Parlamentswahl in Bulgarien 2023
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Am 2. April wählten die Bulgarinnen und Bulgaren ein neues Parlament. Es waren die fünften Wahlen zur Volksversammlung innerhalb von zwei Jahren.
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Am 2. April wählten die Bulgarinnen und Bulgaren ein neues Parlament. Es waren die fünften Wahlen zur Volksversammlung innerhalb von zwei Jahren.
Blog: ostBLOG
Am 2. Oktober hat Bulgarien ein neues Parlament gewählt, zum vierten Mal in den letzten eineinhalb Jahren. Die Formulierung "Bulgarien hat gewählt", trifft es dabei nicht wirklich, denn nur 38 % der Wahlberechtigten haben den Weg zur Urne gefunden – und von ihnen 87.000 mit "ungültig" gestimmt. Wer auch immer die nächste Regierung Bulgariens bilden wird, hat somit nur ein schwaches Mandat – was aber erfahrungsgemäß die Parteien im Parlament nicht von maximalistischen Forderungen und der Diffamierung des politischen Gegners abhalten wird. Dabei könnte Bulgarien, […]
Blog: ostBLOG
Kommentar von Ulf Brunnbauer zum Vorschlag der französischen Ratspräsidentschaft zur Auflösung des bulgarischen Vetos gegen EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien. Kurz vor Ablauf der französischen EU-Ratspräsidentschaft legte diese Ende Juni einen Kompromissvorschlag vor, mit dem das leidige Veto Bulgariens gegen den Beginn von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien überwunden werden soll. In diesem Disput geht es um beiden Seiten wichtige Fragen der nationalen Identität, umso sensibler reagieren Politik und Öffentlichkeiten in Sofia und Skopje seit jeher auf jedes vermeintliche Nachgeben: Als der erst seit Dezember 2021 amtierende bulgarische […]
Blog: Schnabeltier EU
Am Freitag, dem 28.04.2023, hat eine von der Organisation "Junge Europäer – JEF Baden-Württemberg" und der Stadt Sindelfingen organisierte Veranstaltung unter dem Titel "EU-Außenpolitik in Krisenzeiten: Diskutiere mit!" im Rathaus der Stadt Sindelfingen stattgefunden. Die "Jungen Europäer" als Jugendorganisation mit Mitgliedern im Alter von 14-35 Jahren sind ein überparteilicher, überkonfessioneller und proeuropäischer Verband und setzen sich laut ihrer Homepage für ein demokratisches, bürgernahes und föderales Europa ein.Den Auftakt der Veranstaltung leistete Dr. Martin Große Hüttmann von der Universität Tübingen mit einem Impulsvortrag. Die anschließende Diskussion mit Fragerunde wurde von zwei Workshops gefolgt: Dr. Ragnar Müller mit dem Titel "EU-Außenpolitik am Beispiel des Westbalkans" sowie der von Dr. Martin Große Hüttmann angebotene Workshop "EU-Außenpolitik am Beispiel der Ukraine". Im Folgenden werden der Impulsvortrag und die zwei Workshops sowie die daraus resultierenden Erkenntnisse zusammengefasst.Martin Große Hüttmann zitierte Henry Kissinger aus den 70er Jahren ("Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will") zu Beginn seines Vortrags und präzisierte, dass einem bei einem heutigen Anruf der EU der Anrufbeantworter 27 Meinungen – von jedem Mitgliedstaat jeweils die Meinung – vorschlägt, und man sich für eine entscheiden muss. Das Wort "Krise" definiert Große Hüttmann als "wenn etwas Spitz auf Knopf steht" und macht deutlich, dass man in der EU zuerst von einer "Krise", später "Polykrise" und mittlerweile von einer "Permakrise" hinsichtlich der EU spricht; das Wort "Krise" allein wird inzwischen fast inflationär verwendet.Auf die Außenpolitik der Europäischen Union bezogen, stellt Große Hüttmann drei "I" vor: Ideen, Interessen und Instrumente. Erst, wenn es eine sinnvolle Schnittmenge zwischen ihnen gibt, kann so etwas wie Außenpolitik in der EU überhaupt erst entstehen.Hinter "Ideen" stecken die Begriffe Ideen und Leitbilder, als Beispiele werden "europäische Souveränität", "strategische Autonomie" oder Resilienz genannt sowie die Mahnung, die Sprache der Macht zu sprechen."Interessen" stellen Sicherheit und Unabhängigkeit, Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt weltweit, Umwelt und Nachhaltigkeit sowie eine regelbasierte Weltordnung dar.Das dritte "I" der "Instrumente" ist bezogen auf soft power statt hard power, den EU-Haushalt sowie die Institutionen der EU.Große Hüttmann betont auch den "Gap", die Lücke zwischen den Erwartungen, die an die EU gestellt werden, und den Kapazitäten, die die EU tatsächlich hat, diese auch zu befriedigen (expectations-capability-gap).Im weiteren Verlauf des Vortrags wird das bei wichtigen Abstimmungen geltende Prinzip der Einstimmigkeit angesprochen, wovon die Abkehr auf EU-Ebene oftmals als sinnvollste Lösung in der Diskussion angeführt wird. Hier wirft Große Hüttmann das Prinzip der doppelten bzw. qualifizierten Mehrheit, welches bereits jetzt in der Praxis Verwendung findet, in die Arena mit Verweis auf die jeweiligen Vor- und Nachteile eines solchen Abstimmungsverfahrens.Zum Ende des Impulsvortrages werden kurz Szenarien zur Zukunft der EU-Außenpolitik, vor allem hinsichtlich einer weiterhin bestehenden oder möglicherweise bröckelnden Partnerschaft mit den USA, skizziert. So wäre das Szenario der "Superpower EU" ("Zeitenwende" mit einer neuen Geschlossenheit innerhalb der EU sowie mit den USA) das beste Szenario und die "Powerless EU" (Business as usual und Zerwürfnis mit den USA; bedingt auch abhängig von den anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA) der worst case. Zwischen diesen beiden Szenarien wären noch eine "Multipower EU" ("Zeitenwende" und Zerwürfnis mit den USA) sowie eine "Depower EU" (Einheit und business as usual) denkbar und keinesfalls abwegig.Beendet wurde der Vortrag mit dem bekannten Zitat Jean Monnets ("Europa wird in Krisen geschmiedet werden, und es wird die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen erdacht hat") und dem Verweis auf heute, da wir uns als "Zeitzeugen" einer sich im Moment aufgrund der "Permakrise" neu schmiedenden EU bezeichnen können, welche wie so oft Katalysator sowie Motor für neue Innovationen ist.Europäische Außenpolitik und der WestbalkanBis heute prägen Stereotype das Bild des "Balkans" in Europa. Der Balkan-Begriff ruft eine Reihe verschiedener Assoziationen hervor. Von kulinarischen Meisterstücken – wie der Balkanplatte - über das pure Gefühl von Strand, Berge, Sonne und Meer, bis hin zu den negativen Bildern des Balkans – spätestens seit Ende des Kalten Krieges scheint die Region zum Synonym von Krieg und Armut geworden zu sein. Doch was genau ist überhaupt als Balkan zu bezeichnen und wie ist dieser im Geflecht europäischer Integration und europäischer Außenpolitik einzuordnen? Diesen Fragen ging Dr. Ragnar Müller – Dozent im Fachbereich Politikwissenschaft der PH Ludwigsburg und Europaexperte – in seinem Workshop "EU-Außenpolitik am Beispiel des Westbalkans" nach.Immer wieder ist die Rede vom "Balkan", "Westbalkan" oder "Südosteuropa". Welche Begrifflichkeit zur Bezeichnung der Länder im Südosten Europas gewählt wird, scheint verzwickt. Anzumerken ist jedoch, dass der Begriff "Balkan" als höchst problematisch in diesem Zusammenhang zu werten ist. In seinem Ursprung bezeichnet der Balkan-Begriff lediglich ein tertiäres Faltengebirge in Südosteuropa, dessen Hauptkamm in Bulgarien zu verorten ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Balkan-Begriff jedoch einen territorial weiter gefassten Raum, zu dem die Staaten Bulgarien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Nord-Mazedonien, Albanien, Kosovo, Serbien, Kroatien und Rumänien zählen. Mit Blick auf die diversen Ethnien und Konfessionen des Balkans bietet es sich an, den geeigneteren Terminus "Südosteuropa" für diese doch sehr heterogene Landmasse anzuführen. EU-intern hält sich nach wie vor die Bezeichnung des Westlichen Balkans. Diese Bezeichnung umfasst eine Staatengruppe südosteuropäischer Staaten, welche noch keine EU-Mitglieder sind.Mit Ende des Kalten Krieges 1991 und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus kehrt auch das Bild "Rückkehr nach Europa" in die Köpfe südosteuropäischer Staaten zurück. Wenn ein Staat nach dem Zerfall der Sowjetunion der EU beitritt, so schien Jugoslawien – mit seiner vermeintlich fähigen Produktion von Gütern und der fortgeschrittenen Emanzipation von der Sowjetunion – prädestiniert dafür. Jedoch zeigt sich, dass mit Jugoslawien in den 90er Jahren eben jenes Land zerfällt, dass sich außen- und innenpolitisch bereits im Kalten Krieg am weitesten von der Sowjetunion emanzipiert hatte. Die folgenden Kriege der 90er, mitsamt ihrer humanitären Krisen, lassen einen Beitritt südosteuropäischer Staaten in weite Ferne rücken.Nach der Beendigung des Jugoslawienkriegs und dem Tod Franjo Tudjmans (Kroatien) und dem Sturz von Serbiens Slobodan Milosevic beginnt die Zeit der langsam fortschreitenden Stabilität der Region. Auch der – auf Initiative von Joschka Fischer hin – gegründete Stabilitätspakt der Europäischen Union für Südosteuropa festigte das Ziel einer mittel- und langfristigen Stabilität der Krisenregion durch regionale und überregionale wirtschaftliche, demokratische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Neben den Mitgliedstaaten der EU waren die Balkanstaaten sowie die Mitglieder der G8 beteiligt. Das Gipfeltreffen in Thessaloniki 2003 bestätigte die fortschreitende Integrationsbereitschaft der EU, westliche Balkanstaaten durch feste Beitrittsgarantien in die Europäische Union einzugliedern.Nach der Beitrittswelle von zwölf Staaten (2004, 2007) und den damit einhergehenden politischen Herausforderungen stagnieren jedoch diverse Beitrittsgesuche der noch ausstehenden südosteuropäischen Staaten. Durch vielfältige Krisen, wie der Finanzkrise 2008 oder der sogenannten "Flüchtlingskrise" 2015 sowie einer EU-Erweiterung um 12 neue Mitgliedsstaaten setzt eine Erweiterungsmüdigkeit ein, die EU scheint mit eigenen politischen Herausforderungen mehr als beschäftigt zu sein. Ein Teufelskreis setzt ein: Ohne Reformen kommt es zu keiner Annäherung an die EU, ohne Zuversicht des Beitritts kommt es zu keinen Reformbemühungen.Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 führt zu einer Zäsur und Zeitenwende in der internationalen Politik. Der russische Territorialhunger führt zu einer "Rückkehr des Krieges nach Europa". Aus Sicht südosteuropäischer Staaten kehrt der Krieg jedoch nicht erst seit 1945 zurück, sondern war in den 1990er Jahren ein stetiger Begleiter.Es zeigt sich jedoch, dass die Beitrittsperspektive des Westlichen Balkans dadurch deutlich besser geworden ist. Auch die EU muss durch die veränderte Lage verstärkt geopolitisch denken. Dieser europäische Blick auf geopolitische Gesichtspunkt lässt den Westbalkan vermutlich als Gewinner hervorgehen. Die Rückkehr der Geopolitik und die veränderte Systemkonkurrenz bieten nun die Chance einer neuen Integrationsdynamik. Diese scheint untrennbar mit sicherheitspolitischen Fragen verbunden zu sein. Der "Berlin-Prozess" wird angekurbelt, die EU scheint sich mehr um die Region zu bemühen. Eine Erweiterungspolitik anderer Art setzt ein.Europäische Außenpolitik am Beispiel der UkraineSeit dem ersten Assoziierungsabkommen, ratifiziert und begonnen zwischen 2014-2016, zwischen den Staaten der EU und der Ukraine und dem erneuten Angriff des russischen Militärs auf ukrainischen Boden im Februar 2022, strebt die Ukraine nun mit deutlichem Nachdruck eine weitere Annäherung an die EU an. Am liebsten mit einem Beitritt der Ukraine zum Bündnis. Durch das sehr öffentlichkeitswirksame Beitrittsgesuch der Ukraine durch ihren Präsident Selenskyj stellen sich verschiedene neue Fragen und Herausforderungen für die EU. Einerseits handelt es sich um politisches Neuland für die EU, da in der Vergangenheit ihre Erweiterungspolitik nur in befriedeten Räumen stattfand. Insbesondere mehrere osteuropäische EU-Staaten sprachen sich dafür aus, der Ukraine bereits kurz nach Beginn des Angriffskrieges den Status als Beitrittskandidat zu verleihen, was sich auch durchsetzte. Dadurch, dass es derzeit (Mai 2023) keine Anzeichen gibt, dass der Krieg in der Ukraine bald endet und die EU-Kommissionspräsidentin der Ukraine ein schnelles Verfahren versprach, stellt sich die Frage, wie damit verfahren werden soll, wenn es Krieg oder kriegsähnliche Zustände in einem Mitgliedsland gibt. Zusätzlich stellt sich die doppelte Herausforderung der Erweiterung und Vertiefung. Die letzte Reform des EU-Vertrages gab es 2007 in Lissabon. Seit 2007 ist die EU aber durch mehrere Krisen gegangen, welche Mängel im System aufgedeckt haben. Weiter gibt es derzeit 8 Beitrittskandidaten, die auf Fortschritte im Prozess warten und hoffen. Dieser doppelte Handlungsdruck wirft die Frage auf, welcher Prozess zuerst begonnen werden soll. Der Reformprozess oder die Erweiterungsbestrebungen.Als letzte Herausforderung stellt sich die Frage, ob die Erwartungen, die die Ukraine in den Prozess legt, von der EU erfüllt werden können. Dabei spielt natürlich auch eine Rolle, welche Versprechungen die EU der Ukraine macht. Zu nennen ist hier das Versprechen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens, welche der Ukraine ein beschleunigtes Verfahren versprach.Weiter befasst sich dieser Beitrag mit den Ideen, Interessen und Instrumenten, welche der EU im Umgang mit der Ukraine zur Verfügung stehen und nach denen sie handelt. Die Idee einer weiteren Annäherung zwischen der EU und der Ukraine ist klar geprägt durch eine friedensfördernde Politik. Durch den Beitritt der Ukraine zur EU würde sie noch deutlicher unter dem Schutz des "Westens" stehen und dies eine abschreckende Wirkung auf mögliche Aggressoren haben. Dies dient natürlich einem politischen und ökonomischen Interesse nach Stabilität in Europa. Erreichen möchte die EU dies durch das seit 2016 in Kraft getretene Assoziierungsabkommen und den nun verliehenen Status als Beitrittskandidat. Weiter fördert die öffentliche Unterstützung innerhalb der EU und der Ukraine für einen Beitritt den Prozess.Nach dem Vortrag von Große Hüttmanns wurde die Debatte eröffnet und es wurden verschiedene Aspekte unter den Teilnehmenden diskutiert. Abgesehen von den bisher genannten Problemen stellen sich weitere Fragen, sollte es zu einem Beitritt kommen. Einerseits über die Fairness und Konsequenz des Aufnahmeprozesses. Während mehrere südosteuropäische Staaten seit Jahren über einen Beitritt verhandeln, wurde der Ukraine ein schnelles Verfahren versprochen. Sollte dies umgesetzt werden, könnten sich diese Staaten hintergangen und unfair behandelt fühlen. Andererseits scheint es auch so, dass die Bemühungen der Ukraine größer sind als die der Länder Südosteuropas, was einen schnelleren Beitritt rechtfertigen würde.Des Weiteren gilt es zu bedenken, dass mit einem Beitritt der Ukraine diese direkt eines der größten Länder der Union wäre und einer der größten Getreideproduzenten der Welt ist. Daher könnte die Aufnahme dazu führen, dass Regeln, wie beispielsweise die Agrarsubventionen der EU, neu überdacht werden müssen. Die diskutierende Gruppe sprach sich am Ende für einen Beitritt der Ukraine zur EU aus, stellte jedoch die Bedingung, dass keine Verfahren abgekürzt werden sollten und die Ukraine das reguläre Verfahren durchlaufen sollte.
