Zivilgesellschaft gilt als schillernder Projektionsbegriff. Das Konzept wird seit den 1980er-Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften verwendet und ist fest in der politischen Theorie verankert. Zivilgesellschaft ist im Englischen mit dem Begriff "Civil Society" verwandt; in Deutschland gibt es enge Verknüpfungen zur "Bürgerlichen Gesellschaft". Die Global Civil Society untersucht zivilgesellschaftliche Fragestellungen auf globaler Ebene. Die Verwendung der Konzepte ist umstritten, gerade weil die Bürgergesellschaft auf eine gesellschaftliche Mitte abzielt und Distinktionen beinhaltet. Trotzdem lohnt es sich, die normative Seite der Zivilgesellschaft aufzugreifen und diese mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen der Dritten-Sektor-Forschung zu kombinieren.
Angesichts weltweiter Krisen und Konflikte ist eine stärkere Einbindung der Transnationalen Zivilgesellschaft notwendiger denn je. Ihr Engagement für mehr Demokratie, Transparenz und Gerechtigkeit brachte ihr den Status eines Hoffnungsträgers in der Global Governance ein – vor allem in den 1990er Jahren, als der Fokus zunehmend auf nichtstaatliche Akteure gerichtet wurde. Mit den globalen Herausforderungen der Jahrtausendwende rückten jedoch Nationalstaaten wieder in den Mittelpunkt, und es stellt sich die Frage, inwiefern die Akteure der Transnationalen Zivilgesellschaft angesichts dieser veränderten Konstellationen noch als Hoffnungsträger bei der Bewältigung weltweiter Krisen gelten können. Dieser Beitrag argumentiert, dass trotz wesentlicher Schwachstellen wie des Legitimitätsdefizits, der vielschichtigen Abhängigkeiten und der Ungleichheit im Nord-Süd-Gefälle die Transnationale Zivilgesellschaft eine essentielle Rolle in der Global Governance wahrnimmt. Sie führt zu mehr Effizienz in Governance-Strukturen, fördert demokratische Prozesse, schafft mehr Transparenz in internationalen Verhandlungen und leistet somit einen Beitrag zu einer gerechteren Welt – ein Hoffnungsträger also im globalen Mächtekonzert. ; In the light of worldwide crises and conflicts, stronger involvement of transnational civil society is more necessary than ever before. Its engagement for more democracy, transparency and equity has awarded the transnational civil society to the status of a bearer of hope within global governance – especially in the 1990s when non-governmental actors got into the focus of research. Facing the global challenges at the turn of the millennium, the nation state came back to center stage and the question has to be raised whether the actors of transnational civil society still are a bearer of hope to cope with the global crises. This article argues that in spite of significant deficiencies like the lack of legitimacy, complex dependencies and the disparity within the north-south divide, transnational civil society still is playing an essential role within global governance. It leads to more efficiency in governance structures, promotes democratic processes, creates more transparency in international negotiations and contributes to a fairer world – transnational civil society thus still is a bearer of hope in the global concert of power.
Inhalt: Jürgen Oelkers: Aufklärung als Lernprozess. Alasdair MacIntyre: Die Idee der gebildeten Öffentlichkeit. Walter Feinberg: Die öffentliche Verantwortung der öffentlichen Bildung. Jan Masschelein: Wandel der Öffentlichkeit und das Problem der Identität. Jürgen Oelkers: Bürgerliche Gesellschaft und pädagogische Utopie. Hartmut Titze: Die Tradition der Pädagogik und die Selbstkritik der Moderne. Heinz-Elmar Tenorth: Paradoxa, Widersprüche und die Aufklärungspädagogik. Versuch, die pädagogische Denkform vor ihren Kritikern zu bewahren. Hans-Christian Harten: Aufklärung, Öffentlichkeit und Terreur in der Französischen Revolution. Fritz Osterwalder: Concordet - Instruction publique und das Design der Pädagogik als öffentlich-rechtliche Wissenschaft. Lucien Criblez: Öffentlichkeit als Herausforderung des Bildungssystems - Liberale Bildungspolitik am Beispiel des regenerierten Kantons Bern.
