Der Wandel der russischen Außenpolitik gegenüber der EU: Das Beispiel des Energiechartavertrags
Inhaltsangabe: Mit Sorge beobachtete man lange in der EU den seit 1996 währenden Streit um Transitgebühren, Gaspreise und ausstehende Zahlungen zwischen der Ukraine und der russischen Gazprom. Inzwischen – bedingt durch immer kürzere Transitverträge - kehrt diese Auseinandersetzung beinahe jährlich zurück auf die Tagesordnung. Seinen ersten Höhepunkt erreichte dieser Streit am 1. Januar 2006, als Gazprom zum ersten Mal die Gaslieferungen an die Ukraine einstellte. Da die Ukraine jedoch weiterhin Gas aus der Druzba-Pipeline entnahm, kam es in einigen Zielländern des Gases zu Versorgungsengpässen. Schon damals war das Entsetzen unter den EU-Mitgliedern groß und noch größer war es um die Jahreswende 2008/2009, als Russland die Gaslieferungen über die Ukraine vollständig einstellte und in einigen der ost- und südosteuropäischen EU-Staaten das öffentliche Leben für mehrere Tage zum Erliegen kam. Diese Ereignisse zeigen einmal mehr wie eng die wirtschaftlichenVerflechtungen und Abhängigkeiten zwischen Russland und Europa sind. Gerade heute, wo die Zeiten preisgünstiger Importe fossiler Energieträger, wie sie von den 1980ern an knapp zwei Jahrzehnte lang vorherrschten, endgültig vorbei sind, rückt Russland als Energielieferant immer stärker in den Fokus Europas. Die EU-Mitglieder sind heute mehr als je zu vor auf russisches Gas und Öl angewiesen, da die europäischen Quellen nahezu erschöpft sind. Die energiewirtschaftlichen Beziehungen zwischen den westeuropäischen Staaten und Russland reichen bis in das Jahr 1968 zurück. Damals lieferte die Sowjetunion zum ersten Mal Erdgas nach Österreich und zwei Jahre später schloss Mannesmann den ersten Erdgas-Röhrenvertrag mit der UdSSR. In dessen Folge wurden die Erdgasfelder Westsibiriens erschlossen und lieferten ab 1973, geregelt durch langfristige Verträge, Gas nach Westeuropa. Inzwischen machen die Erdgasimporte aus Russland z.B. 24 Prozent in Frankreich und 100 Prozent im Baltikum, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien aus. Die EU-Mitgliedstaaten sind die größten Konsumenten der russischen Energieexporte und die russische Infrastruktur zum Transport von Energieträgern ist stark auf Westeuropa ausgerichtet. Bis zur kürzlichen Unterbrechung der Lieferungen über die Druzba-Pipeline konnte Russland seine Lieferverträge über Gas und Öl immer erfüllen, denn schließlich hat Russland nicht nur die weltweit größten Erdgasreserven, sondern nimmt auch bei den Erdölreserven den 7. Platz hinter den führenden OPEC-Ländern ein. Auf jeden Russen kommen 17 Mal mehr Bodenschätze als auf jeden Europäer. Doch diese Zahlen können nicht über die eigentliche Knappheit dieser Ressourcen hinweg täuschen, denn sie wird uns durch das langsame Versiegen von Öl- und Gasfeldern in Russland vor Augen geführt. So sind die westsibirischen Erdgasfelder Urengoj, Jamburg und Medvežje, deren gefördertes Gas zum größten Teil nach Westeuropa geliefert wird und die im Jahr 2000 85 Prozent der Gesamtfördermenge des russischen Erdgases lieferten, zu 50 Prozent, 26 Prozent und 68 Prozent erschöpft. Bei den Teuerungsraten für Energie in den letzten Jahren handelt es sich also nicht nur um ein temporäres oder konjunkturelles Phänomen, sondern der Preisanstieg ist strukturell bedingt. Hinzu kommen die steigenden Förderkosten durch die Erschließung kleiner und schwierig zu erschließender Vorkommen, eine steigende Nachfrage und die verschärfte Konkurrenz alter mit neuen Wachstumsregionen