Probleme der Eheauflösung in Ungarn
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: KZfSS, Band 31, Heft 1, S. 79-96
ISSN: 0023-2653
Die Tatsache, daß die Zahl der Ehescheidungen und des Getrenntlebens in Ungarn seit Beginn des Jahrhunderts um ein Vielfaches gestiegen ist, hat mannigfaltige Ursachen. Es trat eine Änderung in der Struktur des Familienstandes im Laufe des Jahrhunderts ein. Hinzu kamen insbesondere in den 50iger Jahren eine mildere Regelung der Scheidung, das Scheidungsverfahren wurde schneller und billiger. Der Einfluß religiöser Institutionen, die sich der Eheauflösung widersetzten, nahm ab. Während die Scheidungen in die Statistik eingehen, können Getrenntlebende nur in Befragungen und Zählungen registriert werden. Die Häufung von Ehescheidungen in Ungarn ist bedingt durch die gewaltigen Bewegungen der Geschichte unseres Jahrhunderts. Voraussetzungen und Erfordernisse der Stabilität der ehelichen Paarbeziehungen veränderten sich weitgehend. Junge Menschen heiraten infolge der früher beginnenden Pubertät zwei bis drei Jahre früher, die Scheidungsquote dieser Altersstufe verdoppelte sich von 1929-1975 fast. Die längere Lebensdauer läßt ältere Menschen noch einmal einen Neubeginn wagen. Der Industrialisierungsprozeß verändert Lebens- und Arbeitsbedingungen, Konflikte entstehen durch die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnsitz, Erwerbstätigkeit und Privatleben. Die Urbanisation ist als weitere wichtige Komponente der Eheauflösung zu nennen, auf den Dörfern stieg der Prozentsatz geringer. Ein wichtiger Faktor stellt die Berufstätigkeit vieler Frauen außerhalb des Wohnsitzes dar. Im Verhalten der Ehepartner scheint sich auch mehr und mehr der Prozeß der Individualisierung auszuwirken. Materieller und gesellschaftlicher Aufstieg erscheint oft nicht mehr als Familienprodukt, sondern als individuelle Leistung und persönlicher Verdienst des Mannes oder der Frau. (IS)