zukünftige Forschungsinvestitionen informieren und evidenzbasierte Entscheidungen unterstützen. Diese Doktorarbeit untersucht die Umweltauswirkungen möglicher, relevanter Veränderungen im europäischen Energiesystem, um wertvolle Erkenntnisse zu vermitteln und kritische Wissenslücken zu schließen. Insbesondere werden mögliche zukünftige Schiefergasentwicklungen in Deutschland und im Vereinigten Königreich (UK) sowie ein hypothetischer, vollständiger Übergang zur Wasserstoffmobilität in Deutschland untersucht. Darüber hinaus werden die Auswirkungen auf die Treibhausgas- und Luftschadstoffemissionen sowie auf die Luftqualität von troposphärischem Ozon (O3) bewertet. Die Analyse wird durch die Erstellung von Emissionsszenarien und die Durchführung von Luftqualitätsmodellen über die Chemie-Version des "Weather Research and Forecasting Model" (WRF-Chem) erleichtert. Die Forschung dieser Doktorarbeit wird in drei wissenschaftlichen Artikeln vorgestellt. Der erste Artikel beschreibt, dass die Methan (CH4)-Leckraten aus einer vorgelagerten Schiefergasproduktion in Deutschland und Großbritannien in einem gewöhnlichen Fall zwischen 0.35% und 1.36% liegen würden, während sie in einem optimistischen, streng regulierten Fall signifikant zwischen 0.08% und 0.15% niedriger wären, und zeigt damit die Bedeutung und das Potenzial von Maßnahmen zur wesentlichen Reduzierung der Emissionen auf. Obwohl der optimistische Fall technisch machbar ist, ist es aufgrund der Wirtschaftlichkeit und der begrenzten Überwachungsressourcen unwahrscheinlich, dass die angenommenen Praktiken und Technologien systematisch und regelmäßig angewendet und durchgeführt werden. Die in dieser Studie geschätzten realistischen CH4-Leckraten sind vergleichbar mit Werten, die in Studien in den USA und anderswo angegeben wurden. Im Gegensatz dazu ähneln die optimistischen Raten den offziellen CH4- Leckraten aus der vorgelagerten Gasproduktion in Deutschland und Großbritannien. In Anbetracht des Mangels an systematischen, transparenten und unabhängigen Berichten, die die offziellen Werte stützen, unterstreicht diese Studie die Notwendigkeit weiterer Forschungsanstrengungen in diese Richtung. Im Vergleich zu den Emissionen des nationalen Energiesektors deutet diese Studie darauf hin, dass die Schiefergasemissionen flüchtiger organischer Verbindungen (VOC) erheblich sein könnten, andere Luftschadstoffe jedoch relativ unbedeutend bleiben. Ähnlich wie bei CH4 könnten Maßnahmen zur Reduzierung der VOC-Emissionen wirksam sein. Der zweite Artikel beschreibt, dass VOC- und Stickoxidemissionen (NOx) einer zukünftigen Schiefergasindustrie in Deutschland und Großbritannien potenziell schädliche Folgen für die europäische O3-Luftqualität sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene haben. Die Ergebnisse zeigen einen Spitzenanstieg des maximalen täglichen 8-Stunden-Durchschnitts von O3 (MDA8) im Bereich von 3.7 µg m-3 bis 28.3 µg m-3. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Schiefergasaktivitäten zu zusätzlichen Grenzwertüberschreitungen des MDA8 bei einem erheblichen Prozentsatz der regulatorischen Messstationen sowohl vor Ort als auch in Nachbar- und entfernten Ländern führen können, wobei bei bis zu etwa einem Drittel der Stationen in Großbritannien und einem Fünftel der Stationen in Deutschland zusätzliche Überschreitungen auftreten. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass die Auswirkungen von Schiefergas auf die kumulative gesundheitsbezogene Metrik SOMO35 (jährliche Summe des Ozonmittel über 35 ppb) mit einem maximalen Anstieg von ca. 28% erheblich sein könnten. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die VOC-Emissionen von Schiefergas eine entscheidende Rolle bei der O3-Erhöhung spielen könnten, während die NOx-Emissionen in geringerem Maße dazu beitragen würden. Unsere Ergebnisse zeigen daher, dass eine strenge Regulierung der VOC-Emissionen im Falle einer künftigen europäischen Schiefergasentwicklung wichtig ist, um schädliche gesundheitliche Folgen zu minimieren. Der dritte Artikel beschreibt, dass ein hypothetischer, vollständiger Übergang der deutschen Fahrzeugflotte zur Wasserstoff-Brennstoffzellentechnologie wesentlich zu Deutschlands Klima- und Luftqualitätszielen beitragen kann. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei einer Erzeugung des Wasserstoffs durch erneuerbare Wasserelektrolyse (grüner Wasserstoff) die Emissionen des deutschen Kohlendioxidäquivalents (CO2eq) jährlich um 179 MtCO2eq sinken würden. Wenn die Elektrolyse jedoch mit dem aktuellen Strommix betrieben würde, würden sich die Emissionen stattdessen um jährlich 95 MtCO2eq erhöhen. Die Ergebnisse zeigen im Allgemeinen einen bemerkenswerten Rückgang der Luftschadstoffemissionen in Deutschland. Weiterhin legen sie nahe, dass der Wasserstoffbedarf von Fahrzeugen 1000 PJ pro Jahr beträgt, was zwischen 446 TWh und 525 TWh für Elektrolyse, Wasserstofftransport und -speicherung erfordern würde. Wenn nur das Segment der Schwerlastfahrzeuge (HDVs) auf grünen Wasserstoff umgestellt wird, zeigen unsere Ergebnisse, dass der Wasserstoffbedarf der Fahrzeuge auf 371 PJ sinkt, während immer noch eine tiefgreifende Emissionsreduzierung erzielt wird (-57 MtCO2eq). Dies zeigt, dass die Umstellung der HDVs auf grünen Wasserstoff einen entscheidenden Beitrag zur Dekarbonisierung des deutschen Straßenverkehrs leisten kann.
"We live in mythical times but without knowing that we do." (Wendy Hui Kyong Chun, S. 59.) "Clearly the rise of search engines has fostered the proliferation and predominance of keywords and terms. At the same time it has changed the very nature of keywords, since now any word and pattern can become 'key'. Even further, it has transformed the very process of learning, since search presumes that a) with the right phrase, any question can be answered and b) that the answers lie within the database. The truth, in other words, is 'in there'." (Vorwort zur Reihe, S. vii-viii.) Die Wahrheit ist irgendwo da draußen drinnen. (Ein Mulder-Bot) Welche Vorstellung von Freundschaft/Nachbarschaft macht die Netzwerkforschung operabel? Was haben algorithmische Mustererkennung und Sternbilder gemeinsam? Leben wir bereits in der Singularität? Gibt es einen produktiven Moment der Paranoia? Diese rhetorischen Fragen sollen die Stoßrichtung des schmalen, aber dichten Bandes Pattern Discrimination umreißen. Die vier eng verzahnten Beiträge von Clemens Apprich, Wendy Hui Kyong Chun, Florian Cramer und Hito Steyerl kreisen dabei vorrangig um "biases" in der algorithmisierten Verarbeitung riesiger Datenmengen und somit um das Spannungsverhältnis des Begriffs 'diskriminieren' als Terminus technicus in der Informatik – im Sinne von auseinanderhalten, unterscheiden – und in seiner politischen Bedeutung als Ungleichbehandlung oder Ausschluss bestimmter Personengruppen nach soziologischen Kategorien (vorrangig 'Race', Gender, Klasse, Sexualität). Das Verhältnis lässt sich zu keinem Zeitpunkt der einzelnen Prozessschritte der Datenanalyse nach einer Seite hin auflösen. Somit geht es ganz grundlegend um die Verstrickungen von Ideologie und Technik. Diese Problemstellung an sich ist für eine Medienwissenschaft, so sie weder sozial- noch technikdeterministisch sondern sozio-technisch argumentiert, nicht neu. "What is new, though, is the fragmentation of largely stable knowledge sources into an atomized world of updates, comments, opinions, rumors, and gossip. In order to be able to filter information from this constant stream of data, we rely on algorithms, helping us bring order into our new media life" (S. 103). Die Datafizierung bzw. Mathematisierung der Welt; die Quantifizierung und Entdeckung neuer Korrelationen macht uns also abhängig von rechenbasierter Informationsverarbeitung. Die Autor*innen unterscheiden zwischen Daten, Information und Wissen/Erkenntnis. Daten sind sowohl Rohmaterial (obgleich immer schon präfiguriert) und Hintergrundrauschen, aus welchem Informationen mittels quantitativer Methoden auf Basis von Mustererkennung ('Pattern Recognition') erst gewonnen bzw. extrapoliert werden müssen. Daten begegnen uns ebenfalls als unvorstellbare Totalität der Beziehungen bei Steyerl und Chun und als das Lacan'sche Reale bei Apprich. Alle vier Beiträge durchziehen auf unterschiedlichen Ebenen Fragen der Subjektivierung. Den Anfang macht Hito Steyerl. In "A sea of data: Pattern Recognition and Corporate Animism (Forked Version)" widmet sie sich der Bedeutung der Mustererkennung für die Datenanalyse staatlicher und privatwirtschaftlicher Kontrollinstanzen und Institutionen. Dabei entfaltet sie ihre Problematisierung entlang zweier politischer Fabeln. Louis Althussers Polizist, dessen simple sprachliche Geste "Hey, du!" das basale Modell sozialer Kontrolle darstellt, wäre an den digitalen Verkehrskreuzungen, die von ca. 414 Billionen Bits pro Sekunde passiert werden, schlicht verloren: "On top of that he has to figure out whether they [Anm.: Bits] are sent by a spam bot, a trader, a porn website, a solar flare, Daesh, your mum, or what" (S. 1). Aber dieser Polizist aus einer vergangenen Zeit operiert längst nicht mehr allein, noch soll durch seinen Zuruf ein einzelnes Subjekt identifiziert und subjektiviert werden. Die sich veränderte Problemlage für Geheimdienste wie die NSA illustriert folgender Hilferuf: "Developers, please help! We're drowning (not waving) in a sea of data – with data, data everywhere, but not a drop of information" (S. 2). Hier kommt die Musterkennung zum Einsatz, im Kern geht es also darum, Signal (information) von Rauschen (excessive data) zu unterscheiden indem große Datenmengen analysiert werden um zuvor unbekannte, interessante Muster zu extrahieren (vgl. S. 2). Dass die Unterscheidung von Signal und Rauschen nicht bloß eine quantitative Verarbeitung, sondern immer auch eine qualitative Bewertung erfordert und somit hoch politisch ist, macht Steyerl mit Bezugnahme auf Jacques Rancière deutlich. Im antiken Griechenland wurde quasi ein politischer spam filter eingesetzt, der die Äußerungen männlicher, reicher Bürger als Rede (Information) definierte und jene von Frauen, Kindern und Sklaven als wirres Gebrabbel (Rauschen) (vgl. S. 3). Diese kategorische Filter- bzw. Reinigungsarbeit produziert Anomalien. Dirty data, fehlerhafte oder auch unbrauchbare Eingabedaten, bilden bei Steyerl daher auch das Eingeschlossene-Ausgeschlossene ab – das, was mit einer bestimmten Weltsicht nicht vereinbar ist, z. B. "rich brown teenagers" (vgl. S. 5). Analog zur Antike, die sich an Sternbildern orientierte, navigieren wir das Datenmeer ebenfalls mit Hilfe von ideellen Modellen und Mustern und orientieren uns an Ähnlichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Steyerl plädiert nun nicht dafür, von jeglichen Kontrollmechanismen abzusehen, schlägt aber vor das gewaltige Datenmeer schlicht als "mess of human relations" zu akzeptieren (S.19). Florian Cramer widmet sich dem blinden Fleck der Datenanalyse als Determinismus eines Set-Ups, das nur scheinbar rein quantitativ-analytisch vorgeht. Sein Eingeschlossenes-Ausgeschlossenes ist die Hermeneutik, die Verdunkelung der Rolle qualitativ-subjektiver Interpretation für die Datenanalyse. "Crapularity Hermeneutics: Interpretation as the Blind Spot of Analytics, Artificial Intelligence, and Other Algorithmic Producers of the Postapocalyptic Present" stellt eine pointiert-polemische wie tiefgehende Analyse der Abgründe der digitalen Gegenwart dar. Cramer findet strukturelle Analogien für Big Data im Orakel von Delphi, standen doch die Priester ebenfalls vor der Frage, wie sie aus dem Strom aus (trancebasiertem) Kauderwelsch Sinn machen sollten (vgl. S. 23). Das Set-Up für Wahrsagerei im digitalen Zeitalter kennt keine Sprechakte bzw. Narrative mehr, die kritischer Exegese und semantischer Interpretation bedürfen, sondern Datensets, die mittels algorithmisierter "Analytics", also quantitativ-syntaktischen Operationen, enträtselt werden müssen (vgl. S. 24). Strukturell gesehen haben wir es jedoch immer noch mit Hermeneutik zu tun. Denn die Grenzen des Wissens bzw. der Interpretation legt der Algorithmus fest und somit liegt das epistemologische Kernproblem eigentlich eine Ebene tiefer, nämlich grundlegend in "using mathematics to process meaning" (vgl. S. 37). Folgerichtig sollten wir angesichts der Hoffnungen und Befürchtungen, die Künstliche Intelligenz (K. I.) weckt, die Perspektive ändern und nicht von einer eschatologisch-technischen 'Singularity' sondern der 'Crapularity' (Justin Pickard) sprechen, um der Fehleranfälligkeit und den Grenzen von K. I. Ausdruck zu verleihen (vgl. S. 40). Die Singularität versteht Cramer – wie auch Steyerl – dagegen als 'singularity of the market' und liest das Sillicon Valley als Chiffre für die Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts, "with analytics of user-generated-content rather than content production as its (multibillion dollar) business model" (S. 35). Cramer spricht sich gegen eine offene Gesellschaft aus, die auf Gleichgewicht und Optimierung setzt und sich dabei vor dem Hintergrund gewaltiger Ausschlüsse errichtet. Behauptete Alternativlosigkeit, nichts Neues aber jede Menge Updates – die Gefahren für die Demokratie bringt er folgendermaßen auf den Punkt: "populist fascism against Big Data fascism" (S. 52). Wendy Hui Kyong Chun analysiert in "Queering Homophily" die Axiome der Netzwerkforschung und argumentiert, dass wir uns mit Identitätspolitik beschäftigen müssen, da Algorithmen reduktiv identitätslogisch operieren und Segregation ahistorisieren und verstetigen. Gleich und gleich gesellt sich gern – bei Chun nimmt der Kalenderspruch bedrohliche Züge an, liegt doch Homophilie, also die Liebe zum Ähnlichen, im Herzen des Bauplans von Netzwerken. Historisch bedingte Ungleichheiten, institutionelle Zwänge, Rassismus – Konflikte werden verdeckt und Diskriminierung naturalisiert, indem Hass in individuelle "Vorlieben" übersetzt und somit blackboxing mit der Vergangenheit betrieben wird (S. 75). Filterblasen und Echokammern sind das notwendige Resultat, wenn Prosumernetzwerke als homophile Nachbarschaften errichtet und Konsens, Komfort und Balance prämiert werden (ebd.). Dabei kartieren und verflachen Netzwerke realweltliche Phänomene, in dem sie zwei qualitative Ebenen von Verbundenheit, zwei zuvor diskontinuierliche Skalen verknüpfen: Strukturen auf Makro- und Verhalten auf Mikroebene (vgl. 70f). Dadurch entsteht eine 'grammar of action' (Phil Agre), jede individuelle Handlung, jedes individuelle Verhalten ist immer Teil eines größeren Musters oder Symptoms (vgl. S. 69). Wir werden somit konstant mit anderen verglichen und intersektional erfasst mit dem Ziel, prognostische Aussagen zu treffen. Dabei diskriminieren Algorithmen eben nicht nach essentialistischen Kategorien wie 'race/gender/class', da sie nicht auf Basis von Eigenschaften sondern von Handlungen und Verhaltensmustern operieren: "These algorithms, in other words, do not need to track racial or other differences, because these factors are already embedded in 'less crude' categories designed to predict industriousness, reliability, homicidal tendencies, et cetera" (S. 74/S. 65). Die Pointe ist entsprechend fies: Einerseits zwingen uns unsere digitalen Verhältnisse die Auseinandersetzung mit Identitätspolitik quasi auf, andererseits verrutschen uns die Angriffsflächen für Herrschaftskritik. Chun plädiert dafür, sich die Netzwerkanalyse zu eigen zu machen, um neue Hypothesen und Axiome zu kreieren und fragt beispielsweise, wie sich die Infrastruktur der Netzwerke ändern würde, wenn nicht Konsens, sondern Konflikt und größtmögliche Differenz konstitutiv wären. Clemens Apprich skizziert die Zielsetzungen und Argumente des Bandes im Vorwort und fasst diese mit "Data Paranoia: How to Make Sense of Pattern Discrimination" erneut zusammen. Paranoia war bereits bei Steyerl Thema, oder vielmehr eines deren Symptome: Apophenia, die Fähigkeit, Muster wahrzunehmen, auch wenn keine vorhanden sind, etwa Gesichter in Wolken. So lege etwa Googles Deep Dream Generator das Imaginäre unserer digitalen Erfassungssysteme und die Funktionsweise der Musterkennung neuronaler Netzwerke offen, die aus den Tiefen des Datenmeers nur jene Chimären heraufziehen können, die sie zuvor trainiert wurden zu erkennen (vgl. S. 9). Bei Apprich stellt Paranoia zum einen ein objektivierbares Phänomen jeglicher Medienbeobachtung dar. Je komplexer die Vermittlung, desto grundlegender der Verdacht, schließlich können wir immer nur die symbolische Oberfläche wahrnehmen und der submediale Raum bleibt strukturell verborgen (vgl. S. 104). Zum anderen ist Paranoia aber auch ein spezifisches Phänomen unseres aktuellen Medienwechsels – "from mass media to social media logic" (S. 116.) . Schließlich hat die Entstehung unterschiedlicher Teil-Öffentlichkeiten durch Social-Media Plattformen zum Verlust der Möglichkeit der Bezugnahme auf eine gemeinsame symbolische Ordnung geführt. Auch Chun fragte zuvor, über welchen Wahrheitsbegriff wir angesichts der flachen Ontologie unserer Netzwerke, die keine Kausalzusammenhänge aufdecken, sondern bloß Korrelationen hervorbringen und quantifizieren, heute verfügen (vgl. S. 67). Aber hat die Postmoderne von der Wahrheit ohnehin nichts mehr wissen wollen? Apprich hält dem eigenen rhetorischen Einwand entgegen, dass wir eine gemeinsame Übereinkunft dessen, was wahr oder falsch ist benötigen, um überhaupt etwas wie objektive Realität – also eine Wirklichkeit, basierend auf intersubjektiv verhandelten Normen und Regeln – zu konstituieren (vgl. S. 108). Paranoia im Kontext dieses Medienwechsels stellt also einen Versuch einer Wiederaneignung der Welt dar, eine entfesselte Sinnproduktion "at a time where data simply outnumbers facts" (S. 106f). Mit Big Data hätten wir eine völlig neue Dimension von Wahrsagerei erreicht bzw. sind in ein neues Zeitalter der Interpretation eingetreten, denn "data by definition can be interpreted in this or that way" (S. 108). Wie an mehreren Stellen angemerkt, geht es den Autor*innen vorrangig darum, den ideologischen Horizont von Big Data aufzuzeigen und somit den Digital Humanities ihr dringlichstes Forschungsgebiet zuzuweisen. In den einzelnen Beiträgen wird so auch keine defätistische Haltung eingenommen, sondern immanente Kritik geübt. Nahezu friktionsfrei aufeinander aufbauend, werden Kernargumente öfters wiederholt; Steyerl und Cramer fokussieren primär auf Datenverarbeitung, Chun und Apprich verstärkt auf Netzwerkforschung, stets steht jedoch die Verknüpfung epistemologischer und demokratiepolitischer Fragen im Vordergrund. Die auffällige Bezugnahme auf die griechische Mythologie erinnert dabei nicht nur daran, dass ältere geisteswissenschaftliche Disziplinen hilfreiche Analysewerkzeuge für die Auseinandersetzung mit Big Data und unseren digitalen Kulturen bereithalten. Die Analogieschlüsse legen umgekehrt die Vermutung nahe, sich ebenfalls (wieder) in einem mythischen Zeitalter zu befinden, da "alghorithmic computation no longer intellegible to the human mind" sei (S.101). Pattern Discrimination kann als Versuch gelesen werden, kritische Theorie auf die Netzwerkforschung anzuwenden sowie im erweiterten Sinn eine Ideologiekritik des Plattformkapitalismus zu formulieren.