im Zeichen der Globalisierung. Die hausgemachten Probleme wie mangelnde Energieeffizienz, fehlende Investitionen privater Energiekonzerne zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von erneuerbaren Energien sowie das Fehlen klarer energiepolitischer Prioritäten scheinen dabei noch am ehesten zu lösen zu sein. Die Mitglieder der Europäischen Union hoffen auch in Zukunft einen großen Teil ihres Energiebedarfs durch Importe aus Russland abdecken zu können. Doch durch die kürzlichen Ereignisse ist das Vertrauen in die Zuverlässigkeit russischer Energielieferungen erheblich erschüttert worden. Die russischen 'Gaskriege' mit Georgien, der Ukraine und Weißrussland in den letzten Jahren zeigen, dass Russland nicht länger davor zurückschreckt Energielieferungen als außenpolitisches Druckmittel zu nutzten. Die EU erkannte schon Anfang der 1990er Jahre die wachsende Bedeutung von Versorgungssicherheit und Energiepolitik im Allgemeinen und versuchte mit der Energiecharta von 1991 und dem Energiechartavertrag (ECV) von 1994 die langfristige Versorgung Europas durch Energieimporte zu sichern. Dieser Vertrag sah vor, den osteuropäischen und postsowjetischen Staaten für den Zugang zu ihren Energiereserven im Gegenzug, Investitionen in ihre Energiesektoren zu garantieren. Gleichzeitig sollten die WTO-Regeln auf den Energiehandel übertragen werden. In Folge dessen wären auch die alljährlichen ukrainisch-russischen Streitigkeiten über die Transitpreise für russisches Gas vertraglich geregelt worden und ein Stopp der Gaslieferungen wäre einem schweren Verstoß gegen den ECV gleichgekommen. Russland unterzeichnete diesen Vertrag zwar wie auch 50 andere Staaten und die EU, als eigenständiger Vertragspartei, hat ihn aber bis heute nicht ratifiziert. Die beiden 1996 und 2001 angesetzten Ratifizierungsverfahren wurden jeweils nach den parlamentarischen Anhörungen abgebrochen. Im Jahr 2004 wurden die Gespräche mit den Institutionen der Energiecharta über dem Streitpunkt des Transitprotokolls sogar gänzlich abgebrochen. Wenn sie auch später wieder aufgenommen wurden, bis heute wurde kein erneutes Ratifizierungsverfahren in der russischen Föderalversammlung eingeleitet. Ohne die Beteiligung Russlands am ECV bleibt der Vertrag jedoch weit hinter den Erwartungen der EU zurück. Ohne Russland können neue Bauprojekte nicht umgesetzt werden. Ohne Russland ist kein freier Transit von Energieträgern aus den zentralasiatischen Staaten nach Europa möglich. Forschungsfrage und Aufbau der Arbeit: Energiepolitik hat somit in den letzten beiden Jahrzehnten an immer größerer Bedeutung gewonnen. Inzwischen sprechen einige Wissenschaftler schon von der 'Geopolitik des Öls' und Dokumente wie die russische 'Energiestrategie bis 2020' zeigen eindrucksvoll, welche herausragende Bedeutung der Brennstoff- und Energiekomplex (BEK) für Russland bis heute in gesamtwirtschaftlicher und politischer Hinsicht hat. Die gestiegene Bedeutung der Energiethematik in der Außenpolitik ist Anlass sich in dieser Arbeit mit folgender Frage auseinanderzusetzen: Wie lässt sich der Wandel der russischen Außenpolitik gegenüber der EU-15 am Beispiel des Energiechartavertrags erklären? Die Art der Außenpolitik soll in dieser Arbeit als abhängige Variable dienen, während die Ursachen für den Wandel der Außenpolitik die unabhängigen Variablen bilden werden. Diese unabhängigen Variablen werden aus der liberalen Theorie der Internationalen Beziehungen und dem Neorealismus abgeleitet. Der hier verwendete Liberalismus sieht in gesellschaftlichen