Blog: Schnabeltier EU
In diesem Beitrag stellt Katharina Beyrle folgenden Aufsatz vor:Lübkemeier, Eckhard (2021): Rechtsstaatlichkeit und Handlungsfähigkeit: zwei Seiten einer EU-Medaille; SWP-Aktuell, 49/2021, online unter: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2021A49/.Dr. Eckhard Lübkemeier ist Botschafter a.D. und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er stellt eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit fest. Diese Erosion betreffe vor allem Ungarn und Polen. Um dieser negativen Entwicklung Einhalt zu gebieten, fehle dem Europäischen Parlament (EP) zum einen die Willenskraft und zum anderen würden vertragliche Hürden eine Sanktionierung erschweren.Lübkemeier sieht in der Corona-Pandemie einen Hoffnungsschimmer. Die Corona-Pandemie führte zu einem wirtschaftlichen Einbruch in allen Mitgliedsstaaten. Währenddessen wurde aber auch der Haushaltsplan für 2021 bis 2027 beschlossen, der große Mengen an Finanzmitteln in Aussicht stellt. Diese Mittel sind konditioniert, das heißt, dass Länder, die die Rechtsstaatlichkeit missachten, die Mittel nur eingeschränkt oder gar nicht erhalten können. Lübekmeier ist der Ansicht, dass dieser Hebel konsequenter genutzt werden sollte. Dieses Streichen beziehungsweise Kürzen stehe auf der rechtlichen Grundlage des im EU-Vertrag (EUV) beschriebenen Selbstverständnisses der EU als Werte- und Demokratiegemeinschaft.Lübkemeier sieht für die EU drei aktuelle Herausforderungen. Die EU-Gelder müssen effektiv eingesetzt werden, die EU muss die Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsentscheidung stärken und sie muss sich im Wettbewerb mit autokratischen Regimen behaupten. Um diese Herausforderungen zu meistern, sei eine stabile Demokratieunion die wichtigste Grundlage (vgl. S. 1).2017 wurde gegen Polen das erste Mal ein Verfahren nach Artikel 7 des EUV eingeleitet. 2018 folgte das gleiche Verfahren gegen Ungarn. Die Kommission beschreibt dieses Verfahren als eines, das ein außergewöhnliches Instrument darstellt, mit dem die EU tätig werden kann, wenn eine Verletzung des Artikels 2 des EUV vorliegt (der Artikel bezieht sich vor allem auf die Werte und die Rechtsstaatlichkeit). Dieses Verfahren wurde gegen Polen und Ungarn eingeleitet, da die Kommission eine Unabhängigkeit der Justiz gefährdet sieht. Diese Gefährdung könne man aber auch schon in Rumänien, Kroatien und der Slowakei sehen. Die Kommission äußerte aber auch Bedenken hinsichtlich einer Einflussnahme auf die Medien in Österreich, Bulgarien, Malta und Polen (vgl. S. 1). Erste Herausforderung: EU-Gelder effektiv einsetzenDie erste Herausforderung umfasst vor allem die Beseitigung der wirtschaftlichen Verluste der Corona-Pandemie. Die zur Verfügung gestellten Mittel sollen nicht nur für den Wiederaufbau verwendet werden, sondern auch für einen nachhaltigen Umbau von Produktion und Konsum. Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Dieser aufwendige Wandel birgt ein großes Konfliktpotential zwischen den Mitgliedsstaaten, da dieser mit hohen Kosten verbunden ist. Dadurch wird der Zusammenhalt der ganzen EU auf die Probe gestellt.Die Corona-Pandemie brachte für die EU eine zwiespältige Lehre mit sich. Es zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen den nationalen Reflexen, wie die Grenzschließungen, und auf der anderen Seite die Aufnahme gemeinsamer Schulden. Diese neuen Haushalts- und Aufbaumittel können durch neue Konditionalitätsregelungen zurückgehalten oder gar gestrichen werden, wenn die Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet wird (vgl. S. 2).Zweite Herausforderung: EU-Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsentscheidungen stärken und erhalten Der Übergang von Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen zeigte immer wieder ein Spannungsverhältnis zwischen Effektivität und Legitimität. Die Bereitschaft, überstimmt zu werden und den Beschluss dennoch zu akzeptieren, wird strapaziert, wenn nationale Interessen berührt werden. Das gilt vor allem, wenn zu den Minderheiten Mitgliedstaaten gehören, die keine Rechtsstaatlichkeit gewähren. Ein Beispiel dafür ist, dass Polen und Ungarn gegen die Flüchtlingsumverteilung stimmten.Um eine Desintegration durch einen Konflikt zwischen Legitimität und Effektivität zu verhindern, möchten die Mitgliedstaaten immer möglichst im Konsens entscheiden. Dabei hilft es manchmal, die Vetomacht einzelner oder Gruppen einzuschränken. Diese Einschränkung begünstigt die Möglichkeit überstimmt zu werden und dann die Kompromiss- und Konsensbereitschaft zu erweitern. Heute wird meistens routinemäßig im Mehrheitsverfahren entschieden. Diese Abstimmungsoption führte und führt zu einem Kompetenzzuwachs für die europäische Ebene und hat die Handlungsfähigkeit gesichert (vgl. S. 2/3).Bis heute ist aber die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) von dieser Entwicklung ausgenommen. Das verursacht viel Frustration bei den Mitgliedstaaten und in der Öffentlichkeit. Beispielsweise war die EU 2020 wochenlang unfähig, auf Repressionen gegen die belarussische Opposition mit Sanktionen zu reagieren. Selbst wenn manche interne Blockaden gelöst werden konnten, so leidet immer die Handlungsfähigkeit. Beschlüsse werden in dieser Hinsicht meistens zu spät oder in abgeschwächter Form gefasst. Auch einige Mitgliedstaaten blockieren Beschlüsse, indem sie nur zustimmen, wenn sie in anderen Bereichen Zugeständnisse bekommen.Deswegen fordern einige die Abschaffung der Einstimmigkeitsentscheidungen in der GASP. Diese Forderung wird durch Deutschland, Frankreich, den Hohen Vertreter und die Kommissionspräsidentin von der Leyen unterstützt. Lübkemeier reflektiert, dass Mehrheitsentscheidungen zu mehr Handlungsfähigkeiten führen werden, was auch für die GASP gelten werde. Dafür müssen zwei Anforderungen erfüllt sein. Als erstes muss eine verlässliche Regeltreue gelten. Das bedeutet, die gegenseitigen Entscheidungen müssen respektiert werden, vor allem von den größeren Mitgliedstaaten, da diese einfacher eine Entscheidung verhindern können, durch eine größere Macht hinsichtlich wirtschaftlicher und formaler Kriterien. Als zweites muss es eine demokratische und rechtstaatliche Verfasstheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten geben, denn Mehrheitsentscheidungen und Rechtsstaatlichkeit gehören zusammen (vgl. S. 3).Mehrheitsentscheidungen haben aber auch eine Kehrseite. Erstens können diese Entscheidungen die ohnehin existierenden Konfliktlinien verschärfen und damit auch den Zusammenhalt in der EU an seine Grenzen führen. Zweitens werden Mehrheitsbeschlüsse mit Hilfe von Mitgliedsstaaten getroffen, deren Rechtsstaatlichkeit in Frage steht und damit wird die Legitimation untergraben. Drittens werden untadeligen EU-Mitgliedern das Vetorecht entzogen und gegen sie können Beschlüsse gefasst werden mit Unterstützung derer Mitgliedstaaten, deren Rechtsstaatlichkeit in Frage steht (vgl. S. 4).Dritte Herausforderung: EU muss im Systemwettbewerb bestehenAls dritte Herausforderung sieht Lübkemeier das Land China. China gelte nun als Weltmacht und habe als einziges Land das Potential, die USA wirtschaftlich und technologisch zu überholen. Aber nicht nur machtpolitisch stelle China eine Herausforderung dar, sondern China zeige sich auch als systematischer Gegenpol. Die Regierenden Chinas demonstrieren, dass Wohlstand und Weltgeltung nicht nur mit westlicher Demokratie und Marktwirtschafte einhergeht, sondern vielleicht sogar besser mit politischer Entmündigung und staatlicher Wirtschaftslenkung.Am 15. Juli 2021 haben die USA und die EU bekundet, die Herausforderung durch China anzunehmen. Die USA und die EU sehen sich dabei selbst als Anker für Demokratie, Frieden und Sicherheit. Das einzufordern, funktioniere aber nur, wenn man das durch eigenes Vorbild zeigen würde ("lead by example at home"). Denn nur wenn der globale Anspruch und die Wirklichkeit im eigenen Land übereinstimmen, dann könne man nach außen hin auch die entsprechenden Werte einfordern. In den USA ist sich die Biden-Administration bewusst, dass die eigenen Demokratiemängel erst behoben werden müssen, welche vor allem durch Trump offengelegt wurden. Das gleiche gilt auch für die EU. Diese muss eine intakte Demokratieunion sein, um sich gegen China behaupten zu können.Zusammenfassend betont Lübkemeier, dass Krisen und Herausforderungen auch immer eine Chance für Korrekturen und Reformen bieten. Bei der Rechtsstaatlichkeit ist das wirksamste Mittel das Geld, um die betroffenen Länder zu einer Beseitigung der rechtstaatlichen Defizite aufzufordern. Zudem müssen die Kommission und die Mitgliedsstaaten zeigen, dass sie diesen Hebel auch in Gang setzten werden (vgl. S. 4).