Obwohl das tradierte Bild der späten Habsburgermonarchie von Joseph Roth bis hinein in die Populärkultur der 1950er und 1960er Jahre der Militärmusik eine zentrale Rolle zuweist, hat die Historiographie das Thema bisher weitestgehend ignoriert. Es bedarf daher neben einer Klärung des Begriffs "Militärmusik" zunächst eines historischen Überblicks über die allgemeine Entwicklung der Militärmusik im Habsburgerreich. Darauf aufbauend wird in dieser Masterarbeit die Praxis der Militärmusik in Kriegs- und Friedenszeiten untersucht. Gerade in Friedenszeiten trat die Sonderstellung der Militärmusik zwischen Militär/Staat und Bevölkerung deutlich zu Tage: sie diente einerseits der monarchisch-obrigkeitlichen Repräsentation, andererseits aber schon früh der Unterhaltung eines breiten Publikums. Formal handelte es sich bei den Regimentskapellen um militärische Institutionen, doch finden sich viele verbindende Aspekte zum Bürgertum. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang besonders die Auswirkungen der staatlichen (Unter-)Finanzierung des Militärmusikwesens, die Sonderrolle der Kapellmeister sowie das Repertoire der Militärkapellen. Dieses enge Verhältnis der breiten Bevölkerung zu "ihrer" Militärmusik lässt sich dank einer durchaus existenten zeitgenössischen Diskussion um die Militärmusik in Österreich-Ungarn auch auf seine ökonomischen, ästhetischen und soziokulturellen Dimensionen hin analysieren. Gerade weil die Regimentskapellen in der Habsburgermonarchie eine so ambivalente Rolle zwischen staatlichen und bürgerlichen Sphären einnahmen, bekamen sie auch die Auswirkungen der nationalitätenpolitischen Spannungen zu spüren. Abschließend wird deshalb speziell auf die Rolle der Militärmusik im Vielvölkerstaat eingegangen.
In demokratischen und weltanschaulich und kulturell pluralen Gesellschaften kann die vollwertige Partizipation an der deliberativen Öffentlichkeit durch verschiedene Hindernisse erschwert oder verhindert werden. Infolgedessen können die davon betroffenen Personen und Personengruppen nicht oder nur sehr schwer an wesentlichen politischen Prozessen teilnehmen. In diesem Beitrag werden verschiedene Formen formeller und informeller Exklusion untersucht und ethisch beurteilt. Die ethische Analyse erfolgt zunächst vor dem Hintergrund der explizit auf das Problem gesellschaftlicher Partizipation ausgerichteten dreidimensionalen Gerechtigkeitskonzeption von Nancy Fraser. Dabei ergibt sich bei der formellen Exklusion und bei bestimmten Formen informeller Exklusion ein klares Bild; derartige Exklusionsformen verletzen wesentliche Dimensionen von Gerechtigkeit und damit moralische (Rechts)Ansprüche. Für die ethische Analyse weniger massiver, aber dennoch signifikanter Formen informeller Exklusion greife ich auf moraltheoretische Unterscheidungen von Andreas Wildt zurück. Dies führt zu dem Ergebnis, dass die Erschwerung der vollwertigen Partizipation an deliberativer Öffentlichkeit infolge informeller Exklusionsmechanismen zwar keine moralischen Ansprüche verletzt, wohl aber ein Verstoß gegen moralische Verpflichtungen ist und/oder moralische Verpflichtungen konstituiert, die mit 'bürgerlicher Rechtschaffenheit' verbunden sind.
