Vom Armenfürsorger zum Scheininvaliden
In: Wohlstand durch Gerechtigkeit: Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich, S. 285-299
Der Beitrag beleuchtet die Ausgestaltung der Sozialpolitik im Kontext der direkten Demokratie in der Schweiz. In einem ersten Schritt wird zunächst das politische System der Schweiz in seinen Grundzügen dargestellt. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um eine Referendumsdemokratie, in der die Stimmbürger via Referendum vor allem über eine hohe Vetomacht gegenüber den politischen Eliten verfügen. Somit besteht ein Vetorecht der organisierten Einzel- gegen die Allgemeinwohlinteressen in Form von Vereinen, Verbänden und Parteien. Vor diesem Hintergrund wird im zweiten Schritt der Frage nachgegangen, wie sich der Volkswille in sozialpolitischen Vorlagen in dem Zeitraum von 1985 bis 2005 äußert. Der dritte Schritt beschreibt am Beispiel der 11. AHV-Revision (Alters- und Hinterlassenenversicherung) 2004 die zu beobachtenden politischen Aspekte der Polarisierung, Ent-Parlamentarisierung und neuen Elitekoalition. Die Abgabenproteste und Ausgabengerechtigkeit in der schweizerischen Sozialpolitik sind kein Phänomen der direkten Demokratie, sondern das Phänomen korporatistischer Verhandlungsstruktur, die meistens dem Stärkeren auch mehr Entscheidungskompetenz einräumt und ihm entgegenkommt. Das Parlament ist gegenüber den im legislativen Vorverfahren etablierten Interessengruppen schwach, und es besteht kein Gleichgewicht zwischen der plebiszitär bedingten Doppelrepräsentation von Volk und Parlament. Das Volk spielt in dem Sinn meist nur die Rolle einer befragten, aber nicht unbedingt entscheidenden Autorität, da die Autorität der Vorentscheidung in der Regel den Inhalt der Vorlage schon längst determiniert hat. (ICG2)