Zwei Begriffe der Wissenschaftsfreiheit
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Die Unterstützer des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit wollen sich für einen offenen Diskurs einsetzen und plädieren doch in Teilen für seine Beschränkung. Wie ist das zu erklären? Und was
folgt daraus? Ein Gastbeitrag von Karsten Schubert.
Karsten Schubert ist Associate Fellow am Lehrbereich Politische Theorie der Humboldt-Universität zu Berlin. Foto: privat.
DAS NETZWERK WISSENSCHAFTSFREIHEIT warnt, dass die Wissenschaftsfreiheit durch Moralisierung und Politisierung bedroht werde. Identitätspolitik und "Cancel Culture" hätten auch in
die Wissenschaft Einzug gehalten, führten zum Ausschluss von "kontroversen" wissenschaftlichen Positionen und verhinderten so einen kritischen wissenschaftlichen Austausch.
Grundlage dieser Kritik ist ein Verständnis von Wissenschaftsfreiheit, das in liberaler Tradition steht und eine negative Begriffsdefinition umfasst. Negativ insofern, dass Wissenschaftsfreiheit
vom Netzwerk als Abwesenheit politischer Einmischung verstanden wird: Wissenschaft, so die Überzeugung, ist dann frei, wenn sie nicht politisch beeinflusst und normiert wird.
Doch anders als dieser negative Freiheitsbegriff erwarten ließe, geht es im Verständnis des Netzwerks nicht in erster Linie um die Freiheit von staatlichen Eingriffen. Vielmehr ist die Freiheit
von der Kritik durch andere wissenschaftliche Ansätze gemeint. Im Fokus des Netzwerks stehen kritische Ansätze, zu deren Geschäft es gehört, Forschung zu kritisieren, die
Diskriminierungsstrukturen stützen kann. Diese Kritik versteht das Netzwerk als unwissenschaftliche und ideologische Moralisierung und Politisierung und damit als eine Art außerwissenschaftlichen
Eingriff in die Wissenschaft durch andere Wissenschaftler_innen.
Wissenschaftsfreiheit heißt für das Netzwerk also, frei zu sein von der Einmischung durch kritische Forschung. Allerdings ist ein so verstandener negativer Begriff von Wissenschaftsfreiheit
in mehrfacher Hinsicht widersprüchlich.
1. Einseitig festlegen, was ideologisch ist
Die Abwehr von staatlichen Eingriffen ist ein wichtiges Kernelement jedes Begriffs der Wissenschaftsfreiheit. Wie gravierend staatliche Eingriffe sein können, kann man in Ungarn, der Türkei und
den USA beobachten. Und auch in Deutschland gibt es in letzter Zeit staatlichen Druck auf die Wissenschaft, wenn es darum geht, gegen Antisemitismus vorzugehen, wobei auch solche Positionen
eingeschränkt werden, die tatsächlich legitime Kritik an Israels Regierung üben. Doch die Konzentration des Netzwerks auf die Kritik an kritischer Wissenschaft wie Gender Studies und
Postkolonialismus ist eine Unterstützung für politische Akteure, die genau diese Disziplinen staatlich einschränken wollen.
Prominente Netzwerkmitglieder sprechen sich sogar offen für staatliche Einschränkungen aus, so hat jüngst Susanne Schröter das bayerische Genderverbot unterstützt. Dies ist kein Zufall, denn bei
der Kritik an angeblich "ideologischer" Wissenschaft wird einseitig festgelegt, was ideologisch ist (und deshalb eingeschränkt werden soll) und was nicht. Genau das widerspricht aber dem
liberalen Ethos des offenen Gesprächs eigentlich. Doch wird dieses Problem der Setzung und Positionalität in der umfangreichen Textproduktion im Kreis des Netzwerks meines Wissens nicht
reflektiert (siehe zum Beispiel hier, Seite 55 bis 71). Das ist in gewisser
Weise konsequent, denn die widersprüchliche Forderung von wertfreier und nicht-ideologischer Wissenschaft ist tief im liberalen Denken verankert.
2. Als politischer Akteur die Politisierung kritisieren
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist auch dann selbstwidersprüchlich, wenn es die Politisierung der Wissenschaft allgemein kritisiert, aber sie einseitig den kritischen Ansätzen vorwirft. Es
tritt als politischer Akteur auf, der sich aber selbst als unpolitisch markiert, indem er vorgibt, die Wissenschaftsfreiheit allgemein, unabhängig von politischen Positionierungen zu verteidigen.
Die eigene Politizität des Netzwerks wird jedoch klar deutlich, wenn Netzwerk-Mitglieder Queer Studies, Postkolonialismus und Gender Studies als "Agendawissenschaft" mit "identitätslinker Läuterungsagenda" (Seite 20) kritisieren.