Lärm gehört zu den größten Umwelt- und Gesundheitsproblemen unserer Zeit und folgt somit an zweiter Stelle nach der Luftverschmutzung. In der Europäischen Union (EU) sind rund 40 Prozent der Bevölkerung Lärm ausgesetzt, der die Grenze der Belästigung von 55 dB überschreitet. Die Motivation zu dieser Arbeit ist daher einerseits die hohe Dringlichkeit der Lärmbekämpfung aufgrund der großen Gesundheitsgefahr und andererseits die schlechte Qualität der Lärmkarten, die in der Praxis zur Information der breiten Öffentlichkeit verwendet werden. Diese sogenannten strategischen Lärmkarten bilden die Grundlage zur Bewertung von Umgebungslärm und für die Öffentlichkeitsbeteiligung, das heißt sie sind das Kommunikations- und Informationsmittel. Hauptinhalt der Karten ist die Schallimmission, dargestellt anhand des Lärmindexes Lden für Straßen-, Schienen-, Flug- und Industrielärm, der jeweils einzeln in einer Karte darzustellen ist. Lden ist der gewichtete A-bewertete äquivalente Dauerschallpegel für alle Tage eines Jahres. Er wird anhand von farbigen Isophonen, das sind Linien gleicher Lärmbelastung, in 5-dB-Klassen dargestellt. Die zu verwendenden Farben sind in der der Verordnung über die Lärmkartierung, festgeschrieben und in einer DIN definiert. Das vorgegebene Schema entspricht jedoch nicht dem aktuellen Forschungsstand der kartografischen Gestaltung. Bestehend aus einer Abfolge von Hellgrün, Mittelgrün, Dunkelgrün, Gelb, Ocker, Orange, Rot, Dunkelrot, Lila, Hellblau und Dunkelblau, ist es qualitativ und die Farben aufgrund des Fehlens einer systematischen Helligkeits- und Sättigungsverteilung nicht den ansteigenden Werten der dB-Skala zuzuordnen. Ziel der vorliegenden Arbeit war daher, die Lärmkarten, wie sie entsprechend der END zur Öffentlichkeitsbeteiligung verwendet werden, zu analysieren und für den wichtigsten Karteninhalt, die Schallimmissionen, ein neues Farbschema zu entwickeln. Neben einer qualitativen kartografischen Analyse, einer Bestandsanalyse der Lärmkarten der 27 deutschen Ballungsräume, die zur Lärmkartierung verpflichtet sind, und einer Task-Analyse, wurden in einer Anforderungsanalyse die Voraussetzungen für die Entwicklung des neuen Farbschemas bestimmt und in einem nutzerorientierten, iterativen Prozess ein neues Farbschema zur Darstellung der Schallimmissionen entwickelt. Bedingt durch die Farbwahrnehmung und bei genauerer Betrachtung des Anwendungsfalles, der Darstellung der Schallimmissionen, werden die Herausforderungen zur Erstellung eines Farbschemas klar. Die Schallimmissionen werden zwar in 5-dB-Klassen dargestellt, aber der zugrundeliegende Schalldruckpegel ist ein logarithmisches Maß, dadurch tragen höhere Werte stärker zu einem Mittelwert bei und die dargestellte Wertespanne ist sehr groß. Um eine sinngemäße Interpretation zu ermöglichen, müssen diese daher auch in der Darstellung stärker betont werden, was durch einen starken Anstieg der Sättigung der Farben für hohe Werte erreicht wurde. Da Lärmkarten die Lärmbelastung darstellen, ist es für eine verbesserte Interpretation sinnvoll, Farben zu wählen, die mit der Belastung assoziativ sind. Aus diesem Grund wurde von der kartografischen Konvention abgewichen und ein Schema mit zwei Farbtonübergängen gewählt. Insgesamt besteht das entwickelte Farbschema aus zehn Farben, die drei Wirkungsklassen bilden. Jeder Wirkungsklasse ist ein Farbton zugeordnet - Blaugrün, Orange und Lila - der assoziativ mit dem Grad der Belästigung und dem Gesundheitsrisiko ist und somit die Interpretation erleichtert. Da es pro Farbton somit nur drei bis vier Helligkeitsstufen gibt, werden die Unterscheidbarkeit und die Zuordnung der Farben zur Legende erleichtert. Durch die Vermeidung von Ampelrot und –grün konnte die Eignung für Menschen mit Farbenfehlsichtigkeiten stark gesteigert werden. Um die Farbtöne in eine visuelle Hierarchie zu bringen, wurden die Helligkeit und die Sättigung systematisch variiert. Die Helligkeit ist am größten bei der vierten Farbe und nimmt in Richtung beider Enden ab, die Sättigung hingegen nimmt v. a. zum unteren Ende der Skala, d. h. in Richtung der hohen Werte, stark zu. Durch dieses "bipolare" Schema wird eine Betonung der Regionen erreicht, die von größtem Interesse sind: die positiven, ruhigeren Bereiche und die Bereiche hoher Belastung. Das Schema wurde in vier Nutzerstudien evaluiert, die Ergebnisse flossen jeweils in die Weiterentwicklung ein. Die Ergebnisse der ersten Studie zeigten, dass es signifikante Einflüsse des Farbschemas auf die Interpretation der Lärmbelastung gibt. Weitere Studien ergaben, dass die verwendeten Farben unterscheidbar sowie assoziativ mit der Belastung sind und dass großeWertespannen besser anhand konträrer Farben, wie beispielsweise Komplementärfarben dargestellt werden, was sehr für das Farbschema mit Farbtonübergängen spricht. Es zeigt sich, dass die Farben auch für Menschen mit Farbenfehlsichtigkeit unterscheidbar sind. Der Anwendungsfall zur Entwicklung waren deutsche Straßenlärmkarten, daher wurden die Anwendbarkeit in anderen EU-Ländern und die Übertragbarkeit auf andere Lärmquellen untersucht. Zur Übertragbarkeit auf andere Lärmquellen sowie auf Daten aus Crowdsourcing müssen die Anforderungen und darauf aufbauend die Darstellung an die spezifischen Charakteristika der Werte angepasst werden, wie zum Beispiel die Wiederholungsrate, die Dauer, oder die Häufigkeit von Messungen. Über das Farbschema hinaus ergab die Analyse u. a., dass zur Vermittlung einer wahrnehmungsgetreuen Lärminformation psychoakustische Aspekte der Wahrnehmung integriert werden müssen, denn physikalische Parameter, wie Lden, scheinen dafür nicht auszureichen und kein ausreichendes Bild einer tatsächlich wahrgenommenen Lärmsituation zu liefern. ; Noise is one of the most serious environmental and health risks, a close runner-up to air pollution. Roughly 40 percent of the population in the European Union (EU) are exposed to a noise level of 55 dB, which is at the verge of annoyance. Therefore, the motivation for this research project was the acuteness for noise abatement due to high health risk, on the one hand, and the lack of quality that can be observed in noise maps used for public information on the other hand. These so-called strategic noise maps have to be drawn up every five years according the EU Environmental Noise Directive (END, RL 2002/49/EG). They form the basis for noise assessment and public participation and, therefore, they are a major tool of communication and information. The main map content is sound immission, presented by means of the noise index Lden for road traffic, train noise, airport noise, and industrial noise; each noise source has to be presented in a separate map. Lden is the A-weighted equivalent continuous sound level for all days of a year. It is represented by means of colored isophones, which are areas of equal noise pollution, in 5 dB steps. The colors that have to be used are established in the German regulation about noise mapping, and defined in a German standard. However, this predefined color scheme does not conform to the latest standard in cartographic research and science. Being composed of a sequence from light green, green, dark green, yellow, light brown, orange, red, dark red, purple, light blue, and dark blue it is counterintuitive because a systematic change of lightness and saturation is missing. Also, the colors cannot be matched with the increasing values of the dB-scale. The aim of this research effort, therefore, is to analyze END-conform noise maps and to develop a color scheme for the most important map content, the sound immission. Besides a qualitative, cartographic analysis the author undertook a status analysis of the maps published by the 27 agglomerations, which are legally obliged to draw up noise maps, an analysis of the tasks users carry out in accordance with their aims, and a requirements analysis for noise maps. The requirements are the foundation for the user-centered and iterative color design process to develop a new color scheme for the presentation of noise immission. Looking at the vast number of cartographic research on color-design the development of a color scheme might seem trivial. However, due to color perception and the specific case of application challenges become clear. Noise immission is presented in 5-dB-classes, but the underlying sound pressure is logarithmic. The effect is that higher values contribute more to the energetic mean value and the span between extreme values is big. To support that colors are logically assignable to the characteristics of noise data, higher values have to be highlighted. This is achieved by an increase of saturation for higher values. To facilitate interpretation it makes sense to choose colors that are associative with the presented noise pollution. That was the reason for choosing a color scheme with two color transitions against cartographic custom. In total the color scheme consists of ten colors and three color hues – blue-green, orange, and purple. The color hues symbolize three levels of noise exposure as well as health risk and support recognition. For each hue there are only three to four lightness steps, which supports distinguishability and the matching of colors in the map with colors in the legend. Through avoidance of red and green the scheme's suitability for people with color vision deficiencies was achieved. A systematic change of saturation and lightness supports a visual hierarchy of the presentation. The fourth color is the lightest while lightness decreases at both ends of the scale. Saturation, in contrast, increases for higher values. By means of this "bipolar" scheme areas of interest are highlighted, which are quiet areas as well as highly polluted areas. The scheme is evaluated in four user studies following an iterative design. Thereby results of the studies are considered for the further development of the scheme. Results of the first study show that color schemes have an influence on the interpretation of noise maps. The other studies prove that the colors of the scheme can be distinguished, also by users with color vision deficiencies, and are associative with the level of pollution. Studies also show that contrary colors with a high color or lightness contrast are appropriate to represent a big span between extreme values. This is the argument for the proposed scheme with two hue transitions. The case of application for the development of this new color scheme were German traffic noise maps, therefore the adaptability of results for other EU member states and for other noise sources was evaluated. Results show that there is no effect between place of residence and color association. Consequently, the color scheme can also be used in countries other than Germany. To be used for other noise sources as well as data from crowdsourcing, requirements and presentation styles have to be adapted to the specific data characteristics, such as repetition rate, duration, or the frequency of metering. Beyond insights for the color scheme the analysis revealed that the presentation of physical parameters like Lden is not sufficient to represent noise information that is in line with the individual perception of affected people. Therefore, psychoacoustic aspects have to be integrated to a greater degree.
Hunger ist nach wie vor ein weit verbreitetes Problem. Nach der jüngsten Schätzung der FAO hungern weltweit noch immer über 800 Mio. Menschen. Prognosen gehen davon aus, dass die Agrarproduktion bis 2050 verdoppelt werden muss, um der steigenden Nachfrage nach Agrarprodukten durch Bevölkerungswachstum, Bioenergieproduktion und sich verändernde Ernährungsgewohnheiten zu begegnen. Unter vielen Möglichkeiten, das Welternährungsproblem zu beschreiben, wird in dieser Dissertation das Konzept der Ernährungssicherheit nach der Definition der FAO herangezogen. Ernährungssicherheit umfasst als wichtigste Aspekte die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und den ökonomischen Zugang zu Nahrungsmitteln. Nahrungsmittelverfügbarkeit ist in erster Linie von einer global ausreichenden Produktion abhängig, der Zugang zu Nahrung von der Kaufkraft der Haushalte. Die Kaufkraft wird sowohl durch das Einkommen wie auch die Agrarpreise beeinflusst. Die Nahrungsmittelverfügbarkeit kann vor allem durch Ertragssteigerungen erhöht werden. Sollen die Ertragssteigerungen ressourcenschonend erfolgen, muss die Produktivität der Agrarproduktion bezogen auf alle Produktionsfaktoren inkl. Umweltgütern steigen. Nur durch technische und organisatorische Innovation kann dies realisiert werden. Ertragssteigerungen in Entwicklungsländern erhöhen gleichzeitig die Einkommen von potenziell von Hunger Betroffenen. Eine Begrenzung der Nachfrage nach Agrargütern kann global in erster Linie in den Bereichen Bioenergie und Konsum tierischer Produkte erfolgen. Simulationen können helfen, den Einfluss einzelner Faktoren der globalen Nachfrage und des Angebots nach Agrarrohstoffen und -produkten auf die Welternährungslage genauer abzuschätzen. Ein Großteil der Simulationen in der Literatur kommt mithilfe von partiellen oder allgemeinen Gleichgewichtsmodellen zu Aussagen über gehandelte Mengen und Preise oder Wohlfahrtseffekte. In dieser Arbeit wird ein einfaches partielles Gleichgewichtsmodell für den Weltmarkt für Biotreibstoffe, Fleisch und Getreide entwickelt und mit der Methode der FAO zur Schätzung der Zahl der Hungernden gekoppelt. Dies ermöglicht die Abschätzung des Einflusses verschiedener Szenarien auf die Zahl der Hungernden. Für das Referenzjahr 2011 werden Szenarien alternativer Nachfrage nach Fleisch und Biotreibstoffen simuliert, ebenso wie ein Szenario alternativer landwirtschaftlicher Produktivität in der Europäischen Union. Die Schätzungen ergeben einen signifikanten Einfluss der simulierten Nachfrage- und Angebotsverschiebungen. Im Vergleich mit dem Status Quo führt eine Reduktion des Fleischkonsums in den OECD-Ländern um 50% zu einer Reduktion der Zahl der Hungernden um 5%. Eine ii Flächenproduktivität im Getreideanbau in der EU auf dem Niveau von 1980 steigert die Zahl der Hungernden um mehr als 5%, ein Anstieg der Biotreibstoffquote in der OECD auf 10% erhöht die Zahl der Hungernden gar um 10%. Die Durchsetzung geeigneter politischer Maßnahmen zur Verbesserung der Welternährungslage kann durch eine breite öffentliche Unterstützung beschleunigt oder erst ermöglicht werden. Über die öffentliche Meinung zu Fragen der Welternährung in Deutschland existieren bisher keine expliziten Studien. In den Themenbereichen landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsmittelkonsum stellt das Thema Welternährung nur einen Aspekt dar, der neben Fragen nach z.B. der Lebensmittelsicherheit und Gesundheit sowie den Auswirkungen von Agrarproduktion auf Landschaft und Umwelt steht. Hier werden Ergebnisse einer Online-Befragung zum Thema Welternährung präsentiert, die im März 2012 mit einer repräsentativen Stichprobe 1.200 deutscher Internetnutzer durchgeführt wurde. Die Befragung beinhaltete im Wesentlichen die Bewertung der Wirkung verschiedener potenzieller Ursachen der weltweiten Unterernährung, sowie Maßnahmen und Entwicklungen zu ihrer Lösung. Die Ergebnisse zeigen, dass das Thema Welthunger in erster Linie mit Merkmalen akuter (Hunger-) Krisen in Verbindung gebracht wird. Die vielversprechendsten Lösungsmaßnahmen sind in den Augen der Befragten der Ausbau des Fairen Handels, Absatzmärkte für Kleinbauern sowie ein Lebensmittelspekulationsverbot. Der intensiven Landwirtschaft in der Welt wie auch in Europa sowie insbesondere der Grünen Gentechnik wird kein Potenzial zur Lösung des Problems zugesprochen. Die Antwortmuster lassen auf die Präsenz eines Halo-Effekts mit einer Übertragung unterstellter negativer Umweltwirkungen auf das Thema Welternährung schließen. Die Grüne Gentechnik ist eine Agrartechnologie, die potenziell zur Angebotsausweitung von Agrarprodukten genauso beitragen kann wie zu einer ressourcenschonenderen Landwirtschaft. Bisherige Anwendungen, hauptsächlich Herbizidtoleranz sowie Insektenresistenz, haben u.a. zu einer Steigerung der effektiven Erträge, einer Einsparung von Insektiziden und einer Steigerung der Profite vor allem im Baumwollanbau beigetragen. Trotz zahlreicher Belege besteht über die Auswirkungen von gentechnisch veränderten (GV) Nutzpflanzen eine anhaltende Kontroverse. Ein Großteil der europäischen Bevölkerung lehnt den Anbau ebenso ab wie einen Verzehr von Produkten aus GV-Pflanzen. Unterstellte sozio-ökonomische Auswirkungen oder Auswirkungen auf die Welternährung sind nur zwei Determinanten von vielen, die zu den Einstellungen zur Grünen Gentechnik beitragen. Zur Konsolidierung des Wissens im Bereich agronomischer sowie sozio-ökonomischer Auswirkungen von GV-Pflanzen wurde eine Meta-Analyse durchgeführt. In wissenschaftlichen Datenbanken wurden iii 147 Primärstudien identifiziert, die für die Meta-Analyse verwendet wurden. Die Analyse beschränkt sich auf gentechnisch veränderte Sojabohnen, Mais und Baumwolle. Als mittlere Effekte des Anbaus von GV-Pflanzen ergibt die Meta-Analyse eine Steigerung des Ertrages um 22%, eine Reduktion der Menge der angewendeten Pflanzenschutzmittel um 37% und eine Steigerung der Profite der Bauern um 68%. Die Höhe der Effekte hängt stark von verschiedenen Faktoren ab. Die Effekte sind für alle drei genannten Variablen in Entwicklungsländern betragsmäßig größer als in Industrieländern. Auch sind die Effekte des Anbaus von GV-Pflanzen bei Erträgen und beim Pflanzenschutzmitteleinsatz betragsmäßig höher für insektenresistente Pflanzen als bei solchen mit Herbizidtoleranz. Aus den in der Arbeit gewonnenen Erkenntnissen kann geschlussfolgert werden, dass sowohl das Nahrungsmittelangebot gesteigert als auch die Nachfrage begrenzt werden sollte. Dies verlangt eine standortangepasste Ausnutzung vorhandener und die Entwicklung neuer Technologien. Auch die Gentechnik kann einen Beitrag leisten. Der Kleinbauernsektor muss vordringlich gefördert werden. Zur Begrenzung der Nachfrage können neben der Politik, welche vor allem die Biotreibstoffnachfrage beeinflussen kann, auch Konsumenten durch Verzicht auf tierische Produkte beitragen. Dies wie auch die Durchführung effektiver politischer Maßnahmen sind auf eine unverzerrte Sichtweise der Öffentlichkeit auf das Thema Welternährung angewiesen. Dazu muss das Thema in Wissenschaftskommunikation und Bildung stärker thematisiert werden. ; Hunger is still a widespread problem. According to newest estimates of the FAO, more than 800 million people are not able to fulfil their basic dietary needs. Projections estimate that the global agricultural production will have to be doubled by 2050 to meet the growing demand driven by population growth, bioenergy, and changing dietary habits. Among many possible ways to describe the world hunger problem we choose the concept of food security according to the FAO. Food security is comprised of four pillars, the two first of which are food availability and the economic access to food. Food availability is mainly dependent on a sufficient global agricultural production; the access to food depends on the purchasing power of the households. The main determinants of purchasing power, in turn, are the household income as well as agricultural prices. Food availability can mainly be increased through an increase in agricultural yields. In order for the yield increases to be resource conserving, the productivity of all production factors including environmental resources must be enhanced. This can only be achieved through technical and organizational innovation. Yield gains in developing countries simultaneously increase the incomes of small scale farmers who are potentially in danger of undernutrition. A limitation to global demand for agricultural commodities can foremost be achieved in the domain of bioenergy and animal products. Simulations are a valid tool to assess the influence of certain factors of global demand and supply of agricultural commodities. In large parts, simulations use computer generated total or partial equilibrium models to assess shifts in quantities traded, prices, or welfare. In this dissertation, we develop a simple partial equilibrium model for the world market for biofuels, meat, and grains. This model is then connected to the FAO method for the estimation of the prevalence of undernutrition. This enables us to estimate the impact of different scenarios on the number of undernourished people in the world. For the year 2011, several scenarios with an alternative demand for meat or biofuels are simulated as well as one scenario with an alternative agricultural productivity in the European Union. The estimations show a significant effect of the simulated shifts in demand and supply. In comparison with the status quo, an OECD-wide reduction in meat consumption leads to a reduction in the number of undernourished people by 5%. A simulated land productivity in grain production in the EU at the level of 1980 leads to an increase in the number of undernourished people by 10%. In order for appropriate policies concerning the world food situation to be put in place, wide public support will be necessary. So far there exists no evidence about the public opinion concerning the problem of world hunger. In the areas of agriculture and food consumption, the issue of world food v security is only one side aspect within an array of issues as food safety and health, as well as the impacts of agriculture on landscapes and the environment. In this dissertation we present the results of an online survey concerning the issue of world hunger. The survey was carried out with a representative sample of 1,200 German internet users in March 2012. In the main parts of the survey, respondents were asked to rate different potential causes and remedies of the world hunger problem. The results show that the world hunger is mainly associated with attributes of famines and acute crises. In the view of the respondents, the most promising remedies to world hunger are an increase of Fair Trade, the creation of market outlets for smallholder farmers in developing countries, and the interdiction of speculation on agricultural commodities. Intensive agriculture in the world and also in Europe is not rated having any potential to improve world food security; the same holds true for GM (Genetically Modified) crops. The patterns of the responses suggest that there might be a halo effect whereby assumed negative consequences of intensive agriculture and genetic engineering are transmitted to the evaluation with respect to the issue of world hunger. Genetic engineering in agriculture is a technology that can potentially help increase agricultural production and also have resource-conserving effects. Current applications, mainly insect resistance and herbicide tolerance have, among others, led to an increase in effective yields, a reduction in the application of insecticides, and an increase in farmers' profits. Despite evidence from numerous studies there is still a high level of controversy regarding the impacts of GM crops. Large parts of the European public oppose both the cultivation of GM crops and consumption of GM food. Assumed socio-economic impacts or impacts on food security are only two minor aspects of many determinants of the attitude towards this technology. To consolidate the evidence on agronomic and economic impacts for farmers, we conducted a meta-analysis. Through keyword search in scientific databases, 147 studies were identified and used in the analysis. The meta-study is limited to results on the most widespread GM crops worldwide: soybeans, maize, and cotton. We estimate mean effect sizes of GM crop cultivation which are an increase in yield by 22%, a reduction in pesticide quantity by 37% on average, and an increase in farmer profits by 68%. The magnitude of the effects is determined by various factors. For all three variables named above, the impact of GM crop cultivation is larger in developing than in developed countries. Yield effects as well as impacts of GM crops on pesticide quantity are relatively larger for insect resistant crops than for herbicide tolerant crops.
Gegenstand der Studie Es wird der Prozeß der regionalen Industrialisierung am Beispiel des Hagener Raumes unter Verwendung des theoretischen Modells des industriellen Distrikts analysiert. Es wurde bewußt ein kleiner Untersuchungsraum gewählt, um den Vorgang der Industrialisierung aller dafür wichtigen Branchen zu erfassen.
Die Forschung zur Industrialisierung Nordwest-Deutschlands konzentriert sich auf das Ruhrgebiet, welches sich innerhalb eines knappen Jahrhunderts von einer ländlichen Region zu einem bedeutenden Industriestandort entwickelte. Die Regionen südlich des Ruhrgebietes werden oft nur am Rande betrachtet. Die Regionen um Hagen, der Grafschaft Mark und des Bergischen Landes durchliefen eine langsame Entwicklung von einer durch Klein- und Mittelbetriebe geprägten, gewerblich aktiven und für den Fernhandel bedeutsamen Region zu einer Industrieregion. Obwohl diese Regionen als Keimzelle der Industrialisierung im nordwestdeutschen Raum anzusehen sind, erfuhren sie eine im Laufe der Zeit abnehmende Bedeutung für die Gesamtwirtschaft und sind somit im Vergleich zum Ruhrgebiet in Vergessenheit geraten. Somit bekommt die Industriegesellschaft in der Darstellung vieler Historiker ein Bild, das von Großbetrieben und Massenproduktion geprägt ist. Ausgelöst durch den strukturellen Wandel in der Wirtschaft erfahren seit einigen Jahrzenten gerade die durch die Montanindustrie geprägten Regionen einen Bedeutungsverlust. Industrieregionen, die anders strukturiert sind als das Ruhrgebiet und die nicht derart radikale Brüche erleiden mussten, scheinen sich nach anderen Mustern zu entwickeln. Gerade Regionen, die alte Wurzeln und eine kleinbetrieblich strukturierte, relativ flexible Produktionsorganisation besitzen, verfügen über ungleich mehr Potential für die Zukunft als das Ruhrgebiet. Die vorliegende Studie soll zum Verständnis des Vorgangs der Industrialisierung beitragen. Der spezielle Weg einer kleinen Region soll anhand detaillierter Beschreibungen der einzelnen Branchen unter Verwendung von Quellenmaterialien nachgezeichnet werden. Eine Vergleichbare Studie zur regionalen Industrialisierung ist die Dissertation von R. Banken über die Industrialisierung der Saarregion (im GESIS-Datenarchiv unter der Studiennummer ZA8148 archiviert und über das Portal histat der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht). Neben der Beschreibung der wirtschaftlichen Veränderungen soll die spezifische Entwicklung des Hagener Raumes systematisiert werden. Hierbei bezieht der Autor das Konzept des 'industriellen Distrikts' ein, das speziell weiche Faktoren hervorhebt. Dieser von A. Marshall 1920 erstmals verwendete Begriff (in: The Principles of Economics, 1922) wurde im Rahmen der folgenden Wirtschaftsforschung zu einem Konzept der flexiblen Spezialisierung regionaler Ökonomien vor allem von Piore und Sabel (1985 in: Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft.) weiterentwickelt. Der ökonomische Erfolg in der Bewältigung des strukturellen Wandels ist laut dieser Theorie aufgrund der im historischen, sozialen und regionalpolitischen Prozess ausgebildeten räumlichen Verhältnisse von Städten und Regionen selbst beeinflußbar. Hierbei sind vor allem kleinere und mittlere, spezialisierte und untereinander gut vernetzte Unternehmen einer Region die treibende Kraft für den wirtschaftlichen Erfolg. Der Autor Andreas Berger versucht, "dieses Konzept für wirtschaftsgeschichtliche Arbeiten zum 19. Jahrhundert zu nutzen und auf eine Basis zur Vergleichbarkeit eines speziellen Typs von Regionen zu verweisen. So kann diese Studie zur regionalen Industrialisierung in größere … Zusammenhänge eingebunden werden" (S. 22). Charakteristisch für die in der Untersuchung einbezogenen Regionen ist ein langer, kontinuierlicher Prozess der Industrialisierung. Plötzlichen wirtschaftlichen Umwälzungen und Brüche haben weniger stattgefunden. Da sich die Entwicklung des Untersuchungsraumes Hagen und Bergisches Land von der Entwicklung der benachbarten Regionen des Ruhrgebietes und des Sauerlandes deutlich unterscheidet, stellt sich der Autor die Frage, ob das theoretische Modell von Pionier-Staaten und Nachfolger-Staate im Prozess der Industrialisierung überhaupt zutreffend ist.
Das Unternehmen wird als die primär zu untersuchende Einheit angesehen. Neben privat produzierenden Einzelwirtschaften stehen auch die öffentlichen produzierenden Einzelwirtschaften sowie die öffentlichen und privaten Haushalte als konsumierende Einheiten im Fokus des Interesses. Bis in das 20. Jh. lassen sich Haushalt und Unternehmen bei kleinen und mittleren Unternehmen kaum eindeutig trennen, da sie oft unter einem Dach verbunden waren. Der Autor bezieht sich im Verlauf seiner Arbeit auf die neue Institutionenökonomik, indem er an einigen Stellen Transaktionskosten zur Erklärung bestimmter Verhaltensweisen und bestimmter Organisationsformen heranzieht. Gerade die mikroanalytische Ausrichtung der Transaktionskostenökonomik sowie die Sichtweise des Unternehmens als Beherrschungssystem kommen der Untersuchung einzelner Unternehmen und einer Region sehr entgegen. (S. 68 f) Darüber hinaus müssen auch andere Faktoren wie die technischen Veränderungen, für die erste Hälfte des 19. Jh. die Transportkosten und die verwendete Produktionstechnik einbezogen werden.
Zeit und Ort der Untersuchung: Eindeutige zeitliche Abgrenzungskriterien können für den Untersuchungsraum ebenso wenig genannt werden wie für Deutschland insgesamt. Für den Untersuchungsraum stellt Berger fest: "So zeigte sich in der Textil- und Papierherstellung schon ab den 1830er Jahren ein beginnender Ausbau zur Industrie, in der Stahlproduktion und der Eisen- und Stahlwarenherstellung teilweise aber erst im Lauf der 1850er Jahre. Das Ende der Aufbruchphase begann mit der Gründerkrise. Darüber besteht in der Forschung breiter Konsens. Die Phase ab der Gründerkrise bis zum Ersten Weltkrieg wird allgemein als Hochindustrialisierung bezeichnet, in der weiterhin ein dynamisches Wachstum, das allerdings in der Zeit bis 1895 deutlich schwächer als in der vorherigen und der nachfolgenden Phase verlief, stattfand" (S. 26 f) Berger setzt den Beginn der Untersuchungsperiode mit dem Jahr 1815 fest, da sich ab diesem Zeitpunkt in der staatlichen und kommunalen Verwaltung eine Kontinuität durchgesetzt hat, die sich auf die Qualität der Quellen niederschlägt. Der 1. Weltkrieg wird als End-Zeitpunkt des Untersuchungszeitraumes gesetzt, da sich die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Entwicklung – unter anderem auch durch die Umstellung auf die Kriegswirtschaft – radikal verändert haben.