Rudolf Virchows Vorstellungen von einer human-bürgerlichen Krankenpflege in der Zeit des preußischen Kulturkampfes Über die Auseinandersetzungen im Preußischen Haus der Abgeordneten zwischen Rudolf Virchow, dem Kultusministerium und der Zentrumspartei über die katholischen Kranken-pflegeorden – von Hilmar Conrad Der Mediziner und liberale Abgeordnete des Preußischen Hauses der Abgeordneten Rudolf Virchow ist vielen bekannt für den Satz "‹Omnis cellula e cellula›"1, aus seinem Werk 'Die Zellularpathologie'. Er wies mit diesem Lehrsatz und der zugrundeliegenden Forschung nach, dass Zellen in Morphologie und Funktion die kleinste Einheit des menschlichen Körpers sind.2 Der spätere Medizinprofessor wurde am 13. Oktober 1821 in Schivelbein geboren und verstarb am 5. September 1902 in Berlin. Das Jahr 1848 ist in zweierlei Hinsicht als Schicksalsjahr für Virchow zu betrachten. Er war in dieser Zeit Militärarzt und wurde in diesem Winter 1847/48 von der preußischen Regierung nach Ober-schlesien entsendet, wo eine Typhus-Epidemie wütete. Sein Auftrag war die wissenschaftliche Analyse der Geschehnisse. An seinem 80. Geburtstag sagte er über diese Reise: "Jene 16 Tage in Oberschlesien, 1848, waren das entscheidende Ereignis meines Lebens."3 Es war Revolution in Berlin und dort zurück, nahm er an den Kämpfen für Demokratie teil.4 Im Bericht über seine Reise schlussfolgerte er, dass zur Prävention einer solchen Seuche in Oberschlesien Demokratisierung und Bildung für die Bevölkerung notwendig seien – das war der Beginn der Sozialmedizin. Ab 1859 war er Berliner Stadtverordneter und ab 1861 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses für die linksliberale Deutsche Fortschrittspartei, die er zusammen mit Mitstreitern gegründet hatte. Von 1880 bis 1893 war er Abgeordneter im Deutschen Reichstag.5 Für ihn war "[d]ie Medizin […] eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen."6 Was diese Person also so spannend macht, ist, dass sie gleich zwei relevanten Gruppen angehörte, welche einflussreich über die Krankenpflege sprachen: die der Politik und die der Ärzte. Rudolf Virchow forderte am 9. November 1869 auf dem Kongress der deutschen Frauenvereine in Berlin eine Pflege, die sich außerhalb der Kirchen organisieren solle: "Organisiren wir ganz und gar ausserhalb der kirchlichen Organisation, organisiren wir ganz innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft als solcher, nach rein menschlichen Aufgaben, ohne irgend einen weiteren Nebenzweck."7 Was Virchow hier forderte ist eine Hinwendung zum 'Humanen'8, wie er es nannte und auch in mehreren Debatten im Abgeordnetenhaus erläuterte. Dies überrascht nicht, war er doch maßgeblich am Kulturkampf im Parlament beteiligt und ein vehementer Verfechter der Säkularisierung.9 Das wissenschaftlich relevante Problem an dieser Stelle ist Virchows zentrale Äußerungen über die Krankenpflege im Kontext der geführten Debatten im Preußischen Abgeordnetenhaus darzustellen. Die wissenschaftliche Literatur geht hierbei, nur sehr oberflächlich auf das vor- und hinterher Gesagte ein, obwohl es sich um Debatten handelt. Und hier zeigt sich auch die Relevanz der Arbeit. Natürlich liegt das Interesse darauf, Virchows Vorstellungen über die Krankenpflege anhand seiner Beiträge im Preußischen Haus der Abgeordneten nachzuvollziehen, aber eben auch nachzuzeichnen, wie sich die gesamten Debatten um die Krankenpflege, in denen sich Virchow bewegte, zugetragen hatten. Demnach ist das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit herauszuarbeiten, welche Ansichten Rudolf Virchow über die Krankenpflege seiner Zeit hatte, wie er sie im Preußischen Haus der Abgeordneten verteidigte, wie sich die Ansichten seiner politischen Gegner und der preußischen Regierung dazu verhielten sowie daraus folgend, wie die Debatten über die Krankenpflege im Preußischen Abgeordnetenhaus verliefen. 1 Virchow, zit. n. Schipperges (1994): Rudolf Virchow, S. 58. 2 Schipperges (2008): Virchow, Rudolf (Ludwig Carl), S. 257. 3 Andree (2006): Rudolf Virchow (1821–1902) im Spannungsfeld von Glauben, Kirche und Staat, S. 99. 4 Vgl. ebd., S. 99–100. 5 Vgl. Schipperges (2008): Virchow, Rudolf (Ludwig Carl), S. 257–258. 6 Schipperges (1994): Rudolf Virchow, S. 113. Im Original kursiv. 7 Virchow (1879): Die berufsmässige Ausbildung zur Krankenpflege, auch ausserhalb der kirchlichen Organisationen, S. 49. Im Original gesperrt. 8 Vgl. Virchow (1875): Rede im Preußischen Abgeordnetenhaus, Berlin. 8. Mai 1875, S. 207. 9 Vgl. Virchow (1873): Rede im Preußischen Abgeordnetenhaus, Berlin. 17. Januar 1873, S. 359.
