Osteuropa zwischen Wissenschaft und Politik
In: Osteuropa heute: Entwicklungen - Gemeinsamkeiten - Unterschiede, S. 13-44
Der Verfasser schildert die Entwicklung der wissenschaftlichen Osteuropaforschung in Deutschland. Er setzt sich mit der Wahrnehmung Osteuropas und seiner Teilregionen in Wissenschaft und Politik auseinander und geht der Frage nach, ob und inwieweit es gerechtfertigt ist, "Osteuropa" noch immer übergreifend als Gegenstand der Wissenschaften zu behandeln. Anschließend wird in einem geschichtlichen Längsschnitt das Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik bezüglich Osteuropa im 20. Jahrhundert thematisiert. Vor diesem Hintergrund wird die Wahrnehmung Osteuropas in Politik und Wissenschaft heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, analysiert. Dabei wird auch das Thema aus dem Blickwinkel der eigenen Erfahrungen im postsowjetischen Raum, teils als Rechtsberater, teils als vergleichend arbeitender Regionalwissenschaftler betrachtet. Es wird gezeigt, dass mit den Programmen der EU und des Europarates in Osteuropa sich bei der Förderung der Menschenrechte, bei dem Schutz nationaler und ethnischer Minderheiten sowie bei der Gewährleistung eines demokratischen Wahlrechts, freier und fairer Wahlen und bei der Wahlbeobachtung die Aktivitäten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überschneiden. Politik und Wissenschaft sind im Transformationsprozess Osteuropas infolgedessen eine enge Verbindung eingegangen. Da die Zielwerte und Hauptrichtungen dieser Kooperation - Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Marktwirtschaft, Zivilgesellschaft - auf beiden Seiten völlig unstreitig sind, haben die Wissenschaftler bei ihrer Beratungstätigkeit sehr weite Spielräume, um von ihnen favorisierte Reformvorstellungen einzubringen. "Die Politik" vertraut hier der Wissenschaft; sie beschränkt sich vielfach darauf, den institutionellen, organisatorischen Rahmen bereit zu stellen und die Finanzierung zu sichern. Von einer Instrumentalisierung der Wissenschaft durch die Politik kann daher, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt die Rede sein. Der Autor argumentiert, dass Politik und Wissenschaft, Wissenschaft und Politik in Osteuropa seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staats- und Wirtschaftsordnungen aufs engste dabei zusammen gearbeitet haben, das totalitäre kommunistische Erbe in allen Lebensbereichen zu überwinden, gemeineuropäische Standards politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher, gerichtlicher, administrativer Kultur in den Staaten Osteuropas und der GUS zu etablieren und durchzusetzen oder sie wenigstens zu fördern. (ICG2)