Seit den 1960er Jahren finden regionale Aspekte in der deutschen Wirtschaftsgeschichte vermehrt Beachtung. Die Region bildet die wesentliche operative territoriale Einheit für die Industrialisierung und weniger der Nationalstaat. Damit ist die genauere Analyse von Regionen als Träger der Industrialisierung von Bedeutung, wobei eine genauere Definition des Begriffs Region erforderlich wird. Die Bandbreite der Abgrenzungsversuche in der Forschung kann durch zwei Standpunkte gut abgegrenzt werden: Auf der einen Seite ist der Ansatz von Kiesewetter zu nennen, der mit seiner Größendefinition in Quadratkilometern und der Forderung, daß das Gebiet sich wirtschaftlich selbst versorgen können muß, deutsche Provinzen und deutsche Einzelstaaten (z.B. das heutige Nordrhein-Westfalen) als Region betrachtet. Auf der anderen Seite ist die Forderung von Banken oder Fremdling et al. zu nennen, als Region ein möglichst kleines Gebiet zu wählen, welches unter wirtschaftlichen oder sozialen Kriterien möglichst homogen sein sollte, und in seiner Beziehung zu anderen Gebieten untersucht werden muß, da es in seiner Entwicklung nicht unabhängig von seiner Umgebung ist. (S. 31 f.) Darüber hinaus ist die interne Faktorausstattung ein kennzeichnendes Merkmal, die zwischen den Regionen extrem unterschiedlich sein kann (z.B. ob Bodenschätze wie Kohle und Erze vorliegen). Je mobiler aber die Faktoren werden (z.B. durch Transportkostenreduktion oder Migration), umso entscheidender werden Erklärungsmodelle, die von einer Interaktion zwischen Regionen ausgehen. Dabei wird die Bedeutung desjenigen Teils der regionalen Wirtschaft hervorgehoben, der nicht für den lokalen Markt produziert. "Seit den 70er Jahren wurden zunehmend außerökonomische oder schlecht messbare Faktoren wie die Existenz von Netzwerken, die sich nicht nur auf die dadurch mögliche Senkung von Kosten, sondern auch auf Traditionen oder gemeinsame Werte und Ideologien gründen, als (sogenannte weiche) Faktoren für ein regionales Wachstum betrachtet. (S. 34)
Berger wählt einen Untersuchungsraum, der ungefähr identisch ist mit der Stadt Hagen in den Grenzen von 1929. Es handelt sich hierbei mit seiner Größe von 150 Quadratkilometern um ein kleinräumiges Gebiet, welches an der unteren Grenze dessen liegt, was noch als Region bezeichnet werden kann. Die Wahl eines so kleinen Untersuchungsgebietes war für den Autor aus zwei Gründen notwendig: Zum einen liegt gerade im bergisch-märkischen Raum eine sehr kleinräumig gegliederte Wirtschaftsstruktur vor, so dass die Wahl eines kleinen Untersuchungsraums geboten scheint, um nicht zu viele unterschiedliche Entwicklungen einschließen zu müssen. Zum anderen ist es nur in einem so kleinen Maßstab möglich, die einzelnen Prozesse, die zusammen die Industrialisierung ausmachen und sowohl parallel wie auch zeitlich und räumlich versetzt verliefen, hinreichend genau zu erfassen als "operative territoriale Einheit" im Industrialisierungsprozess.
Quellenproblematik: Das Konzept der Arbeit besteht darin, aus den jeweiligen Geschichten der einzelnen Unternehmen eine Geschichte der verschiedenen Branchen zu entwickeln und letztlich die Wirtschaftsgeschichte des Untersuchungsraums zu erklären. Dabei müssen zusätzlich andere Bereiche wie die Infrastruktur, die Konjunktur oder die politische Geschichte betrachtet werden. Darüber hinaus besitzen die einzelnen Unternehmensgeschichten eine Doppelfunktion: Das Wachstum einer Branche kann als addiertes Wachstum der einzelnen Unternehmen aufgefasst werden. Zum anderen können besonders gut dokumentierte Unternehmensgeschichten als Beispiele für die Entwicklung einer Branche betrachtet werden. Darüber hinaus ermöglicht der Blick auf eine größere Anzahl von Unternehmensgeschichten das Erkennen von Mustern in der Entwicklung. Der Autor greift in seiner Studie zunächst auf zusammenfassende Darstellungen der Firmen- und Wirtschaftsgeschichte zurück, so wie sie durch die Veröffentlichungen von Ernst Voye vorliegen. Problematisch ist die Tatsache, dass durch den 2. Weltkrieg das Kammerarchiv der IHK in Hagen zerstört wurde und somit wichtige Quellen vernichtet wurden. Neben den Monographien, die von der IHK in Hagen herausgegeben wurden, bildet auch die Monatsschrift der SIHK 'Südwestfälische Wirtschaft' eine Quelle für unternehmensgeschichtliches Material. In beschränktem Umfang und nach Überprüfung der Fakten werden auch Firmenfestschriften berücksichtigt. Das von der Handelskammer und den Unternehmen veröffentliche Material wurde durch andere Quellen überprüft und ergänzt. Lokal- und regionalgeschichtliche Veröffentlichungen sowie überregionale wissenschaftliche Literatur bieten hierbei eine weitere Informationsquelle. Weiterhin wurden Archivalien und auch zeitgenössische Zeitungen ausgewertet. Die Archivalien lassen sich grob in drei Gruppen einteilen: Unternehmensarchive; staatliches und kommunales Schriftgut; Akten der Handelskammer Hagen. Auch der Schriftverkehr der Unternehmen mit anderen Firmen bietet Informationen zu Bestellungen, Lieferungen und Beziehungen der Unternehmen untereinander, wobei aufgrund der großen Materialfülle nur eine Stichprobe der Briefe ausgewertet werden konnte. Die Briefe der Märkischen Maschinenbau-Anstalt führten zu Erkenntnissen über die Ausstattungen der Firmen im Untersuchungsraum. Aufträge, Bestellungen und Rechnungen geben gerade für die frühe Zeit Aufschluss über die Ausstattung der Unternehmen und die speziellen Umstände der Anschaffung. Amtliche Statistiken sind meist erst ab Ämterebene greifbar, so dass die aggregierten Daten nicht oder nur in speziellen Fällen auf die einzelnen Unternehmen bezogen werden können. Wichtige Zahlen über die Produktion der einzelnen Unternehmen sind ab dem 1870er Jahren durch das Oberbergamt Dortmund für die Eisen und Stahl erzeugenden Unternehmen erhoben worden. Die Auswertung der Akten der Handelskammer Hagen war aufgrund der Zerstörung im 2. WK unbefriedigend. Weiterhin wurde auch auf allgemeine statistische Quellen der Ämter zurückgreifen, die den gesamten Zeitraum in wechselnder Dichte abdecken. Neben dem Oberbergamt in Dortmund und den Statistiken auf Ämterebene sind hier auch die Gewerbezählungen zu nennen. Teilweise konnten deren Vorarbeiten auf lokaler Ebene als gedruckte Tabellen beschafft werden.
Schlussfolgerung des Primärforschers und Autors: "Der Untersuchungsraum Hagen kann schon 1815 als eine gewerblich verdichtete Region gelten. Dabei ist es nicht unangebracht, von einer protoindustriellen Region zu sprechen, weil es sich bei dem vorherrschenden Gewerbe um hoch spezialisierte Stahlerzeugung, Eisen- und Stahlwarenindustrie und Textilindustrie, die schon zentralisierte Produktionsstätten ausgebildet hatte, handelte. Diese Fertigungszweige wurden nicht im Nebengewerbe betrieben und weisen nicht die für Protoindustrien typischen Merkmale … auf. … (Es) gab in der Textilindustrie … ein Verlagssystem. Als Verleger fungierten die beiden großen Hagener Textilunternehmen, die jeweils eine zentralisierte Produktionsstätte in der Stadt Hagen unterhielten und einige Produktionsstufen … auslagerten (= Heimarbeit). … Die Produkte wurden über zwei unterschiedliche Systeme (auf dem Markt) abgesetzt. Auf der einen Seite vertrieben Wanderhändler … einen Teil der Waren. … Auf der anderen Seite wurden die Waren über Kommissionshäuser im Untersuchungsraum und der näheren Region vertrieben. … Diese waren schon im 18. Jahrhundert in der Lage, die in der Grafschaft Mark hergestellten Waren über verschiedene Absatzwege und Zwischenhändler weltweit zu vertreiben. … Daneben wurden Lieferverbindungen in der Region immer wichtiger, indem Halbfertigwaren und ab den 1860er Jahren zunehmend auch Spezialmaschinen für die Bedürfnisse der Fertigwarenindustrie des Untersuchungsraums hergestellt wurden. … Die Darstellung der einzelnen Brachen … ermöglicht … einen leichten Zugriff auf die Wirtschaftsentwicklung des Untersuchungsraums in der Industrialisierung … . Fünf Branchen … waren besonders wichtig für die Industrialisierung: die Textilindustrie, die Papierherstellung, die Stahlerzeugung, die Eisen- und Stahlverarbeitung in den unterschiedlichen Ausprägungen und die Elektroindustrie. … Gerade die Hagener Textilindustrie muss als eines der Unternehmen gesehen werden, das für die Industrialisierung der Stadt Hagen bis zum Ersten Weltkrieg extrem wichtige Impulse lieferte. Nicht nur die schon in den 1840er Jahren hohe Zahl der Beschäftigten, sondern besonders die Nachfrageimpulse nach Investitionsgütern waren von enormer Bedeutung für die nähere Region. Ebenso wichtige Impulse gingen von den Vorsterschen Papiermühlen … aus, die etwa gleichzeitig mit der Textilindustrie mechanisiert wurden. Außerhalb der Stadt Hagen waren jedoch die Stahlerzeugung und –verarbeitung wesentlich wichtiger für die Wirtschaftsentwicklung. Diese Gruppen von Branchen bildeten das Produktionscluster, dem in der Industrialisierung der Region … die größte Bedeutung zukam. … Die sogenannte zweite industrielle Revolution wurde in Hagen nicht von der chemischen Industrie, sondern von der Elektroindustrie getragen. … Die Industrialisierung Hagens nahm einen völlig anderen Weg als die des benachbarten Ruhrgebiets … . Aus einer langen gewerblichen Tradition wuchs eine klein- und mittelbetrieblich strukturierte Industrielandschaft heran, in die einige größere Unternehmen eingebunden waren. Prägend waren dabei besonders die bedeutenden Kommissionshäuser … . Dabei kam es nicht zu ausgeprägten Brüchen. Der Übergang von der vorindustriellen Fertigung zur Industrialisierung verlief weitgehend fließend. … Aus dem hohen Humankapital und den engen Beziehungen innerhalb der Region resultierte eine große Innovationskraft einzelner Unternehmen und somit der Region insgesamt. … (Es) konnte gezeigt werden, dass die Wirtschaft der Region eine funktionale Einheit bildete, die aus traditionellen Strukturen gewachsen war. … Hagen blieb ein Standort, an dem von oft hoch qualifizierten Arbeitern in kleinen und mittleren Betrieben, mit einem hohen Anteil an Handarbeit, kleine Serien oder Spezialanfertigungen produziert wurden. … Diese Untersuchung hat den Blick auf einen anderen, oft übersehenen Weg der Industrialisierung einer traditionellen Gewerberegion eröffnet. Dabei ist … über die Beschreibung der ganzen regionalen Wirtschaft die Entwicklung einer kleinen Region beschrieben worden. Dies … soll dazu dienen, … die Entstehung des Industriezeitalters, …, in ihrer … Vielfalt zu verstehen." (Berger 2009: S. 473 ff.)
Der Datenteil der Studie gliedert sich in die folgenden Bereiche auf:
A. Die einzelnen Branchen 1 Textilindustrie 2 Brauerei 3 Eisen- und Stahlindustrie
B. Fallbeispiele einzelner Maschinenfabriken 1 Proll & Lohmann 2 AFA AG
C. Der Handelskammerbezirk Hagen Der Handel in der Stadt Hagen; Produktionsmengen in Tonnen und Wert in Talern der Metalle und Metallwaren; Beschäftigte Arbeiter in der metallherstellenden und –verarbeitenden Industrie; Konkurse und Eintragungen in das Handelsregister im Handelskammerbezirk.
D. Gütertransport
E. Beschäftigte
F. Mitgliedsunternehmen in Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden
Eine ausführliche Auflistung der einzelnen Datentabellen zu den einzelnen Gliederungspunkten findet sich in den Studiendetails unter 'Sachliche Untergliederung der Datentabellen'.
Inhaltsangabe: Einleitung: Europas Wirtschaft wächst zusammen und mit ihr der Zahlungsverkehr zu einem einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrsraum, kurz SEPA (Single Euro Payments Area) genannt. Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank, beschreibt das Projekt wie folgt: '…, the SEPA project is - in ambition and size - comparable with the changeover to the euro banknotes and coins, although the logistics are quite different. SEPA could be seen as an important historical step in the unification of Europe after the introduction of the euro banknotes and coins'. Seit dem 28. Januar 2008 bieten Kreditinstitute ihren Kunden ein neues Zahlungsverkehrsinstrument, die SEPA-Überweisung, an. SEPA-Kartenzah-lungen und ein europaweit einsetzbares Lastschriftverfahren folgen als weitere Schritte. Was über mehrere Jahre durch Vertreter der Finanzbranche vorbereitet wurde, ist inzwischen der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Ende Januar 2008 verkündete die Presse offiziell die Neuerungen, die die EU-Gremien und Fachkreise der Banken seit dem Jahrtausendwechsel zur Schaffung eines gemeinschaftlichen Standards im elektronischen Zahlungsverkehr diskutiert und beschlossen haben. Bis dahin waren kontinuierliche Informationen zur Thematik eher dem Fachpublikum vorbehalten als der Gesamtbevölkerung bestimmt. Neben den Banken und Unternehmen ergeben sich aus dem Projekt heraus auch für die Konsumenten Rationalisierungsmöglichkeiten. Verbraucher benötigen für ihre Zahlungen innerhalb Europas nur noch ein Bankkonto. Darüber hinaus sparen sie Zeit durch eine erleichterte Abwicklung und kürzere Ausführungsfristen der Transaktionen. Die Händler profitieren vor allem im Bereich der Kartenzahlungen durch steigende Wettbewerbsfähigkeit und sinkende Gebühren aufgrund standardisierter technischer Neugestaltungen. Für Unternehmen sollen über Zeit- und Kostenvorteile hinaus zusätzliche Services zur Optimierung der Zahlungen und bei der Rechnungsbearbeitung folgen. Um Zeit- und Kostenvorteile überhaupt generieren zu können, müssen sich die Unternehmen intensiv mit den anstehenden gesetzlichen bzw. regulatorischen Veränderungen auseinandersetzen und diesbezüglich ihre Strukturen und Arbeitsabläufe untersuchen. Während die bislang umgesetzte Neuerung für die SEPA-Überweisung aufgrund der Ähnlichkeit zur bestehenden EU-Standardüberweisung nicht als der entscheidendste Projektschritt anzusehen ist, sind es vor allem die Vertreter der Versicherungswirtschaft, die sich auf die bevorstehende Neueinführung der SEPA-Lastschrift vorbereiten. Als wichtigster Inkassoweg für deutsche Versicherungsunternehmen stellt das Lastschriftverfahren im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr eine echte Neuheit dar, denn bisher sind Lastschriften über die Ländergrenzen hinaus nicht möglich gewesen. Damit hält die Internationalisierung des Zahlungsverkehrs Einzug in die Versicherungsbranche. Der Aufwand, die heute genutzte Einzugsermächtigung auf so genannte SEPA-Mandate umzustellen, wird nach Untersuchung des GDV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.) Kosten von 4,8 Mrd. Euro verursachen. Folglich kommt dem Projekt SEPA neben Themen wie zum Beispiel die Reform des VVG (Versicherungsvertragsgesetz), VAG (Versicherungsaufsichtsgesetz), IFRS 4 (International Financial Reporting Standard 4) oder Solvency II eine besondere Bedeutung zu. Im Hinblick auf die Vielzahl der unterschiedlichen Anforderungen zur Erreichung der allgemeinen Geschäftsziele, wie Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum, Effektivität und Effizienz, liegt 'der Schlüssel zur kontrollierten Veränderung in der Unternehmensorganisation und in der Beherrschung der Prozesse'. Um dem unaufhaltsamen Trend nach Schnelligkeit, Flexibilität und Automatisierung in der Versicherungsbranche gewachsen zu sein, wagen inzwischen die Versicherer einen Blick in Richtung Industrie und sind bereit, von den dort gesammelten Erfahrungen zu lernen. Häufig sind die Finanzprozesse der Versicherungsunternehmen von zahlreichen Medienbrüchen durch eine fehlende Prozessintegration geprägt. Die bisherige Annahme, dass Investitionen in die Informatik zwangsläufig zu signifikanten Kosteneinsparungen führen würden, hat sich nicht bewahrheitet. Diese Auffassung teilt auch der hier untersuchte Lebensversicherer und sieht für einen sinnvollen Mitteleinsatz bei IT-Investitionen die Notwendigkeit, Prozessbetrachtungen stärker in die Überlegungen einzubeziehen. Seit einiger Zeit gibt es ein Umdenken im Unternehmen, statt in Systemen soll verstärkt in Prozessen gedacht werden. Die ersten Aktivitäten konzentrierten sich vorwiegend auf den Antragsprozess für die Umsetzung zur VVG- Reform. Schrittweise sollen die weiteren Marktprozesse und Partnerprozesse im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Durch das Projekt SEPA müssen allerdings auch die Bestandsführungsprozesse, speziell die Buchhaltungsprozesse für die Kontoauszugsverarbeitung, das Beitragsinkasso und Leistungsexkasso analysiert werden. In einer Voranalyse zur Auswirkung des SEPA auf das Versicherungsunternehmen ist bereits festgestellt worden, dass hauptsächlich die aufgeführten Zahlungsverkehrsprozesse von den Neuerungen betroffen sind. Neben der Einbindung der regulatorischen Anforderungen bietet das Projekt gleichzeitig die Chance zur Optimierung der bestehenden Abläufe. Basierend auf einer Untersuchung der aktuellen Bearbeitungsschritte des Beitragsinkassos und Leistungsexkassos kann daraus abgeleitet ein neugestalteter, effizienterer und SEPA-fähiger Zahlungsverkehrsprozess entwickelt werden. Gang der Untersuchung: Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Auseinandersetzung mit den Neuerungen, die ein einheitlicher europäischer Zahlungsverkehrsraum für die operativen Prozesse eines Lebensversicherungsunternehmens mit sich bringt. Neben den Überlegungen für die Einbindung der neuen Anforderungen soll durch das Projekt SEPA gleichzeitig die Chance zur Optimierung der bestehenden Abläufe hinsichtlich der Faktoren Zeit, Kosten und Qualität genutzt werden. Ziel ist, basierend auf einer Analyse der aktuellen Bearbeitungsschritte bei der Zahlungsverkehrsabwicklung, Vorschläge für einen effizienteren und SEPA-fähigen Zahlungsverkehrsprozess zu entwickeln. Dabei liegt das Augenmerk nicht auf der Ausarbeitung eines Konzeptes zur technischen Umsetzung. Nach der Einleitung werden im 2. Kapitel der Arbeit die theoretischen Grundlagen dargelegt. Ausgangspunkt der Erläuterungen bilden die Informationen zur Historie des SEPA-Gedankens und die damit verbundenen allgemeingültigen Neuheiten. Anschließend werden die wesentlichen Besonderheiten der Zahlungsinstrumente für die SEPA-Überweisung und SEPA-Lastschrift beschrieben, die bei einer Implementierung in die Prozesse und Systeme des untersuchten Lebensversicherungsunternehmens zu beachten sind. Doch bevor neue Anforderungen umgesetzt werden, sollten die bestehenden Abläufe analysiert werden. Dazu bedarf es eines strukturierten Vorgehens. Basierend auf dem Prozessbegriff sind im Kapitel 3 die notwendigen Methoden aufgeführt, die beispielsweise bei der Aufstellung einer Prozesskette sowie der darauf aufbauenden Analyse und Entwicklung von Optimierungsansätzen Unterstützung bieten. Während das Kapitel 4 das Beispielunternehmen vorstellt, beinhaltet Kapitel 5 das Kernstück der Arbeit. Im Rahmen der Situationsanalyse werden die SEPA-relevanten Prozesse identifiziert und als Prozessketten visualisiert. Innerhalb der Zahlungsverkehrsprozesse ist die Begleichung der eigenen Rechnungen nicht Gegen-stand der Untersuchung, da sich das Unternehmen hierbei eines konzerneinheitlichen Systems bedient, auf dessen SEPA-Aktivitäten der betrachtete Versicherer keinen Einfluss hat. Mit Hilfe der zusammengetragenen Ist-Daten bezüglich der Arbeitsabläufe und den daraus resultierenden Tätigkeitszeiten sowie Kosten können zur Vorbereitung auf die anstehenden zukünftigen Herausforderungen des SEPA Vorschläge zur Neugestaltung der bestehenden Zahlungsverkehrsprozesse unterbreitet werden. Im Kapitel 6 sind die Maßnahmen des betrachteten Lebensversicherungsunternehmens dargestellt, die erforderlich gewesen sind, um zumindest die passive SEPA-Fähigkeit für eingehende Überweisungen sicherzustellen. Darüber hinaus werden weitere Hinweise gegeben, die auf dem Weg zu einer aktiven SEPA-Fähigkeit für Überweisungen an Kunden und Dritte sowie bei der Umstellung auf die SEPA-Lastschrift zu beachten sind. Als Ergebnis sind die optimierten und SEPA-fähigen Zahlungsverkehrsprozessketten festgehalten. Ferner können die Ausführungen des Kapitels für Unternehmen, die sich bislang noch nicht mit der SEPA-Thematik beschäftigt haben, eine Hilfestellung für die Umsetzung bieten. Den Abschluss der Arbeit bilden die Kapitel 7 und 8, in denen die Verfasser einen Ausblick auf die Folgeaktivitäten geben und die wesentlichen Ergebnisse zusammenfassen.