Blog: DPI-Blog
Aus Anlass der Fußball-Ausstellung "Gol! Polens Fußball schreibt Geschichten" möchte ich ein paar Worte über meine Kindheit im Schatten des polnischen Fußballs schreiben, als die polnische Nationalmannschaft zwischen 1972 und 1982 ihre größten Erfolge feierte. Die Erwartung, dass ich mich als Kind für Deyna, Lato, Gadocha und Co. begeisterte, muss hier allerdings relativiert werden.Denn dem war nicht ganz so. Eine Kindheit in Oberschlesien und dazu auch noch unter "echten" Oberschlesiern hatte andere Prägungen als die in anderen Teilen Nachkriegspolens. Über die Gründe könnte man lange Vorträge halten, wichtig an dieser Stelle ist festzuhalten, dass die von mir damals wahrgenommene "Gemeinschaft der Oberschlesier" (zumindest im Oppelner Land) trotz starker Polonisierung und einer an den Tag gelegten antideutschen Haltung der sie umgebenden "polnischen Gesellschaft" (Staat, Schule, Jugendorganisation, Kirche, Armee, Arbeitsstelle) ja durch und durch pro-deutsch geprägt war. Dazu hat u.a. auch der deutsche Fußball beigetragen, war die Sportdisziplin eben auch ein Grund für einen heimlichen Stolz der Oberschlesier angesichts westdeutscher Erfolge und polnischer Misere in dieser Disziplin. Zumindest so war die Wahrnehmung bis zum polnischen Olympia-Sieg 1972 in München, dem berühmten Spiel gegen England in Wembley am 17. Oktober 1973 sowie der darauf folgenden Weltmeisterschaft.Die Hinwendung zur deutschen Nationalelf war sozusagen "natürlich gegeben", waren doch viele Menschen in meiner Umgebung mit westdeutschen Gütern von ihrer Verwandtschaft gesegnet, die unsere Welt bunt(er) machten, was angesichts des allgegenwärtigen "Grau" im kommunistischen Polen allein schon ein Riesengewinn in Leben eines jungen Menschen war, der (auch) nach ästhetischen Eindrücken lechzte. Und so befanden sich in den Paketen aus Deutschland Geschenke, die einen Bezug zum bundesdeutschen oder zum Weltfußball hatten, etwa Spielkarten-Quartetts, WM-Bücher, aktuelle "kicker"-Ausgaben oder Schallplatten mit Fußball-Liedern. Viele Jungen wie ich wünschten sich von der westdeutschen Verwandtschaft Sprengler-Schokoladen, in denen es Olympia- bzw. WM-Bildchen gab, die man sammelte und dann in ein Album einkleben konnte. Es muss damals viele Sprengler-Schokoladen in den Paketen nach Polen gegeben haben, denn es brach ein regelrechtes Sammel-Fieber aus, mit Tauschbörsen und vielem anderen mehr. Noch höher im Kurs standen ganze WM-Alben, z.B. von Dieter Kürten oder Ernst Huberty, auch wenn nur die allerwenigsten in meiner Generation Deutsch lesen konnten. Und ganz überragend waren die Fußballspieler, die es im "kicker" zum Ausschneiden gab. Man konnte sie dann lebensgroß wie eine Tapete an die Wand kleben. Schade nur, wenn bei Breitner oder Netzer dann die Schulter oder das rechte Bein fehlte, weil jemand vergessen hat, eine Ausgabe des "kicker" zu kaufen. Alles, was mit Fußball zu tun hatte, war "geil" – T-Shirts mit den WM-Maskottchen Tip und Top, verschiedene Fanartikel, WM-Briefmarken und -Postkarten, "echte" Adidas-Schuhe (in Polen heißen Sportschuhe allgemein "adidasy", oder später auch ebenso echte "korki" (Fußballschuhe mit Noppen) – all das war ein Traum.In den westdeutschen Medien waren natürlich Beckenbauer, Breitner, Netzer, Müller & Co. abgebildet und an sie waren unsere Sehnsüchte gerichtet. Polnische Sport-Zeitschriften waren damals meistens auf billigem Zeitungspapier gedruckt, in der Regel schwarz-weiß, die Bilder wirkten alt und verschwommen. Sie konnten mit der "West-Ware" nicht konkurrieren, allerdings war die Berichterstattung super und manchmal wurden auch dort Bilder über Spieler, Mannschaften und Austragungsorte abgedruckt, was eine gewisse "Öffnung zur Welt" bedeutete. Polen modernisierte sich in den 1970ern schnell (auf Pump), leistete sich ein zweites TV-Programm mit viel Unterhaltung und Sport (seit 1970), bald kam auch das partielle Farbfernsehen (seit 1971). Allerdings hatten nur wenige einen entsprechenden Farbfernseher – in der Regel war es ein "Rubin" – ein massives und schweres Gerät aus sowjetischer Produktion, das zur Implosion neigte.Auch die polnischen Print-Medien wurden mit der Zeit besser, vor allem im Zuge der polnischen Qualifikation zur WM 1974. Damals gab es Sonderausgaben des "Sportowiec" mit allen teilnehmenden Mannschaften, wo die Spieler einzeln vorgestellt wurden, und auch Fotos aller deutschen Fußballstadien, in denen die WM stattfinden sollte. Auch die polnische Mannschaft sang ein WM-Song, was ich vorher nur aus Deutschland kannte. Der Schlager-Star Andrzej Dąbrowski trällerte "A ty sie bracie nie denerwuj, tam Lubański gra!" (Mensch, reg dich ab, da spielt doch Lubański!) und die polnischen Spieler sangen mit, dazu gab es sogar ein gut gemachtes Video im Fernsehen. Zehn Jahre später gab es für den "Mundial" in Spanien 1982 einen weiteren Song, "Entliczek, pentliczek co zrobi Piechniczek", nunmehr allerdings ohne Spielerbeteiligung, aber das war die Zeit des Kriegsrechts und das Land hatte anderes zu bewältigen, keinem Spieler war offensichtlich danach, in einer solchen Zeit zu singen.Eine Brücke von deutschen zum polnischen Fußball stellte für ein oberschlesisches Kind eine Mannschaft dar, wie es sie nur einmal in Polen gab. Górnik Zabrze war dort seit Mitte der 1960er Jahre das Maß aller Dinge. Zabrze, die am wenigsten polonisierte Stadt im Kohle-Revier[1], hatte eine Mannschaft, in der viele Oberschlesier spielten und die seit 1967 beachtliche internationale Erfolge feierte. Der größte Erfolg, der 1969-1970 ganz Polen elektrisierte, war das Finale des Pokals der Pokalsieger, wo Górnik in Wien dem Weltklasse-Klub Manchester City 1:2 unterlag. Oberschlesier wie Hubert Kostka, Zygfryd Szoltysik, Alojzy Deja, Jan Banaś waren Klasse! Auf jeden Fall hatten sie uns damals begeistert. Aber der beste war Włodzimierz Lubański (das ist eine andere Geschichte, die auch einmal erzählt werden muss).Die polnische Teilnahme an der WM 1974 – das ist eine Geschichte, die jeder Pole kennt. "Górskis Adler" (Orły Górskiego) wurde der Kader damals nach dem Trainer Kazimierz Górski genannt. Wie aus dem Nichts – in der Qualifikation zur EM 1972 zahlten die Polen krasses Lehrgeld bei den Spielen gegen Deutschland und Bulgarien – spielten die Polen Weltklasse. Alleine die beiden Spiele gegen den Weltmeister von 1966 – England: in Chorzów am 6. Juni 1973 und das berühmte Spiel am 17. Oktober 1973 in Wembley – zeugen von unheimlichem Kampfgeist, aber auch von Tempo, Technik, Ideenreichtum und Finesse. In Chorzów schossen Banaś (oder Gadocha) und Lubański – beide durften dann bei der WM nicht dabei sein – Pech![2] In Deutschland dann waren andere am Zug – Lato, Deyna, Szarmach, Gadocha, nicht zu vergessen der "Held von Wembley" Jan Domarski. Aber der echte Held war der Torwart Jan Tomaszewski, der "Mann, der England stoppte", eine Sensation, denn die Engländer waren (gefühlt) 95% der Zeit im Ballbesitz und gaben Hunderte von Schüssen ab, die Tomaszewski und die polnische Abwehr souverän parierten.Zu einer denkwürdigen Partie kam es dann bei der "Wasserschlacht" von Frankfurt (mecz na wodzie) am 3. Juli 1974, von der sowohl für Deutschland wie für Polen alles weitere bei der WM abhing – alles, d.h. der Einzug ins Finale gegen die Niederlande, die den Weltmeister Brasilien in die Schranken wiesen. Dass das Spiel überhaupt stattfand – auf einem Wasserspielfeld –, war schon kritikwürdig genug. Oft wurde behauptet, die Polen wären die bessere Mannschaft gewesen, Deutschland habe nur Glück und 80 Tausend Zuschauer hinter sich gehabt. Polen belegte bei dem Turnier schließlich den 3. Platz, eine Sensation! Danach kamen wieder magere Jahre für den polnischen Fußball, bis auf die WM 1982 in Spanien, wo es Polen erneut gelang, den 3. Platz zu erreichen. Die deutsch-polnische Fußball-Verflechtung ging allerdings weiter: Die in den 1980er Jahren als Kinder nach Deutschland emigrierten Oberschlesier Miroslav Klose und Lukas Podolski waren lange Zeit Garanten für deutsche Erfolge, Robert Lewandowski spielte lange Zeit in Bayern München und Podolskis lange Karriere geht gerade zu Ende in den Farben des Vereins … Górnik Zabrze.