von dem Verfasser der Unterweisung in den Künsten und Wissenschaften [Johann C. Adelung] ; Volltext // Exemplar mit der Signatur: München, Bayerische Staatsbibliothek -- Enc. 1 f-4
von dem Verfasser der Unterweisung in den Künsten und Wissenschaften [Johann C. Adelung] ; Volltext // Exemplar mit der Signatur: München, Bayerische Staatsbibliothek -- Enc. 1 f-3
von dem Verfasser der Unterweisung in den Künsten und Wissenschaften [Johann C. Adelung] ; Volltext // Exemplar mit der Signatur: Passau, Staatliche Bibliothek -- S nv/GL 4-3
von dem Verfasser der Unterweisung in den Künsten und Wissenschaften [Johann C. Adelung] ; Volltext // Exemplar mit der Signatur: München, Bayerische Staatsbibliothek -- Enc. 1 f-2
Rezension zu Walter Schmidt (Hg.): Demokratie, Agrarfrage und Nation in der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland. Beiträge des Ehrenkolloquiums zum 70. Geburtstag von Helmut Bleiber am 28. November 1998.(Gesellschaft - Geschichte - Gegenwart. Schriftenreihe des Vereins "Gesellschaftswissenschaftliches Forum e.V.", Bd. 29), Berlin: trafo Verl., 2000
Regulierte Selbstregulierung ist ein Modus der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Sie findet statt, wenn gesellschaftliche Selbstorganisation einen Verbund mit staatlicher Steuerung eingeht. Nichtstaatliche Formen der Normsetzung, der Normdurchsetzung, der Kontrolle und der Konfliktentscheidung treten in mannigfachen Kombinationen mit staatlicher Rahmen- und Detailgesetzgebung, staatlicher Aufsicht, staatlicher Finanzierung und administrativer Mitbestimmung auf. Gesellschaftliche Partikularinteressen und staatliche Steuerungsambitionen amalgieren in Kooperation und Konflikt zu vielfältigen Ausdrucksformen von »Gemeinwohl«. Der Staat instrumentalisiert gesellschaftliche Expertise, gesellschaftliche Initiative und gesellschaftliche Mobilisierungsfähigkeit für seine Zwecke, nichtstaatliche Akteure wiederum nutzen das staatliche Handlungspotential und staatliche Finanzmittel, um eigene Koordinationsprobleme oder Ressourcenengpässe zu bewältigen. – Dieser bunte Karneval der Regelungskulturen ist Teil unserer Rechtsordnung. Seine Geschichte kann aber weder von den historischen Erzählplots der sich über das Privatecht selbst regulierenden bürgerlichen Gesellschaft angemessen erfasst wird noch von jenen, die die Herausbildung eines alle Machtmittel monopolisierenden Staatswesens in den Mittelpunkt stellen. Dieser Komplex bedarf vielmehr einer historischen Bearbeitung, die die Verflechtungen, Übergänge, Hybridisierungen und Ambivalenzen in den Mittelpunkt rückt. .