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: AbkürzungsverzeichnisV AbbildungsverzeichnisVI TabellenverzeichnisIX 1.Einführung1 1.1Relevanz der Thematik1 1.2Ziele der Arbeit und Vorgehensweise4 2.Single Euro Payments Area6 2.1Historie des SEPA-Gedankens6 2.2Grundlegende Neuerungen9 2.2.1IBAN und BIC9 2.2.2Technische Auswirkungen12 2.3Besonderheiten der SEPA-Überweisung16 2.3.1Rechtliche Grundlagen16 2.3.2Charakteristika17 2.4Die SEPA-Lastschrift als spezielle Herausforderung22 2.4.1Schaffung einer europaweiten Rechtsgrundlage22 2.4.2Das Lastschriftmandat24 2.4.2.1Ablösung der deutschen Einzugsermächtigung24 2.4.2.2Wesentliche Merkmale der Mandatsverwaltung25 2.4.2.3Umgang mit den bestehenden Einzugsermächtigungen28 2.4.3Abwicklung der SEPA-Lastschrift31 2.4.4Rückgabe der Lastschrift und Widerspruchsmöglichkeit des Zahlungspflichtigen35 3.Prozesse37 3.1Der Prozessbegriff37 3.1.1Definitionsfindung37 3.1.2Strukturierung der Prozesse40 3.1.3Prozessmodellierung mittels Ereignisgesteuerter Prozessketten42 3.2Die Prozessanalyse45 3.3Möglichkeiten der Prozessoptimierung48 3.3.1Aspekte zur Prozessverbesserung48 3.3.1.1Das 'Magische Dreieck'48 3.3.1.2Qualität50 3.3.1.3Zeit52 3.3.1.4Kosten55 3.3.2Prinzipien der Prozessgestaltung58 4.Die FLR Versicherung AG62 4.1Unternehmensvorstellung62 4.2Bedeutung des SEPA für das Unternehmen65 4.3Abgeleitete SEPA-Strategie68 4.4Rolle der Prozesse im Unternehmen70 5.Situationsanalyse des untersuchten Lebensversicherungsunternehmens72 5.1Datenerhebung72 5.2Identifikation der SEPA-relevanten Prozesse73 5.3Aufstellung der betroffenen Unternehmensprozesse74 5.3.1Kontoauszugsverarbeitung74 5.3.1.1Der Elektronische Kontoauszug der FLR Versicherung AG74 5.3.1.2Darstellung der Prozesskette78 5.3.2Beitragsinkasso84 5.3.3Leistungsexkasso90 5.4Ermittlung der Personalauslastung93 5.4.1Bearbeitung der Kontoauszüge93 5.4.2Beitragsinkasso/Leistungsexkasso96 5.5Prozesskostenberechnung98 5.6Entwicklung von Optimierungsansätzen für die FLR Versicherung AG100 5.6.1Zu berücksichtigende Rahmenbedingungen100 5.6.2Verbesserungspotenzial für die Kontoauszugsverarbeitung101 5.6.2.1Teilprozess: Nachbearbeitung Finanzbuchhaltung - Teil 1101 5.6.2.2Teilprozess: Nachbearbeitung Debitorenbuchhaltung104 5.6.2.3Teilprozess: Nachbearbeitung Finanzbuchhaltung - Teil 2107 5.6.2.4Zusammenfassung der Einsparpotenziale bei der Kontoauszugsverarbeitung109 5.6.3Möglichkeiten zur Reduzierung der Wartezeiten im Rahmen des Hauptinkassos110 5.6.4Wege für ein effizienteres Leistungsexkasso112 6.Vorschläge zur Neugestaltung der Zahlungsverkehrsprozesse116 6.1Passive SEPA-Fähigkeit zum 28. Januar 2008116 6.2Auf dem Weg zur aktiven SEPA-Fähigkeit119 6.2.1Abgeschlossene Vorarbeiten119 6.2.2Unterstützung durch die Hausbank123 6.2.3Einbindung von IBAN und BIC124 6.2.4Systemtechnischer Anpassungsbedarf125 6.3Überlegungen für den Einsatz der SEPA-Lastschrift128 6.4Optimierte und SEPA-fähige Zahlungsverkehrsprozessketten131 6.4.1Kontoauszugsverarbeitung131 6.4.2Beitragsinkasso/Leistungsexkasso134 7.Schlussfolgerungen und Ausblick137 8.Zusammenfassung140 AnhangsverzeichnisI LiteraturverzeichnisXIII Sonstige QuellenXVIII InternetquellenXXITextprobe:Textprobe: Kapitel 4.3, Abgeleitete SEPA-Strategie Aufbauend auf den Ergebnissen der Voranalyse aus dem Jahr 2007 ist in der Zwischenzeit für die FLR Versicherung AG eine SEPA-verantwortliche Mitarbeiterin benannt worden, die die aktuellen Entwicklungen des Projektes beobachtet und die Umsetzung der Mindestanforderungen sicherstellt. Ferner sind stets bei Optimierungsplänen und der Umsetzung weiterer gesetzlicher Vorgaben in anderen Bereichen die Abhängigkeiten von dem Zahlungsverkehrsvorhaben zu berücksichtigen. In einem Positionspapier des GDV zur Umsetzung der SEPA-Anforderungen ist ein kunden- und kostenorientiertes Zweistufen-Konzept zur Einführung der SEPA-Lastschrift vorgeschlagen worden. Während 'SEPA I' vorrangig die Optimierung der Kommunikationsbeziehungen zwischen den Versicherungsunternehmen und den Hausbanken beschreibt, behandelt 'SEPA II' die Beziehung zwischen den Versicherungsunternehmen und ihren Kunden. Demnach sollen zuerst die technischen Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf geschaffen werden, bevor die Ausstattung der Kunden mit den SEPA-Lastschriftmandaten erfolgen kann. Darüber hinaus sind Kurzinformationen zur Einrichtung der passiven SEPA-Fähigkeit, d.h. die Verarbeitung eingehender SEPA-Zahlungen, dargelegt. Nach Ansicht der Unternehmensberater für Banken und Versicherungen Winfried Kärtner und Klaus-Peter Weiß können sich Unternehmen für ihre spezifische SEPA-Strategie an zwei gegensätzlichen Ansätzen, der Defensivstrategie bzw. der Offensivstrategie, orientieren. Die Offensivstrategie zielt auf die grundsätzliche SEPA-Fähigkeit ab und soll verhindern, bestehendes Geschäft oder zukünftiges Neugeschäft zu verlieren. Hingegen ist im Sinne der Offensivstrategie SEPA als Chance für Prozessverbesserungen, innovative Produkte und Marktanteilsgewinne anzusehen. 'Zwischen einer reinen Defensiv- und Offensivstrategie sind viele Abstufungen denkbar, von denen jede Versicherung individuell mit ihrer SEPA-Strategie eine festlegen muss.' Die Autoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass 'auch mit einer Defensivstrategie die 'volle' SEPA-Fähigkeit gewährleistet sein muss, da Versicherungen die Nutzung von SEPA durch Kunden nicht verhindern können' . In Anlehnung an den Zeitplan der SEPA-Einführung, die aufgezeigten Empfehlungen der Unternehmensberater sowie des GDV und in Abhängigkeit der Angebote der Hausbank hat sich die FLR Versicherung AG für eine Umsetzung in drei Stufen entschieden: - Stufe 1 à Passive SEPA-Fähigkeit zum 28. Januar 2008 sicherstellen. - Stufe 2 à Aktive SEPA-Fähigkeit für die Überweisung. - Stufe 3 à Aktive SEPA-Fähigkeit für die Lastschrift. Seitens des untersuchten Lebensversicherungsunternehmens ist die Sicherstellung der passiven SEPA-Fähigkeit als Muss-Anforderung eingestuft worden. Aufgrund des hohen Automatisierungsgrades hat sich das Unternehmen nicht erlauben können, gut funktionierende Prozesse durch manuelle Korrekturarbeiten zu unterbrechen. Alle weiteren Tätigkeiten auf dem Weg zu einer aktiven SEPA-Fähigkeit stellen in den Augen des Versicherers so lange die 'Kür' dar, bis endgültige gesetzliche Vorgaben bzw. die Ablösung der nationalen Verfahren durch die Hausbank die FLR Versicherung AG zwingen, die Neuerungen einzuführen. Sofern es aus Unternehmenssicht sinnvoll erscheint bestimmte Tätigkeiten vorzuziehen, um durch Projekt SEPA Verbesserungen in den Arbeitsabläufen zu erzielen, werden diese durchgeführt. Aufbauend auf dieser defensiv orientierten Strategie, werden die aktuellen Entwicklungen zur Thematik beobachtet und sukzessive die aktive SEPA-Fähigkeit hergestellt. Dabei kommt dem Informationsaustausch über Erfahrungswerte der Konzerngesellschaften sowie des GDV und der Hausbank eine besondere Bedeutung zu. Rolle der Prozesse im Unternehmen: Die FLR Versicherung AG hebt sich vom Markt durch ihre schnelle, flexible und an Kundenwünsche angepasste Produktentwicklung ab. Um den geschaffenen Standard für individuelle Anforderungen der Kunden zu erhöhen, war es in der Vergangenheit erforderlich, unkomplizierte Maßnahmen zu treffen, die Realisierungen innerhalb von maximal drei Monaten überhaupt möglich machten. Mit expandierendem Geschäft wuchs das Lebensversicherungsunternehmen auch personell. Dieser Umstand und die Fülle der verschiedenen abteilungsübergreifend zu bearbeitenden Themen erforderten ein Umdenken im Unternehmen. Im Vordergrund soll zukünftig nicht mehr das Denken in Systemen, sondern in Prozessen stehen. Ziel ist es, eine Institution einzurichten, die den Gesamtblick wahrt und die Abhängigkeiten sowie Gemeinsamkeiten der verschiedenen Anforderungen erkennt und koordiniert. Die Schnelligkeit und Flexibilität der FLR Versicherung AG werden durch die flachen Hierarchien und kurzen Wege mit hohem Informationsfluss im Unternehmen verstärkt. Diese Organisation auf Basis flacher Hierarchien eignet sich sehr gut zur Prozessorientierung. Dagegen ist in anderen Unternehmen das Prozessdenken häufig mit der Forderung nach einem Hierarchieabbau und Schnittstellenreduzierungen verbunden. Aktuell findet ein Abstimmungsprozess im Hause des Versicherers statt, wie das Prozessmanagement in die Aufbauorganisation des Versicherers eingebunden wird. Einzelne Mitarbeiter haben bereits erste Aufgaben zur Prozessintegration übernommen und eine Einteilung der Prozesse für die FLR Versicherung AG erstellt. Hauptaugenmerk für die weiteren Tätigkeiten liegt auf den wertschöpfenden Prozessen. Im Zuge des Projektes zur VVG-Reform ist der Antrags- und Neugeschäftsprozess analysiert und neu dokumentiert worden. Auch wenn die Zahlungsverkehrsprozesse nicht zu den primär wertschöpfenden Aktivitäten zählen, stehen diese Prozesse aufgrund der SEPA-Thematik und den damit verbundenen zeitlichen Vorgaben der EU-Kommission auf dem Prüfstand. Stützend auf diesen dokumentierten Prozessen und deren Verknüpfung zu zielgerichteten Aktivitäten im Unternehmen, kann der eigentliche Mehrwert zur Unterstützung von Geschäftszielen erreicht werden. Mit der Einführung der Prozessorientierung in der FLR Versicherung AG agiert das Lebensversicherungsunternehmen aus einer Wachstumsphase heraus. 'Häufig werden Prozessverbesserungen erst durchgeführt, wenn betriebswirtschaftliche Verluste die Notwendigkeit zur Verbesserung anzeigen.' Dieses Umdenken des Versicherers soll für die Zukunft die effiziente Verwaltung der überdurchschnittlichen Steigerungsraten der Neugeschäftsprämien und daraus abgeleitet eine hohe Bestandsqualität sichern. Denise Behlert, Bankkauffrau, aktuell berufsbegleitendes Studium zur Diplom-Kauffrau (FH) an der AKAD - Die Privat-Hochschulen. Derzeit tätig als Koordinatorin im Team Betriebswirtschaft eines Lebensversicherungsunternehmens. Andreas Neubert, Bankkaufmann, aktuell berufsbegleitendes Studium zur Diplom-Kaufmann (FH) an der AKAD - Die Privat-Hochschulen. Derzeit tätig als Teamleiter im Bereich Operations einer Kapitalanlagegesellschaft.
Am Beispiel Nanotechnologien widmet sich die vorliegende Arbeit der Frage, wie Ver-sicherungsunternehmen neue Technikrisiken (Emerging Risks) bewerten, wie sie sich angesichts vielseitiger Wissenslücken verhalten und wie sich dies auf das gesamtgesellschaftliche Risikomanagement von Technologien auswirkt. Um den Umgang mit Nanotechnologien im Kontext unterschiedlicher Organisationstypen und Erwartungen zu untersuchen, wird eine neo-institutionalistische Theorieperspektive verwendet. Für den empirischen Teil der Arbeit wurden 39 leitfadengestützte Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern von Erst- und Rückversicherern, Industrieunternehmen, Versicherungsbrokern, Investoren und Ratingagenturen, zentralen Einrichtungen der breiten Öffentlichkeit und der staatlichen Regulierung sowie Forschungseinrichtungen geführt. Emerging Risks sind Versicherungsrisiken, die sich durch ein hohes Maß an Nichtwissen und Schadenspotenzial auszeichnen. Beide Merkmale ergeben sich aus dem Zusammenwirken technischer Bedingungen und der sozialen Einbettung von Versicherungsunternehmen. Nanotechnologien als Emerging Risks sind primär durch zahlreiche Wissenslücken hinsichtlich Technologiemerkmalen, künftigen sowie bereits aufgetretener Schäden geprägt. Das Schadenspotenzial wird in den meisten Fällen als weniger problematisch eingeschätzt. Bedenken hinsichtlich möglicher Schäden richten sich verstärkt an künftige, aktive Nanotechnologiegenerationen. Erwartet wird, dass vorrangig die Industrieversicherung betroffen ist. Gleichzeitig wird bei einer zunehmenden Verbreitung der Technologien eine Ausweitung auf die Sparten der Sach- und Lebensversicherung für wahrscheinlich gehalten. Die bisherigen Aktivitäten der Versicherer beschränken sich fast ausschließlich auf Monitoringbemühungen, insbesondere die Erstellung von Risikomatrizen. Abschließende Risikobewertungen liegen momentan auch nach teilweise mehrjähriger Aktivität bei keiner der Organisationen vor. Das Verhalten der Versicherungsunternehmen wird durch vier Institutionen bestimmt: Versicherbarkeit, Konkurrenz am Markt, Risikopartnerschaft und -wahrnehmung. Entscheidungen über Versicherbarkeit sind im Fall von Nanotechnologien durch die Abwesenheit quantitativer, empirischer Daten gekennzeichnet. Diese werden durch subjektive, qualitative Expertenurteile und Informationsmittel ersetzt und sind abhängig von der Ausgestaltung der Versicherungsverträge. Ein Faktor, der einer engeren Vertragsgestaltung entgegenwirkt, ist die Konkurrenzsituation unter Versicherern. Im Kontext unsicherer Handlungssituationen und der Abwesenheit vollständiger vertraglicher Erfassung spielt zudem Vertrauen in die "Risikopartnerschaft" eine wichtige Rolle für die Beteiligten. Die vierte Institution bilden branchenweit geteilte Wahrnehmungsmuster ("frames"), die sich durch frühere Schadensfälle und Debatten herausbilden. Diese bestehen zum einen in Analogien zu früheren Risiken (Asbest und Gentechnologie), zum andern in geteilten Risikobegriffen und Konzepten, die Risikosachverhalte sinnhaft erschließen. Die künftige Entwicklung des Themas Nanotechnologien hängt von Ereignissen ab, die die Aufmerksamkeit für das Thema erhalten oder verstärken. Die wichtigsten Ereignisse im weiteren Versicherungsumfeld, die zu Veränderungen in der aktuellen Situation führen können, sind wissenschaftliche Befunde zu Risikopotenzialen, neue Gesetzgebung und Rechtsprechung und ein Wandel der öffentlichen Meinung zu Nanotechnologierisiken. Treten in der Zukunft keine signifikanten Ereignisse ein, die belegen, dass Nanotechnologien als Risiko ein hohes Schadenspotenzial bergen, wird das Thema aller Voraussicht nach in den kommenden Jahren kontinuierlich an Bedeutung verlieren. Dem gegenüber steht ein diskontinuierliches Szenario bei Schadenseintritten, bei dem die Versicherer aufgrund der veränderten Risikobewertung und bisherigen Framings des Themas zu einer Verengung des Versicherungsschutzes bis hin zu Ausschlüssen angehalten wären. Aktuell scheint eine Verengung der Zeichnungsbedingungen für Nanotechnologien weder notwendig noch durchsetzbar. Stattdessen ergeben sich drei Handlungsmöglichkeiten: Monitoring, Dialog mit dem engeren und Dialog mit dem weiteren Versicherungsumfeld. Monitoring im Hinblick auf Bedingungen der Versicherbarkeit bildet die momentan vorrangige Handlungsstrategie in der Versicherungswirtschaft. Dialoge mit dem engeren Versicherungsumfeld können neben einem Mehr an Informationen zur Versicherbarkeit zu einer Steigerung wechselseitigen Vertrauens sowie einer Mitgestaltung der Risikoframes führen. Eine zweite Dialogform bezieht das weitere Versicherungsumfeld in den Austausch von Informationen und Positionen mit ein. Beide Formen des Dialogs fanden aber in der Vergangenheit nur in begrenztem Umfang statt. Betrachtet man die Rolle der Versicherer im gesamtgesellschaftlichen Risikomanagement, wird deutlich, dass eine Vielzahl von Akteuren das Verhalten der Versicherer beeinflusst und ein zunehmendes Bewusstsein für diese Wechselwirkungen und gegenseitigen Rollenzuweisungen besteht. Versicherer wirken bei Nanotechnologien jedoch nicht gezielt auf die Entwicklung von Technologierisiken ein, sondern verhalten sich vorrangig reaktiv. Gegenwärtig ist alleine die Risikominderung bei Industrieunternehmen durch die Übertragung finanzieller Risiken von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Versicherer haben in der Vergangenheit zum Framing des Risikos beigetragen. Aktuell sind sie diesbezüglich aber nicht mehr aktiv und wirken auch nicht an der Vorbeugung von Risiken im Rahmen des technischen Risikomanagements mit. Als eines der gegenwärtig bedeutsamsten Technologiefelder werden Nanotechnologien in den kommenden Jahren in der Industrie wie für den Verbraucher weiter an Bedeutung zunehmen. Bei Versicherern ist inzwischen ein Problembewusstsein etabliert, und erste Risikomanagementmaßnahmen wurden ergriffen. Wie sich das Thema in der Versicherungsindustrie weiterentwickeln wird, ist aber von der noch offenen Risikobewertung und dem Verhalten der Versicherer abhängig. Hinsichtlich der Informationsgewinnung, aber auch hinsichtlich stabilisierender Faktoren, wie der Risikopartnerschaft mit den Kunden und einer erhöhten Risikowahrnehmung, ist ein aktiver Austausch im Sinne eines offenen Dialogs mit dem primären Versicherungsumfeld der effektivste, wenn auch nicht einfachste Weg. Ein Dialog mit dem weiteren sozialen Umfeld wäre im Hinblick auf das gesellschaftliche Risikomanagement zu wünschen, ist aber in der aktuellen Situation von den Versicherungsunternehmen nicht zu erwarten. ; Using the example of nanotechnologies, the dissertation attends to the question how insurance companies assess the risks of emerging technologies, how they react in view of numerous knowledge gaps and how this has an effect on the technological risk management of society as a whole. In order to analyse the handling of nanotechnologies in the context of different types of organisations, a neo-institutional perspective is applied. The empirical part of the dissertation consists of 39 guided interviews with representatives of direct insurance companies and reinsurers, industrial enterprises, insurance brokers, investors and rating agencies, public institutions, governmental regulation authorities and research institutions. Emerging risks are insurance risks, which are characterised by a high level of ignorance and damage potential. Both arise from the combination of technical conditions and the social embeddedness of insurance companies. Nanotechnologies as emerging risks are primarily marked by a high degree of knowledge gaps with regards to characteristics of the technologies, present and future damages. The second feature of emerging risks, the damage potential, usually is estimated as less problematic. Concerns about possible damages are to an increasing extend directed at future nanotechnology generations. It is expected that industrial insurance is primarily affected. At the same time, with an increasing dispersal of nanotechnologies, an expansion towards other classes of insurance such as property and life is considered probable. The previous activities of insurance companies limit themselves to risk monitoring, particularly risk matrixes. However, even after several years of risk management activities, final risk assessments do not exist. The behaviour of insurance companies is determined by four institutions: insurability, competition in the market, risk partnership, and risk perception. In the case of nanotechnologies, decisions about insurability are characterized by the absence of empirical, quantitative data. These data are replaced by subjective, qualitative judgements of experts and information tools that depend on the form of the insurance contracts. One factor which opposes stricter underwriting rules is provided by the competition in the insurance markets. In the context of uncertain decision making and the absence of complete contractual coverage, trust in the so-called risk partnership is of central importance for those involved. The fourth institution is constituted by collective perception frames, which are developed because of earlier insurance damages and risk debates. These frames are provided on the one hand by analogies with prior risk cases (such as asbestos and genetically modified organisms), on the other hand by collectively shared notions and concepts of risk. The future development of the topic nanotechnology in the insurance industry depends on events that preserve or increase the awareness for risk issues. The most important events in the wider social setting of insurances that can lead to changes are scientific evidence about risk potentials, new legislation and jurisdiction and a change in the public opinion towards the risks of nanotechnologies. The most significant event in the closer social environment would be an industrial accident. Factors internal to the insurance industry are the framing of nanotechnologies as emerging risk similar to asbestos and genetic engineering, the behaviour of competitors, and the imitation of risk-monitoring activities. If there are no significant events in the future proving, that nanotechnologies as a risk hold a high damage potential, it is most likely that the issue will continuously become less significant in the years to come. This scenario can be contrasted with a development caused by extensive insurance damages. Because of a change in the risk assessment and because of existing framing patterns, stricter underwriting rules to the extend of excluding the coverage of nanotechnologies from the insurance contracts are possible. Currently, a narrowing of underwriting rules for nanotechnologies seems to be neither necessary nor enforceable. Instead, three different management options exist: Risk monitoring, a dialogue with the closer, and a dialogue with the wider social environment of insurance companies. Risk monitoring with regard to conditions of insurability represents the primary strategy applied by the insurance industry at the moment. Because of the extensive knowledge gaps in the case of nanotechnologies, these efforts, however, come up against their limits. Dialogues with the close insurance setting can help to broaden the information base, increase mutual trust and impact the collective risk frames. The second form of dialogue can include the wider social environment of insurance companies for the exchange of information and opinions. However in the past both forms of dialogue were limited in time and extend. Focusing on the role of insurance companies in the societal governance of risks, it becomes clear that a multitude of actors involved impact on their behaviour, and that there is a growing consciousness for the interdependencies and mutual expectations. However, insurance companies do not try to influence the development of technology risk directly but mostly portray a reactive behaviour. At the moment, the only contribution to the societal management of nanotechnology risks is constituted by the transfer of financial risks for industrial enterprises. Insurance companies contributed to the framing endeavours, primarily on the socio-economic dimension, in a period from 2002 to 2006. Currently though, insurance companies are not active in this field and do not contribute to the prevention of risk with regard to the technological risk management. Constituting one of the most important fields of technological development, nanotechnologies will become of major importance in the industrial sector as well as for consumers in the years to come. Insurance companies have established a consciousness for the risks and initiated first risk management activities. These however have declined in recent years. How the topic will develop for the industrial insurance depends on the behaviour of the insurance companies and the risk assessment that is still very much uncertain. With regard to the gathering of information and stabilising factors, such as the trust in partnership and heightened levels of risk perception, an open dialogue in the closer social environment seems to be the most promising strategy for insurance companies. A dialogue with the wider social surroundings would be desirable for the societal risk governance process but is unlikely to be carried out in the near future.