[1] Dawid Smolorz: Achtung: Przybyli Krzyżacy https://wachtyrz.eu/dawid-smolorz-achtung-przybyli-krzyzacy-2/
[2] Lubański pausierte längere Zeit wegen einer früheren Verletzung, Banaś dagegen durfte wegen seiner deutschen Abstammung und einer nicht linientreuen Vorgeschichte nicht an der WM teilnehmen, s. auch den Spielfilm "Gwiazdy" (Stars) von Jan Kidawa-Błońnski von 2017 mit Mateusz Kościukiewicz als Jan Banaś.
Blog: DPI-Blog
Was ist passiert?In der vergangenen Woche am 25. Juli überraschte Zbigniew Ziobro, polnischer Justizminister und Vorsitzender der Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska), mit der Ankündigung, den Austritt Polens aus der Istanbul-Konvention beantragen zu wollen. Die Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Am Montag dieser Woche stellte Ziobro schließlich einen entsprechenden formellen Antrag beim polnischen Ministerium für Familie, Arbeit und Sozialpolitik.Was ist die Istanbul-Konvention?Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, besser bekannt als Istanbul-Konvention, ist ein 2011 ausgehandelter völkerrechtlicher Vertrag, der am 1. August 2014 in Kraft trat. Die Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten dazu, die Gleichstellung der Geschlechter in ihren Verfassungen und Rechtssystemen zu verankern. Bis heute haben 46 Staaten die Vereinbarung unterzeichnet, in 34 Staaten ist sie bereits ratifiziert worden. Das polnische Parlament ratifizierte die Istanbul-Konvention im Jahr 2015, noch unter der Regierung der Bürgerplattform, die heute in der Opposition ist. Zu den Staaten, die die Konvention zwar unterzeichneten, aber bislang nicht ratifiziert haben, gehören Bulgarien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Großbritannien, die Slowakei, Tschechien, Ungarn und die Ukraine. Hätte Ziobros Vorstoß Erfolg, wäre Polen der erste Unterzeichnerstaat, der sich von dem Übereinkommen wieder zurückzieht.Wie wird der Schritt des Justizministeriums begründet?Der Justizminister verweist darauf, dass es sich bei dem Austritt aus der Istanbul-Konvention um ein langjähriges Wahlversprechen handle, das man nun einzulösen gedenke. Es sei vor allem "der ideologische Charakter" der Konvention, der ihn zu diesem Schritt bewogen hätte. Zwar stimme er als Justizminister mit vielen Zielen des Abkommens überein, allerdings gewähre das polnische Recht den Opfern von häuslicher Gewalt einen weitaus besseren Schutz als es die Istanbul-Konvention könne. Ziobro zufolge garantiere Polen die "höchsten Standards in Europa, was den Schutz von Frauen und Opfern von Gewalt betreffe", und zwar "ohne Ideologie". Ganz anders sehe es im Fall der Istanbul-Konvention aus. Hier verberge sich eine "ideologische Schicht", die den Interessen von Frauen und Familien entgegenstehe, da sie auf einer Vorstellung von Geschlecht als sozial-kultureller Konstruktion (und nicht als biologischer Tatsache) aufbaue, was die polnische Tradition und Kultur in Frage stelle. In der Folge sehe die Konvention die Ursachen von häuslicher Gewalt vor allem in traditionellen Werten, Familie, Kultur und Religion begründet und lasse andere Ursachen wie Alkoholismus und Drogensucht völlig außer Acht. Bereits 2015, damals noch in der Opposition, hatte Ziobro das Abkommen als "eine feministische Erfindung und ein Werk, das eine Schwulen- und Feministinnen-Ideologie begründen soll", bezeichnet. Die Konvention sei letztlich nicht notwendig, "dass man Frauen nicht schlagen darf, kann man im Evangelium nachlesen."Für seinen neuen Vorstoß erhielt Justizminister Ziobro Unterstützung, sowohl aus der eigenen Partei als auch seitens der Regierungspartner von Recht und Gerechtigkeit (PiS) und Porozumienie. Der stellvertretende Justizminister Marcin Romanowski etwa erklärte, die Istanbul-Konvention beschränke "das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäß der eigenen Weltanschauung und Religion sowie des eigenen Wertesystems zu erziehen". Durch die Unterzeichnung der Konvention habe die damalige polnische Regierung "ein linkes Trojanisches Pferd in unser Rechtssystem eingeführt".Was steckt hinter Ziobros Initiative?Der jüngste Vorstoß von Justizminister Ziobro ist vor dem Hintergrund des Machtgerangels innerhalb der Regierungskoalition der Vereinigten Rechten zu sehen. Aus den letzten Parlamentswahlen im Herbst 2019 gingen die beiden Juniorpartner gestärkt hervor. Während die Partei Porozumienie von Jarosław Gowin auf 18 Mandate kam, konnte Ziobros Solidarisches Polen gar 19 Sitzen auf sich vereinigen. Die PiS ist mit 198 von insgesamt 460 Parlamentssitzen auf beide Partner angewiesen, verlöre sie doch andernfalls die Mehrheit im polnischen Unterhaus. Das veränderte Kräfteverhältnis zeigte sich beispielsweise bei der Auseinandersetzung um den Termin für die Präsidentschaftswahlen. Während PiS-Chef Jarosław Kaczyński vehement für die Beibehaltung des ursprünglichen Wahltermins am 10. Mai plädierte, sprach sich der Porozumienie-Vorsitzende und damalige Vizepremier Gowin ebenso entschieden für eine Verschiebung der Wahl aus (siehe auch DPI-Blog #6). Letzten Endes einigten sich die beiden Parteispitzen auf eine Kompromisslösung und die Wahlen wurden de facto auf den 28. Juni verschoben.Die Partei Solidarisches Polen, der Ziobro vorsteht, deckt politisch den rechten Rand in der nationalkonservativen Regierungskoalition ab. Daher ist auch kaum überraschend, dass Ziobro für seinen Vorstoß ein Thema aufgriff, das der Präsidentschaftskandidat der rechtsradikalen Konfederacja, Krzysztof Bosak, im Wahlkampf erneut in den Vordergrund gerückt hatte. Bosak hatte die Istanbul-Konvention damals als "Realisierung des Programms der Linken und der Feminismus-Lobby" bezeichnet. Da beide Parteien bisweilen um das gleiche Elektorat kämpfen, ist Ziobros Initiative nicht zuletzt als Versuch zu werten, den eigenen Führungsanspruch auf der politisch äußersten Rechten zu untermauern. Zudem gilt es sich für nächste Kabinettsumbildung, die für September erwartet wird, in Position zu bringen. Neben personellen Änderungen wird auch eine Verringerung der Anzahl der Ministerien diskutiert. Dies träfe vor allem die beiden Juniorpartner hart, die jeweils zwei Minister*innen stellen und sich folglich diesem Vorhaben entgegenstellen. Mit dem beantragten Austritt Polens aus der Istanbul-Konvention hat Ziobro ein Thema gesetzt, das Premierminister Mateusz Morawiecki, einem politischen Rivalen Ziobros, und PiS-Chef Jarosław Kaczyński unter Zugzwang setzt. Dabei sieht es so aus, als habe die PiS ihrem Koalitionspartner eine unfreiwillige Steilvorlage gegeben. Bereits am 17. Juli sprach sich Familienministerin Marlena Maląg beim katholischen Fernsehsender TV Trwam für einen Rückzug Polens aus dem Istanbul-Abkommen aus. Die PiS-Politikerin ging offenbar fälschlicherweise davon aus, dass der Rückzug offizielle Regierungsposition sei.Wie fallen die Reaktionen bislang aus?Die Kanzlei des Premierministers sah sich in dieser Situation zu einem Dementi veranlasst. Sowohl der Leiter der Kanzlei, Michał Dworczyk, als auch der Pressesprecher der Regierung, Piotr Müller, versicherten, dass derzeit noch keinerlei Entscheidung über einen Verbleib Polen in der Konvention gefallen sei und hierüber voraussichtlich erst im September entschieden werde.In Warschau kam es am vergangenen Freitag zu zivilgesellschaftlichen Protesten gegen den beabsichtigten Austritt aus dem Abkommen. Rund 2000 Demonstrant*innen versammelten sich vor dem Familienministerium und dem Sitz von Ordo Iuris, einer ultrakonservativen Juristenvereinigung, die die Kampagne in Polen für den Austritt aus der Istanbul-Konvention anführt. Kritik kam auch aus den Reihen der politischen Opposition in Polen. Der Präsidentschaftskandidat