Präferenzbildungsprozessen die Ursache für außenpolitische Entscheidungen. Konkret bedeutet dies, dass die außenpolitischen Präferenzen einer dominanten innenpolitischen Gruppe die Außenpolitik Russlands bestimmen. Der Neorealismus betrachtet dagegen die Verteilung von Macht und Machtmitteln, sowie die Existenz von Machtpolen zwischen zwei Staaten als ausschlaggebend für die Art der Außenpolitik. Das folgende Kapitel wird näher auf die beiden Theorien und die daraus entwickelten Hypothesen eingehen. In Kapitel 3 werden die verwendeten Variablen operationalisiert. Die abhängige Variable 'Art der russischen Außenpolitik' wird so operationalisiert, dass der Indikator die Unterschiede zwischen den Präferenzen Russlands und der EU-15 erfasst. Der Indikator kann die Werte Kooperation, aufschiebende Kooperation und Konfrontation annehmen. Die Messung geschieht innerhalb der drei Untersuchungszeiträume 1992-1994, 1996-1998 und 1999-2004. Diese Abschnitte sind so gewählt, dass sie die Zeiträume eingrenzen, in denen verstärkt Auseinandersetzungen mit der Thematik des ECV zwischen Russland und der EU stattgefunden haben. Aus der liberalen Theorie der Internationalen Beziehungen lässt sich die unabhängige Variable 'Machtverteilung innerhalb Russlands' ableiten. Der dazu entwickelte Indikator soll die dominante innergesellschaftliche Gruppe und ihre Präferenzen bezüglich der russischen Außenpolitik gegenüber der EU am Beispiel des ECV erfassen. Dazu werden die strukturelle und die situative Mobilisierung aller in Frage kommender Gruppen gemessen und dominante von ihnen ermittelt. Die Operationalisierung der neorealistischen unabhängigen Variable 'Relative Machtstellung Russlands und der EU-15' geschieht über die Bildung von Indikatoren zur Messung der relativen Machtressourcen und der Machtpole. Die Messung der relativen Machtressourcen geschieht durch spezifische, dem Energiebereich entnommene Kennzahlen. Als Machtpole, die die Beziehung zwischen Russland und der EU beeinflussen, kommen nur die Staaten in Frage, die selbst über genügend Machtressourcen zur Einflussnahme verfügen. Auf den Abschnitt zur Operationalisierung der Variablen folgt ihre Messung. Die Messung der abhängigen Variable wird zeigen, dass es einen Wandel der russischen Außenpolitik von Kooperation, über aufschiebende Kooperation hin zu Konfrontation gegeben hat. Die anschließende Messung der unabhängigen Variablen wird zeigen, dass sich die russische Außenpolitik mit Hilfe der liberalen Theorie der IB erklären lässt und den neorealistischen Hypothesen nur eine geringe Erklärungskraft beizumessen ist. Forschungsstand: Die häufig von Auseinandersetzungen und Machtkämpfen, aber auch von Kooperation geprägten Beziehungen zwischen Russland und Westeuropa schlagen sich auch in der wissenschaftlichen Literatur nieder. So befassen sich europäische und russische Wissenschaftler in unzähligen Schriften mit der russischen Außenpolitik und den Beziehungen zwischen Russland und der EU. Angesichts der Einzigartigkeit des Energiechartavertrags ist es allerdings erstaunlich, dass es bisher kaum wissenschaftliche Arbeiten gibt, die sich mit der Position Russlands zum Energiechartavertrag näher befassen. Selbst zum Energiechartavertrag als solchem gibt es nur wenige wissenschaftliche Arbeiten: Rainer Liesens Dissertation untersucht Ursprünge, Voraussetzungen, Inhalt und Bedeutung des Energiechartavertrags unter juristischem Blickwinkel. Julia Dorè und Robert de Bauw beschäftigen sich in ihrem Werk mit dem Inhalt des Vertrags, gehen aber auch auf den wirtschaftlichen