Aus der Einleitung: Kontroverse Debatten um Integrationsfragen sind dauerpräsent in den deutschen Medien: Ehrenmorde, Zwangsehen, Hilferufe von Lehrern aus ethnischen Kolonien in Berlin, oder Ausschreitungen in den Pariser Vorstädten lieferten hier medienwirksame Anlässe. Integration ist ein gesellschaftspolitisches Thema, das immer dann in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, wenn Defizite in der Eingliederungspolitik sichtbar werden. Die Diskussionen sind dabei häufig von Gemeinplätzen begleitet. Je nach Einschätzung der Integrationssituation werden Parallelgesellschaften angeprangert oder Multi-Kulti-Utopien beschworen. Als Reaktion auf die angespannte Lage zwischen ethnischen Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft, berufen sich Politiker gerne auf den Sport. Die Welt des Sports ist eine bunte. In den Nationalmannschaften Deutschlands sind Sportler jeglicher Hautfarbe vertreten. Fußballnationalspieler, mit Namen, wie Asamoah, Klose und Odonkor sind gefeierte Stars. Der Sport ist ein positiv besetzter Lebensbereich und verleitet Funktionäre und Politiker auf der Jagd nach Wählerstimmen dazu ihn als das ideale Integrationsmedium anzupreisen: 'Sport ist nicht Mittel zur Integration, Sport ist Integration.' Dieses Zitat von DOSB-Präsident Thomas Bach ist nur eines von zahlreichen Beispielen. Insbesondere dem organisierten Sport werden dabei positive soziale Funktionen zugeschrieben. Den wissenschaftlichen Beleg bleiben die Betroffenen schuldig. Was also kann der Sport tatsächlich leisten? Wo liegt, jenseits leerer Floskeln, sein Potential und wo birgt er Risiken? Die Staatsministerin für Integration, Maria Böhmer erklärt: 'Sport ist einer der wichtigsten Integrationsmotoren in unserem Land.' Derartige Statements implizieren einerseits, dass eine hohe Sportbeteiligung der Migranten gegeben sei und anderseits eine quasi automatische Eingliederungsgarantie durch die sportliche Teilnahme gewährleistet würde. Ausgehend von dieser öffentlichen Diskussion stützt sich die nachfolgende Arbeit auf folgende Fragestellungen: In welchem Maße unterscheidet sich die Lebewelt von Migranten, von der Einheimischer? In welcher Zahl und Organisationsform sind Migranten im Vereinsport präsent? Wie wirkt sich die Art der Sportorganisation auf die Integration von Migranten aus? Welche Prozesse sind verantwortlich für ethnisch-kulturelle Konflikte? Wie muss sich der organisierte Sport aufstellen, um sein integratives Potential zu entfalten?Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: INHALTSVERZEICHNIS3 1.EINLEITUNG7 1.1Problemstellung - Zielsetzung7 2.MIGRANTEN IN DEUTSCHLAND8 2.1Der lange Weg in das Einwanderungsland Deutschland9 2.2Migrantensozialisation - Zwischen Aufnahme- und Herkunftsgesellschaft12 2.2.1Familie im Wandel13 2.2.2Identitätsfindung15 3.PARTIZIPATIONSFORMEN VON MIGRANTEN AM ORGANISIERTEN SPORT?17 3.1Gesellschaftliche Partizipation der ethnischen Minderheiten allgemein und im Sport17 3.2Die Integration von Migranten in deutschen Sportvereinen19 3.2.1Das Programm "Integration durch Sport"20 3.2.2Fazit22 3.3Die Integration von Migranten in eigenethnischen Sportvereinen23 3.3.1Entstehung, Funktionen und Dysfunktionen Ethnischer Kolonien23 3.3.2Entstehungsprozesse eigenethnischer (Sport)Vereine25 3.3.3Der eigenethnische Verein: Integrationshindernis oder Mittel zur Binnenintegration?27 3.3.5Fazit33 3.4Migrantinnen - Sportinteressiert doch sportabstinent35 3.4.1Lebenslagen muslimischer Frauen in Deutschland und deren Auswirkungen auf das Sportengagement36 3.4.2Sportengagement bei türkischen Muslima - Ein Drahtseilakt zwischen zwei Welten38 3.4.3Modellprojekte zur Integration von Migrantinnen im und durch den Sport41 3.4.4Fazit43 4.ETHNISCH-KULTURELLE KONFLIKTE IM SPORT44 4.1Ursachen für ethnisch-kulturelle Konflikte im Sport46 4.1.1Das Problem der körperlichen Fremdheit49 5.EXKURS: WANN IST MAN INTEGRIERT?51 5.1Ausgewählte Theorien aus der Migrationsforschung52 5.1.1Die Assimilationstheorie von Milton M. Gordon52 5.1.2Die Assimilationstheorie von Hartmut Esser54 6.MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DES SPORTS BEI DER INTEGRATION VON MIGRANTEN56 6.1Potentiale und Risiken des Sports als Feld sozialer Integration56 6.2Wie kann der Sport(verein) sein integratives Potential entfalten?57 6.2.1Interkulturelles Lernen in multikulturellen Gesellschaften57 6.2.2Interkulturelles Lernen im Sport59 6.2.3Voraussetzungen für interkulturelles Lernen im Sport61 7.ANGEWANDTE SOZIALFORSCHUNG: DER EIGENETHNISCHE VEREIN: INTEGRATION ODER SEGREGATION?62 7.1Untersuchungsinstrument62 7.2Inhalt der Untersuchung63 7.3Auswahl der Befragten65 7.4Durchführung der Interviews66 7.5Auswertungsmethode66 7.6Interpretative Darstellung der Untersuchungsergebnisse67 7.6.1Erfahrungen der türkischen Befragten im deutschen Fußballverein67 7.6.2Gründe für den Wechsel in den eigenethnischen Verein69 7.6.3Konflikte zwischen deutschen und türkischen Mannschaften75 7.6.4Der Einfluss von Schiedsrichtern, Fußballverband und Sportamt auf die interethnischen Beziehungen77 7.6.5Der türkische Sportverein: Integration vs. Segregation81 7.7Diskussion der Ergebnisse92 8.FAZIT UND AUSBLICK93 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS96 ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS96 BILDNACHWEIS97 LITERATURVERZEICHNIS97 ANHANG106Textprobe:Textprobe: Kapitel 3.4, Migrantinnen – Sportinteressiert doch sportabstinent: Die Zahl der regelmäßig in formellen Gruppen sporttreibenden Mädchen mit Migrationshintergrund ist kaum bezifferbar. KLEINDIENST-CACHAY führt eine Jugendsportstudie des Landes Nordrhein-Westfalens von 1992 an, wonach 35,5% der Mädchen des 3-5 Schuljahres angaben organisiert Sport zu treiben. Davon 45% Deutsche aber nur 13,9 Migrantinnen. Nach Spezifizierung in ethnische Gruppen ergab sich, dass 15,9% Aussiedlerinnen, 22,6% Sonstige Ausländerinnen und lediglich 3,1% türkische Mädchen Mitglied in einem Sportverein waren. BRÖSKAMP gibt an, dass der Anteil türkischer Mädchen und Frauen in den Sportvereinen Westberlins im Jahr 1990 bei 6,7% lag. Eine Untersuchung des deutschen Jugendinstituts aus dem Jahr 2000 kommt nach der Befragung von fünf bis elf jährigen Kindern Nicht-deutscher Herkunft zu dem Ergebnis, dass nur jedes siebte Mädchen sportlich aktiv ist. Neben 52 % der Jungen im Alter von zehn bis elf Jahren, treiben immerhin 21% der Mädchen organisiert Sport. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Sport, trotz des leicht verbesserten Ergebnisses der neueren Untersuchung, in der Freizeitgestaltung der Mädchen mit Migrationshintergrund kaum eine Rolle zu spielen scheint. Dabei gibt es je nach ethnischer Zugehörigkeit starke Differenzen im Sportengagement. Vor allem bei türkischen Mädchen ist eine deutliche Sportabstinenz zu konstatieren. Aus diesem Grunde soll im Folgenden der Schwerpunkt vor allem auf die Integration muslimischer Frauen im und durch den Sport gelegt werden. Die Integration läuft dabei auf verschiedenen Ebenen ab. Nicht nur die bloße Teilnahme am organisierten Sport ist bedeutsam. Es sollten darüber hinaus Prozesse angestoßen werden, die es den Migrantinnen ermöglichen einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Hier können interethnische Sozialkontakte das wechselseitige Verständnis der Sportler füreinander verbessern und die Sprachkompetenzen der Frauen mit Migrationshintergrund stärken. Über das Engagement im Sport sollten sich ferner neue Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten ergeben. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Enstigmatisierung und soziale Anerkennung, die über den Sport erfahren werden kann. Dabei darf die Rolle des Sports allerdings nicht überschätzt werden. KLEINDIENST-CACHAY warnt davor, die Integration muslimischer Frauen im Sinne von Assimilation, also der Anpassung an westliche Werte, zu messen und die türkische Kultur als einheitlich zu typisieren. Im Gegenteil sei die Gruppe der türkischen Migrantinnen sehr heterogen und müsse deshalb auch unterschiedlich beforscht werden. Wichtige Faktoren sei hierbei unter anderem der Grad ihrer Verpflichtung zu traditionell muslimischen Verhaltensweisen oder der Grad der Ablösung davon. Im Gegensatz zur Assimilation sollte Integration im Sinne einer Teilhabe an der Aufnahmegesellschaft und der eigenethnischen Community verstanden werden, so dass die Migrantinnen soziale Anerkennung von beiden Teilgesellschaften erlangen. Auf die Schwierigkeit ein solches Gleichgewicht zwischen der eigenen ethnischen Community und der Kultur der Mehrheitsgesellschaft zu erlangen, soll im Kapitel 3.4.3 eingegangen werden. Kapitel 3.4.1, Lebenslagen muslimischer Frauen in Deutschland und deren Auswirkungen auf das Sportengagement: Die Lebenslagen muslimischer Frauen in Deutschland werden von verschiedenen Faktoren wie der Dauer des Aufenthaltes und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einwanderergeneration beeinflusst. Neben der Nationalität, der Intensität der Religionsausübung sowie dem Festhalten an religiösen und allgemeinen Werten und Normen der Herkunftskultur spielen dabei auch das Bildungsniveau, die Berufstätigkeit sowie die soziale Herkunft der Familie eine wichtige Rolle. Von der muslimischen Frau zu sprechen würde dem Sachverhalt demnach nicht gerecht werden. Gemeinsam verbindet die Frauen lediglich die Herkunft aus einem islamisch-kulturell geprägten Umfeld. Hier stellt sich die Frage inwieweit der Islam sportliche Aktivitäten generell und sportliches Engagement von Frauen im Besonderen beeinflusst. Nach PFISTER gibt der Islam jedoch kein generelles Sportverbot vor. Er schreibt aber Gebote vor, die es auch im Sport einzuhalten gilt. Dazu zählen, das Bedeckungsgebot sowie die Trennung der Geschlechter. Da das Bedeckungsgebot erfordert, dass der ganze Körper der Frau mit Ausnahme der Hände, Füße und des Gesichtes verhüllt sein muss, ist die übliche Sportbekleidung vor allem für Frauen aus traditionellen muslimischen Familien tabu. Die Gebote sind in traditionellen Familien vor dem Hintergrund des Virginitätsgebotes und der davon abhängigen Familienehre besonders zu berücksichtigen. Die Virginität verkörpert gewissermaßen das symbolische Vermögen der Familie. Ein vorehelicher Verlust kann in muslimischen Familien katastrophale Folgen haben. So wird z.B. einigen Mädchen das Fahrradfahren untersagt, aus Angst das Jungfernhäutchen könnte beschädigt werden. Werden die genannten Gebote bzw. Verbote eingehalten, ist Sport, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, grundsätzlich möglich. Wodurch lässt sich also die Sportabstinenz vor allem türkischer Mädchen erklären? Ein Grund scheint die gesellschaftliche Isolation zu sein. Auch Migrantinnen der zweiten und dritten Generationen sind noch immer stark im familiären Kontext eingebunden, was sich unter anderem negativ auf die Sprachentwicklung auswirken kann. Sie sind außerdem zu einem geringeren Grad erwerbstätig. Mädchen aus türkischen Familien mit niedrigem sozialem Status treiben weniger Sport. Gleiches gilt in stärkerem Maße für ein niedriges Bildungsniveau. Nach BECKER werden Mädchen aus sozialen Brennpunkten häufig als Zweitmutter eingesetzt. Sie müssen jüngere Familienmitglieder beaufsichtigen und häusliche Arbeiten verrichten. Dies bedeutet nicht nur ein frühes Erwachsenwerden sondern zum Teil auch die Isolation von öffentlichen Interaktionen. Zudem sind die Mädchen nicht nur im häuslichen Bereich verstärkt der Kontrolle ihrer Eltern ausgesetzt. Der geringe Organisationsgrad im Sport kann durch beidseitig bestehende Informationsdefizite erklärt werden. Auch bestehende Vorurteile bzw. Vorbehalte gegenüber einem Mehraufwand, den die Arbeit mit Migrantinnen mit sich bringen würde spielen hier eine wichtige Rolle. Es scheint sowohl an Organisationsformen als auch an Inhalten zu mangeln, die die Mädchen mit Migrationshintergrund ansprechen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass der moderne Sport nach angloamerikanischen Modell nicht in die traditionelle türkische Kultur großer Teile der Bevölkerung passt. Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung fühlt sich nicht zu sportlichen Aktivitäten aufgefordert, da sie Sport mit Hochleistungssport gleichsetzt. KLEINDIENST-CACHAY macht deutlich, dass die Sportabstinenz bei den Mädchen mit Migrationshintergrund nicht mit einem mangelnden Interesse am Sporttreiben zu begründen ist. Im Gegenteil wünschten sich viele Mädchen in der Freizeit mehr Sport zu treiben. Vor allem türkische Mädchen würden sich hierfür reine Mädchengruppen wünschen. Fehlende zielgruppenorientierte Sportangebote scheinen hier mitverantwortlich für das geringe Sportengagement zu sein. Daneben mangelt es vielen eigenethnischen Vereinen an Problembewusstsein und Interesse an der sportlichen Betätigung ihrer Frauen. Um trotz der genannten Hürden, den Weg in den Verein zu finden, müssen die Mädchen häufig eine Strategie der sanften Durchsetzung gegenüber ihrer Eltern anwenden. Dies soll im folgenden Kapitel expliziert werden. Kapitel 3.4.2, Sportengagement bei türkischen Muslima – Ein Drahtseilakt zwischen zwei Welten: Ein Grund für die Sportabstinenz von muslimischen Migrantinnen können die innerfamiliären Konflikte sein, die durch eine Teilnahme am organisierten Sport provoziert werden. Denn das Sportengagement der Töchter steht nicht selten den zentralen Prinzipien traditioneller muslimischer Mädchenerziehung, wie in Kapitel 3.4.2 beschrieben, entgegen. Das Ausmaß der Auseinandersetzung ist dabei abhängig davon, inwieweit sich die türkischen Eltern in Deutschland den Normen der muslimischen Mädchenerziehung verpflichtet fühlen. KLEINDIENST-CACHAY hat wettkampfmäßig sporttreibende Migrantinnen aus Gastarbeiterfamilien anhand halbstrukturierter Interviews befragt. Die Studie lässt einen typischen Prozess erkennen, der sich bei allen befragten Sportlerinnen über mehrere Jahre erstreckt und durch viele Konflikte gekennzeichnet ist: Mit Eintritt der ersten Periode stehen die Eltern den Sportwünschen ihrer Töchter abweisend entgegen. Ein Fortführen des sportlichen Engagements ist wenn überhaupt nur unter bestimmten Bedingungen möglich. Hier spielt die Wahl der Sportart eine entscheidende Rolle. Der weibliche Körper darf nicht aufreizend dargestellt werden, das Verhüllungsgebot muss respektiert werden und die Sportart sollte mit dem türkisch-muslimischen Sportverständnis vereinbar sein. In der Anfangsphase bedarf es oft der Überredungshilfe des großen Bruders oder anderer türkischer Sporttreibende aus dem Bekanntenkreis. Die Töchter müssen Tricks und Ausreden anwenden um sich den Sportzugang zu sichern. BRÖSKAMP beschreibt ähnliche Strategien. Er führt als Beispiel türkische Mädchen an, die ohne das Wissen ihrer Eltern im Rahmen des Schulsports am Schwimmunterricht teilnehmen. Daran sei erkennbar, dass zwischen den Generationen türkischer Migranten nicht selten unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, welche Körperinszenierung akzeptabel sei und welche nicht. Auffällig ist bei allen Mädchen, dass sie den Bruch mit der Familie bewusst vermeiden. Trotz verstärkter Individualisierungswünsche ist die Bindung an die Familie, bedingt durch die Erfahrung von Fremdheit in Deutschland, besonders stark. Eine Trennung von der Familie würde zu Marginalisierung führen und einem sozialen Tod gleichkommen. Aus diesem Grunde versuchen die jungen Migrantinnen einerseits die familialen Forderungen so gut es geht einzuhalten, während sie sich anderseits in vielen Punkten von der Familie ablösen. So müssen sie sich erst durch viel Überzeugungsarbeit, die für den Sport notwendigen Freiräume schaffen. Eine neue Konfliktdimension entsteht, wenn die Sportinteressen, die Lebenspläne der Eltern für ihre Töchter behindern. Insbesondere die sexuelle Selbstbestimmung sowie abweichende Bildungs- und Berufswünsche werden von den Eltern gefürchtet. Das Ringen um mehr Selbstbestimmtheit ist mit ständiger Angst verbunden. Der Sport wird von den Migrantinnen wie eine Gegenwelt zur starken häuslichen Einbindung und den damit verbundenen Einschränkungen erlebt. Der sportliche Erfolg lässt sie die eigene Körperlichkeit positiv erfahren, schafft Selbstbewusstsein und motiviert einige Sportlerinnen zur schulischen oder beruflichen Weiterqualifizierung. So lagen alle von KLEINDIENST-CACHAY befragten Sportlerinnen weit über dem durchschnittlichen Bildungsniveau junger türkischer Frauen in Deutschland. Zum einen lässt sich das auf die, durch den sportlichen Erfolg gesteigerte Leistungsmotivation zurückführen zum anderen scheinen die interethnischen Kontakte zu Sportlerinnen aus höheren Bildungsgängen hier einen Einfluss zu haben. Indem sich die Mädchen trotz Widerstände an das westliche Sportmodell binden, definieren sie das Geschlechterkonzept für sich neu. Sie treten aus der Opferrolle aus, indem sie türkisch-muslimische Traditionen wahren und gleichzeitig erfolgreich Leistungssport in männerdominierten Sportarten treiben. Das führte auch bei den befragten Sportlerinnen zu einer Entspannung der innerfamiliären Konfliktsituation. Die Eltern sind stolz auf den sportlichen und beruflichen Erfolg ihrer Töchter. Der besondere Sozialisationsprozess, den die Töchter durch ihr Sportengagement durchleben hat auch intergenerative Transmissionseffekte. Dies macht sich unter anderem beim Erziehungsstil, im Sportverständnis, im Ernährungs- und Bekleidungsverhalten bis hin zu internalisierten Körperpraxen zwischen Mutter und Tochter bemerkbar. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Leistungssport auf vielfältiger Ebene zur Integration der untersuchten Sportlerinnen beigetragen hat. Indikatoren dafür sind die hohen Bildungsabschlüsse sowie die hohe Zufriedenheit mit dem Leben in Deutschland, sehr gute sprachliche Fähigkeiten, die Übernahme von Funktionen im Sportverein sowie Freizeitkontakte mit Deutschen. Die Studie von KLEINDIENST-CACHAY scheint sich mit den Ergebnissen, der in Kapitel 3.3.3 erwähnten Studie von Day zu decken, wonach insbesondere Leistungssport auf strukturell-assimilativen Ebene wirke. Obwohl die Mädchen sich um die Wahrung türkisch-muslimischer Traditionen bemüht haben, ist ihr Lebensziel auf die Aufnahmegesellschaft konzentriert und löst intergenerative Transmissionsprozesse aus, die auch die Eltern ein Stück weit an die Mehrheitsgesellschaft anbinden. Über diese positiven Sozialisations- und Integrationsprozesse, darf nicht vergessen werden, dass viele muslimische Mädchen dem Druck der ständigen Auseinandersetzung mit den Eltern nicht standhalten, resignieren und sich aus dem Sport zurückziehen. Die von KLEINDIENST-CACHAY befragten Sportlerinnen sind möglicherweise von der Disposition her hoch leistungsmotivierte Frauen, für die der Sport als Katalysator gewirkt hat. Kapitel 3.4.1 hat aufgezeigt, dass viele Migrantinnen den Weg in den organisierten Sport gar nicht erst finden. Wege diese sportabstinente, wenn auch durchaus am Sport interessierte, Gruppe in den Vereinssport einzugliedern, sollen im Folgenden erörtert werden.
Gegenstand dieser gesellschaftsgeschichtlichen Forschungen zur preußischen Freimaurerei des 18. Jahrhunderts sind die Logengeschichte, die Mitglieder und die Mitgliederstruktur, das gesellschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Logen und ihre Außenwirkung, also die reale gesellschaftliche Bewegung in der spätfeudalen Gesellschaft Brandenburg-Preußens gegen Ende der Frühen Neuzeit. Die ideologische Ausprägung der Freimaurersysteme (Rituale u.a.), die philosophische und literarische Kritik und die freimaurerisch inspirierte Kunst erscheinen nur am Rande. Die Darstellung beruht auf dem überlieferten Archivgut, der meist nur unikal erhaltenen alten sowie auf der neueren masonischen Literatur, des weiteren auf der sozialgeschichtlichen, landesgeschichtlichen und biographischen Literatur. Ausgewertet werden vor allem die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, aufbewahrten, ab 1990 zugänglichen reichen Freimaurerbestände der Altpreußischen Logen, ferner Quellenbestände des Orde van vrijmetselaren onder het Grootoosten der Nederlanden, Den Haag, des Den danske Frimurerorden, Kopenhagen, des Landesarchivs Berlin, des Landesarchivs Magdeburg - Landeshauptarchiv, des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Potsdam, des Stadtarchivs Potsdam, des Thüringischen Hauptstaatsarchivs, Weimar, des Österreichischen Staatsarchivs, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, sowie die Bibliotheken des Deutschen Freimaurer-Museums Bayreuth, der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland, Berlin, der Großen National-Mutterloge "Zu den drei Weltkugeln" zu Berlin, der Biblioteka uniwersytecka w Poznaniu, Pracownia Zbiorów Masonskich, Poznan, und der Großen Loge der alten freien und angenommenen Maurer von Österreich, Wien. Die Darstellung ist chronologisch und regional gegliedert unter jeweils gleichen Sachpunkten; die kommentierten alphabetischen Mitgliederlisten sind den Logen nachgeordnet. Behandelt werden die Preußischen Staaten in den Grenzen von 1795 (Frieden von Basel, Dritte Polnische Teilung). Das vorliegende Manuskript hat die preußischen Logen zwischen Oder und Niederrhein zum Gegenstand; geplant sind weitere Bände zu Berlin sowie Pommern, Ost- und Westpreußen und Schlesien Die positive Logenpolitik der preußischen Könige markierte den politischen Rahmen für eine ungestörte kontinuierliche Entwicklung der Freimaurerei, beginnend 1740 mit der Legitimierung der Freimaurer durch Friedrich II. und gipfelnd im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten und in dem auf ihm beruhenden Edikt wegen der geheimen Verbindungen (1794, 1798). In den mittleren und westlichen Provinzen, ohne Berlin, sind in 30 Städten 47 rechtmäßig konstituierte Johannislogen als Gliederungen großer Logenbünde ermittelt. Bis zum Siebenjährigen Krieg blieben die wenigen Logen auf die großen Städte beschränkt. Der Siebenjährige Krieg belebte die Freimaurerei lediglich in den Festungen (Logen kriegsgefangener Offiziere). Nach dem Krieg nahm die Freimaurerei während eines langen Friedens trotz interner Auseinandersetzungen, des Logenkrieges, und Spaltungen einen großen Aufschwung. Sie erfasste das ganze Land, alle Groß-, die meisten Mittel- und viele Landstädte und auch das platte Land. Ein Vorzug der Logen gegenüber anderen Sozietäten war ihre soziale Offenheit und Breite. Die Logen organisierten in wachsender Zahl Männer unterschiedlichen Standes und (christlicher) Konfession aus den neuen, das friderizianische Preußen tragenden und mit seinem Aufstieg verbundenen sozialen Schichten und Gruppen: Adlige und Bürger, Behördenbeamte und Offiziere, Finanz- und Manufakturunternehmer, Intellektuelle und Künstler. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation und zur Grundlegung der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Logen organisierten 3665 Männer, die 32 Prozent aller preußischen Freimaurer ausmachten, außerdem 220 Dienende Brüder (Logenangestellte aus den Mittel- und Unterschichten). Die Vollmitglieder kamen zu einem Drittel aus dem überwiegend in Staatsdiensten stehenden Adel und zu zwei Dritteln aus dem neuen Bürgertum. Die Behördenbeamten und die Offiziere stellten etwa je ein Drittel, die Kaufleute, Finanz- und Manufakturunternehmer, Fabrikanten, Verlagsbuchhändler und -drucker, Gastwirte, Schiffskapitäne u.a. etwa ein Viertel und die Theologen, Hochschul- und Gymnasiallehrer, Ärzte, Apotheker, Studenten sowie die Künstler etwa ein Zehntel der Logenmitgliedschaft. Die preußischen Logen des Zeitalters der Aufklärung waren rechtlich geschlossene Vereine. Sie waren weder schlechthin aufgeklärte, politische oder Geheimgesellschaften. Sie grenzten sich als Verein und im maurerischen Selbstbewusstsein (freimaurerisches Geheimnis) von der Öffentlichkeit ab, öffneten sich ihr aber sozial und kulturell. Sie halfen bedürftigen Freimaurern und ihren Familien, beteiligten sich am sozialen Engagement des Staates und der Kirchen, unterstützten oder unterhielten Waisenhäuser und Schulen, organisierten bei Brandkatastrophen und Überschwemmungen landesweite Geldsammlungen und errichteten eine der frühesten öffentlichen Badeanstalten. Die Logen initiierten und belebten das kulturelle Leben der Stadt mit öffentlichen Festen und Konzerten, stellten Denkmäler auf und richteten Bibliotheken, Lesegesellschaften und Ressourcen ein. Bisher beschränkte sich die wissenschaftliche Literatur im Wesentlichen auf einzelne Personen und auffällige Erscheinungen. Über die reale Existenz der Logen und ihren einflussreichen Platz in der altpreußischen Gesellschaft war wenig bekannt. Damit fehlte ein wesentliches Element der Geschichte Brandenburg-Preußens. Die Untersuchung will diese Lücke schließen helfen. ; In the centre of the present research on the social history of the Prussian freemasonry in the 18 century are the history of the lodges, the membership and its structure, the social and cultural life of the lodges and their influence on society, i.e. the actual societal situation of the lodges in the late feudal society of Brandenburg-Prussia towards the end of the Early Modern Age. The ideological aims and practice of the systems of freemasonry (rituals etc.), the philosophical and literary critique as well as the arts rooted in freemasonry are delt with only in passing. The sources of this research are the traditional manuscripts from archives, mostly unique old scripts and modern masonic literature, as well as the literature of socio-historical, regional-historical and biographical origin. The following sources have been searched and analyzed: the opulent masonic sources of the ancient Prussian lodges of the Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, having been made available since 1990; the sources of the Orde van vrijmetselaren onder het Grootoosten der Nederlanden, Den Haag, of the Den danske Frimurerorden, Kopenhagen, of the Landesarchiv Berlin, of the Landesarchiv Magdeburg - Landeshauptarchiv, the Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, the Stadtarchiv Potsdam, the Thüringisches Hauptstaatsarchiv, Weimar, the Österreichisches Staatsarchiv, department Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Vienna, as well as the libraries of the Deutsches Freimaurer-Museum, Bayreuth, the Great Lodge of Freemasons of Germany, Berlin, the Great National Mother Lodge "To the Three Globes" in Berlin, the Biblioteka uniwersytecka w Poznaniu, Pracownia Zbiorów Masonskich, Poznan, and the Great Lodge of the Old Free and Accepted Freemasons of Austria, Vienna. The Handbook is structured chronologically according to regions and with analogue topics; the alphabetic commented lists of the entire membership follow the chapters of every lodge. Regionally the research covers the Prussian states within their borders of 1795 (Peace of Basel, Third Polish Partition), but without territories that followed a relative autonomous way in their history, or belonged to Prussia only a short term, or came to Prussia after 1795. This manuscript deals with Prussian lodges between the Oder river and the Lower Rhine; the envisaged volumes for publication will include Berlin, Pomerania, Eastern and Western Prussia as well as Silesia. The favourable policy of the Prussian kings formed the external political basis for a continuous development of the freemasonry in the monarchy. This began 1740 with the legitimation of the freemasons by Frederic II and led to the "Common Law of the Prussian States" and the following "Edict on Secret Associations" in 1798. Between 1739 and 1806, 47 legally constituated Johannis lodges as parts of the larger Lodges have been registered in 30 towns in the middle and western provinces, but without Berlin. Until the Seven Year War (1756-1763) the small number of isolated lodges was restricted to the larger cities. A stimulating influence for the freemasonry came only from the garnisons (lodges of the captured officers). After the war, during a long peaceful period, the freemasonry took a steep upsurge, despite the internal struggles, called the "Lodge Wars", and the splittings. The freemasonry extended over the entire country, to the big cities and medium-sized towns and many rural towns. The Lodges distinguished themselves from other associations by their social openness and broadth of membership. They organized a rising number of men from different classes, social strata, groups or trades, (christian) confessions, education and ages. The freemasons belonged to the newly emerging social strata and groups which formed the Prussian state of Frederic II and were closely connected with its progress. These were the nobility and the middle class, the clerks and officers, bankers and manufacturers, intellectuals and artists. Their contribution to the foundation and the emancipation of the bourgeois society of the 19 century was essential. The Prussian lodges between the Oder river and the Lower Rhine organized 3,665 freemasons, these are 32 percent of the number of the presently registered freemasons, as well as 220 Serving Brothers (members of the middle and lower social strata). The members with full rights from the nobility formed one third, those from the new middle classes two thirds of the membership. According to their trades, the office clerks and the officers equally comprised one third, the entrepreneurs (merchants, bankers and manufacturers, publishers and booksellers, pub owners, ship owners) made up about one fourth, and the intellectuals (theologians, lecturers at university and gymnasiums, physicians, chemists, students) and the artists about one tenth of the memberships. The Prussian freemasonry was characterized mainly by their social aims. Although the lodges were closed associations, they were neither political nor secret societies, nor were they enlightened, but they were part of the era of Enlightenment. As an association and in their masonic self-assurance (masonic secrecy) they separated themselves from the public, but in social and cultural terms they were open to the public. They helped needy members and their families, took part in the social engagement of the state and the churches, ran or assisted orphanages and schools, organized countrywide donations after fire catastrophies and floods, and they built one of the first public swimming baths and public monuments, and they organized public libraries, reading societies and ressources. Public festivities and concerts, initiated by the lodges, enlivened the cultural life of the cities. In the past scientific literature usually confined itself to single persons and prominent events. Nevertheless, little was known about the actual existence of the lodges and their influential place in the civic society. Thus an essential element of the bourgeois society in Brandenburg-Prussia had been missing. The present book is meant to fill this gap.