Das Netzwerk ist also ein konservativer politischer Akteur innerhalb der Wissenschaft, der versucht, seine eigene konservative Politik zu verschleiern bzw. zu verallgemeinern, indem es sich auf
den universell klingenden Begriff der Wissenschaftsfreiheit stützt. Kurz: Es geht nicht um Wissenschaftsfreiheit für alle, sondern um die Wissenschaftsfreiheit für konservative Professor_innen.
3. Blind gegenüber Machtstrukturen werden
Freiheit im liberalen Sinne als die Abwesenheit offensichtlicher Eingriffe zu verstehen, führt dazu, blind gegenüber Machtstrukturen zu werden. Die Professor_innen des Netzwerks fühlen sich
beispielsweise frei, solange ihnen nicht vorgeworfen wird, dass ihre eigene Forschung womöglich sexistisch oder rassistisch ist. Und sie bemühen dafür das Ideal des bedingungslosen, pluralen und
offenen Diskurses.
Dass für solche Menschen, die von Sexismus, Rassismus und Transfeindlichkeit an der Hochschule betroffen sind, dieser offene Diskurs von vornherein nicht möglich ist, lässt sich mit solch einem
Freiheitsverständnis schlecht beschreiben. Im Gegenteil: Der Protest solcher Menschen für die Änderung der Strukturen wird sogar als Freiheitseinschränkung empfunden; als ein von "politischer
Korrektheit" und "Cancel Culture" getriebener Eingriff. Tatsächlich können die mit diesen Schlagworten kritisierten Phänomene aber zu einer Verbesserung der Wissenschaftsfreiheit führen, weil sie
dabei helfen, die Wissenschaft zu diversifizieren.
Die Wissenschaft diversifizieren, ohne
die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken
Wie kann Wissenschaftsfreiheit verstanden werden, um diese Probleme zu vermeiden? Von welchem Begriff der Wissenschaftsfreiheit ausgehend lässt sich das Netzwerk kritisieren? Dies gelingt mit dem
kritischen Begriff der Wissenschaftsfreiheit. Dieser geht von der Diagnose aus, dass starre Macht- und Privilegienstrukturen das zentrale Hindernis für die gemeinsame Arbeit an wissenschaftlicher
Objektivität sind, weil sie die Perspektiven von Forscher_innen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören, marginalisieren. Deshalb geht es dem kritischen Begriff der Wissenschaftsfreiheit um
eine Diversifizierung der Wissenschaft, und damit einhergehend, um eine Reflexion und Transformation des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik.
Der kritische Begriff speist sich aus wissenschaftstheoretischen, politiktheoretischen und epistemologischen Ressourcen, die zeigen, dass die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik nicht
eindeutig gezogen werden kann, weil die Wissenschaft politisch institutionalisiert ist und selbst nicht politisch neutral sein kann. Wissenschaftsfreiheit kann deshalb nicht allein negativ als
Freiheit von politischer Einmischung verstanden werden wie beim Netzwerk, sondern sie ist eine Sache der aktiven politischen Gestaltung von Freiheitsräumen.
Die Herausforderung des kritischen Begriffs ist insofern, wie die Wissenschaft diversifiziert werden kann, ohne dass eine solche Diversitätspolitik in eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit
umschlägt. Die interne Diversifizierung durch den selbstgesteuerten Öffnungsprozess einzelner Disziplinen für kritische Standpunkte, beispielsweise durch die "Dekolonialisierung" von Lehrplänen,
ist diesbezüglich unproblematisch – denn Wissenschaftsfreiheit impliziert keinen Bestandsschutz für den Einfluss von Ansätzen, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt überholt wurden.
Herausfordernder ist die extern-institutionelle Diversifizierung, also die Änderungen der politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen der Wissenschaft und eine politische Diversitätssteuerung über
die Forschungsförderung, die in einer Spannung zur Pluralität der Forschungsansätze geraten kann, die wiederum einen Kerngehalt der Wissenschaftsfreiheit darstellt. Zuletzt kann
extern-aktivistische Diversifizierung durch Proteste im akademischen Umfeld nicht mithilfe des kritischen Begriffs der Wissenschaftsfreiheit legitimiert werden – sobald sie disruptive Mittel
wählen, etwa das Verhindern von Vorträgen, weil sie damit unmittelbar die individuelle Wissenschaftsfreiheit einzelner Forschender einschränken.
Ein diskursiver Protest aber, beispielsweise durch Demonstrationen, ist der Wissenschaftsfreiheit potenziell zuträglich.
Weitere Überlegungen zu den beiden Begriffen der Wissenschaftsfreiheit gibt es in Karsten Schuberts Zeitschriftenartikel "Zwei Begriffe
der Wissenschaftsfreiheit: Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik" in der Zeitschrift für Praktische Philosophie.
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