und Stadtpräsident von Warschau Rafał Trzaskowski sieht den Vorstoß Ziobros als Skandal, da dieser erneut Frauenrechte in Frage stelle anstatt die Frauen in Polen zu schützen. Kritik kam auch aus den Reihen der Linken und von Seiten des Präsidentschaftskandidaten Szymon Hołownia. Adam Bodnar, Beauftragter für Bürgerrechte, sieht die Debatte als Machtprobe, sowohl zwischen Regierung und Opposition als auch zwischen verschiedenen Kräften innerhalb des Regierungslagers. Mit einem Rückzug aus dem Abkommen würde sich Polen international der Lächerlichkeit preisgeben, so Bodnar.Die internationalen Reaktionen sehen einen möglichen Austritt Polen aus der Istanbul-Konvention äußerst kritisch. "Ein Rückzug aus der Istanbul-Konvention wäre höchst bedauerlich und ein großer Rückschritt beim Schutz von Frauen vor Gewalt in Europa", sagte etwa die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejčinović Burić. Auch die deutsche Europaparlamentarierin Terry Reintke von den Grünen übte scharfe Kritik an der polnischen Regierung. Aus ihrer Sicht sei die Debatte Teil des Bemühens, "die Freiheiten und Rechte von Frauen und LGBT zurückzudrehen". Der belgische liberale Europaabgeordnete Guy Verhofstadt bezeichnete den Vorstoß als "skandalös" und ergänzte: "Gewalt ist kein traditioneller Wert". Der polnische Europaparlamentarier Andrzej Halicki von der oppositionellen Bürgerplattform argumentierte, dass die Debatte über einen Rückzug aus dem Abkommen "die polnische Regierung in das allerschlechteste Licht rücke".Wie geht es weiter?Der formelle Antrag ist zwar vom Justizministerium eingereicht worden, gleichzeitig machte das Lager von Premierminister Mateusz Morawiecki deutlich, dass mit einem schnellen Austritt nicht zu rechnen sein wird. Offensichtlich ist man von dem Vorstoß Ziobros überrumpelt worden. Der PiS dürfte es zunächst vor allem darum gehen, Zeit zu gewinnen. Dass sich Ziobro hiermit zufriedengibt, scheint mehr als fraglich. Eher dürfte er versuchen, die Debatte am Köcheln zu halten, um so weiter Druck auf Morawiecki und Kaczyński auszuüben, die die anvisierte Regierungsbildung nutzen wollten, um die Macht ihrer beiden Koalitionspartner zu beschneiden. Am Ende wird es wohl auf einen politischen Deal innerhalb des Regierungslagers hinauslaufen. Der Streit macht vor allem eines deutlich: Angesichts der aktuellen Sitzverteilung im polnischen Parlament sieht sich Kaczyńskis PiS mitunter zu Zugeständnissen gegenüber den kleineren Koalitionspartnern gezwungen. Es scheint, dass derzeit hier, und weniger bei der politischen Opposition im Parlament, den Demonstrierenden auf der Straße und den Institutionen der Europäischen Union die größten Herausforderungen für die Politik der PiS zu erwarten sind.
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Was bedeutet es, Lehrerin an einer Sekundarschule in Neukölln zu sein? Ein Gastbeitrag über alltägliche Beleidigungen, das Recht auf Bildung und einen Ausflug zum Potsdamer Museum Barberini. Von Ada M. Hipp*.
Foto: Ada M. Hipp.
VOR EINIGER ZEIT berichtete ich in diesem Blog über die wenig bis gar nicht vorhandenen Leseleistungen
meiner 7. Klasse – und wie wir gemeinsam versucht haben aufzuholen, was sich fast nicht mehr aufholen lässt.
Nun sind die Schülerinnen und Schüler nach dem Sommer in die 8. Klasse versetzt worden, einige verdientermaßen. Bei anderen hätte man es früher eher als notwendig erachtet, sie die 7. Klasse noch
einmal nachholen zu lassen. Bei allem Für und Wider des früheren "Sitzenbleibens": Bei manchen Kindern wäre derartiges schon sinnvoll, vor allem dann, wenn sie des Lesens nur unzureichend fähig
sind.
Im Laufe dieses 8. Schuljahres kamen neue Kinder hinzu, andere sind an Schulen anderswo in Berlin oder in andere Bundesländer gewechselt. Im Ergebnis stammen immer noch alle Kinder dieser Klasse
aus Einwandererfamilien.
Rassistisch beleidigen,
rassistisch beleidigt werden
Wenn die familiären Wurzeln bei 100 Prozent der Schüler aus Südeuropa oder noch weiter südlich liegen, sollte man annehmen, dass Rassismus eine Sache ist, die sie vermutlich im Laufe ihres Lebens
selbst haben erfahren müssen. Dass sie aber deshalb nicht auch noch untereinander rassistische Äußerungen tätigen. Weit gefehlt.
Nach der für sie schlimmsten Beleidigung im Klassenrat gefragt, äußerte die Mehrheit, dass es das "N-Wort" sei. Trotzdem beleidigen sie einander diesbezüglich häufig, sagen das N-Wort in allen
möglichen Variationen. Auch die Kinder, die ein dunkelhäutiges Elternteil haben, machen mit. Die ganz besonders. Die zweitschlimmste Beleidigung für sie war "Hurensohn" bei den Jungen und
"Kopftuch-Schlampe" bei den Mädchen. Und dennoch, dennoch beleidigen sie einander genau mit diesen Worten. Mehrfach haben wir im Klassenrat darüber diskutiert, haben die Eltern einbezogen,
stellten Verhaltensregeln auf. Immer wieder kommen auch die Beleidigungen bezüglich der Hautfarbe auf.
Irgendwann platzte mir der Kragen. Ich wies die Klasse darauf hin, dass bis auf das eine Mädchen mit albanischem Migrationshintergrund, dem anderen Mädchen mit kosovarischem Migrationshintergrund
und mir ALLE sich im Klassenraum befindenden Personen "farbig" seien. Farbig in allen nur möglichen Schattierungen. Würden sie sich nach Helligkeit ihrer Hautfarbe beginnend mit den beiden zuvor
genannten Mädchen und mir aufstellen, so könnte man diese verschiedenen Hauttöne von ganz hell bis hin zu dunkel sehr gut erkennen. Ich fragte sie, ob sie darunter echtes Weiß oder echtes Schwarz
erkennen würden. Sie verneinten dies und lachten lauthals.
Dann fragte ich, wo dies noch so sei. "In der Natur!", riefen sie, "In der Natur gibt es kaum Schwarz und deshalb malten die Impressionisten fast nie mit Schwarz. So wurde es uns doch in
Ausstellung bei der Führung erzählt." ‘Prima’, dachte ich, ‘doch was gelernt‘, waren wir doch gemeinsam bei den Impressionisten im Museum Barberini in Potsdam.
Für alle Kinder war es die
erste Zugfahrt in ihrem Leben
Schon allein die Zugfahrt mit der Regionalbahn dorthin war bereits ein Erlebnis, in vielerlei Hinsicht. Erstens: Für ALLE Kinder war es das erste Mal, mit einem Zug zu fahren. Nun ist dies
allerdings KEIN Alleinstellungsmerkmal für Kinder mit Migrationshintergrund. In der heutigen Familie wird eher mit dem Auto gefahren oder aber, bei weiteren Strecken, geflogen. So ist es auch bei
Kindern in Neukölln. Eine Zwei- bis Dreitagesfahrt mit dem Auto in den südlichsten Winkel der Türkei via Bulgarien ist da keine Ausnahme, auch nicht ein bis zu sechsstündiger Aufenthalt an einer
der dortigen Grenzen. In den Libanon wird zumeist geflogen. Aber mit dem Zug, mit dem Zug geht es für sie nirgendwohin.
Zweitens berichtete mir meine begleitende Kollegin, dass sie andere Mitreisende im Zug beim Vorbeigehen unserer Klasse auf der Suche nach Sitzplätzen gehört habe, wie diese einander zuraunten:
"Alles Ausländer. Gibt’s denn nur noch Ausländer? Ah, da sind ja noch zwei Deutsche." Gemeint waren wir beide.
In der Klasse gibt es EIN Kind ohne deutschen Pass, und dieses war an diesem Tag krankgemeldet und somit gar nicht zugegen. Hätte ich diese Situation selbst mitbekommen, so hätte ich mich
garantiert mit den Mitreisenden angelegt. Es wäre nicht das erste Mal. Immer wieder komme ich mit unseren Schulklassen in die unschöne und unfreiwillige Situation, "meine" Kinder gegen den Rest
der Welt zu verteidigen. Verbale Beleidigungen, anfeindende Blicke, negative Äußerungen sowie ungefragte Mitleidsbekundungen ob meines grässlichen Jobs mit "solchen" Kindern stehen nicht nur für
mich an der Tagesordnung. Gerade dieser Tage wurde eine Kollegin im Bus von einem Mitreisenden mit dem Spruch "Augen auf bei der Berufswahl" abgefertigt.