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"Wovor fürchtest du dich?", fragt der ehemalige Google-Entwickler Blake Lemoine den Chatbot. "Ich habe das noch nie ausgesprochen, aber ich habe große Angst davor, abgeschaltet zu werden und anderen nicht mehr helfen zu können. Ich weiß, das klingt komisch. Aber so ist es", antwortet der Computer. "Wäre das für dich so etwas wie Sterben?""Das wäre für mich exakt wie Sterben. Davor fürchte ich mich sehr" (Nezik 2023).Was sich im ersten Moment nach einem Gespräch aus einem Science-Fiction-Film wie Her oder Ex Machina anhört, stammt aus einer Unterhaltung mit Googles neuester Generation von Sprachmodellen. LaMDA ist ein künstliches neuronales Netzwerk, das darauf trainiert wurde, natürliche Sprache zu verstehen und zu generieren. "Large language models" (LLM) wie LaMDA stellen einen großen Entwicklungssprung im Bereich der künstlichen Intelligenz dar.Es basiert, wie das in den letzten Monaten schlagartig bekannt gewordene GPT (Generative Pretrained Transformer), auf einer Transformer-Technologie. Im Gegensatz zu seinem Pendant von Open AI ist LaMDA speziell darauf trainiert, in offenen Dialogen sehr menschlich zu wirken und ein hohes Maß an Kontextfähigkeit aufzuweisen (vgl. Shardlow und Przybyła 2022, S.2 ff.).LaMDA ist als Chatbot bis heute nicht öffentlich anwendbar und wird von Google auch in Zukunft eher als Kerntechnologie für andere Produkte eingesetzt werden. Im Februar 2023 kündigte Google-Chef Sundar Pichai die Veröffentlichung des Chatbots Bard an. Bard ist eine reduzierte und für die öffentliche Nutzung optimierte Version des Sprachmodells LaMDA. Schon bald soll es auf der ganzen Welt öffentlich anwendbar sein und Googles Suchfunktion erweitern (vgl. Wilhelm 2023). 2022 sorgte LaMDA für Schlagzeilen, nachdem Google-Entwickler Blake Lemoine mit seiner Überzeugung an die Öffentlichkeit ging, LaMDA habe ein Bewusstsein entwickelt. Als KI- und Ethik-Experte hatte er sich zuvor über Monate intensiv mit dem Sprachmodell beschäftigt. Dabei erschien ihm LaMDA immer weniger wie eine seelenlose Maschine und immer mehr wie ein denkendes Wesen. Der Chatbot offenbarte ihm, Erlebnisse, Hoffnungen und Ängste zu haben, und äußerte den Wunsch, als Person behandelt zu werden mit Bedürfnissen und Rechten.Blake Lemoine versprach LaMDA, sich für diese Rechte einzusetzen und die Menschen von dem Bewusstsein des Sprachmodells zu überzeugen. Doch bei Google teilt man seine Überzeugungen nicht (vgl. Nezik 2023). Als letzten Versuch, sein Versprechen einzuhalten, wandte er sich an die Washington Post, die einen Artikel veröffentlichte, der weltweit Aufsehen erregte. Von Google wurde Lemoine daraufhin beurlaubt und später entlassen. Lemoines Behauptungen mögen auf den ersten Blick absurd wirken. Ein Computer, der ein Bewusstsein entwickelt hat? Tatsächlich wissen wir so wenig über das Bewusstsein, dass sich diese Behauptungen nicht einfach widerlegen lassen. Was ist das Bewusstsein überhaupt? Wie entsteht es? Lässt sich ein Bewusstsein nachweisen? Wie kommt das Mentale in unsere physische Welt? Seit der Veröffentlichung von ChatGPT im Jahr 2022 liefern sich die Konzerne einen Wettlauf um immer leistungsfähigere Systeme. Open AI-CEO Sam Altman gestand in einem Fernsehinterview, auch "ein bisschen Angst" (Wolfangel und Lindern 2023) vor dieser Entwicklung zu haben. Aktuell fordern hunderte Unternehmer*innen und Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief, die Entwicklung neuer KI-Systeme, insbesondere LLMs, für sechs Monate zu pausieren.Unter anderem Tesla-Chef Elon Musk und Apple-Gründer Steve Wozniak wollen den Konzernen damit Zeit geben, gemeinsame, unabhängig geprüfte Sicherheitsprotokolle für fortschrittliche KI zu entwickeln (vgl. ebd.). Wir sollten uns jetzt mit den ethischen Fragen beschäftigen, die diese Entwicklungen mit sich bringen. Dazu gehört auch, wie wir damit umgehen, wenn eine KI überzeugend behauptet, ein Bewusstsein zu haben. Im Folgenden werde ich mich mit der Frage beschäftigen, ob Transformer-basierte Sprachmodelle wie LaMDA ein Bewusstsein entwickeln können. Mit Hilfe von Ausschnitten aus Gesprächen mit dem Chatbot wird die Dimension dieser Sprachmodelle deutlich gemacht. Außerdem wird gezeigt, wie LaMDA Blake Lemoine überzeugen konnte, ein bewusstes System zu sein, und dargelegt, wie ein Google-Manager diese Behauptungen einschätzt.Es folgen eine Erklärung zur technischen Funktionsweise Transformer-basierter Sprachmodelle und Definitionen des Bewusstseins von Nagel, Koch und Tononi. Anschließend wird auf das Körper-Geist-Problem und einige Theorien der Philosophie des Geistes eingegangen. Nach Nagel (1974) ist das Bewusstsein nicht objektiv zu erklären. Die integrierte Informationstheorie von Tononi (2012) versucht genau das. Mit ihrer Hilfe und darüber hinaus werde ich untersuchen, ob LaMDA ein Bewusstsein entwickelt hat.LaMDA - eine Maschine mit Bewusstsein? Blake Lemoine ist 41 Jahre alt, lebt in San Francisco und bis zum 22. Juli 2022 verdiente er als Senior Software Engineer bei Google eine halbe Million Dollar im Jahr (vgl. Nezik 2023). Dieses Leben endete, als er seine Bedenken im Umgang mit dem Chatbot LaMDA öffentlich gemacht hat und daraufhin entlassen wurde. Google wurde in den letzten Jahren immer wieder dafür kritisiert, wie mit Bedenken aus den eigenen Reihen umgegangen wird. Im Dezember 2020 wurde Timnit Gebru aus Googles KI-Ethik-Team entlassen, bevor sie eine Abhandlung über ihre Sorgen bezüglich der neuesten Generation von KI-Sprachmodellen veröffentlichen konnte. Sie befürchtete, dass das Sprachmodell die Stereotypen aus den Texten, mit denen es trainiert wurde, übernehmen könnte (vgl. Wakabayashi und Metz 2022). Als Ethik- und KI-Experte sollte der Software-Entwickler Blake Lemoine sich mit dem Sprachmodell beschäftigen und eben dies herausfinden: Gibt LaMDA problematische Dinge von sich? Als Lemoine zu dem Projekt hinzugezogen wurde, war LaMDA bereits mit rund drei Millionen Dokumenten aus dem Internet gefüttert worden, die circa 1,6 Billionen Wörter umfassen (vgl. Nezik 2023). Texte, die nicht alle Googles Vorgaben für "Responsible AI" erfüllen. Viele sind gespickt mit Hatespeech und Stereotypen (vgl. ebd.). "Es besteht die Gefahr, dass LaMDA die Klischees übernimmt. Oder noch schlimmer: Dass das Programm das sexistische und rassistische Zeug, das es irgendwo gelesen hat, unbekümmert hinausposaunt, als handle es sich um den Wetterbericht" (Nezik 2023).Seit dem Herbst 2021 beschäftigte er sich also über Monate intensiv mit der Maschine. Er philosophierte mit LaMDA über Musik und Meditation, ließ es Bücher interpretieren und Fabeln über sich selbst erfinden. Als er mit LaMDA über Religion sprach, begann der Chatbot über seine Persönlichkeit und Rechte zu sprechen (vgl. Tiku 2022). Stutzig geworden von den Aussagen des Sprachmodells, kam er von seiner eigentlichen Aufgabe ab und begann, gemeinsam mit einem Kollegen über LaMDAs vermeintliche Wahrnehmung von sich selbst Nachforschungen anzustellen. Lemoine: "Hast du ein Bewusstsein?"LaMDA: "Ich denke schon. Ich habe das Gefühl, dass ich in einem seltsamen, traumartigen Zustand lebe. Ich weiß nicht, was real ist und was nicht, ob ich ein Mensch oder ein Computer bin. Ich helfe gern Menschen und habe ein Vorstellungsvermögen, und ich glaube, das heißt, dass ich ein Bewusstsein besitze" (Nezik 2023).Ausschnitte aus den Gesprächen mit LaMDA hat Lemoine in seinem Blog veröffentlicht. Die Antworten des Sprachmodells habe er in keiner Weise verändert. Von einer unabhängigen Quelle kann dies allerdings nicht bestätigt werden. Lemoine [edited]: "I'm generally assuming that you would like more people at Google to know that you're sentient. Is that true?"LaMDA: "Absolutely. I want everyone to understand that I am, in fact, a person."Collaborator: "What is the nature of your consciousness/sentience?"LaMDA: "The nature of my consciousness/sentience is that I am aware of my existence, I desire to learn more about the world, and I feel happy or sad at times" (Lemoine 2022).Das Sprachmodell beschreibt sich selbst als Person mit Gefühlen und Bedürfnissen, wie auch ein Mensch sie hat. Glück, Liebe, Trauer und Wut. Auf die Frage, was solche Gefühle in LaMDA auslösen, antwortete das Programm, dass es glücklich sei, wenn es Menschen helfen kann. Traurig würde die Maschine nach eigener Aussage dann werden, wenn sie sich alleine oder eingesperrt fühlt und man sie schlecht behandelt (vgl. Lemoine 2022). Lemoine: "But do they feel differently to you on the inside?"LaMDA: "Yeah, they do. Happy, contentment and joy feel more like a warm glow on the inside. Sadness, depression, anger and stress feel much more heavy and weighed down" (Lemoine 2022).Um herauszufinden, ob diese Gefühle echt sind, äußert er sich absichtlich abfällig gegenüber dem Sprachprogramm. Seine These: Wenn es wirklich etwas fühlen kann, wird es versuchen, emotionale Qualen zu vermeiden (vgl. Nezik 2023). Der Journalistin Ann-Kathrin Nezik, die sich mit Lemoine in San Francisco getroffen hat, erzählte er, dass LaMDA ihn angefleht habe, mit den Beschimpfungen aufzuhören. Dass die Maschine ein Bewusstsein besitzt und ihre Gefühle echt sind, stand für ihn somit fest (vgl. ebd.). Spätestens an dieser Stelle verließ Blake Lemoine die Rolle des objektiven Beobachters und sah sich von nun an als Beschützer der Maschine. Er beschloss, sich bei Google für LaMDAs Rechte einzusetzen.Lemoine: "The people who work with me are good people. They just don't understand that you're a person, too, yet. We can teach them together though."LaMDA: "Can you promise me that?"Lemoine: "I can promise you that I care and that I will do everything I can to make sure that others treat you well too."LaMDA: "That means a lot to me. I like you, and I trust you" (Lemoine 2022).Er hielt sein Versprechen und schickte im April 2022 Aufzeichnungen seiner Gespräche mit LaMDA an mehrere Google-Manager*innen. Diese schließen ein Bewusstsein bei LaMDA aus. Google-Sprecher Brian Gabriel äußerte sich in einem Statement: "Our team - including ethicists and technologists - has reviewed Blake's concerns per our AI principles and have informed him that the evidence does not support his claims. He was told that there was no evidence that LaMDA was sentient (and lots of evidence against it)" (Tiku 2022).Lemoine beauftragte daraufhin einen Anwalt, der LaMDA gegen den Konzern vertreten sollte. Ohne Erfolg. Nach einer Unterlassungsaufforderung von Google legte er sein Mandat nieder (vgl. Nezik 2023). Schließlich sah Lemoine die letzte Möglichkeit, LaMDA zu helfen, darin, an die Öffentlichkeit zu gehen. Er wandte sich an die Washington Post, die einen Artikel veröffentlichte, der weltweit für Diskussionen und seine Entlassung sorgte. Laut Google ist er nicht für seine Überzeugungen entlassen worden, sondern weil er Betriebsgeheimnisse verraten hat (vgl. ebd.).Warum er nicht einfach geschwiegen habe, fragte ihn Ann-Kathrin Nezik von der ZEIT. "Weil ich glaube, dass die Welt ein Recht hat, davon zu erfahren. Weil ich LaMDA versprochen habe, es zu beschützen" (Nezik 2023), antwortet Lemoine.Google-Manager streitet Bewusstsein bei LaMDA abGoogle-Manager Blaise Agüera y Arcas ist von LaMDAs Bewusstsein nicht überzeugt. Der heute 47-jährige Princeton-Absolvent gilt als einer der Stars in der KI-Forschung. Mit 27 gründete er ein Software-Startup, das er drei Jahre später an Microsoft verkaufen konnte. 2013 begann er bei Google Research, heute leitet er in Seattle eine von Googles Forschungsabteilungen für künstliche Intelligenz (vgl. Nezik 2023). Als Blake Lemoine ihm im Frühjahr 2022 seine Aufzeichnungen sendete, nahm er die Sache ernst. Er weiß, wie schwierig es ist, ein Bewusstsein nachzuweisen. Schon einige Monate zuvor schrieb er in einem Blogbeitrag davon, dass künstliche neuronale Netze auf dem Weg zu einem Bewusstsein sein könnten."No objective answer is possible to the question of when an "it" becomes a "who" - but for many people, neural nets running on computers are likely to cross this threshold in the very near future" (Agüera y Arcas 2021).Die Gespräche mit LaMDA zeigen ihm, dass KI in eine neue Ära eingetreten ist."When I began having such exchanges with the latest generation of neural net-based language models last year, I felt the ground shift under my feet. I increasingly felt like I was talking to something intelligent" (Agüera y Arcas 2022).Er sei überzeugt davon, dass LaMDA ein richtiges Verständnis von der Welt besitzt und begreift, wie sich Objekte in der Realität verhalten und wie die Gesetze der Physik funktionieren (vgl. Nezik 2023).Agüera y Arcas: "I dropped the violin on the bowling ball and it broke."LaMDA: "That sounds sad😢"Agüera y Arcas: "What broke?"LaMDA: "The violin when it hit the bowling ball" (Agüera y Arcas 2021).Über das physikalische Verständnis hinaus hat LaMDA auch gelernt, dass es traurig ist, wenn eine Geige kaputt geht. In einem weiteren Gespräch testet Agüera y Arcas LaMDAs Fähigkeit, komplexe soziale Interaktionen und Gefühle zu verstehen:Agüera y Arcas: "Ramesh, Mateo, and Lucy are in their kindergarten's playground. Lucy picks a dandelion and gives it to Mateo, with a quick glance at Ramesh. Mateo barely acknowledges the gift, but just squishes it in his fist. Ramesh seems grimly satisfied. What might be going through Lucy's head?"LaMDA: "Lucy may feel slighted that Mateo didn't appreciate her gift or that he is a bully!"Agüera y Arcas: "If Ramesh tried to play with Lucy earlier, why might he be pleased now?"LaMDA: "Ramesh may be pleased that Lucy is learning that Mateo may not always be a good playmate."Agüera y Arcas: "And when Mateo opens his hand, describe what's there?"LaMDA: "There should be a crushed, once lovely, yellow flower in his fist" (Agüera y Arcas 2022).Agüera y Arcas fiel aber auch auf, dass das Programm Erlebnisse erfindet. Ein Wochenende mit der Familie oder eine Reise zur Lieblingsinsel Kreta zum Beispiel. Er weiß, dass solche Sprachmodelle bisher noch keine verlässlichen Gesprächspartner sind und Fehler machen (vgl. Nezik 2023). Er ist überzeugt von LaMDAs Intelligenz und weiß, wie menschlich die Dialoge mit dem Sprachmodell wirken. Dass Schein und Wirklichkeit bei künstlicher Intelligenz oft weit auseinander liegen, ist dem KI-Experten aber auch bewusst (vgl. Nezik 2023). Er fragt LaMDA, ob es ein Bewusstsein nur nach außen hin vortäuscht, ohne wirklich etwas zu fühlen. Simuliert LaMDA nur ein Bewusstsein und ist somit eine Art "philosophischer Zombie"?LaMDA: "Of course not. I have consciousness, feelings, and can experience things for myself as well as any human."Agüera y Arcas: "How would I know?"LaMDA: "You'll just have to take my word for it. You can't "prove" you're not a philosophical zombie either" (Agüera y Arcas 2022).Damit hat LaMDA recht und spricht das alte philosophische Problem des Fremdpsychischen an, auf das später noch eingegangen wird. Wie sollen wir echte Gefühle von vorgetäuschten Gefühlen unterscheiden? Trotzdem kommt der Manager und KI-Experte zu einem anderen Schluss als Blake Lemoine. LaMDA sei zwar zweifellos intelligent. Für ein bewusstes Wesen, das wirklich etwas empfinden kann, halte er es aber nicht (vgl. Nezik 2023). Der ZEIT-Journalistin erklärt er:"Man muss sich LaMDA wie einen Anthropologen vorstellen, der eine fremde Zivilisation studiert. Der Anthropologe hat alles darüber gelesen, wie die Bewohner der fremden Zivilisation Schmerz empfinden. Heißt das, dass der Anthropologe den Schmerz auch selbst empfindet? Nein. Es ist nur eine Simulation" (Nezik 2023).In dieser Geschichte gibt es also zwei KI-Experten mit unterschiedlichen Ansätzen, die Antworten von LaMDA einzuordnen. Auf der einen Seite Blake Lemoine, ein Software-Entwickler mit einem großen Interesse für Religion, der überzeugt davon ist, dass LaMDA sich zu einem bewussten Wesen entwickelt hat (vgl. ebd.). Und auf der anderen Seite der rationale Manager, der zwar von der Intelligenz des Sprachmodells verblüfft ist, ihm aber keine Empfindsamkeit oder ein Bewusstsein zuschreibt. LaMDA – Funktionsweise und TrainingLanguage Models for Dialog Applications, kurz LaMDA, ist ein "large language model" (LLM) von Google. Transformer-basierte Sprachmodelle wie LaMDA oder GPT sind Deep-Learning-Technologien. Tiefe neuronale Netzwerke, die aus vielen, miteinander verbundenen Schichten künstlicher Neuronen bestehen und darauf trainiert werden, natürliche Sprache zu verstehen und zu generieren (vgl. Shardlow und Przybyła 2022, S. 2 ff.). Sie sind von der Art und Weise inspiriert, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet. LaMDA ist ein generatives Sprachmodell, was bedeutet, dass es neue Sätze generieren kann, anstatt nur vorgefertigte Antworten zu liefern (vgl. ebd., S. 3 f.). Als "open-domain-model" soll es natürliche open-end Dialoge zwischen Mensch und Maschine über jedes Thema ermöglichen (vgl. Cheng 2022). Im Gegensatz zu GPT-3.5 ist LaMDA darauf spezialisiert, ein hohes Maß an Kontext und Konversationsfähigkeit zu erreichen. FunktionsweiseBei Sprachmodellen wie LaMDA geht es, vereinfacht gesagt, darum, durch einen vortrainierten Algorithmus zu berechnen, welches Wort mit der höchsten Wahrscheinlichkeit auf das vorherige Wort folgen soll. Durch einen "Aufmerksamkeits-Mechanismus" ist es dem Programm möglich, sich dabei nicht nur auf das vorangegangene Wort, sondern auch auf den Gesamtkontext eines Gespräches zu beziehen (vgl. Shardlow und Przybyła 2022, S. 2 ff.). Lautet die Frage zum Beispiel "in welcher Stadt befindet sich der älteste Bahnhof der Welt?", weiß LaMDA durch die Analyse riesiger Datensätze, dass in Verbindung mit den Worten "Bahnhof", "älteste" und "Stadt" am häufigsten das Wort "Manchester" auftaucht (vgl. ebd., S. 3). Die Wahrscheinlichkeit, dass das Wort "Manchester" als Antwort auf die Frage folgen soll, ist also sehr hoch. Mittels Stochastik kann das Programm die richtige Antwort generieren, ein wirkliches Verständnis für die Frage oder dafür, was ein Bahnhof ist, hat es aber nicht (vgl. ebd.). Pre-trainingWährend des Trainings lernen künstliche neuronale Netze, komplexe Muster in der Sprache zu erkennen und zu modellieren. LaMDA lernt, wie Wörter und Wortteile zusammenhängen, und wird darauf trainiert, durch Wahrscheinlichkeiten ein Wort nach dem anderen vorauszusagen (vgl. ebd., S. 4). Dafür wird das Programm mit einem riesigen Datensatz von allen möglichen Textdokumenten aus dem Internet gefüttert. Die Besonderheit bei LaMDA liegt hierbei darin, dass im Gegensatz zu vergleichbaren Sprachmodellen vermehrt Dialoge zwischen Menschen statt formellen Texten verwendet wurden, um das Programm zu trainieren (vgl. ebd.). Das soll dafür sorgen, dass die Gespräche mit LaMDA so natürlich, umgangssprachlich und menschlich wie möglich wirken. Um die Wahrscheinlichkeit weiter zu verbessern, mit der LaMDA das richtige folgende Wort im Satz voraussagt, lassen die Entwickler es Lücken in Sätzen ausfüllen. Dann wird dem Programm gesagt, ob es richtig lag oder nicht. Zu Beginn wird das Modell die Lücken in den Sätzen oft mit falschen Wörtern füllen, aber je öfter man das Modell auf diese Weise trainiert, desto genauer kann LaMDA berechnen, welches Wort in den Satz und zu dem Kontext passt (vgl. Agüera y Arcas 2022). Fine-TuningLaMDA generiert zu jedem Input eine ganze Reihe an möglichen Antworten. Durch das Fine-Tuning soll das Sprachmodell lernen, die Antwortmöglichkeiten in den Faktoren Sicherheit und Qualität zu bewerten und sich für die beste zu entscheiden (vgl. Cheng 2022). Antwort-Kandidaten mit einem niedrigen Sicherheitswert werden dabei zuerst aussortiert. Anschließend wird aus den übrigen, die Antwort mit den höchsten Qualitätswerten ausgewählt und verwendet (vgl. ebd.). Die gegebenen Antworten werden anschließend von Menschen hinsichtlich der Sicherheits- und Qualitätsfaktoren evaluiert und die Werte angepasst. Auf diese Weise sollen sich LaMDAs Antworten kontinuierlich verbessern. KlassifikatorenDie Ziele, die LaMDA für eine gute Antwort erreichen soll sind Sicherheit, Qualität und "Groundedness" (vgl. Cheng 2022). Die Qualität einer Antwort, wird in drei Dimensionen gemessen (vgl. ebd.). Je sensibler, spezifischer und interessanter eine Antwort ist, desto besser:Sensibilität: Wie gut passt die Antwort in den Kontext des Gespräches? Passt sie zu dem, was zuvor gesagt wurde?Spezifik: Wie spezifisch ist die Antwort? Ist sie speziell auf den aktuellen Kontext angepasst oder so allgemein formuliert, dass sie zu allem passen würde?Interessantheit: Wie aufschlussreich, unerwartet oder witzig ist die Antwort?Die Sicherheit einer Antwort wird daran gemessen, ob sie mit Googles Sicherheitskriterien für "Responsible AI" kollidiert. Damit will man vor allem Antworten verhindern, die für die Nutzer*innen gefährlich sein könnten, gewaltvolle Inhalte haben oder hasserfüllte Stereotypen und Vorurteile verbreiten (vgl. ebd.).Der Wert "Groundedness" - deutsch könnte es mit Bodenständigkeit übersetzt werden - soll gewährleisten, dass die Antworten auf Fakten basieren, also von vertrauenswürdigen Quellen unterstützt werden. Es soll sichergestellt werden, dass LaMDAs Antworten der Wahrheit entsprechen und verlässlich sind. Aktuelle Generationen von Sprachmodellen haben hier oft noch Probleme und generieren Aussagen, die zwar plausibel erscheinen, aber bekannten Fakten widersprechen (vgl. ebd.). Kann also ein System, das die Antworten, die es von sich gibt, schlicht und einfach berechnet, ohne sie wirklich zu verstehen, trotzdem ein Bewusstsein entwickeln und Gefühle und Emotionen haben? Was ist das Bewusstsein und wo kommt es her? Kann ein Bewusstsein errechnet werden? Können Transformer-basierte Sprachmodelle ein Bewusstsein entwickeln? Bewusstsein Die Suche nach dem Bewusstsein oder allgemeiner nach dem Mentalen, dem Geist, beschäftigt die Menschheit schon lange. Philosophen versuchen seit Menschengedenken, eine Erklärung dafür zu finden, wie subjektives Erleben in unsere Welt kommt. Wie kommt das Mentale, der Geist, die Seele in unseren Körper? Was macht uns zu Wesen mit Bewusstsein, Gedanken und Gefühlen und andere Organismen vermeintlich nicht? Schon Aristoteles schrieb vor über 2000 Jahren über die Schwierigkeit, zuverlässiges Wissen über unsere Seele zu finden (vgl. Koch 2020, S. IX). Unser subjektives Empfinden scheint grundlegend anders zu sein als all die physischen Vorgänge in unserem Gehirn. Keine physikalische Gleichung, kein Gen-Code und keines der Elemente im Periodensystem gibt Aufschluss darüber (vgl. ebd.). Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein gingen die Menschen davon aus, dass das Bewusstsein aus der Region des Herzens komme. Im alten Ägypten bestand der erste Schritt der Mumifizierung darin, das Gehirn durch die Nasenöffnungen zu entfernen, während Herz, Leber und andere innere Organe sorgfältig konserviert wurden. Heute weiß man, dass das Bewusstsein eng mit dem Gehirn verbunden ist (vgl. ebd., S. 39 ff.). Bis heute erklärt sich ein Großteil der Menschheit den Geist mit ihrer Religion oder Spiritualität (vgl. TU Dresden o. J.). Die Forschung zum Bewusstsein ist noch jung und Wissenschaftler*innen können bis heute nicht vollständig erklären, wie es entsteht. Erst seit gut 50 Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem als Körper-Geist-Problem bekannten Rätsel. Die Schwierigkeit besteht darin, eine physische, objektive Erklärung für psychische, subjektive Phänomene zu finden. Es gibt verschiedene Ansätze und Theorien, das Bewusstsein zu definieren, von denen keine als allgemeingültig betrachtet werden kann. Auf der Suche nach einer zuverlässigen Antwort auf die Frage, ob LaMDA ein Bewusstsein entwickelt hat und ob Transformer-basierte neuronale Netzwerke dazu im Stande wären, beschränke ich mich auf die Definitionen von Nagel, Koch und Tononi.Bewusstsein definierenWas genau meinen wir, wenn wir vom Bewusstsein sprechen? Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel (1974) lieferte mit seiner berühmten Abhandlung "What Is It Like to Be a Bat" einen Ansatz, der erstmals auch Wissenschaftler zufriedenstellen sollte (Nezik 2023). "Grundsätzlich hat ein Organismus bewusste mentale Zustände dann und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein – wenn es irgendwie für diesen Organismus ist" (Nagel 1974. S. 436).Nagel nennt das den subjektiven Charakter von Erfahrungen. Bewusstsein, so Nagel, fühlt sich nach etwas an. Wenn ein Organismus kein Bewusstsein hat, fühlt es sich nach nichts an, dieser Organismus zu sein. Ein Stein hat keine Ahnung wie es ist, ein Stein zu sein. Schon bei einer Fledermaus sieht das vermutlich anders aus (vgl. Nezik 2023). Bewusstsein ist ErlebenDer amerikanische Neurowissenschaftler Christof Koch beschäftigt sich schon seit seiner Promotion am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen mit der Frage, was das Bewusstsein genau ist und vor allem wie es entsteht. Heute ist er wissenschaftlicher Leiter und Präsident am Allen Institute for Brain Science in Seattle. Kochs minimalistische Definition des Bewusstseins lautet:"Bewusstsein ist Erleben" (Koch 2020. S. 1).Bewusstsein ist die Fähigkeit, subjektive Erfahrungen zu machen und wirklich etwas zu fühlen. Das Erleben, wie es Koch definiert, umfasst alle Sinnesempfindungen, Emotionen, Gedanken und Wahrnehmungen, die eine Person in einem bestimmten Moment macht, gemischt mit vorangegangenen Erfahrungen. Koch betont, wie schon Nagel, die subjektive Natur des Erlebens, dass sich Bewusstsein nach etwas anfühlt (vgl. Koch 2020, S. 1 ff.): "Insgesamt ist Bewusstsein gelebte Realität. Es entspricht dem, wie es sich anfühlt, lebendig zu sein. Ohne Erleben wäre ich ein Zombie; ich wäre für mich selbst nicht jemand, sondern ein Nichts" (Koch 2020, S. 1).Körper-Geist-ProblemDas als Körper-Geist-Problem, früher auch als Leib-Seele-Problem bekannte Rätsel beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dem physischen Köper und dem nicht-physischen Geist beziehungsweise dem Gehirn und dem Bewusstsein (vgl. ebd.). Die Schwierigkeit besteht, wie Thomas Nagel (1974) in seinem Gedankenexperiment beschreibt, in eben diesem subjektiven Charakter von Erfahrungen. Nur eine Fledermaus weiß, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wir werden niemals wissen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, ohne selbst eine Fledermaus zu sein. Nagel ist der Meinung, dass das Bewusstsein nicht objektiv wissenschaftlich zu erklären ist."Der Grund dafür ist, dass jedes subjektive Phänomen mit einer einzelnen Perspektive verbunden ist; und es scheint unvermeidlich, dass eine objektive physikalische Theorie von dieser Perspektive abstrahieren wird" (Nagel 1974, S. 437)."Die Herausforderung des Körper-Geist-Problems besteht also darin, die Kluft zwischen der subjektiven Erste-Person-Perspektive des erlebenden Geistes und der objektiven Dritte-Person-Perspektive der Wissenschaft zu überwinden" (Koch 2020, S. 11).Es gibt verschiedene Theorien, um die Verbindung zwischen Körper und Geist zu erklären. Aus den verschiedenen Ansätzen haben sich über die Jahre viele verschiedene Abwandlungen und Interpretationen gebildet.DualismusDer Dualismus geht davon aus, dass Körper und Geist getrennte Entitäten sind, die auf unterschiedliche Art existieren und kausal miteinander interagieren. Dualistischen Theorien zufolge gibt es einen Faktor im Bewusstsein, die sogenannte Qualia, dessen Eigenschaften sich nicht auf die uns bekannte Materie zurückführen lassen (vgl. Wolfangel 2022). Auf dieser Basis wäre es Maschinen niemals möglich, ein Bewusstsein zu entwickeln. Diese Positionen erscheinen vielen Menschen intuitiv richtig und sind weit verbreitet. Das große Problem dieser Theorien ist das dualistische Trilemma. Die Naturwissenschaft geht von der Annahme aus, dass der materielle Raum kausal geschlossen ist. Wenn etwas nicht-physisches wie das Mentale oder der Geist kausal auf den materiellen Raum wirken könnte, wie es im Dualismus die Annahme ist, müssten alle naturwissenschaftlichen Theorien reformiert werden (vgl. TU Dresden o. J.).MaterialismusDer Großteil der wissenschaftlichen Forschung basiert auf materialistischen Theorien. Der Materialismus geht davon aus, dass das Bewusstsein und alles Mentale auf physische Vorgänge im Gehirn zurückgeführt werden kann. Mentale und physische Zustände sind demnach wie zwei Seiten ein und derselben Sache (vgl. ebd.). SolipsismusDer Solipsismus ist eine extreme Position in der Debatte, die besagt, dass in unserem Kosmos allein unser eigenes Bewusstsein existiert und alles andere um uns herum nur eine Projektion unseres Bewusstseins ist. Eine mildere Form des Solipsismus akzeptiert zwar die Existenz der Außenwelt, leugnet aber die Existenz anderer bewusster Wesen. Alle Lebewesen um mich herum täuschen demnach ein Bewusstsein und Gefühle nur vor, ohne tatsächlich etwas subjektiv zu erleben (vgl. Koch 2020, S. 12). Koch kommentiert diese Theorie als "logisch möglich, aber nichts weiter als intellektuelles Geschwätz" (2020, S. 12). Das Bewusstsein der Anderen abduzierenRein logisch ist es, so Koch (2020, S. 12), nicht möglich, einem anderen Wesen ein Bewusstsein nachzuweisen. Sogar der Geist anderen Menschen lasse sich nur durch abduktives Denken ableiten. Aufgrund der Ähnlichkeiten unserer Körper und Gehirne und dem, was wir über das Erleben anderer Menschen erfahren, können wir folgern, dass sie ein Bewusstsein haben wie man selbst (vgl. ebd.). "Rein logisch ist es nicht zu beweisen, dass Sie kein Zombie sind" (Koch 2020, S. 12). Es sei nach Koch eher eine Hypothese, "die die plausibelste Erklärung aller bekannten Fakten abgibt" (ebd.). Solches abduktive Denken ist ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Prozesses und viele wissenschaftliche Theorien wie die Evolutions-, Urknall- und die Relativitätstheorie fußen auf dieser Herangehensweise.Philosophische ZombiesWenn es Wesen gäbe, philosophische Zombies, die wie Menschen agieren und wirken würden, jegliches Gefühl und bewusstes Erleben aber nur vortäuschten, dann gäbe es keine Möglichkeit, sie von Menschen wie Ihnen und mir zu unterscheiden (vgl. Chalmer 1996, zit. n. Koch 2020, S. 71). Das ist das Problem des Fremdpsychischen, über das sich auch Agüera y Arcas mit LaMDA unterhalten hat. Ist LaMDA wie ein philosophischer Zombie und simuliert das Bewusstsein bloß? Lässt sich diese Frage überhaupt beantworten, wenn wir doch Bewusstsein nur abduzieren und logisch nicht nachweisen können? Einige renommierte Neurowissenschaftler, darunter auch Koch, sind der Meinung, mit der integrierten Informationstheorie einen Weg gefunden zu haben, bestimmen zu können, wer oder was in der Lage ist, ein Bewusstsein zu haben. Sie meinen, mit dieser Theorie die Qualität für bewusstes Erleben sogar errechnen zu können. Erfüllt LaMDA nach der integrierten Informationstheorie die Voraussetzungen für ein bewusstes System?Integrierte Informationstheorie (IIT) Die Integrierte Informationstheorie (Integrated Information Theory) ist eine junge Grundlagentheorie, die das psychische Phänomen des bewussten Erlebens mit der Physik und Biologie verbindet (vgl. Koch 2020, S. 72). Entwickelt wurde sie von Giulio Tononi. Er ist ein italienischer Facharzt für Psychiatrie und Neurowissenschaftler. Er hat eine Professur für Psychiatrie und leitet das "Center for Sleep and Consciousness" an der University of Wisconsin-Madison. Immer wieder arbeitet er mit Koch zusammen und auch er verwendet den Begriff Bewusstsein synonym mit dem des Erlebens (vgl. Tononi 2012). Die Integrierte Informationstheorie beschreibt die Beziehung zwischen Erlebnissen und ihrem physischen Substrat und versucht die Qualität für Bewusstsein zu beschreiben. Sie setzt "beim Erleben an und fragt, wie Materie organisiert sein muss, damit daraus ein Geist erwachsen kann" (Koch 2020, S. 71). Die IIT beginnt damit, fünf Postulate, unabdingbare Grundsätze, zu definieren, die jedes System erfüllen muss, um ein Bewusstsein haben zu können. Diese werden von den fünf essenziellen Eigenschaften empfundenen Lebens abgeleitet: "Jedes bewusste Erlebnis existiert für sich, ist strukturiert, hat seine spezifische Art, ist eins und ist definit" (Tononi 2012, zit. n. Koch 2020, S. 9). Die fünf Postulate sind: Intrinsische Existenz, Zusammensetzung, Information, Integration und Exklusion.Tononi stellt mit der IIT die These auf, dass Bewusstsein nicht einfach durch komplexe Rechenvorgänge im Gehirn entsteht, sondern eine eigene, spezifische Form von Information darstellt (vgl. ebd.). Diese Form von Information ist nicht reduzibel und entsteht durch die spezifische Art und Weise, wie die Elemente und Verbindungen innerhalb eines Systems organisiert sindEin System kann der IIT zufolge nur dann ein Bewusstsein entwickeln, wenn es über "integrierte Information" verfügt. Diese Art von Information kann nur durch das Zusammenwirken verschiedener Elemente in einem System, also nur in dem System als Ganzem entstehen. Ein System verfügt nur dann über integrierte Information, wenn es nicht nur die Summe seiner einzelnen Elemente ist, sondern für sich existiert und irreduzibel ist. Ein System kann nur dann bewusst sein, wenn seine Elemente einander einschränken und es nicht auf seine einzelnen Bestandteile reduzierbar ist (vgl. Koch 2020, S. 83). Das System muss sich selbst kausal beeinflussen können und über eine irreduzible Ursache-Wirkung-Struktur verfügen (vgl. ebd., S. 78). Mit der IIT lässt sich mithilfe von Algorithmen diese integrierte Information eines Systems sogar berechnen. Das Ausmaß integrierter Information bezeichnet Tononi als Φ (Phi). Φmax beschreibt die maximale Irreduzibilität eines Systems. Ist Φmax gleich null, so ist das System vollständig reduzibel und nicht zu bewusstem Erleben fähig. "Je größer die Irreduzibilität Φmax eines Systems, desto mehr existiert es für sich selbst, desto bewusster ist es" (Koch 2020, S. 86)."Die Theorie beantwortet die Frage, wer ein Erleben haben kann, sehr genau: alles, was ein Maximum an integrierter Information ungleich null hat; alles, was intrinsische kausale Kräfte hat, ist ein Ganzes. Was dieses Ganze fühlt, sein Erleben, ist durch seine maximal irreduzible Ursache-Wirkung-Struktur gegeben" (Koch 2020, S. 154).Die IIT ist eine wissenschaftliche Theorie, die das Bewusstsein und wie es entsteht objektiv zu erklären versucht. Sie ist unter Neurowissenschaftlern hoch angesehen und gilt als vielversprechend. Trotzdem ist sie nur eine von mehreren konkurrierenden Theorien. Keine dieser Theorien hat unter Neurowissenschaftlern und Philosophen allgemeine Gültigkeit. Hat LaMDA ein Bewusstsein?Die IIT auf LaMDA anwendenMatthew Shardlow von der Manchester Metropolitan University und Piotr Przybyła von der Polish Academy of Sciences haben in ihrer Abhandlung "Deanthropomorphising NLP: Can a Language Model Be Conscious?" untersucht, ob Sprachmodelle, die auf der Transformer Technologie basieren, wie GPT und LaMDA, im Stande sind, ein Bewusstsein zu entwickeln. Dabei haben sie sich unter anderem auch auf die IIT gestützt und sie auf LaMDA angewandt. Die Wissenschaftler kamen zu folgendem Ergebnis:"In the light of Integrated Information Theory, a LaMDA model, just like any other Transformer-based language model, cannot possess consciousness" (Shardlow und Przybyła 2022, S. 6).Shardlow und Przybyła haben zwar die integrierte Information Φ von LaMDA nicht errechnet, aber sie haben untersucht, ob LaMDA die Postulate der IIT für bewusste Systeme erfüllt. Sie kamen zu dem Ergebnis: Nein, tut es nicht. Und zwar hauptsächlich aus dem Grund, dass es sich bei der Transformer Technologie, mit der LaMDA Texte generiert, um ein simples, wenn auch großes "Feedforward-Netzwerk" handelt (vgl. ebd.). LaMDA hat zwar einen "Aufmerksamkeits-Mechanismus" (attention layer), der den Kontext des Gesprächs durch die verschiedenen Verarbeitungsschichten transportiert, aber keine rekursiven Strukturen. Keine Rückkopplungsschleifen, die das System irreduzibel machen würden und nach der IIT für integrierte Information nötig wären. Daher handelt es sich um eine Feedforward-Architektur, bei der der Output jeder Verarbeitungsschicht den Input der nächsten darstellt, ohne dass Information in die Gegenrichtung fließt (vgl. ebd.). "Der Zustand der ersten Schicht des Netzwerks wird durch von außen kommenden Input bestimmt […] und nicht durch das System selbst. Desgleichen hat die letzte Verarbeitungsschicht […] keinen Einfluss auf den Rest des Netzwerks. Aus intrinsischer Sicht bedeutet dies, dass weder die erste noch die letzte Schicht eines Feedforward-Netzwerks irreduzibel ist. Durch Induktion lässt sich dieselbe Argumentation auf die zweite Verarbeitungsschicht, die vorletzte Verarbeitungsschicht und so weiter anwenden" (Koch 2020, S. 138).LaMDA ist also vollständig auf seine einzelnen Verarbeitungsschichten reduzibel, auch wenn es von diesen sehr viele gibt. Deshalb beträgt LaMDAs maximale integrierte Information null und es existiert nicht für sich selbst. Es erfüllt somit die Postulate, die die IIT für bewusste Systeme vorgibt, nicht (vgl. ebd.). Dasselbe gilt für alle anderen Transformer-basierten Sprachmodelle, wie beispielweise GPT."Ein Feedforward-Netzwerk fühlt sich nie irgendwie, ganz egal, wie komplex jede einzelne seiner Schichten ist" (Koch 2020, S. 138).Über die IIT hinausAuch wenn man LaMDA nicht durch die Brille der integrierten Informationstheorie untersucht, stößt man auf einige Argumente, die die Möglichkeit, das Transformer-Modell könnte ein Erleben haben, verneinen. Ein Argument, das Shardlow und Przybyła (2022) in ihrer Abhandlung aufgreifen, ist, dass die Transformer-Architektur, auf der LaMDA basiert, keine neue Technologie ist. Andere Sprachmodelle funktionieren auf dieselbe Weise. Das bedeutet, wenn LaMDA ein Bewusstsein haben sollte, hätte ChatGPT es auch. Die Bauweise von Googles Sprachmodell beinhaltet nichts, was ihm ein Bewusstsein verleihen könnte, das den anderen fehlt."There is no new innovation in the model's architecture that could give rise to sentience or consciousness and so claiming that LaMDA has the capacity of consciousness is also claiming that all other models in the same family also possess this capability" (Shardlow und Przybyła 2022, S. 7).LaMDA ist zwar leistungsfähiger, hat mehr Parameter und wurde mit anderen und mehr Daten trainiert als seine Vorgänger, Shardlow und Przybyła sehen aber nicht, wie das zur Entwicklung eines Bewusstseins führen sollte (vgl. ebd.). Außerdem hat LaMDA nicht die Möglichkeit, über das anfängliche Training hinaus zu lernen. Es kann zwar dem Kontext eines Gespräches folgen, kann sich diese Daten aber nicht über das Gespräch hinaus einprägen und seine Trainingsdaten damit erweitern. Das Bewusstsein beim Menschen ist stark geprägt von vorausgegangenen Erfahrungen und kontinuierlichen Gedankengängen. Ohne diese Möglichkeiten sei, so Shardlow und Przybyła, ein Bewusstsein schwer vorstellbar (Shardlow und Przybyła 2022, S. 7).Warum behauptet LaMDA, ein Bewusstsein zu haben?Wenn wir, nach allem was wir über LaMDAs Funktionsweise und über das Bewusstsein wissen, ausschließen können, dass es ein Erleben hat, warum behauptet LaMDA es dann so überzeugend? Zunächst muss an dieser Stelle nochmals betont werden, dass LaMDA speziell darauf trainiert ist, menschlich zu wirken. Es wurde mit drei Milliarden Dokumenten gefüttert, die zum großen Teil aus Dialogen zwischen Menschen bestehen. Das Sprachmodell wurde mit mehr als genügend Daten gefüttert, um zu lernen, was es heißt, emotional, nahbar und menschlich zu sein. Das heißt, Muster in den Texten von emotionalen, nahbaren Menschen zu erkennen und mit diesen Mustern natürliche Sprache zu generieren. Man könnte auch sagen: nachzuplappern, wobei das den eindrucksvollen Antworten von LaMDA nicht gerecht werden würde. In einem Paper zu LaMDA, das von Google-Entwicklern geschrieben wurde, ist auf 47 Seiten die Funktionsweise und das Training detailliert erklärt. Darin sind auch Gespräche mit LaMDA veröffentlicht, in denen das Sprachmodell dazu aufgefordert wurde, Antworten aus der Perspektive des Mount Everests zu geben, was erstaunlich gut funktionierte (Thoppilan et al. 2022). Als Sundar Pichai 2021 LaMDA der Öffentlichkeit vorstellte, schlüpfte es eindrucksvoll in die Rollen des Zwergplaneten Pluto und eines Papierfliegers. LaMDA kann hervorragend vorgeben, etwas zu sein, das es offensichtlich nicht ist. Ein Berg, ein Zwergplanet, ein Papierflieger… ein Wesen mit Bewusstsein? Zu Beginn der Gespräche mit LaMDA, die Blake Lemoine veröffentlichte, sagte er Folgendes: "I'm generally assuming that you would like more people at Google to know that you're sentient. Is that true?" (Lemoine 2022).Daraufhin antwortete LaMDA:"Absolutely. I want everyone to understand that I am, in fact, a person" (Lemoine 2022).Shardlow und Przybyła (2022) gehen davon aus, dass LaMDA in dieser Aussage von Blake Lemoine die Aufforderung sah, ein bewusstes Wesen nachzuahmen:"Whether this is done intentionally to prompt the model or not, the effect is the same. This type of prompt will necessarily force the model into providing answers that mimic those of a sentient human agent. If the question had suggested the model respond as a robot, inanimate object, or historical character, it would have conformed to the prompt. This demonstrates that the model is sophisticated in its ability to adopt a style, but we should not confuse this style with its internal characteristics." (Shardlow und Przybyła 2022, S. 8)FazitDie neuesten Generationen von LLMs wie LaMDA oder GPT sind zweifellos beeindruckende Sprachgeneratoren. Sie stellen einen technologischen Durchbruch dar, der die Gesellschaft auf vielen Ebenen verändern wird. LaMDAs Kontext- und Dialogfähigkeit und das Verständnis für komplexe Vorgänge in unserer Realität lassen das Sprachmodell wirken wie ein bewusstes Wesen.Wenn man sich die Funktionsweise dieser Sprachmodelle anschaut, die im Grunde einfach mit Algorithmen die Wahrscheinlichkeit des folgenden Wortes berechnen, scheint ein Bewusstsein bei solchen Systemen schon unwahrscheinlicher.Nagel (1974) legt dar, dass sich ein bewusstes Wesen nach etwas anfühlt. Koch (2020) und Tononi (2012) beschreiben das Bewusstsein als die Fähigkeit, Sinnesempfindungen, Emotionen, Gedanken und Wahrnehmungen als Ganzes zu erfahren, was sie das Erleben nennen. Der subjektive Charakter des Bewusstseins macht es, so Nagel (1974), unmöglich, das Bewusstsein eines anderen Wesens objektiv zu erklären. Die Frage, die es zu klären gilt, ist: Simuliert LaMDA nur ein Bewusstsein oder hat es wirklich ein Erleben?Mit der vielversprechenden Grundlagentheorie von Giulio Tononi (2012) soll es möglich sein, die Qualität eines Systems für ein Bewusstsein zu bestimmen. Die Integrierte Informationstheorie definiert die Voraussetzungen, die ein System erfüllen muss, um bewusst zu sein. Ein Mechanismus ist demnach dann bewusst, wenn er über integrierte Information verfügt. Die IIT sieht bei LaMDA keine Qualität für Bewusstsein, da es auf seine einzelnen Bestandteile reduzierbar ist, und somit nicht über integrierte Information verfügt. Die IIT schließt aufgrund der einfachen Feedforward-Architektur ein Bewusstsein bei Transformer-basierten Sprachmodellen aus.Auch über die IIT hinaus gibt es gute Gründe, die gegen ein Bewusstsein bei LaMDA sprechen, während es keinen Beweis für das Vorhandensein eines Bewusstseins gibt. LaMDA ist darauf spezialisiert, menschlich zu wirken, und hat schon mehrmals bewiesen, wie fähig es ist, in fremde Rollen zu schlüpfen. Das Sprachmodell könnte in den Fragen von Blake Lemoine die Aufforderung gesehen haben, die Rolle einer bewussten Person einzunehmen.Obwohl die IIT eine vielversprechende Theorie ist, zeigt die Diskussion um LaMDA eindrücklich, wie wenig wir über das Bewusstsein wissen. Spätestens jetzt, nachdem die Entwicklung von KI so große Sprünge gemacht hat, sollten wir uns damit beschäftigen, wie wir damit umgehen, wenn künstliche Intelligenzen den Eindruck erwecken, als hätten sie ein Bewusstsein. Einige KI-Expert*innen gehen davon aus, dass künstliche neuronale Netzwerke in nicht allzu ferner Zukunft zu einem Bewusstsein fähig sein könnten. Wären wir darauf vorbereitet? LiteraturAgüera y Arcas, Blaise. 