Hintergrund ein und zeichnen Teile der Verhandlungen nach. Der bisher umfangreichste Band zum Energiechartavertrag wurde von Thomas Wälde herausgegeben. Darin kommen neben Juristen, Politikwissenschaftler und Ökonomen auch Vertreter verschiedener Staaten und aus der Wirtschaft zu Wort. Hervorhebenswert ist der darauf aufbauende Band von Thomas Wälde und Andrei Konoplyanik in russischer Sprache. Darin befassen sich russische und internationale Experten mit der rechtlichen und wirtschaftlichen Seite des Vertrags,betrachten seine Entwicklung und setzen sich mit der Ratifizierungsdebatte innerhalb Russlands auseinander. Die einzige wissenschaftliche Arbeit, die sich eingehend mit der russischen Position zum Energiechartavertrag auseinandersetzen wird, ist die sich noch in der Entstehung befindende Dissertation von Boris Barkanov von der University of California at Berkeley. Ein erstes Ergebnis seiner Arbeit legte er mit den beiden Aufsätzen für die Berkeley Graduate Students Conference im Mai 2007 und im April 2008 vor. In 'Constructing the National Interest …' untersucht Barkanov die russische Außenpolitik zum ECV mit dem Fokus auf das Verständnis des nationalen Interesses in diesem Bereich durch die Entscheidungsträger. Basierend auf einem konstruktivistischen Ansatz nimmt Barkanov eine Analyse der Äußerungen von Entscheidungsträgern im Zeitraum von 2000 bis 2003 vor und argumentiert, dass der Wandel der russischen Außenpolitik auf einen Wandel des Verständnisses von nationalem Interesse zurückgeht. Barkanov identifiziert drei Prozesse, die zu diesem Wandel führten: 1) die Gegner des ECV, insbesondere Gazprom, verbreiteten neue Erkenntnisse über den Vertrag, 2) die Ernennung eines engen Vertrauten Präsident Putins zum Chef von Gazprom ließ eine effektive Lobby gegen den Vertrag entstehen und 3) die EU-Energiepolitik in dieser Zeit wurde von den Gegnern des ECV als Ressource gegen den Vertrag genutzt. In 'Saving the Gold Mine …' untersucht Barkanov die Bildung und den Wandel der russischen Präferenz zum Energiechartavertrag von 1997 bis 2001. Im Mittelpunkt steht dabei der Moment in dem sich die russischen Präferenzen von Unterstützung zu Ablehnung wandelten und die Denkweise der Akteure, die diesen Wandel zu verantworten haben. Einen besonderen Blick wirft Barkanov auf die Rolle Gazproms und die Frage des Third-Party-Access. Am Beispiel der Argumentationsmuster zweier russischer Politiker zeigt er wie sich Normen und Werte auf ihre Präferenzbildung hinsichtlich des ECV ausgewirkt haben. Hierbei stellt er fest, dass die Dynamiken der Präferenzänderung stark von den Mustern in etablierten Theorien abweichen. Anmerkungen zu Transkription und Übersetzung: Die Transkription der kyrillischen Buchstaben erfolgt entlang der wissenschaftlichen Bibliotheksumschrift. Abweichend davon wird auf die Punktierung des Buchstaben e verzichtet. Das Weichheitszeichen wird durch ein Apostroph, das Härtezeichen durch zwei wiedergegeben. Eine Ausnahme in der Transkription bilden in anderer Form in Deutschland gebräuchliche russische Eigennamen für international bekannte russische Persönlichkeiten, wie Boris Jelzin anstatt Boris El'cin oder Ewgenij Primakow anstatt Evgenij Primakov. Davon betroffen sind auch geographische Bezeichnungen und Firmennamen großer russischer Unternehmen, wie etwa Yukos statt Jukos. Die Nennung der fremdsprachlichen Literatur folgt der jeweils verwandten Transkription, um das Wiederfinden zu erleichtern. Alle Zitate aus dem Russischen wurden von der Autorin nach bestem Wissen übersetzt.