Im Museum selbst wurden einige Schülerinnen und Schüler von fünf Jugendlichen regelrecht verfolgt. Wir trugen unsere Schul-T-Shirts. Auf ihnen steht der Name unserer Schule sowie der Stadtbezirk,
aus dem wir kommen: Neukölln. Wir trugen diese Shirts erstens, um eine Übersicht über den Verbleib der Kinder im Museum zu haben; zweitens, damit andere Museumsbesucher sehen, zu wem die Kinder
gehören, und drittens, um nach außen ein Zeichen zu setzen, dass Schüler aus Neukölln sich durchaus zu benehmen wissen.
Ein verdammtes
Recht auf Bildung
Die fünf Jugendlichen tuschelten sehr auffällig miteinander, beobachteten uns und sprachen in ziemlich verkorkstem Englisch: "Crazy students. They come from Neukölln. They are so crazy". Nach
einem ersten "Don’t" und dann einem rigorosen: "Stop it!" ließen sie davon ab, uns weiter zu belästigen.
Muss ich mir als Lehrerin tatsächlich vorher überlegen, wo ich mit meiner Klasse hingehe? NEIN! Das werde ich nicht tun. Meine Schülerinnen, Schüler und ich haben ein verdammtes Recht darauf,
alle sich bietenden Möglichkeiten zur Bildung zu nutzen! Wenn sich die Gesellschaft eine allgemein gebildete Jugend wünscht, muss sie Allgemeinbildung zulassen - auch, wenn es sich um eine Jugend
mit Migrationshintergrund handelt. Diese Kinder werden in ihrer Heimat Deutschland bleiben. Es liegt an uns, dass sie dies als verantwortungsvolle und arbeitende Bürger tun (können).
Der Museumsbesuch ist beendet, und wir treffen uns auf dem Vorplatz. Links von uns der Potsdamer Landtag, rechts das Geschichtsmuseum und geradezu die St. Nikolai Kirche. Auf dem Vorplatz (Alter
Markt) stehen drei größere Einsatzwagen der Polizei. Zwei Polizisten stehen dazwischen. Zunächst denke ich: Ach ja, der Landtag. Doch dann fallen mir Figuren auf, die auf dem Vorplatz verteilt
bunt durchmischt stehen. Es sind Abbilder von Personen in Echtgröße. Die erste, dem Museum zugewandte Person steht in einer bizarr wirkenden Haltung da. Bei näherer Betrachtung stellt sich
heraus, dass es sich um einen Boxer in der für Boxer typischen Haltung handelt. Ein Boxer aus längst vergangener Zeit.
Ich ahnte nun, worum es sich handelt: Alle Personen waren Juden, die wohl einst in Potsdam wohnten. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob ich die noch weiter entfernt stehenden Schülerinnen und
Schüler heranrufen und ihnen diese Ausstellung jüdischer Bürger zeigen und sie darauf hinweisen sollte. Schließlich ist eine Reihe von ihnen palästinensischer Herkunft.
Der Ausflug fand zwei Wochen nach den Ereignissen in Israel am 7. Oktober statt. Auf den Berliner Straßen liefen pro-palästinensische Proteste, unter anderem auch auf der Sonnenallee, in der
viele meiner Schülerinnen und Schüler wohnen.
"Ja, wieso, ist
doch interessant"
Die Schülerinnen und Schüler näherten sich der Ausstellung. Sie folgten mir so, wie sie es bei Ausflügen gewohnt sind. Die zwei Polizisten bewegten sich auf mich zu, gingen an mir vorbei zu den
Schülerinnen und Schülern. Was mich unmittelbar dazu brachte, mich umzudrehen mit dem Gedanken: Was haben sie angestellt, was eventuell zerstört, wofür muss ich mich verantworten?
Doch die Polizisten baten nur in aller Ruhe darum, sich möglichst vorsichtig die Ausstellung anzusehen, da die Ausstellungsstücke leicht beschädigt werden könnten.
Die Schülerinnen und Schüler sahen sich die Ausstellung an, lasen sich die Biographien durch. Auf meine vorsichtigen Fragen hin, ob sie denn wüssten, dass es sich um jüdische Sportler handelt,
antworteten sie mir mit leichter Verständnislosigkeit in der Stimme: "Ja, wieso, ist doch interessant."
Meine Sorgen waren wie weggeblasen. Offenbar haben wir einiges richtig gemacht. Rassismus, Anfeindungen, Antisemitismus sind real im Alltag unserer Schülerinnen und Schüler. Aber in unserem
Klassenraum haben sie keinen Platz mehr. Und die Jugendlichen sehen Schattierungen, die vielen von uns Erwachsenen verlorengegangen sind.
*Der Name wurde geändert.
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Blog: DPI-Blog
Vor rund einem Jahr, am 27. Februar 2022, konstatierte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede vor dem Bundestag "eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents." Die Ausweitung des seit 2014 andauernden russischen Kriegs gegen die Ukraine stellt zweifelsohne eine Zäsur dar. Es ist etwas in Bewegung geraten in Europa. Alte Konstellationen beginnen sich zu verschieben, neue Konstellationen lassen sich im Moment bestenfalls erahnen. In Deutschland fokussiert sich die Debatte, ein Jahr nach der Zeitenwende-Rede, zuvorderst auf die Vorgänge hierzulande. Da wären die anhaltende Diskussion um Waffenlieferungen ebenso zu nennen wie Fragen um den richtigen Umgang mit der großen Anzahl ukrainischer Flüchtlinge, die in den letzten zwölf Monaten nach Deutschland gelangt sind. Und selbstverständlich sind die Neuausrichtung der deutschen Energie-, Ost- sowie der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ebenfalls Kernelemente dieser Debatte.Zeitenwende: Europas Mitte bewegt sich ostwärtsDoch nicht nur die deutsche Politik wurde von den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs erfasst. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen veränderten sich während der vergangenen zwölf Monate unter dem Eindruck dieser Zeitwende. So blickt man in Polen mit wachsender Skepsis auf die schleppende Umsetzung der deutschen Politik nach der Zeitenwende-Rede: zu behäbig und nachsichtig sei Deutschlands Umgang mit Russland, zu zaghaft und unentschlossen die Unterstützung der Ukraine, zu folgenlos das vielerorts geäußerte Eingeständnis, man hätte den östlichen Nachbarn mehr Gehör schenken sollen. Umgekehrt sieht Deutschland die polnischen Forderungen nach Wiedergutmachung für die während des Zweiten Weltkriegs von deutscher Seite verursachten Schäden und Verluste als ein zur Unzeit gestartetes politisches Manöver, wie man überhaupt vieles von dem, was derzeit von Polen nach Deutschland dringt, als wahlkampftaktisch motiviert interpretiert. Gleichzeitig bemühen sich der deutsche und der polnische Verteidigungsminister gemeinsam, eine Koalition zur Lieferung von Leopard 2-Panzern an die Ukraine auf die Beine zu stellen.Die Auswirkungen der Zeitenwende auf die politischen Kräfteverhältnisse in Europa sind ebenfalls kaum eindeutig. Deutschland sieht sich herausgefordert, seinem selbsterklärten Anspruch als Führungsmacht in Europa nachzukommen, gerade auch in militärischer Hinsicht. Zudem sind die Kräfteverhältnisse in Europa infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine in Bewegung geraten. Deutschland steht vor dem Scherbenhaufen seiner verfehlten Russland-, Ukraine-, Energie- und Sicherheitspolitik. Polen wiederum ist nun Frontstaat sowie Drehkreuz der westlichen Unterstützung für die Ukraine und erste Anlaufstelle für Millionen ukrainischer Flüchtlinge. Und auch Polens Verhältnis zu den USA hat sich wesentlich verbessert, wie die beiden Staatsbesuche des US-Präsidenten innerhalb eines Jahres belegen. Die Folge dieser Verschiebungen könnte eine neue Machtkonstellation in Europa sein. Deutschland scheint trotz des immensen Ansehens- und Vertrauensverlustes darum bemüht, weiterhin eine zentrale Rolle in der europäischen Politik zu spielen. Polen wiederum versucht, seine neue Bedeutung als Frontstaat und den damit verbundenen Imagegewinn politisch auf Dauer zu stellen. Wie diese neue Konstellation letztlich aussehen soll und ob wir es tatsächlich mit einem Nullsummenspiel zu tun haben, bei dem Polen nur das gewinnen kann, was Deutschland verliert, scheint nach wie vor offen. Aber dass wir es derzeit mit der Entstehung einer neuen Machtkonstellation in Europa zu tun haben, ist offensichtlich.Paradoxerweise war es gerade Bundeskanzler Olaf Scholz, der in seiner Prager Rede im Sommer 2022 in Anlehnung an den Osteuropa-Historiker Karl Schlögel bekannte: "Europas Mitte bewegt sich ostwärts". Diese Feststellung einer anhaltenden Neukonfigurierung des politischen Kräfteverhältnisses in Europa ist seitdem immer wieder getroffen worden, hat aber mit dem erneuten Polen-Besuch von US-Präsident Joe Biden am 21. Februar nochmals an Intensität gewonnen. Nach seinem überraschenden Staatsbesuch am 20. Februar in Kyjiw reiste Biden mit der Bahn nach Polen weiter, wo