Das 19. Jahrhundert erweist sich seit einigen Jahren als begehrtes Forschungsfeld deutschsprachiger Theaterhistoriographie. Peter Marx, seit kurzem Professor am Institut für Theaterwissenschaft in Bern, legt mit seinem über 400 Seiten starken Band eine Arbeit vor, die – wie er schreibt – das Resümee seiner langjährigen Forschungen zu eben jener Epoche ausmacht. Ein theatralisches Zeitalter gilt es zu entdecken und zu kartographieren. Im Zentrum dieser "Forschungsreise-Aufzeichnungen" aus Deutschland stehen bürgerliche Illusionen im und Projektionen auf das Theater. Bewusst arbeitet Marx mit dem in die Umgangssprache eingegangenen Begriff "theatralisch", da sich gerade im alltäglichen Gebrauch eben jenes "Zur-Schau-Stellen" offenbart, das über die Bühne hinaus verweist. "Denn die hier behauptete kulturelle Zentralstellung von Theater und theatralen Praktiken wird sich schließlich nur dann einlösen lassen, wenn es gelingt, die Wechselwirkungen und Verwindungen unterschiedlicher Gesellschafts- und Lebensbereiche nachzuzeichnen." (S. 44f.) Diesen Begriff des Theatralischen setzt Marx einem Diskurs von Öffentlichkeit entgegen, in dem von kulturpessimistischem Gestus getragen, gerade das Massenhafte und Populäre als Zeichen des Verlusts eines idealistischen Öffentlichkeitsbegriffs gedeutet wurde. Aber, so Marx, eben das Warenhafte und der Konsum von Kultur, seien ein "Akt kultureller Teilhabe" (S. 46), das Theatralische "Ausdruck und Katalysator sozialer Mobilität". (S. 47) Öffentlichkeit wird bei ihm dezidiert als nicht mehr idealistisch besetzter Begriff gedeutet. "Um 1900" ist ein ebenfalls bewusst gesetzter, unscharfer zeitlicher Rahmen, das sogenannte bürgerliche Jahrhundert wird als Spannungsfeld zwischen den Konstruktionen von Bürgerlichkeit und Ethnizität in nationalstaatlichen Konzepten angeordnet. So stellt eine wesentliche historiographische Grundlage die These von Shulamit Volkov dar, die Antisemitismus als "sozialen Code" definiert und fordert, "dass es der Anspruch einer umfassenden Historiographie sein müsse, die Auseinandersetzungen von Majorität und minoritären Gruppen nicht länger als 'Sonderfall' zu begreifen, sondern als konstitutiven Bestandteil von Geschichte." (S. 49) Unter dieser Prämisse untersucht Marx die kulturelle Funktion und Bedeutung des Theaters für affirmative Identifikationsangebote bzw. für gesellschaftliche und identifikatorische Gegenentwürfe. Der Bereitwilligkeit des bürgerlichen Publikums bzw. der bürgerlichen Gesellschaft, sich täuschen zu lassen, ist das einleitende Kapitel über den Hochstapler Harry Domela gewidmet, der als "falscher Prinz" in den gehobenen Kreisen Deutschlands reüssierte. Der Hochstapler als Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Anderen stellt die Verdichtung der Bedeutungsebenen von Theater und Schauspielkunst für identitätspolitische Konstruktionen des 20. Jahrhunderts dar. Demzufolge analysiert Marx paradigmatische Rollen und ihre Verkörperungen, wie Schillers Wilhelm Tell, Lessings Nathan der Weise und Shakespeares Shylock im Kaufmann von Venedig. Es geht ihm dabei darum, Teile eines "kollektiven Imaginären" zu untersuchen, indem er das Verhältnis von Theater und kanonischer Literatur analysiert. Der Bühnengenealogie des Tell als Affirmationsangebot werden Bühnengenealogien des Shylock und Nathan als Exklusion, als "Fremd-Bilder" entgegen gestellt. Interpretationen des Tell durch Schauspieler wie Hans Marr (in der Folge dann Attila Hörbiger und