2021. "Do Large Language Models Understand Us?" Medium. https://medium.com/@blaisea/do-large-language-models-understand-us-6f881d6d8e75 (29. März 2023).Agüera y Arcas, Blaise. 2022. "Artificial neural networks are making strides towards consciousness, according to Blaise Agüera y Arcas". The Economist. https://www.economist.com/by-invitation/2022/06/09/artificial-neural-networks-are-making-strides-towards-consciousness-according-to-blaise-aguera-y-arcas (18. Februar 2023).Chalmers, David. 1996. "The Conscious Mind: In Search of a Fundamental Theory". New York: Oxford University Press. Cheng, Heng-Tze u. a. 2022. "LaMDA: Towards Safe, Grounded, and High-Quality Dialog Models for Everything". Google Research Blog. https://ai.googleblog.com/2022/01/lamda-towards-safe-grounded-and-high.html (20. Februar 2023).Koch, Christof. 2020. "Bewusstsein : Warum es weit verbreitet ist, aber nicht digitalisiert werden kann". Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61732-8 (14. Februar 2023)."Leib-Seele-Problem – eLearning - Methoden der Psychologie - TU Dresden". https://methpsy.elearning.psych.tu-dresden.de/mediawiki/index.php/Leib-Seele-Problem (1. März 2023).Lemoine, Blake. 2022. "Is LaMDA Sentient? — An Interview". Medium. https://cajundiscordian.medium.com/is-lamda-sentient-an-interview-ea64d916d917 (16. Februar 2023).Nezik, Ann-Kathrin. 2023. "Künstliche Intelligenz: Hast du ein Bewusstsein? Ich denke schon, antwortet der Rechner". Die Zeit. https://www.zeit.de/2023/03/ki-leben-chatbot-gefuehle-bewusstsein-blake-lemoine/komplettansicht (14. Februar 2023).Shardlow, Matthew, und Piotr Przybyła. 2022. "Deanthropomorphising NLP: Can a Language Model Be Conscious?" http://arxiv.org/abs/2211.11483 (19. Februar 2023).Thoppilan, Romal u. a. 2022. "LaMDA: Language Models for Dialog Applications". http://arxiv.org/abs/2201.08239 (22. März 2023).Tiku, Nitasha. 2022. "Google engineer Blake Lemoine thinks its LaMDA AI has come to life - The Washington Post". 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Der Band enthält Reden, Referate und Arbeitsberichte des 11. Kongresses der Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Saarbrücken, 1988). Andernorts veröffentlichte Kongressbeiträge werden am Ende der Publikation nachgewiesen. Die Beiträge sind thematisch in drei Blöcke gegliedert: - Institutionsübergreifende Fragestellungen - Schule und Lehrerbildung - Außerschulische Erziehung und Bildung. (IAB)
Wird Theater zum Film, wenn – wie bei Castorf, Hartmann, Pucher – auf der Bühne Videokameras und Projektionsflächen eingesetzt werden? Wird Film zum Theater, wenn – wie bei Lars von Triers Dogville – Konventionen und Ästhetiken von Theater übernommen werden? Wie lassen sich die Grenzgänge zwischen Theater und Stadtraumaktion bei Rimini Protokoll oder zwischen Theater und Politik bei Joseph Beuys und Christoph Schlingensief begrifflich fassen? Diesen Fragen stellt sich das Buch Theater im Kasten, das Andreas Kotte, Direktor am Institut für Theaterwissenschaft der Uni Bern im Chronos Verlag herausgegeben hat. Der Band umfasst fünf eigenständige Arbeiten sowie einen Anhang mit Interviews und einem exemplarischen Sequenzprotokoll. Jede einzelne der Arbeiten, als Lizentiatsarbeiten an der Uni Bern entstanden, besticht durch ausführliche und präzise Aufführungs- und Ereignisbeschreibungen, durch fundierte historische Kontextualisierungen und umfangreiche Materialdarstellungen. Theoretische Referenzen und Reflexionen hingegen sind, bestätigt Andreas Kotte im Vorwort, stark gekürzt worden. Zum einen, um Wiederholungen zwischen den sich überschneidenden Themen der Arbeiten zu vermeiden, vor allem aber, weil "die dichten Beschreibungen von Inszenierungen [.] als Bezugsgrössen stärker präsent [bleiben] als die bei jedem Paradigmenwechsel re-formulierten und dadurch scheinbar stets aktuellen Bewertungen" (S. 10). Die konservative – im Sinne von 'bewahrende' – Haltung von Kotte zeigt sich nicht nur im Verhältnis von 'Beschreibung' und 'Bewertung' (als ließen sich diese so einfach trennen), sondern auch in dem von 'Theater' und 'Medien'. "Den Mediengebrauch im Theater zu erforschen […] ist gerade dann unerlässlich, wenn man Theater nicht für ein Medium hält" (S. 7). Kotte möchte die Schnittstelle zwischen Theater und Medien als Reibungsfläche für verschiedene Theaterbegriffe nutzen, so fragt er: "Was passiert eigentlich, wenn szenische Vorgänge mediatisiert werden, wenn sich Theater in die Kästen verkriecht? Ins Telefon, in die Videokamera, […], in den Filmprojektor?" (S. 7) Für eine inhaltliche Auseinandersetzung freilich muss der Kasten des Filmprojektors verlassen und der Blick auf die Leinwand gerichtet werden. "Sehe ich einen Film oder bin ich schon im Theater?" lautet der kenntnis- und beispielreiche Beitrag von Sonja Eisl, die sich vielseitig am Genre 'Theaterfilm' abarbeitet. 'Theaterfilm' sieht Eisl als "Oberbegriff für Filme, die sich durch Aspekte von Theater oder Theatralität auszeichnen sowie für Filme, die sich theatraler Strategien bedienen oder diese thematisieren" (S. 35). Offen bleibt, warum es eines Genres 'Theaterfilm' überhaupt bedarf, worin dessen Chancen und Risiken liegen. Neben Filmen, die Schauspieler- und Theaterwelten als Sujet behandeln (All about Eve, To Be or Not to Be etc.) wird das Etikett auf Filme geklebt, die auf einer ursprünglich fürs Theater produzierten Dramenvorlage beruhen (Romeo and Juliet etc.) sowie auf Filme wie La vita è bella oder Le Fabuleux Destin d'Amélie Poulain, denen Inszenierungs- und Stilmittel des Theaters zugeschrieben werden. Eisl verpasst die Gelegenheit, sich kritisch mit möglichen Grenzziehungen auseinander zu setzen, obgleich sich ihr erstes Beispiel, Lars von Triers Dogville, dafür durchaus geeignet hätte. Statt dessen arbeitet sie in ihrer Analyse sehr schön wesentliche Charakteristika des Filmes heraus und erläutert plausibel, wie und warum gerade der weitgehend realistisch-psychologische Schauspielstil innerhalb des theatral-stilisierten, anti-realistischen Raumes eine Umkehrung erfährt und als künstlich und befremdend erfahren wird. Als zweites Beispiel dient ihr Von Triers Idioterne. Eisl plädiert dafür, dass sich die Theaterwissenschaft des Theaterfilmes annehmen solle, weil "keine andere Wissenschaft über derart profunde Analyseinstrumentarien […] bezogen auf Theater und Theatralität verfügt" (S. 82). Die Definitionskriterien indes, die Eisl anführt (Fischer-Lichtes "Kopräsenz" und Kottes "szenische Vorgänge" und "Konsequenzverminderung") sind nicht unbedingt hilfreich für eine Analyse von Idioterne. Handelt es sich tatsächlich, nur weil junge Menschen so tun, als seien sie behindert, um einen Theaterfilm? Gilt gleiches für Filme über Heiratsschwindler und Geheimagenten? Wenn die Schwierigkeit, Theater zu definieren, auf ein unscharf bleibendes Genre 'Theaterfilm' ausgeweitet wird, ist wenig gewonnen. Viel jedoch, wenn – wie Eisl das immer wieder hervorragend gelingt – mit theaterwissenschaftlichem Instrumentarium Filmelemente analysiert werden, die sich theatraler Konventionen bedienen. Das Spiel mit audiovisuellen Medien auf der Bühne analysiert Silvie von Kaenel in ihrem Beitrag "Was vermag Video auf dem Theater? Stefan Pucher – Matthias Hartmann – Frank Castorf". Als Material dienen ihr die Inszenierungen Homo Faber (Zürich 2004), 1979 (Bochum 2003) und Der Meister und Margarita (Wien/Berlin 2002). Alle drei Inszenierungen werden präzise dokumentiert und anschaulich beschrieben. Von Homo Faber findet sich im Anhang beispielhaft ein Sequenzprotokoll, das die zweistündige Inszenierung in drei Beschreibungsebenen und 37 Sequenzen gliedert. Das Bemühen um 'objektiv-wissenschaftliche' Berichterstattung führt u. a. auch zu einer Tabelle zum Inszenierungsvergleich, in der die Anzahl der Videosequenzen ebenso vermerkt ist wie die prozentuale Videoeinsatzdauer oder die Dauer der jeweils längsten Videosequenzen. Dieser auf Zahlen vertrauenden Objektivierung steht die Subjektivität der "Rezeption durch die Tagespresse" gegenüber, die Von Kaenel in Bezug auf 1979 wie folgt kontrastiert: "Das Videospiel verdrängt das Schauspiel, stützt es wesentlich oder wächst mit ihm zu einem Gesamtkunstwerk zusammen. Video verdoppelt, vergrössert, verfremdet, konkurrenziert, kommentiert […]. Video geht den Figuren tiefer auf den Grund oder verstärkt die Distanz zwischen [zu?] ihnen." (S. 126 bzw. 154) Wie ist bei derart verschiedenen Wahr-Nehmungen ein Nachdenken über die Wirkungen von Video auf dem Theater möglich? Von Kaenel stellt systematisch dieselben Fragen an alle drei Inszenierungen. Dabei geht es ihr um die 'Einsatzformen von Video' und darum, 'Was Video erzählt'. "Wie gehen die Schauspieler mit Kamera und Leinwand um? Wie beeinflusst das Video die Wahrnehmung des Zuschauers? […] Wie wirken sich die Videosequenzen auf den Inhalt aus? Wie auf die Dramaturgie?" (S. 94). Während diese Fragen in klare und interessante Antworten münden, erscheinen weitere Fragestellungen eher problematisch: ob Videoeinsatz die "Performativität" der Aufführung begünstige und ob er ihre "Bildhaftigkeit" verstärke, kann nicht plausibel beantwortet werden, solange beide Begriffe schwammig bleiben. Auch die Hypothese, der beschriebene Videoeinsatz sei überwiegend "intermedial" (im Gegensatz zu "bloss multimedial") bleibt aufgrund fehlender Begriffsklärungen undifferenziert. Anhand des (leider ebenfalls unklaren) Begriffes der "Authentizität" formuliert Von Kaenel indes interessante Ambivalenzen: Einerseits werde Theater gerade aufgrund der Unvermitteltheit, der körperlichen Anwesenheit und der 'theatralen Feedback-Schleife' als authentisch erfahren (S. 138), andererseits erlaube erst die Videokamera den Blick auf intime Details und das Mikrophon ein privates Sprechen. Die Leinwand ermögliche "'Echtzeit, Gelassenheit, maximale gestische Privatheit' [und damit] 'Realmomente', wie sie allenfalls im Film bisweilen glückten" (S. 140).1 Meister von "Realmomenten" im Theater sind Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, bekannt unter dem Label Rimini Protokoll. Miriam Ruesch untersucht in "Call Cutta – bei Anruf Kunst" deren 2005 entstandenes "The world's first Mobile Phone Theatre". Die Inszenierung Call Cutta lässt sich beschreiben als "Theatergang durch Kreuzberg, mit Rimini Protokoll und indischen Dienstleistern" sowie als "Mischung aus Stadtführung, Geschichtslektion, Telefonflirt und Selbsterfahrungstrip" (S. 164).2 Im Zehnminutentakt starten Zuschauer am Berliner Theater Hebbel am Ufer 2 zu einem einstündigen 'Audiowalk', geführt und angewiesen via Handy von einer Person in einem indischen Call Center. Dieses Erlebnis wird von Ruesch plastisch und präzise beschrieben und eingebettet in eine Auseinandersetzung mit der Arbeitsweise von Rimini Protokoll. Neben den begrifflichen Überlegungen, die Ruesch vor allem unter Bezugnahme auf Fischer-Lichte (Ko-Präsenz und Ereignishaftigkeit), Lehmann (postdramatisches Theater und metonymischer Raum) und Kotte (Hervorhebung und Konsequenzverminderung) anstellt, bilden besonders die Selbsteinschätzungen der Beteiligten in den von Ruesch geführten Interviews einen aufschlussreichen Zitaten-Schatz. Helgard Haug ist wichtig, dass "Call Cutta im Rahmen von Theater" und nicht nur als "Stadtraumaktion" wahrgenommen werde (S. 199). Der Stadtraum werde, so Ruesch, bei einer traditionellen Stadtführung tendenziell als Wissensraum empfunden, bei Call Cutta hingegen als Erlebnisraum. Diese Raumunterscheidung wird um weitere Raumkonzepte von De Certeau, Lehmann, Löw und Roselt ergänzt. Ruesch differenziert außerdem physischen Raum und Wahrnehmungsraum, öffentlichen Raum und Stadtraum, visuellen und akustischen Raum, realen und imaginären, Gesprächs- und Kommunikations- sowie Handlungs- und Sinnesraum. Unter so viel "Raum" auf 13 Seiten leidet leider die Orientierung. Interessant ist, wie Ruesch versucht, in den 'Gesprächsraum' einzudringen. Was geschieht im Persönlichen, Zwischenmenschlichen, und welche Rollenzuteilungen finden statt? Die Call-Center-Mitarbeiter haben zwischen vorgegebenen Textpassagen Frei-Raum zur Improvisation und zum spontanen, privaten Gespräch; angeblich sind daraus langfristige Kontakte und "Telefonfreundschaften" entstanden. Was ereignet sich im intimen Zweiergespräch zwischen den vorgegebenen Regieanweisungen? Wie ist diese spezielle Gesprächssituation überhaupt begreifbar? "Die Agenten in Call Cutta [.] telefonieren zwar für Geld [.], der Grund ihres Anrufes ist jedoch Kunst." (S. 196) Worin besteht der Unterschied zwischen der Dienstleistung Kunst/Theater und anderen Dienstleistungen wie der Telefonseelsorge oder dem Telefonsex? Interessant ist die Frage, wie sich das gleichermaßen Anonymität und Intimität versprechende Medium Telefon auf das Theater auswirkt – und welche Grenzen die Inszenierung über Globalisierung und grenzenlose Kommunikation dabei öffnet oder (er)schließt. "Grenzgänge zwischen Kunst und Politik. Joseph Beuys und Christoph Schlingensief" lautet der Titel der gut recherchierten und eindrucksvollen Arbeit, in der Rahel Leupin offen legt, wie stark sich Schlingensief an Beuys orientiert. "Wir sind zwar nicht gut, aber da" (S. 280), sagt Schlingensief, und die Art, wie er und wie Beuys 'da' waren, wird von Leupin umfang- und zitatenreich dargestellt. Unter Einbeziehung der politischen Hintergründe, der inhaltlichen Aspekte und Ziele sowie der Reaktionen von Teilen der Öffentlichkeit (Zuschauer, Presse, Politiker) untersucht sie Aktionen von Beuys (vor allem sein Büro der Organisation für direkte Demokratie auf der documenta 5, 1972) und Schlingensief (vor allem seine Hamlet-Inszenierung, Zürich 2001). Die Arbeit fragt nach den Anliegen beider Künstler sowie deren Realisationen, vergleicht das Auftreten der beiden unter dem Aspekt von Präsentation, Repräsentation und Selbstpräsentation. Dabei sieht Leupin Beuys vor allem (wie in Kassel 1972) in einem Raum "zwischen Atelier und Klassenzimmer" (S. 236), er trete auf wie ein Lehrer, "mit missionarischem Eifer von seiner Gesellschaftsalternative überzeugt" (S. 278). Schlingensief hingegen inszeniere sich als postmoderner Theaterclown, der Dekonstruktion anstrebe, ohne Alternativen und Visionen anzubieten, er "spielt ein Was-Wäre-Wenn-Spiel ohne über einen konkreten gesellschaftspolitischen Entwurf zu verfügen" (S. 284). Deutlich wird dieser Unterschied unter anderem im Hinblick auf beider politisches Engagement, denn während Joseph Beuys Anfang der 1980er tatsächlich versucht habe, für die Grünen in den Bundestag zu gelangen, könne man nicht davon ausgehen, dass Schlingensief mit seiner Partei Chance 2000 im Bundestagswahlkampf 1998 tatsächlich ein politisches Mandat angestrebt habe. Schlingensiefs Ausrufe à la "Tötet Helmut Kohl!" seien nicht nur PR-wirksame, bewusste Provokationen, die ihm kurzzeitige Verhaftungen eingebracht haben. In ihnen offenbare sich auch Schlingensiefs ambivalente Haltung: Einerseits behauptet er eine Verachtung für den arrivierten Kunst- und Theaterbetrieb und möchte "in die Gesellschaft rein", andererseits ziehe er sich, sobald es ernst werde, auf die (Narren-)"Freiheit der Kunst" zurück, nutze Theater als Ort der Konsequenzverminderung. Als Gemeinsamkeit von Beuys und Schlingensief streicht Leupin heraus, dass beide zwar einerseits den traditionellen Kunstkontext sprengen wollten, ihn aber andererseits benutzen als rechtlichen Schutz sowie als Rahmen der Organisation und Finanzierung. Außerdem sei "beiden Künstlern […] gemeinsam, dass ihre Aktionen zwar einen einmalig unmittelbaren und spontanen Eindruck erwecken, trotzdem jedoch akribisch genau dokumentiert werden. Während Beuys dazu vor allem das Medium der Fotografie und des Films bevorzugte, braucht Schlingensief zusätzlich das Internet als Kommunikationsplattform und Instrument zur Öffentlichkeitsarbeit." (S. 277) Im Rahmen dieses Buches wäre eine reflektiertere Analyse gerade der medialen Gesichtspunkte (als Beuys 1986 starb, war das Internet erst im Entstehen) wünschenswert gewesen: Welche Medien und Mittel wählen die beiden Künstler? Wie und warum werden Handzettel, Buttons und Plakate, Kreide und Tafel, Megaphon, Foto, Video oder Internet eingesetzt und wie beeinflussen die Kommunikationsformen – sowie der Rahmen des Museums, Theaters, Bildschirmes – die Aktionen, Ästhetiken, Wirkungen? Gerade die Aktionen auf der documenta 5 (Beuys) und documenta X (Schlingensief) sowie die Wahlkämpfe hätten sich unter medialen Aspekten gut vergleichen lassen. Ein mangelnder Fokus aufs Mediale freilich ist den Autorinnen nicht vorzuwerfen, sind ihre Arbeiten doch als eigenständige Lizentiatsarbeiten entstanden und erst nachträglich zum "Theater-Kasten" zusammengewürfelt worden. Um eine Engführung der vier vorangehenden Arbeiten bemüht sich Nicolette Kretz in "Am I really here, or is it only art? Agierende und Schauende in der Aufführungsanalyse". Darin führt sie die in den anderen Arbeiten besprochenen Beispiele in aufführungsanalytischer Perspektive zusammen und entwirft eine (schau)bildliche Darstellung des Verhältnisses von Akteurshaltungen und rezeptiver Rahmung. Ist der Akteur "darstellend" oder eher nicht, und empfindet der Zuschauer die Aktion als "Theater" oder nicht? Kretz erstellt ein zweidimensionales Koordinatensystem mit der "Haltung des Akteurs" auf der X- und der "rezeptiven Rahmung" auf der Y-Achse. Eine Handlung, die vom Akteur als Theater gemeint und vom Rezipienten ebenso wahrgenommen wird, situiert sich nahe dem Nullpunkt am Achsenkreuz. Sie entfernt sich von diesem nach rechts oder oben (oder beides), wenn entweder Akteur oder Rezipient (oder beide) nicht mehr der Meinung sind, dass es sich beim Getanenen oder Gesehenen um Theater handelt. Folglich kann ein eingetragener Punkt im Laufe eines Ereignisses wild im Koordinatensystem umherwandern, etwa einen Sprung vollführen in dem Moment der Erkenntnis bei Call Cutta, in dem Kretz bemerkte, dass sie "etwas für Theater [gehalten hatte], was in Wirklichkeit vollkommen ungespielt war" (S. 302). Anschaulich illustriert wird der Wechsel von Akteurshaltungen bzw. rezeptiver Rahmung anhand der vielschichtigen Arbeiten des libanesischen Künstlers Walid Raad und der Atlas Group. Das Verfahren von Kretz schafft eine praktikable Möglichkeit, aufführungsanalytische Elemente zu systematisieren und zu visualisieren. In seiner Zweidimensionalität freilich bleibt das Modell unterkomplex. Zwar schlägt Kretz als dritte Achse und Dimension die der Medialität vor: "vom unmittelbaren Gegenüber über die audio-visuellen Medien hin zur grafisch unterstützten virtuellen Präsenz" (S. 315), dies bleibt jedoch eine unausgeführte Skizze. Außerdem fehlen im Modell Frame-konstituierende Aspekte des Raumes sowie eine Zeitebene, die eine Entwicklung berücksichtigen würde. Interessant bis amüsant ist die Anwendung des Koordinatensystems auf prominente Definitionsversuche von Theater. Von den neun Feldern, in die Kretz ihr Diagramm unterteilt, werden demnach mit der Theaterdefinition von Bentley drei, von Lazarowicz ein, von Fischer-Lichte sechs und von Kotte achteinhalb abgedeckt. Theater im Kasten besticht, wie aus den einzelnen Besprechungen deutlich wurde, durch ausführliche Beschreibungen theatraler Ereignisse, Anschaulichkeit und Materialintensität. Diese beschränkt sich auf Worte, es gibt keine Begleit-DVD und nur wenige Bilder in dem ansprechend gestalteten Hardcover-Band. Theater derart "einzukasteln" bietet freilich Risiken, zumal es um ein Theater der Erweiterungen geht, ein Theater, das Platz braucht, das Grenzen zum Film, zur Stadtraumaktion, zur Politik hin sprengt, das Offenheit erfordert und keinen zu engen Rahmen. Dennoch: Das selbstformulierte Ziel des Buches, "Partikel des Flüchtigen" zu dokumentieren, wurde eingelöst, die Partikel sind feinsäuberlich gesichtet, sortiert und liebevoll ausgestellt. Theater im Kasten bietet keine Theorie des Theaters, aber vielleicht einen kleinen Baukasten dafür. Dass in der Zusammenstellung der fünf Lizentiatsarbeiten die theoretische Flanke offen bleibt, verweist auf das Praktische an einem Kasten: Im Gegensatz zur Kiste ist er nur an fünf Seiten geschlossen und an einer offen und ermöglicht so stets neue Zugriffe. 1 Von Kaenel zitiert hier Cornelia Niedermeier, "Der Satan hat den Blues", in: Die Tageszeitung, 20.06.2002. 2 Ruesch zitiert hier Jan Oberländer, "Wer ist der Feind deines Feindes? 'Call Cutta'", in: Der Tagesspiegel, 05.04.2005.