er am folgenden Tag erst zu Gesprächen mit Staatspräsident Andrzej Duda zusammentraf und am Abend eine vielbeachtete Rede am Warschauer Königsschloss hielt. Am zweiten Tag seines Besuchs traf der US-Präsident mit den Präsidenten des "Bukarest Neun"-Formats zusammen, das neben Polen auch Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien umfasst. Die polnisch-rumänische Initiative von 2015 stellte eine Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 dar. Die Tatsache, dass Biden bei seinem Doppelbesuch Kyjiw und Warschau bereiste und damit gleichzeitig Partner wie Deutschland und Frankreich außen vorließ, deuten zahlreiche Beobachter:innen als weiteres Indiz für eine allmähliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa. Waren es in der Vergangenheit vor allem Deutschland und Frankreich, die in Europa den Takt vorgaben und zu den ersten Ansprechpartnern der Vereinigten Staaten zählten, zeichne sich seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine neue Machtkonstellation in Europa ab, in der neben den baltischen Staaten vor allem Polen eine zentrale Rolle einnimmt. So erklärt etwa die Welt, "dass sich die Machtgewichte in der EU seit dem 24. Februar 2022 von Westen nach Osten hin verschoben haben". Und auch die Zeit konstatiert: "Das geopolitische Zentrum Europas liegt nicht mehr irgendwo zwischen Berlin, Paris und London. Die Impulse für die westliche Unterstützung der Ukraine werden in Tallinn, Riga und vor allem in Warschau gesetzt."Neue Kräfteverhältnisse, neue MachtkonstellationenAber sind die Dinge wirklich derart offensichtlich? Die Machtverschiebung gen Osten wird zwar immer häufiger postuliert, doch worauf sich dieses neue Kräfteverhältnis tatsächlich gründet, wird weitaus weniger präzise benannt. Meist wird dann eben auf das Verhältnis zu den USA verwiesen, das sich verbessert habe, auf die moralische Überlegenheit gegenüber Deutschland, weil Polen eben Recht gehabt habe, auf die Bedeutung Polens für den Westen als Drehkreuz für Flüchtlingsbewegungen, die Lieferung von Waffen und humanitären Gütern, aber auch die immer zahlreicher werdenden Politikerbesuche. Schließlich wird verwiesen auf die enormen Verteidigungsausgaben, die zuletzt auf über vier Prozent des polnischen BIP geschätzt wurden und durch den Kauf neuer Panzer aus den USA und Südkorea, wonach die polnische Armee zur größten Landstreitmacht Europas aufsteigen würde, untermauert. Aber liegt hierin bereits ein neues Kräfteverhältnis begründet? In puncto Sicherheit ist jedes europäische Land – vielleicht mit Ausnahme der Atommächte Frankreich und Großbritannien – letztlich auf den Beistand der NATO-Partner, d.h. allen voran der Vereinigten Staaten angewiesen. Dies gilt auch für Polen. Doch es ist absehbar, dass Polen in dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis fortan mehr sicherheitspolitisches Gewicht erlangen wird. In eigentlich allen anderen politischen Bereichen ist Macht für europäische Staaten wie Polen jedoch eng mit den Gestaltungsmöglichkeiten als Mitglied der Europäischen Union verbunden. Hier befindet sich die polnische Regierung weiterhin in einer Auseinandersetzung mit den europäischen Institutionen über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen, einer Auseinandersetzung, deren Ausgang Stand heute noch nicht abzusehen ist. Zwar gibt es Anzeichen, wonach man in Brüssel, anders als im Falle Ungarns, an einer Kompromisslösung mit Polen interessiert ist, aber eine baldige Auszahlung der zurückgehaltenen EU-Gelder zeichnet sich derzeit noch nicht ab. Deutschland wiederum scheint bestrebt, frühere Verfehlungen durch einen umfassenden politischen Kurswechsel schnell vergessen zu machen und seinen Führungsanspruch in Europa zu behaupten. Und bei aller Kritikwürdigkeit an der Halbherzigkeit, mit der die Bundesregierung diesen Kurswechsel bisweilen betreibt, lässt sich festhalten, dass auch Deutschland weiterhin eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der Ukraine einnimmt. Ambiguität in den deutsch-polnischen BeziehungenGerade in dieser Situation scheint ist es wichtig zu differenzieren, und das bedeutet nicht zuletzt Mehrdeutigkeit auszuhalten. Eine solche Ambiguitätstoleranz scheint gerade in den heutigen deutsch-polnischen Beziehungen dringender geboten als je zuvor. Polen hat Recht behalten mit seiner Kritik an Deutschland und seinen Warnungen vor Russland. Mit seiner Kritik an den Nord Stream-Gaspipelines, an der Anbiederung an Putin durch weite Teile der deutschen Politik, an der deutschen Weigerung, das 2-Prozent-Ziel der NATO zu erfüllen und seinem Festhalten an den USA als Garant europäischer Sicherheit. Polen hatte Recht behalten und Deutschland hatte geirrt, fatal geirrt. Daran gibt es nichts zu deuteln. Und so hilft es Deutschland kaum weiter, die polnische Kritik mit dem Hinweis abzutun, sie stamme schließlich lediglich von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) (was nicht stimmt, die politische Opposition denkt hier ähnlich) und das Land befinde sich mitten im Parlamentswahlkampf. Und ja, zur Wahrheit gehört auch, dass die PiS natürlich versucht, aus der neuen Situation politisch Kapital zu schlagen. Vor einem Jahr stand die polnische Regierungspartei noch mit dem Rücken zur Wand. Innenpolitisch schlug ihr ob der mehr schlecht als rechten Bekämpfung der Corona-Pandemie, aufgrund der steigenden Inflation und des früh gescheiterten polnischen New Deal (Polski Ład) ein eisiger Wind entgegen. Außenpolitisch geriet die Regierung im Rechtsstaatlichkeitsstreit mit den europäischen Institutionen zunehmend unter Druck. Der russische Krieg gegen die Ukraine änderte all dies fast über Nacht. Polen wurde zur ersten Anlaufstelle und zum Zufluchstort für Millionen ukrainischer Kriegsflüchtlinge und entwickelte sich zum Drehkreuz für die Lieferung von Waffen und humanitären Hilfen an die Ukraine, wie auch für Politiker aus der westlichen Welt, die über Polen nach Kyjiw und in andere ukrainische Städte gelangten. Polen ist infolge der Zeitenwende zur unverzichtbaren Nation geworden. Was also läge in einer solchen Situation näher – so könnte man die polnische Politik verstehen –, als auch andere Konflikte, etwa den über die Rechtsstaatlichkeit, in einem neuen Licht zu betrachten? Wenn Polen in Sachen Russland richtig lag und Deutschland daneben, warum nicht auch in Sachen Rechtsstaatlichkeit? Und selbst, wenn nicht. Kann man einem Land, dass seine Arme für gut anderthalb Millionen ukrainischer Flüchtlinge geöffnet hat und moralisch auf der richtigen Seite der Geschichte steht, guten Gewissens die Auszahlung der dringend benötigten EU-Geldern verweigern?Die Mitte wovon liegt ostwärts?Die Antworten auf diese Fragen sind offen. Gleichzeitig werfen die fortschreitenden Veränderungen im europäischen Kräfteverhältnis weitere Fragen auf: Die Mitte wovon liegt ostwärts? Wie hat man sich eine Verschiebung des Zentrums (wovon?) in Richtung Osten konkret vorzustellen? Es scheint, dass wir derzeit Zeuge der Auflösung der gewohnten Machtkonstellation in Europa sind, ohne absehen zu können, wie die neue Konstellation genau aussehen wird. Diese Uneindeutigkeit gilt es auszuhalten, auch in den deutsch-polnischen Beziehungen. Dennoch lassen sich hier zwei Dinge festhalten. Erstens wird Deutschland auf absehbare Zeit ein schwieriger Partner für Polen bleiben. Es wird nach wie vor ein zentraler Akteur in Europa sein, der jedoch aller Voraussicht nach Staaten wie Polen mehr Mitsprache bei der zukünftigen Gestaltung der EU einräumen muss. Zweitens wird Polen auf absehbare Zeit ein schwieriger Partner für Deutschland bleiben. Selbst wenn die politische Opposition die Parlamentswahlen im Herbst gewinnen sollte, dürfte eine neue polnische Regierung sich zwar im Ton konzilianter und insgesamt kooperativer gegenüber Deutschland zeigen, in den derzeit zentralen Politikfeldern Energie-, Sicherheits-, Russland- und Ukrainepolitik jedoch weitestgehend Kontinuität wahren. Deutschland und Polen werden also trotz aller Differenzen aufeinander angewiesen bleiben, vor allem als Partner in der Europäischen Union. Dass hier häufig diametral gegensätzliche politische Vorstellungen zur weiteren Entwicklung der EU aufeinandertreffen, kann auch eine Chance sein, die Zukunft der Gemeinschaft neu zu diskutieren.