Heinrich George) als Projektionen eines germanischen Urgrunds von Männlichkeit sind angeordnet neben Leopold Jessners Versuch von 1919 – mit Fritz Kortner als Gessler und Albert Bassermann als Tell –, diese nationalistisch motivierte Kanonisierung zu durchbrechen. Die Genealogie der "Judenrollen" Shylock und Nathan, die Marx analysiert, wird anhand der jüdischen Burgschauspieler Bogumil Dawison und Adolf von Sonnenthal erläutert. Ihre Schauspielkunst wurde unter dieser "ethnischen" Prämisse rezipiert. Die Folie dafür bietet Ludwig Devrients Interpretation der "Judenrollen" aus dem frühen 19. Jahrhundert, deren stereotypisierte Stilisierung in Körperausdruck (gebückt) und Stimme ("Mauscheln") zum antisemitischen Bühnenkanon von Shylock- und Nathan-Darstellungen avancierte. Dawison galt beispielsweise für Karl Emil Franzos als Vorzeigepersönlichkeit für gelungene Assimilation, dessen "Ethnie" als paradigmatisches Zeichen in die Geschichte der Schauspielkunst einfloss. Als geniale Spielart des "Dämonischen", bereichert um das "Fremde", andere "Blut" werden Dawisons Shakespearedarstellungen etwa von Adolf Winds in seiner Entwicklungsgeschichte des Schauspielers 1919 gewürdigt. Allerdings sei Dawisons Schauspielstil laut Winds – eben aufgrund dieser "ethnischen", rassistischen Argumentation – für den deutschen Dichterheros Schiller ungeeignet. Im Übrigen eine Argumentationslinie, die dann der NS-Wissenschaftler Heinz Kindermann in seinem Burgtheaterbuch 1939 übernahm und als dezidiert "rassisch-volkhafte" Theatergeschichtsschreibung betrieb. Marx interessiert, wie jüdische Bühnenrollen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den Kanon bürgerlichen Bildungstheaters integriert wurden. Diese Integration erfolgte stets "um den Preis des Verschwindens der jüdischen Identität der Figuren, die nur noch als Metapher einer sozialen oder psychologischen Situation verstanden wurden, aber nicht mehr den Anspruch auf Eigenständigkeit erheben konnten." (S. 157) Mit den Shylocks von Rudolf Schildkraut und Alexander Granach widmet sich Marx den nächsten Generationen. Eine Gegenbewegung ist festzustellen, nämlich die Suche nach und die Manifestationen von "authentischer" jüdischer Identität. Die Interpretationen eines Schauspielers wie Werner Krauß - dessen antisemitische Stereotype in Veit Harlans Jud Süß (1940) beispiellos den Zusammenhang von Holocaust und Schauspielkunst vorführte - werden untersucht mit Blick auf die Frage, inwiefern sich bereits 1921 in Max Reinhardts Kaufmann von Venedig-Inszenierung im Großen Schauspielhaus in Berlin diese stereotype antisemitische Gestaltung durch Krauß nachweisen lässt. Mit Fritz Kortner, "Inbegriff jüdischer Teilhabe an den Bemühungen um eine neue, republikanische Kultur" (S. 193) und dadurch prominentes Ziel antisemitischer, nationaler Angriffe, beendet Marx den Abschnitt "Kanon und Politik". Durch Peter Marx' genealogische Darstellung von Kanonisierung wird ein weiteres Desiderat, nämlich die Analyse populärkultureller Phänomene, abgedeckt. Dem ethnischen Diskurs um 1900 fügt Marx eine bisher kaum beachtete Spielart hinzu, Produktionen von Bauerntheatern, wie den "Münchenern" und den "Schlierseern". Von Interesse ist hier ihr Beitrag zur ethnischen Identitätskonstruktion, verortet in "Heimat und sozialer Gemeinschaft". (S. 219) Subsumieren lassen sich diese Formen als Manifestationen der Antimoderne in einer urbanen Gesellschaft. Auch hier finden sich die Antagonismen des "Eigenen, Ursprünglichen" und "Fremden" bzw. der Nachweis, wie sehr sich diese Imaginationen vom "Authentischen" bedingen. Als weitere Beispiele für die Suche nach "Authentizität" zieht Marx den Zirkus und Völkerschauen heran. Parallel dazu werden theatrale Praktiken und dazugehörige Theatergebäude der großstädtischen Moderne beispielhaft vorgestellt. Mit den Begriffen "Schauwert" und "Schaulust" werden sowohl die Warenhaftigkeit des Konsumguts "Theater" als auch eine am Warenhaus geschulte Rezeption zusammengedacht. Dies stellt die Basis für einen Theater-Spektakelbegriff dar, der als einprägsames Zeichen des theatralischen Zeitalters gelten muss. So schließt dieser Band, an dessen Anfang die Selbstinszenierung des Hochstaplers als Repräsentant der Macht stand, mit der spektakelhaften Inszenierung von Macht, die Marx am Beispiel von Willhelm II. nachweist. Ein theatralisches Zeitalter führt Theaterhistoriographie jenseits der Prämisse teleologischer Entwicklungsphantasien vor, beugt sich auch nicht einem auf die Gründung der Nationalstaaten rekurrierenden Geschichtsbegriff, sondern arbeitet Widersprüche und Konflikte heraus, stellt Brüche zur Schau, um der "Polyphonie kultureller Selbstverortungen" (S. 49) gerecht zu werden. Peter Marx' Ein theatralisches Zeitalter muss sowohl aufgrund der methodischen Vorgangsweise als auch wegen der Fülle an neuen Quellen und Forschungsgegenständen als grundlegende Lektüre theaterhistorisch Interessierten ans Herz gelegt werden.
Ein Thema - ein Buch, also ein Buch mit allem, was zum Verständnis von Marx und Engels nötig ist, sollte es werden, eines das ich Anfang der 70er Jahre gebraucht hätte, ein für junge Leute verständlich geschriebenes wissenschaftliches Buch. Die "Klassiker" der sozialistischen Literatur, die so lange als die steifen Götterfiguren der untergegangenen Sowjetideologie dienen mußten, werden aus einem besonderen Blickwinkel vorgestellt: aus dem ihrer gesellschaftlichen Theorie und nicht so sehr als Ökonomen und Politiker. Auch über Marxens "Ökonomie", über "Das Kapital", wird aber das Nötige mitgeteilt. Schon ab 1845 formulierten sie bis in unsere Tage gültige Grundlagen der modernen Soziologie, und das als Wissenschaft und nicht mehr als Philosophie.1 Sie haben bereits 1845 das Entstehen der Menschen und die Formen ihres Zusammenlebens als einen Prozeß der sozialen Evolution2 in einem wissenschaftlichen, in einem soziologischen Modell aufgezeigt. Gegen die damalige Vorstellung des 19. Jahrhunderts, die Welt sei von einem Gott geschaffen, erklärten sie das Werden der menschlichen Gesellschaft als einen sozialen Prozeß. Und das einige Jahre, bevor Darwin 1859 das biologische Werden der Menschen aus den Primaten wissenschaftlich eigentlich schon mitbewiesen hatte, als er die Funktionsweise der biologischen Evolution aufzeigte. So wie Darwin ein wichtiger Begründer der modernen Biologie war, so gehören sie zu den Begründern der Wissenschaft von den Menschen, der Soziologie, und damit des heutigen europäisch-westlichen Weltbildes. Ihre Kritik der politischen Ökonomie hat den Anspruch, die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiben, nun aber als den empirisch erfaßten Aufbau und die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und nicht mehr als idealistische Philosophie (Hegels). Bedeutende Soziologen haben die Themen von Marx und Engels faktisch weiter geführt, wo jene nur Hypothesen hinterließen. ; Druck über: www.LarsHennings.de (17,- €) oder: ...